HEINZE
DEAR ILLUSTRIERTE FÜR DESIGN UND ARCHITEKTUR
Bjarke Ingels & Reinier de Graaf INTERVIEWDOPPEL BIG + OMA: ZUM STATUS DER ARCHITEKTUR Interviews
NERI & HU JACQUES HERZOG SAMY RIO TSATSAS & DIETER RAMS Architektur
PETER ZUMTHOR IN DEVON GROSSES THEATER IN BERLIN
Nr. 4/ 2018 — 8,50 Euro
Design
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VORSCHAU
Reinier de Graaf „DAS REPERTOIRE DER ARCHITEKTUR BEINHALTET DIE AUFGABE ZUR VERSÖHNUNG DER DINGE, DIE EIGENTLICH UNVEREINBAR SIND. ES GIBT KEINE ARCHITEKTUR OHNE KOMPROMISSE.“
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EDITORIAL
Sie halten gerade die achte Ausgabe unseres Magazins in den Händen. Für uns schließt sich damit ein Kreis. In den vergangenen zwei Jahren wollten wir verstehen, wie Architekten, Designer, Künstler oder die Grenzgänger zwischen den Disziplinen ticken – und Sie daran teilhaben lassen. Über die vielen positiven Reaktionen auf dieses Konzept haben wir uns gefreut und sie immer als Antrieb gesehen. In dieser letzten Ausgabe unseres Magazins befinden sich die Frauen leider wieder in der Minderheit. Wenngleich wir mit Bjarke Ingels, Reinier de Graaf und Jacques Herzog ein paar echte Diven für unser Heft gewinnen konnten, freuen wir uns also auf ein Zeitalter der wahren Gleichheit. As time flies by, dear readers: Wie viele andere Medien vor uns müssen wir uns den veränderten Parametern der Verlagsbranche beugen. Der Print-Titel DEAR wird nach dieser Ausgabe eingestellt. Online bleibt Ihnen das Magazin ab 2019 unter neuer Führung erhalten. Der Mitte/Rand Verlag und das gesamte Team bedanken sich für das entgegengebrachte Vertrauen, die vielen Erlebnisse und Begegnungen der letzten Jahre sowie das Geschenk, Sie unterhalten zu dürfen. Wir melden uns bei Landung. Ihr Stephan Burkoff
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Indoor – Outdoor: Ceppo di Gré Grande, The Large Size
Human Design Seit mehr als achtzig Jahren gestalten wir keramische Produkte, deren Technologien und Innovationen für Menschen gedacht sind. Denn es ist die innige Beziehung zwischen Mensch und Objekt, die wahres Design ausmacht. marazzi.it
IMPRESSUM
WWW.HEINZE-DEAR.DE Publisher
Geschäftsführer
Dirk Schöning Bremer Weg 184 29223 Celle www.heinze.de an Infopro Digital company
Chefredakteur Editorial Director
Stephan Burkoff (V. i. S. d. P.) Jeanette Kunsmann
Art Direction & Layout
Tim Berge, Clara Blasius, Anne Meyer-Gatermann, Jana Hermann, Katharina Horstmann, Norman Kietzmann, Niklas Maak, Max Scharnigg, Anne Waak
Lektorat
Anja Breloh
Konzept & Realisation
Gesamtvertriebsleiter Leiter Medienproduktion Druck Zeitschriftenvertrieb Danke an
Titelbild: Cyrill Matter, 2018
Nils Sanders / BÆUCKER SANDERS GmbH
Autoren
Fotografen
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HEINZE GmbH Das führende Bauportal für Produktinformationen, Firmenprofile und Architekturobjekte
Iwan Baan, Adriano Biondo, François Bodlet, Simone Bossi, Maxime Brouillet, Antonino Cardillo, Bruce Damonte, Laurian Ghinitoiu, Zhu Hai, Ramon Haindl, Jack Hobhouse, Cyrill Matter, Karl Nordlund, Manfred Ortner, Takumi Ota, Schnepp Renou, Samy Rio, Horst Stasny Mitte Rand UG, Verlag für Inhalt & Kontraste Marienstraße 10, 10117 Berlin www.mitte-rand.de / mail@mitte-rand.de Jörg Kreuder Ulrich Schmidt-Kuhl Vogel Druck, Leibnizstraße 5, 97204 Höchberg MZV GmbH & Co. KG, Unterschleißheim Cyrill Matter, Nils Sanders und Clara Blasius, Adriano Biondo, Miki Bunge, Nona Burkoff, Chris Dercon, Roland Duda, Klaus Füner, Anne Meyer-Gatermann, Walter Grasskamp, Ingrid Hartmann, Markus Hieke, Jeremy Higginbotham, Katharina Horstmann, Johanna Hunder, Jörg Johnen und Peter Welz, Ivo Kant, Kerstin König, Juergen Schabes, Daniela Schlagmann, Kathrin Spohr, Karl Sude, Esther und Dimitrios Tsatsas, und außerdem wie immer und stets: Peeke, Anton, Bjarne und Jasper
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung. Kein Teil dieses Magazins darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags Mitte / Rand reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
PLOUM Sofa, Design Ronan & Erwan Bouroullec Katalog: www.ligne-roset.com www.facebook.com/lignerosetDE
INHALT
DESIGN Editorial Impressum
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Botschafter Wider-Willen Neri & Hu im Interview
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Spieglein Spieglein Friseursalon FLUX in Kyoto
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Formsache: Vom Ende der Dinge Kolumne von Max Scharnigg
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Minimalismus aus Leder Dieter Rams & Tsatsas
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Bambus Forever Ăœber Samy Rio
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Keine Frage der Sammlung
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Symmetrie der Nacht
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Dänisches Dorf
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DOSSIER Healthcare Summit in Sankt Petersburg Modulares Bauen im Gesundheitswesen
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ARCHITEKTUR
MAGAZIN
Titelstory: Zum Status der Architektur mit Reinier de Graaf und Bjarke Ingels
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Dicke Wände in Devon Ferienhaus von Peter Zumthor
106
Kalte Schulter trotzt Sonne
115
Großes Theater in Berlin
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Interview: Jacques Herzog
131
Baldachin der Stille
134
Mit dem Buick nach Manhattan Kolumne von Niklas Maak
148
Zuhause in der Kunst: Walter Grasskamp Über einen Nebenschauplatz der Museumskunst – zur Kunst am Bau
152
Moden von Gestern: Wer heute noch einen Lendenschurz trägt, lebt gefährlich. Kolumne von Anne Waak
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Bücher Und morgen?
160 162
122 122
106 104
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EDITOR’S PICK
FLUSH LINE Die neue HAFI Flush Line-Rosettentechnik ermöglicht eine große Türdrücker-Designvielfalt. Eine deutlich reduzierte Aufbauhöhe der runden oder quadratischen Designrosetten erlaubt zudem die optionale, flächenbündige Montage im Türblatt. Design by Studio F. A. Porsche
SCOPE Mit Scope bedient COR nicht nur das allgegenwärtige „AlkovenThema“, sondern setzt auch auf den Spieltrieb. Das modulare Möbel lässt sich in einer Vielzahl von Mustern und Varianten als Sitzgruppen zusammenstellen.
RAY LOUNGE SIMPLEX 3D Hat Taille und Schwung: Der neue Drehstuhl von greutmann bolzern designstudio für Girsberger ist nicht nur extrem beweglich, er lässt sich auch leicht bedienen.
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Die Stuttgarter Designer Markus Jehs und Jürgen Laub denken die High-End-Conference-Familie von Brunner weiter. So erschließt sich Ray Lounge nun auch, wie sein Name schon verrät, Nutzungen außerhalb klassischer Bürosituationen.
Zum Jahresende stellt Zumtobel ein neues, umfassendes Set für Lichtinstrumente vor, das vor allem Architekten gefallen dürfte. Mit der Supersystem Integral Collection ist dem Wiener Designstudio EOOS nämlich eine Lösung gelungen, die alle Optionen hinsichtlich Lichteigenschaft und -steuerung in einem klaren Gestaltungskonzept zusammenfasst – und sich nahtlos in die Architektur einpasst.
SUPERSYSTEM INTEGRAL COLLECTION
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DE
DESIGN
Foto: Zhu Hai
NERI & HU 15
INTERVIEW
VON KATHARINA HORSTMANN FOTO: ZHU HAI
Sie wurden schon als Botschafter des chinesischen Designs bezeichnet. Fühlen Sie sich wohl in der Rolle? Lyndon Neri: Eigentlich möchten wir keine Botschafter sein, haben uns aber dieser Rolle gestellt, um die Wahrnehmung des chinesischen Designs zu ändern. Warum? LN: Als Chinesen wurden wir auf Messen oft von Ständen verwiesen. Die Leute hatten Angst vor Ideenklau und Kopien. Das hat uns sehr bestürzt. Aus dieser Frustration und einer gewissen Arglosigkeit entstand der Wunsch, zu beweisen, dass wir als Nation etwas vorzuzeigen haben. Viele Menschen versuchen, uns zur Stimme des chinesischen Designs zu machen. Das war aber so nie unser Ansatz. Es wäre lächerlich, ganz China repräsentieren zu wollen. Das Land ist viel zu groß und viel zu divers. Wir hoffen nur, Design wieder in den Alltag zurückzubringen und es relevant zu machen. Wie würden Sie generell Ihre Arbeitsweise beschreiben? Rossana Hu: Wir beschäftigen uns mit zwei Projektarten: einerseits mit der Wiederbelebung oder Wiederaneignung eines existierenden Gebäudes, das oft auch geschichtlich relevant ist, ndererseits mit etwas komplett Neuem oder neu zu Gestaltendem, dem auch eine neue Bedeutung
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zugewiesen werden muss. Bei dem Hotel Waterhouse oder unserem Concept Space Design Republic in Shanghai zum Beispiel handelt es sich um renovierte Gebäude. Bei solchen Projekten neigen wir dazu, mit dem Existierenden zu arbeiten, dem Historischen und Traditionellen. Injiziert wird das Neue. Und wenn es sich um einen Neubau handelt? RH: Bei einem komplett neuen Projekt müssen wir das Alte finden, es wird uns nicht gegeben. Dann schaffen wir etwas, das historisch ist, jedoch ohne dabei etwas Bestehendes einfach zu kopieren. Wir greifen gewisse Aspekte des Ortes auf und schaffen etwas gänzlich Neuartiges, das sich dennoch vertraut anfühlt. Wir glauben, dass Menschen immer etwas Vertrautes suchen. Gewisse Elemente aus der Geschichte zu entlehnen und sie an die Oberfläche zu bringen, ist uns wichtig. LN: Das muss nicht zwangsläufig Material oder Patina sein. Es kann auch die Abfolge der Wohnräume sein, eine altertümliche Art, einen Grundriss zu interpretieren. Zum Beispiel die Typologie eines Hauses mit umbautem Innenhof. Uns interessiert dabei das gesamte Gefüge, die Struktur einer Stadt. Inwiefern spielt dabei Ihr chinesischer Background eine Rolle? RH: Wir stellen uns gerne die Frage, was chinesisch ist.
DESIGN
Rossana Hu und Lyndon Neri haben am eigenen Leib erfahren, dass Stereotypen auch vor der Designwelt nicht haltmachen. Wozu sie diese Erfahrung inspiriert hat und was sie von ihrer Rolle als chinesische Designbotschafter halten, erzählen sie im Interview.
In unseren früheren Projekten wie dem
Wenn eine brennende Zigarette in dem
China House des Oriental Hotels haben wir uns an verschiedenen Zeitperioden Chinas, wie den Zwanzigerjahren oder der Kaiserzeit, orientiert. Im Laufe der Jahre haben wir uns weiterentwickelt und versucht, abstrakter und räumlicher zu denken. Beim Water House zum Beispiel wollten wir Shanghai erfahrbar machen. Natürlich ist Shanghai chinesisch, aber nicht auf eine offensichtliche Weise. Wir suchen immer nach kulturellen Stichwörtern und Hinweisen, die versteckt und nicht sofort ersichtlich sind. Im Waterhouse ist die Erfahrung eine räumliche. Es gibt diese Ausschnitte, diese Ausblicke – von einem Fenster zum anderen und zu vielen weiteren. Wie die, die wir in den vergangenen zehn Jahren, die wir in Shanghai leben, gefunden haben. Aber ist das chinesisch in dem Sinne, wie die Menschen über China denken? Natürlich nicht.
Aschenbecher liegt, erinnert da an ein typisches chinesisches Bild von einem von Wolken umgebenen Berg. Für einen Chinesen mag es amüsant sein. Wir mögen diese Art von Humor, aber es hat nichts mit der typischen Chinoiserie zu tun, wie Drachen, Phoenix, Gold und Rot.
Dabei geht es also auch um die Hinterfragung kultureller Darstellungen? RH: In anderen Momenten, besonders bei unseren Produkten, versuchen wir einen Sinn für Humor zu zeigen. Wir benutzen chinesische Elemente aus der Literatur oder Poesie. Unser Aschenbecher Shanshui hat die Form eines Berges – aber eher wie die eines traditionellen Pinselhalters der Kalligrafie.
Sie arbeiten nicht nur als Gestalter, sondern engagieren sich auch kritisch im Designdiskurs und sind Herausgeber des Magazins Manifesto. Wie kam es dazu? RH: Wir haben in China einen Sinn für das Entdecken, Erforschen und Diskutieren vermisst. Dort sind alle so beschäftigt, es gibt so viel Arbeit, also haben die Menschen keine Zeit, darüber nachzudenken, was sie tun. Schon früh haben wir ein Buch herausgebracht, mit dem Titel Persistence of Vision. Das war der Beginn eines Versuches, Kreative zu einem Diskurs zu bewegen und wirklich darüber zu sprechen, was sie tun und dabei entdecken. Das ist der einzige Weg, eine Stadt mitzuprägen. Es braucht den Diskurs und die gegenseitige Beeinflussung.
Das gesamte Interview und alle Bilder zu den Projekten finden Sie online unter: www.heinze-dear.de/_0813
Über Neri&Hu www.neriandhu.com
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FORMSACHE
VOM ENDE DER DINGE
Max Scharnigg schreibt 端ber Stil und Lebensart in der S端ddeutschen Zeitung und 端ber Reisen, Leben und Liebe in seinen B端chern. www.scharnigg.de
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DESIGN
KOLUMNE
VON MAX SCHARNIGG
Einige Jahre lang bin ich fast jeden Tag in die Halle 2 gegangen. Das ist eine Einrichtung der Münchner Abfallwirtschaftsbetriebe, in die jeden Morgen das vom Sperrmüll geliefert wird, was den Mitarbeitern in den Wertstoffhöfen der Stadt noch verwendbar scheint. Es gab vieles, was mich an dieser Halle faszinierte, allen voran die Auswahl der Produkte, die dort landete. Gegenstände, die zunächst von den Münchnern ausgemustert worden waren und dann wieder im Affekt von den (mäßig interessierten) Mitarbeitern vor der Hydraulikpresse gerettet. Eigentlich der ultimative Härtetest für gutes Design: Schrott or not? Es dauerte aber eine Weile, bis ich ein System in der Auswahl erkannte. Vintage-Wissen spielte dabei kaum eine Rolle, stattdessen wurde gerettet, was wertig aussah oder eben sehr deutlich gestaltet war. Bedeutete, dass kitschige, gerahmte Kunstdrucke („Pierrot“) und Fake-Kronleuchter, zackige Beistelltische mit gefrosteten Glasscheiben, wacklige Deckenfluter in Messing und staubige Klavierlack-Möbel zu den häufigsten Stücken dieses Gnadenhofes gehörten. Dinge also, die kraft ihrer Wertigkeits-Mimikry dem Sperrmülltod von der Schippe gesprungen waren. Dinge, die nach gehobenem Wohnen aussahen, egal wie mies eigentlich ihre Qualität war. Dazu gab es aber auch noch viele vermeintlich massive Möbel aus der Eiche-Rustikal-Furnierzeit unserer Eltern, mit Butzenglas-Vitrinenschrank und Abdrücken vom Röhrenfernseher. Als würde dieses Mobiliar immer noch so etwas wie eine qualitätsvolle BRD-Wohnlichkeit erzeugen können. Es war faszinierend. Ikea-Sachen schafften es aus Prinzip fast nie in die Halle 2, dafür aber zum Beispiel stets Ledersitzgarnituren von äußerst zweifelhafter Hygiene. Emaille, Zink- und Blechgegenstände und anderes Metall landete ebenfalls kaum dort, weil die Aufpasser nur beim Sperrmüll standen, aber nicht beim Altmetall-Container. Dafür fanden sich regalweise billiges Steingut-Geschirr und abgenudelte Kuscheltiere in der Halle 2 und eine wirklich erstaunliche Menge an Golfschlägern und Golftaschen, die nie jemand mitnahm, die aber dennoch immer weiter gesammelt wurden. Als wäre der inhärente Luxus des Golfsports Argument genug, nichts davon je wegzuwerfen. Der wachsende Berg ungeliebter Golfschläger in der alten Fabrikhalle war eigentlich das
schönste Bild – lachhaft funktionslose Objekte, die jedermann dennoch respektvoll musterte. Ich wartete jahrelang darauf, dass sich mal ein passionierter Golfspieler einfand und für ein paar Euro ein Traumset zusammenstellte, aber das geschah nie. Jedenfalls – es war imposant, was für eine Menge Freizeit- und Wohlstandsmüll eine Stadt wie München jeden Tag ausspuckte. Oft genug ging ich nach zehn Minuten mit leeren Händen nach Hause, weil nur grauenvolle Fitnessgeräte aus den Neunzigerjahren oder brutalistische braune Plastikgartenmöbel geliefert worden waren. Objekte von solch überflüssiger Hässlichkeit, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass sie bis vor Kurzem tatsächlich in menschlichen Behausungen herumstanden. Was die Nachhaltigkeit dieser Sammlung anging, so ließ sich leicht eine Faustregel ableiten: Was vor 1950 hergestellt worden war, war im Schnitt wertiger und vor allem auch designstabiler als das Zeug aus den 50 Jahren danach. Mit dem Einzug von Plastik, Pressspan und Billigfurnier in die Haushalte waren die Alltagsmöbel nicht nur seelenloser und schlichter geworden, die Sachen erzählten auch meistens nichts mehr. Die Zeit hatte sich in diesen Materialien nicht liebenswert niedergeschlagen, ihre Patina war einfach nur Schmutz und Kaputtness. Aber mit viel Glück stand dazwischen eben auch mal ein Mauser-Stahlrohrstuhl oder ein altes Schreibpult. Einmal fand ich eine Kandem-Lampe von Marianne Brandt, einmal einen Beistelltisch von Mario Bellini. Nachts träumte ich manchmal davon, wie viel von diesen Schätzen Tag für Tag einfach im Container landeten, weil niemand sie sah. Nach ein paar Jahren emsiger Schatzsuche schlichen sich Zweifel ein: Hatten diese Sachen wirklich mehr Wert, nur weil ich ihre Designer kannte? Hortete ich im Keller nicht ein ebenso willkürliches und olles Sammelsurium wie die Mitarbeiter der Halle 2? Die Antwort tat weh. Seitdem gehe ich nicht mehr in die Halle 2 und träume nicht mehr von Containern voller Bauhaus-Lampen. Vielleicht, ganz vielleicht, hätten wir mit Golf anfangen müssen.
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PORTRÄT
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DESIGN
SAMY RIO
BAMBUS FOREVER In seiner Kindheit bastelte Samy Rio am liebsten in einem Bambusgarten, nun stellt er aus den exotischen Pflanzen Haartrockner, Lautsprecher, Lampen und Sitzbänke her. Mittlerweile finden aber auch seine anderen experimentellen Kreationen so viel Beachtung, dass der junge Querdenker immer öfter als das neue Gesicht des französischen Designs bezeichnet wird.
Mit seinen 29 Jahren gehört Samy Rio zu der Generation von Designern, die mit nachhaltiger Gestaltung aufgewachsen sind. Ein persönliches Ausrufezeichen setzte der Franzose auf diesem Gebiet jedoch während seines Studiums an der Pariser L’École Nationale Supérieure de Création Industrielle (ENSCI - Les Ateliers): Für seine Abschlussarbeit entwickelte er Haartrockner und Musiklautsprecher aus Bambusrohren und lieferte dazu neue Denkanstöße für die Herausforderungen, die technische Apparate ohne Plastik und Metall zwangsläufig mit sich bringen. Die Jury der renommierten Universität für Industriedesign war begeistert und zeichnete Rio für die Originalität und Innovation
seiner Arbeit aus. Nur ein Jahr später, im Juli 2015, gewinnt er mit demselben Projekt den Hauptpreis der zehnten Design Parade der Villa Noailles. Seitdem experimentiert der gelernte Tischler auch mit anderen Materialien. Für die Pariser Galerie Kreo montierte Rio filigrane Spiegel auf massives Walnussholz, für seine Kollektion Vases composés (dt.: „zusammengesetzte Vasen“) kombinierte er hochwertiges Glas, Porzellan und Holz mit Nylonseilen. „Ich möchte mit meinen Kreationen eine Spannung zwischen handwerklicher und industrieller Präzision erzeugen“, erklärt Rio. Am liebsten arbeitet er jedoch weiterhin mit „der Wundertüte Bambus“. 2016 kollaboriert er mit dem National Taiwan
TEXT: JANA HERRMANN FOTOS: SAMY RIO
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PORTRÄT
Oben: Kunststoff und Bambus sind eine ungewöhnliche Kombination. Ihr ästhetisches Potenzial weiß Samy durch eine gezielte Zusammenstellung von Farben, Formen und Oberflächenbeschaffenheiten herauszukitzeln. Unten: Beonders im Zusammenspiel mit Technologie, wie hier bei einem Lautsprecher (Prototyp), überrascht das Material.
Craft Research and Development Institute (NTCRDI) im taiwanesischen Caotun und entwickelt auf der Basis jahrhundertealter Verarbeitungstechniken eine moderne Bambuslaterne, die Bamboo Lantern. „Bambus besitzt in seiner ursprünglichen Form ähnliche Eigenschaften wie Aluminium und Stahl, ist aber viel einfacher zu recyceln.“ Zudem sei das Material hitzeresistent und kostengünstig in der Herstellung, weil es extrem schnell wächst. „Ich finde Bambus absolut ästhetisch und bin immer wieder davon beeindruckt, wie vielfältig sich seine Röhrenform verändern und verwenden lässt. Deshalb habe ich auch die meisten meiner Kreationen aus anderen Materialien in Röhrenform
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gestaltet“, ereifert sich der Franzose und resümiert: „Es wäre nicht richtig, mich als Bambus-Experten zu bezeichnen. Ich bin ein Bambus-Besessener.“ Doch woher rührt diese Faszination für ein Material, das in Asien seit Jahrtausenden in unterschiedlichster Weise genutzt wird und in der westeuropäischen Industrie so gut wie gar keine Rolle spielt? „Ich komme aus einem Ort in den französischen Cevennen, in dem es einen riesigen Botanischen Garten mit über 1.000 verschiedenen Bambusarten gibt. Das war mein Spielplatz, und ich verbrachte schon als Kind viel Zeit damit, mit Bambus zu basteln“, erklärt Samy Rio. „Mich hat aber auch schon immer und generell fasziniert, dass sich natürliche Rohstoffe
DESIGN
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PORTRÄT
„Bambus besitzt in seiner ursprünglichen Form ähnliche Eigenschaften wie Aluminium und Stahl, ist aber viel einfacher zu recyceln.”
in Gebrauchsgegenstände umwandeln lassen – zum Beispiel, dass man aus Bäumen Stühle herstellen kann.“ Deshalb absolviert Rio zunächst eine Tischlerlehre, die ihm bis heute und vor allem während seines Designstudiums viele Vorteile bringt. „Es ist mir beispielsweise ein Leichtes, industriell hergestellte Partikel aus Kunststoff in den exakt gleichen Dimensionen und aus natürlichen Materialien nachzubauen. Ich bin aber auch generell davon überzeugt, dass mit qualitativer Handarbeit die gleiche Perfektionsstufe wie die von maschinell hergestellten Produkten erreicht werden kann – obwohl das wohlgemerkt nicht mein persönlicher Anspruch ist“, stellt Rio klar. „Mich interessiert, Handwerkskunst und Industriedesign wie selbstverständlich miteinander zu kombinieren.“ Besonders stolz ist der Designer in diesem Kontext auf sein aktuelles Projekt Bamboo Bench. „Von außen sieht es so aus, als hätte ich aus zersägten Bambusrohren, Gurten und ohne viel Mühe eine Bank gebaut. Der zeitaufwendigste und innovative Teil dieser Arbeit bleibt jedoch unsichtbar. Er besteht aus einer technisch komplexen Konstruktion, welche sich im Inneren der Bambusrohre befindet und diese mit Betonelementen im Boden verankert.“ Als Nächstes geht es für Samy Rio nach Japan, wo rund 800 verschiedene
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Bambusarten wachsen. Vier Monate lang möchte der Franzose in der Villa Kujoyama in Kyoto besser verstehen, wie die Japaner Bambus verarbeiten und dieses Material insbesondere im Bausektor verwenden. „Langfristig möchte ich Bambus in möglichst viele Produktionsschritte einbauen und es nicht nur als äußeres Gerüst oder Dekoration benutzen“, erklärt er seine Motivation. Langfristig möchte Samy Rio auch seine preisgekrönten Haartrockner und Lautsprecher aus Bambus vom Prototyp in ein Serienprodukt umwandeln. Dazu fehle ihm bisher nicht nur die Zeit, sondern vor allem das notwendige technische Know-How. Zu seinen weiteren Zukunftsplänen zählt aber auch, die französische Hauptstadt zu verlassen. „Ich wünsche mir einen Ort, der mir viel Platz zum Leben und Arbeiten bietet. In Paris ist das momentan unmöglich“, erklärt Rio, der sein Designstudio seit drei Jahren in seiner Wohn-WG betreibt und für eigene Produktionen die Werkstatt von Freunden in einem Vorort anmietet. „Entweder ziehe ich zurück nach Zentralfrankreich, nach Kanada oder an einen anderen Ort, den ich heute noch nicht kenne. Deutschland wird es aber definitiv nicht sein“, sagt Samy Rio schmunzelnd. „Dort gibt es einfach schon zu viele gute Designer.“
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PROJEKTE
GLENSTONE MUSEUM
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: IWAN BAAN
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DESIGN
KEINE FRAGE DER SAMMLUNG
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PROJEKTE Rechts und im Inhaltsverzeichnis: Roni Horn, Water Double © Roni Horn, Foto: Ron Amstutz Courtesy: Glenstone Museum
Die Passagen zwischen den elf Ausstellungspavillons öffnen den Blick in die Natur. Ähnlich funktionieren auch die Wege zu den Außenskulpturen. Weil das Glenstone Museum mitten in einem Park liegt, spazieren die Besucher etwa zehn Minuten durch die Landschaft.
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DESIGN
„Art is for the visit, architecture is for stay“. Im Glenstone Museum kommt beides zusammen. Thomas Phifer hat in den Landschaftspark bei Washington, D.C. ein fantastisches PavillonEnsemble aus tiefgrauem Mauerwerk gesetzt, das sowohl mit seiner Umgebung als auch mit den Exponaten in einen behutsamen Dialog tritt. Man möchte diesen Ort nicht mehr verlassen.
Gute Nachrichten aus den USA bringt im Herbst die Kultur. Am 4. Oktober 2018 feiert das Glenstone Museum sein Reopening. Keine zehn Kilometer außerhalb von Washington DC ist ein 19.000 Quadratmeter großes Ensemble für die Kunst der Moderne sowie für die zeitgenössische Kunst entstanden. Entworfen wurden die Erweiterungsbauten von Thomas Phifer and Partners: Experten im Bereich der Museumsarchitektur. Dass die Inszenierung von Kunstexponaten Architekten immer noch herausfordert, mag auch daran liegen, dass die Kunst an sich eine Herausforderung bleibt – egal aus welcher Epoche. Die Glenstone-Sammlung von Mitchell Rales und Emily Rales vereint wichtige Namen in nur einem Ausstellungsraum: Joseph Beuys, Marcel Duchamp, Dan Flavin, Alberto Giacometti, Donald Judd, Martin Kippenberger, Sol LeWitt, Sigmar Polke, Mark Rothko, Richard Serra, Rosemarie Trockel, Andy Warhol
und viele, viele mehr. Die Werke von 52 großartigen Künstlern versammeln sich in einer 800 Quadratmeter großen, stützenfreien Halle im zweiten Pavillonbau. Es sind insgesamt 65 Arbeiten, die zwischen 1943 und 1989 entstanden sind. Auch sonst hat das Glenstone Museum nach seiner Wiedereröffnung viel zu bieten. Neun der elf Bauten präsentieren Einzelausstellungen, darunter Installationen von Pipilotti Rist, On Kawara und Cy Twombly. Das Galeriegebäude eröffnet die Ausstellung Louise Bourgeois: To Unravel a Torment. Und am Eingang begrüßt die Besucher ein Schriftzug von Lawrence Weiner, dessen Material Sprache ist. Die neuen Räume ermöglichen durch ihre unterschiedlichen Größen, Konfigurationen und Lichtverhältnisse eine wechselnde Bespielung von variablen Werken. Alle Kuben von Thomas Phifer und seinem Team erweisen sich als ideale Bühne für die Kunst. 2010 wurde
der amerikanische Architekt mit dem Projekt beauftragt. Dass der gesamte Neubau 2018 eröffnet werden kann, spricht ebenso für eine konsequente Planung wie auch für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Bauherrn und Architekten.
The Glenstone Museum www.glenstone.org Projektarchitekten: Thomas Phifer and Partners www.thomasphifer.com Landschaftsarchitekten: PWP Landscape Architecture www.pwpla.com Fotos: Iwan Baan / www.iwan.com Alle Bilder: www.heinze-dear.de/_0824
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SYMMETRIE
PROJEKTE
TEXT: TIM BERGE
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DER NACHT
DESIGN
FOTOS: ANTONINO CARDILLO
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PROJEKTE
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DESIGN
Mit seinem neuesten Projekt, einem Restaurant in Rom, schlägt Antonino Cardillo ein weiteres Kapitel in seiner epischen Architekturerzählung auf. Wieder einmal zieht er die Nutzer hinein in seine Gedankenwelt, die von Intimität, Illusion und Ordnung geprägt ist.
Symmetrie, Geometrie und Kontraste. Die Handschrift von Cardillo ist eindeutig. Wie in seinen vorigen Projekten sind Decken und Wände mit gefärbten Puzzolanen bedeckt.
Die Frage nach der Realität seiner Projekte stellt sich bei Antonino Cardillo nicht: Das Hier und Jetzt ist für den italienischen Architekten nur eine Ebene von vielen. Seine Bauwerke sind ein Konglomerat aus Mythen, Märchen und Vorstellungsbildern unterschiedlicher Epochen und Kulturen. Er will eine Architektur des Unbewussten schaffen, inspiriert von einem seiner großen Vorbilder, dem Schweizer Psychologen C. G. Jung. Dringt man in den Off Club vor, ist es, als würde man sich auf eine geologische und zugleich sensorische Expedition begeben. Über drei große Türen gelangen die Besucher von der Via di Casal Bertone in das Restaurant, das gleichzeitig auch eine Bar ist. Wie schon bei seinen anderen Arbeiten, dem House of Dust oder dem Specus Corallii, hüllt Cardillo seine Architektur in gefärbten Puzzolan-Putz, den er mit glänzendem Kupfer, dunklen Spiegeln und schwarzem Granit kontrastiert.
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PROJEKTE
Ein grenzenloses Spiel aus Licht und Schatten. Dieses wundersame Oberflächengemisch vereinnahmt den Besucher sofort und zieht ihn hinein in die Welt von Antonino Cardillo. Der Gastraum bricht in seiner Mitte in zwei Hälften: Eine vertikale Verschiebung trennt Restaurant und Bar voneinander. Der Übergang gleicht einer tektonischen Bruchstelle, bei der ein Teil der Bodenplatte um einige Meter in die Höhe gestemmt wurde. Die Symmetrie bleibt selbstverständlich erhalten: Auf beiden Seiten bildet jeweils ein über sieben Meter langer Barren aus schwarzem Granit das räumliche Epizentrum. Ergänzt werden sie durch weitere geometrisch strenge Figuren – Bögen, Rhomben, Dreiecke und Scheiben leuchten, spiegeln und durchschneiden den Raum, als würden sie auf ein archaisches Ritual hindeuten. Wie kaum ein anderer schafft es Cardillo mit seiner Architektur, den Nutzer physisch wie psychisch in seine Gedankenwelt zu involvieren. Eine Reise in den Grenzbereich von Realität und Illusion, auf die es sich einzulassen lohnt.
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DESIGN
„Paradiso ist ein ummauerter Garten mit goldenen Schatten und schwarzen Spiegeln“, erklärt der italienische Architekt.
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PROJEKTE
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DESIGN
Off Club Rome www.offclubrome.com Projektarchitekt Antonino Cardillo www.antoninocardillo.com
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PROJEKTE
DAS NEUE NOMA VON BIG
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DESIGN
DÄNISCHES DORF
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: MAXIME BROUILLET UND FRANÇOIS BODLET
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PROJEKTE
Das perfekte Menü teilt sich in mehrere kleine Gänge, die gut aufeinander abgestimmt sind. Bjarke Ingels hat sich von der Haute Cuisine inspirieren lassen und baut für die neue Dependance der dänischen Sterne-Küche Noma ein Dorf aus elf kleinen pittoresken Gebäuden, die allesamt miteinander verbunden sind. Erst im September 2018 eröffnet, ist das beste Restaurant der Welt die kommenden Monate bereits restlos ausgebucht.
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DESIGN
Die skandinavische Spitzenküche Noma 2.0 hat in der Gemeinde Christiania ein ganzes Dorf bezogen: ein 1.300 Quadratmeter großes Cluster. Küche, Bäckerei und Gastraum gut voneinander trennen und trotzdem miteinander verbunden bleiben. Glasüberdachte Passagen schützen Gäste, Personal und Spitzenköche vor Regen.
Noma 2.0 heißt also das neue Restaurantdorf am Rande des Kopenhagener Viertels Christiania. Noma-Village trifft es noch besser. Mit Seeblick und mitten in der Natur hat Küchenchef René Redzepi es wirklich gut getroffen. Sein Spitzenrestaurant ist zurück in Kopenhagen. Es hat sich vergrößert und ist trotzdem stets restlos ausgebucht. Kein Wunder, geht es im Noma nicht einfach darum, satt zu werden, sondern um Gourmeterlebnis, an das man sich noch Jahres später erinnern wird. Elf Solitäre hat das Team von Bjarke Ingels und seinem Projektpartner Finn Nørkjær entworfen, die jedes für sich speziell für ihre jeweilige Nutzung gestaltet sind. So entsteht einerseits der Eindruck von einer mit den Jahren gewachsenen Struktur. Andererseits lassen sich Bereiche wie Küche, Bäckerei und Gastraum gut voneinander trennen und bleiben trotzdem miteinander verbunden. Glasüberdachte Wege schützen Gäste, Personal und
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PROJEKTE
Innen- und Außenraum verbinden sich, die Umgebung verwächst mit der Architektur.
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DESIGN
Noma-Gründer René Redzepi kocht vorwiegend mit regionalen Produkten – was die Architektur von Bjarke Ingels widerspiegelt.
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PROJEKTE
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DESIGN
„Ähnlich wie unsere eigene Vorstellung von hedonistischer Nachhaltigkeit hat das Noma eine Küche geschaffen, die auf gemeinsamen Werten der Kreativität und Nachhaltigkeit basiert “, meint Bjarke Ingels.
Spitzenköche vor Regen, die Umgebung verwächst mit der Architektur. Das neue Noma liegt zwischen zwei Seen und in der Gemeinde Christiania, gebaut wurde auf dem Areal eines ehemaligen Militärlagers, wo einst die Minen der Königlichen Marine deponiert wurden. Das kulinarische Dorf befindet sich mitten in einem Garten und verfügt über eigene Gewächshäuser. Holz, Ziegel, Glas und Lehm: Da jedes der elf Gebäude mit verschiedenen nordischen Bautechniken und Materialien geplant wurde, vermittelt das Noma-Ensemble auf 7.000 Quadratmetern ein Verständnis für Architektur. Wer das vor Ort erleben will, sollte schnell reservieren: Die lange Warteliste spricht für sich.
BIG Bjarke Ingels Group / www.big.dk Fotos: Rasmus Hjortshoj / coastarc.com NOMA / noma.dk
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PROJEKTE
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SPIEGLEIN
In diesem japanischen Friseursalon hängen keine Spiegel an der Wand, und es geht auch nicht darum, wer am schönsten ist.
SPIEGLEIN TEXT: CLARA BLASIUS FOTOS: TAKUMI OTA
Zuletzt diente dieses Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofs in Kyoto einer Autofirma als Showroom. Im zweiten Stock hat der Friseursalon FLUX jetzt eine neue Filiale eröffnet. Von der vorherigen Nutzung zeugen noch die deckenhohe gebogene Fensterfront an der Südseite und die Dachterrasse mit Auto-Aufzug im Norden. FLUX leitet sich vom lateinischen Wort „fluxus“ (dt.: Fluss) ab. Die Architekten von SIDES CORE unter der Leitung von Sohei Arao, haben den Namen wörtlich genommen und in ein Entwurfskonzept übersetzt. Sie wollten einen offenen Raum gestalten, durch den Licht und Luft frei strömen können. Fast alle, ob in Deutschland oder Japan, besuchen mehr oder weniger regelmäßig einen Friseursalon. Oft kommen diese von üblichen Stilen und Ordnungen jedoch nicht los, zu vordefiniert scheint die Organisation des Raumes, zu vorgegeben die Funktion der Elemente. Tatsächlich kann man sich keinen
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PROJEKTE
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DESIGN
Friseursalon FLUX in Kyoto 148,5 Quadratmeter, 2017 Projektarchitekten Sohei Arao von SIDES CORE Fotos: Takumi Ota
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PROJEKTE
Von der hierzulande üblichen Piefigkeit von Friseursalons ist FLUX weit entfernt. Sein Interior gleicht eher einer Kunstinstalation – die Kunden werden ein Teil davon.
Friseursalon ohne, beispielsweise, einen Spiegel denken, dem Element, das dessen Funktion wie kaum ein anderes definiert und nach außen hin manifestiert. Die Spiegel wurden hier aus den Fängen der üblichen Frontalansicht und Wandbefestigung befreit und in eine höhere Sphäre gerückt. Sie sind die Herzstücke des Salons: mittig platziert, hängend und allseitig spiegelnd. Durch Position und Form gewinnen sie einen fast skulpturalen Charakter. Die Spiegel sollten mehr als nur die Ansicht eines Kunden reflektieren und den Eindruck des Raumes optisch nicht unterbrechen, zeigen ihn also stattdessen als Ganzes. Sie werden dadurch mehr zu Objekten, als sich über ihre Funktion zu definieren. Denn tatsächlich: Trotz der zentralen Aufhängung der Spiegel scheint es, als würde der Raum weitergehen oder zusammenfließen. Auf den Außenseiten der gewinkelten Spiegel gibt es je zwei Plätze für Kunden, auf den Innenseiten je einen. Die Höhe der großen Spiegel sowie anderer struktureller Elemente ist auf 1,5 Meter begrenzt, um den Fluss des natürlichen Lichts und die Sichtachsen nicht Stören. Auch das Personal behält dadurch die Übersicht über die gesamte Fläche des Raumes. Bewegt man sich tiefer in den fast 150 Quadratmeter großen Salon, trifft man auf verschiedene Perspektiven und Situationen. Der flexibel nutzbare Eingangsbereich strahlt in seiner Materialität und auch formal Schwere aus. Der Mittelteil, durch den kastenförmigen Waschraum räumlich organisiert,
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erscheint eher praktisch. Die außen gelegenen Frisierplätze wirken offen und leicht. Mit dieser Sequenz nehmen die Architekten ein lokales Element in ihren Entwurf auf: Charakteristisch für die Architektur in Kyoto ist, wie sie räumliche Tiefen nutzt. Die urbanen Gebäude treten oft mit einer schmalen Straßenansicht auf und erstrecken sich dann in die Tiefe. Insgesamt ist der Salon modern und, ja, minimalistisch gestaltet. Graue Böden und Wände bilden einen neutralen Rahmen. Die offengelegte Decke und von Beton dominierte Materialität sowie dunkle Fensterrahmen erzeugen eine industrielle, aber ruhige Atmosphäre, die dann von weißen fließenden Vorhängen und der Helligkeit, sowohl natürlichen Lichts als auch des schlichten, konsequenten Beleuchtungssystems, ergänzt und abgedämpft wird. Für die reduzierte Ausstattung wurde keine übliche Friseureinrichtung, sondern klassisches Mobiliar gewählt, wie zum Beispiel der CH20 Elbow Chair von Hans J. Wegner und Piña Sessel von Jaime Hayon für Magis. Man kann sich die Ruhe gut vorstellen. Der mancherorts so typische Smalltalk bleibt hier sicher aus, vielleicht hört man sogar die Haare zu Boden fallen. Eine Oase mitten in der lebendigen Stadt. Im FLUX ist Frisieren Fertigkeit, Handwerk, nicht Dienstleistung, Kommerz oder bloßes Sprungbrett für die Eitelkeit der Kunden. Die Vision des Inhabers und der gewählte Name lassen einen, auch ohne bewusste Referenz, dann doch noch an die Fluxusbewegung denken: eine starke Idee. Dann konsequent umgesetzt.
TILE AWARD 2017 von AGROB BUCHTAL: Gewinner-Entwurf „Stay Unique“ von Agnes Morguet Innenarchitektur & Design, Köln
H ealth & Care für Body & Soul Raumkonzepte für medizinische Bereiche, betreutes Wohnen oder die Pflege verlangen besondere Sensibilität bei Materialauswahl und -einsatz: Formen, Farben, Oberflächen und Haptik spielen dabei eine essentielle Rolle.
www.agrob-buchtal.de
Halle A4, Stand-Nr. 500
DESIGNERS WITH CHAIRS
Möbel verkaufen sich mehr denn je über ihren Designer. Nachdem der Playboy bereits 1961 Stühle mit ihren Gestaltern auf dem Cover ablichtete, ist es inzwischen vollkommen üblich, die Person hinter dem Möbel in den Vordergrund zu stellen. Hier zu sehen (dem Uhrzeiger nach): Sebastian Herkner und sein Atelier-Stuhl für Thonet, Barber & Osgerby mit dem Soft Work-Sofa für Vitra, Stefan Diez trägt seinen 404 für Thonet und Inga Sempé packt gerade ihren Moël für Ligne Roset aus. sb
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FÜR DIE TÄGLICHE DOSIS DESIGN UND ARCHITEKTUR: WWW.HEINZE-DEAR.DE
4.113 PRODUKTE 1.722 PROJEKTE 1.316 STORIES 405 INTERVIEWS FACEBOOK.COM/DEARMAGAZIN
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PORTRÄT
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DESIGN
MINIMALISMUS AUS LEDER RAMS & TSATSAS
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PORTRÄT
Rasierer, Radios und Möbel – gutes Design umfasst für Dieter Rams bekanntlich das gesamte Leben. Jetzt bringt das Frankfurter Taschenlabel Tsatsas eine Damenhandtasche heraus, die Deutschlands bekanntester Industriedesigner vor über 50 Jahren für seine Frau Ingeborg Kracht Rams entworfen hat. Eine Liebeserklärung, die zeitlos bleibt.
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: GERHARDT KELLERMANN
Als Dieter Rams die Fotografin Ingeborg Kracht kennenlernt, ist er gerade 23 Jahre alt. Sein Architekturstudium in Wiesbaden hat Rams soeben abgeschlossen, kurze Zeit später – es ist das Jahr 1955 – beginnt er, bei Braun in Kronberg zu arbeiten. Dort begegnet der junge Innenarchitekt besagter Fotografin. Auch sie arbeitet zu dieser Zeit bei Braun. Die beiden werden ein Paar. Er baut ihr ein Haus inmitten der Bungalowsiedlung in Kronberg, in dem beide seit fast 50 Jahren leben. Und er entwirft für seine Frau eine Handtasche, die Ingeborg Kracht Rams noch heute hat: reduziert, wie alle Produkte und Möbel von Dieter Rams – nichts ist zu viel, nichts fehlt. Vor allem das Innenleben ist durchdacht. „Natürlich ist es ein sehr reduzierter und zurückhaltender Entwurf “, sagt auch Esther Tsatsas. „Es ist eine klassische Damenhandtasche, die sich im Inneren sehr schön auffächert.“ Sie redet mit Begeisterung und freut sich über das gemeinsame Projekt mit Dieter Rams. Auch Esther Tsatsas hat wie Rams zunächst Architektur studiert und landet über Umwege beim Design. 2012 gründet sie mit ihrem Mann, dem Industriedesigner Dimitrios Tsatas, das Label Tsatsas. Ihre Ledertaschen verbinden traditionelle Handwerkskunst mit zeitloser Formensprache und einer sensiblen Ausarbeitung sämtlicher Details. „Ich denke, dass wir generell etwas anders arbeiten, als man es eigentlich machen würde. Wir betrachten eine Tasche als ein Produkt, das langlebig sein sollte“, verdeutlicht Esther Tsatsas.
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Es passt also, dass die Stiftung von Dieter und Ingeborg Rams Anfang des Jahres das Frankfurter Duo Tsatsas anfragt, ob es nicht Interesse an der Neuauflage seiner Damenhandtasche habe. Zu diesem Zeitpunkt haben Esther und Dimitrios Tsatsas gerade eine Tasche von dem verstorbenen Architekten Ferdinand Kramer auf den Markt gebracht. „Ferdinand Kramer hatte nämlich in den Sechzigerjahren eine Handtasche für seine Frau Lore Kramer entworfen“, erinnert sich Esther Tsatsas. „Vor ein paar Jahren kam sie auf uns zu, um uns von dieser Handtasche zu erzählen. Wir haben dann mit ihr zusammen diesen nie veröffentlichten Entwurf ihres Mannes neu aufgelegt.“ Als Dieter Rams von dieser Geschichte hört, fragt auch er vorsichtig bei Tsatsas an. Aus dem ersten Gespräch wird eine enge Kooperation. „Es war sehr konstruktiv, sehr entspannt und sehr offen“, sagen die Frankfurter Gestalter. Dieter Rams habe einen sehr hohen Anspruch an Gestaltung und seine Gestaltungsprinzipien. „Ich glaube, dass diese gut zu den unsrigen passen“, meint Esther Tsatas. Ihr gefällt vor allem das schön gestaltete Innenleben der Handtasche, an dem das Duo zusammen mit Dieter Rams noch mal gearbeitet, einige Details verändert und angepasst hat. Dass die Tasche 1963 entsteht, sieht man ihr nicht an. Dabei sind seitdem 55 Jahre vergangen, vieles hat sich verändert. Der Kalte Krieg wurde beendet, Deutschland wiedervereinigt, die Rassentrennung aufgehoben, die erste Mondlandung gefeiert,
DESIGN
„Der Großteil des Leders, das wir verwenden, ist ein Rindsleder aus Süddeutschland“, sagt Esther Tsatsas. „Daneben verarbeiten wir aber auch einige Leder, die aus Skandinavien kommen.“ So auch das Handtaschenmodell von Dieter Rams. Es wird aus skandinavischem Rindsleder von Hand in einem traditionellen Feintäschneratelier in Offenbach gefertigt, in den zwei Varianten schwarz und grau. 57
PORTRÄT PROJEKTE
das Internet erfunden: Unsere Gesellschaft zeichnet heute eine andere Realität. Dennoch könnte 931 ebenso ein aktueller Entwurf von 2018 sein. Die Handtasche von Ingeborg Rams ist somit ein Paradebeispiel für das, was man zeitloses Design nennt. Damit 931 ins Heute passt, bekommt die Tasche einen Schulterriemen, der sich aber auch abnehmen lässt. „Die ursprüngliche Version hatte keinen Riemen. Es war allein eine Tasche, die in der Hand zu tragen war“, sagt Tsatsas, „Was heute nicht mehr den Ansprüchen einer modernen Frau entsprechen würde.“ Die Konstruktion einer Tasche sei am Ende etwas sehr Mathematisches – „schon das Erstellen der Schnittmuster“, findet Esther Tsatsas. „Und man kann schon behaupten, dass eine Tasche auf ihre Art und Weise auch Architektur im Kleinen ist.“ So wundert es gar nicht, dass Dimitrios und Esther Tsatsas mit einem anderen Architekten schon lange an einem nächsten Projekt arbeiten. Dieses Mal wird es sich nicht um eine Neuauflage einer Damenhandtasche handeln, sondern um einen neuen Entwurf, der in enger Zusammenarbeit mit David Chipperfield entsteht. Was genau, möchten Esther und Dimitrios Tsatsas noch nicht verraten. Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit aus Leder sein.
www.tsatsas.com
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Foto: Ramon Haindl
So wenig Design wie möglich: Das Handtaschenmodell 931, ein Entwurf von Dieter Rams aus dem Jahr 1963, ist jetzt bei Tsatsas in schwarzem sowie grauem Rindsleder mit silbernen Details erhältlich.
ARCHITEKTUR
HAFI Flush Line Die neue HAFI Flush Line Rosetten-Technik ermöglicht eine uneingeschränkte TürdrückerDesignvielfalt und erfüllt die höchsten DIN EN Norm und Brandschutzanforderungen im Objektbereich. Die deutlich reduzierte Aufbauhöhe der runden oder quadratischen Designrosetten ermöglicht zudem die optionale, flächenbündige Montage im Türblatt. Abgerundet wird dieses zeitgemäße Designsortiment durch flächenbündige Fenster- und Hebeschiebetürgriffe, die auf Wunsch in unterschiedlichen Farboberflächen erhältlich sind und sich somit dezent in die Innenarchitektur des Gebäudes integrieren lassen. www.hafi.de Abbildung zeigt HAFI Premium Design 212 Türdrücker-Kollektion Design by Studio F. A. Porsche
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EDITOR’S PICK — WELL, PASTELL
CUBIT LAMPE Dieses modulare Lampensystem für Cubit wurde von den beiden Designerinnen Jeannette Bastisch und Ariane Ernst für Cubit entwickelt. Lampenschirme, Schaft und Fuß ihrer Leuchte lassen sich frei kombinieren.
RELAX Wenn Architekten Möbel entwerfen, folgen sie meistens einem strengen Konzept. Dass dieses durchaus entspannt aussehen kann, beweist das Frankfurter Büro schneider+schumacher mit Relax für den Hersteller Koleksiyon. Die gepolsterte Klammer sollte laut den Architekten „eine moderne Chaiselongue“ werden, die aus einem Stück gefertigt wird. Dabei kann das Sitzmöbel in verschiedenen Positionen zusammengesetzt und sowohl sitzend als auch liegend genutzt werden.
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BOXIE Seine quadratische Form, die abgerundeten Ecken und die geräumigen Schubladen machen die dreidimensionale Qualität dieses Rollschranks aus. Boxie von Pedrali ergänzt Freiflächen und Hubarbeitsplätze im neuen Büro mit persönlichem Stauraum.
Fliesenkollektion: URBAN JUNGLE
URBAN JUNGLE Extravagantes Wand- und Bodenkonzept in Beton-Terrazzo-Optik.
WWW.VILLEROY-BOCH.COM
HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
GESUNDHEIT BAUEN
HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG 62
ADVERTORIAL
DOSSIER
Die Welt des Gesundheitsbaus ist im Wandel. Wie kann er heute optimal gelingen? Welche Nutzerbelange sind beim heutigen Gesundheitsbau zu berücksichtigen? Und nicht zuletzt: Welche Auswirkungen hat der gebaute Raum auf den Genesungsprozess? Stichwort: „Healing Architecture“?
Bauten im Gesundheitswesen stellen Architekten und Bauingenieure heute vor ganz besondere Herausforderungen: Die Veränderungen des Raumprogramms, bedingt durch medizinischen Fortschritt und die immer älter werdende Gesellschaft einerseits sowie die veränderten Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen andererseits, erfordern ein interdisziplinäres, kostensparendes und prozessorientiertes Planen. 19 Planer, Architekten und Industrievertreter haben mit großer Leidenschaft auf unserem Summit „Healthcare“ in Sankt Petersburg diese und weitere Fragen diskutiert, Thesen analysiert, Sachverhalte beschrieben. Lesen Sie in den vier großen Themenblöcken, welche Antworten sie auf die drängenden Fragen des Umbruchs im Gesundheitswesen gefunden haben.
TEXT: KERSTIN KÖNIG FOTOS: KLAUS FÜNER
Die Heinze-Summits versammeln führende Architekten und Innenarchitekten sowie richtungsweisende und visionäre Industrie-Partner zu mehrtägigen Intensiv-Workshops. Mehr Infos unter: www.heinze.de/events/architekturevents
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HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
GESUNDHEITSBAU HEUTE UND IN DER ZUKUNFT
Was zeichnet das Bauen im Gesundheitswesen heute aus? Welche Aufgaben stellen sich dabei dem Architekten in der Zukunft?
Wir schaffen bauliche Strukturen Dies geschieht im Gesundheitswesen weniger durch extravagante Formfindung als durch die Anwendung bewährter Typologien. Flexible bauliche Strukturen müssen langfristige Nutzungskonzepte garantieren. So sind Funktionsbereiche einem permanenten, durch den Einsatz neuer Techniken ausgelösten Wandel unterworfen. Erreicht wird diese Flexibilität im Kontext der Gesamtklinik durch übergeordnete Erschließungskonzepte und im einzelnen Baukörper durch Skelettbauweise sowie ausreichend dimensionierte Raster und Geschosshöhen. Das im Raumprogramm eines Neubaus bereits verankerte Ziel muss beim Umbau im Bestand häufig mühsam erarbeitet werden. Eine ausreichend horizontale Ausdehnung ist nötig, um ein flexibles „Atmen“ möglich zu machen – in Form von Grenzverschiebungen von Funktionsbereichen, Zusammenschaltung und interdisziplinärer Überlappung von Pflegegruppen. Knappes Personal, wachsende Stationsgrößen sowie wirtschaftliche Zwänge bedingen die Auslagerung nicht zwingend zentral benötigter Funktionen wie beispielsweise Zentralumkleiden und Arztraumgruppen. Das Ergebnis sind kurze Wege für Patienten und Personal im Kernbereich der Klinik.
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Wir stellen Fragen Strategien für die Zukunft des Bauens im Gesundheitswesen liegen nur zum Teil im direkten Zugriff des Architekten. Die Rahmenbedingungen werden von Politik, Krankenkassen, Betreibern und Investoren gesteckt. Deren Auswirkungen auf das Raumprogramm und das Betriebsorganisationskonzept gilt es zu hinterfragen und neue Lösungen zu finden. PKV-Standards für Privatpatienten machen nicht vor der Ausstattung von Häusern halt, sondern wirken sich direkt auf die Zimmerbelegungen und den Sanierungsstau in Bestandsbereichen aus. Gleichzeitig bauen wir Notaufnahmen und KV-Notfallpraxen, ohne dass die seit Jahren andauernde Diskussion über die Zukunft der Notfallversorgung wirklich zu einem Ergebnis gekommen wäre. Die Liste lässt sich problemlos fortsetzen. Auf der anderen Seite ist gerade bei Entwicklungen im Bestand unsere Expertise und Moderatorenrolle gefragt. Oft gilt es, hier erst das Bewusstsein für eine übergeordnete Zielplanung zu schaffen. Bauliche Grundsatzentscheidungen können durch den direkten Dialog mit der Betriebsorganisation kanalisiert oder gar erst ermöglicht werden. Belastbare Konzepte entstehen zudem durch die frühzeitige Hinzuziehung aller notwendigen Akteure. Im positiven Sinne genießt der Architekt als externer Berater und Moderator in dieser Planungsphase alle Freiheiten, die gesetzten Entwurfsprämissen neu zu formulieren.
ADVERTORIAL
Welche baulichen Strukturen sind sinnvoll?
Vor allem aber schaffen wir Räume Und schlagen so den Bogen zurück zu unserer Kernaufgabe als Architekten. Zonierung, Orientierung und Aufenthaltsqualität durch Tageslicht- und Freiraumbezug gehen einher mit gut gestalteten Innenräumen mit Mut zu Farbe, Materialität und Haptik. Auch wenn die Verweilzeiten im Krankenhaus deutlich abnehmen – Patienten haben für ihr „Zuhause auf Zeit“ Anspruch auf eine stressbefreite und der Gesundung zuträgliche Umgebung. Und im stetig zunehmenden Wettstreit um Mitarbeiter braucht es mehr denn je anregende und die Konzentration fördernde Arbeitsumgebungen.
BJÖRN FÜCHTENKORD, FÜCHTENKORD ARCHITEKTEN LOTHAR PIEHL – DORMAKABA DEUTSCHLAND RICHARD KLINGER – ARCHITECTS COLLECTIVE ZT KARIN KLEIN – ARCHITEKTEN DEDEK KLEIN
DOSSIER
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HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
DIE ZUKUNFT DER RETTUNGSSTELLEN UND DIE MEDIZINISCHE VERSORGUNG ÄLTERER UNTER BERÜCKSICHTIGUNG DES LÄNDLICHEN RAUMS
Die demografische Entwicklung, die Entvölkerung von ländlichen Regionen und die Entstehung von großstädtischen Ballungsgebieten haben eine große Auswirkung auf die ärztliche und notärztliche Versorgung. Diese Herausforderungen sind außer auf der politischen Ebene auch auf der Ebene der Stadt- und Regionalplanung zu diskutieren. Hier sehen wir uns als Architekten und Planer in der Verantwortung,
Ebene „Land“ In den von Ballungszentren weit entfernten ländlichen Regionen findet eine wachsende Entvölkerung statt. Eine nicht ausreichende Infrastruktur in Bezug auf verkehrliche Anbindung, Nahversorgung mit Gütern sowie nicht zufriedenstellende Bildungs- und Kulturangebote beschleunigen die Entwicklung und führen zu weiterem Wegzug und zu einer Abwärtsspiral mit weiter sinkender Versorgung und Attraktivität. Übrig bleiben insbesondere Ältere und in Bezug auf die medizinische Versorgung besonders Hilfsbedürftige. Ebene „Kleinstädtischer Bereich im Umfeld urbaner Räume“ Auf dieser Ebene gibt es in der Regel eine ausreichende Versorgung in Bezug auf Bildungseinrichtungen und Nahversorgung. Ebenso ist hier meistens auch eine ausreichende medizinische Grundversorgung in Verbindung mit einem funktionierenden ärztlichen Notdienst in verschiedenen Organisationsformen gegeben. Örtliche Krankenhäuser werden häufig im Rahmen von Zusammenlegungen geschlossen oder in ihrem Versorgungsangebot eingeschränkt und zum Beispiel zu einer Klinik mit geriatrischem oder psychiatrischem Schwerpunkt gemacht. Die ärztliche Nahversorgung in diesem Raum ist einem starken strukturellen Wandel unterworfen. Die Nachfolge und Übergabe von Einzelpraxen scheitert am Mangel von Interessenten. Dies führt zu einer Marktkonzentration z. Bsp. in MVZs.
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Ebene „Stadt“ In den größeren Städten ist eine hohe Arzt- und Krankenhausdichte mit Auswahlmöglichkeit gegeben. Es sind Rettungsstellen für die Akutversorgung vorhanden, die jedoch unter hoher Überlastung arbeiten. Gründe dafür liegen in einer in der Stadt oft nicht ausreichenden hausärztlichen Notversorgung. Es gibt zu viele Fälle in den Rettungsstellen, die nicht zur akuten Notfallversorgung gehören. In der Bevölkerung gibt es kein durchdrungenes Wissen darüber welche vorfalladäquaten Versorgungsmöglichkeiten bestehen. Dies führt zu einer falschen Anspruchshaltung und zu Unzufriedenheit bis hin zur Aggression bei Patienten und Personal. Konklusion Eine ganzheitliche Lösung für die Gesamtproblematik der ärztlichen Versorgung in Stadt und Land gibt es nicht. Selbstregelungskräfte, der Markt etc. reichen im zunehmend privatisierten Gesundheitswesen nicht aus. Eine flächendeckende Gesundheitsversorgung auch in schwach besiedelten Räumen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Großstädte allein werden die demografisch begründeten Probleme wie Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Migration, etc. nicht ohne die Gemeinden und Städte an ihrer Peripherie lösen können. Dies gilt ebenfalls für die Schaffung einer funktionierenden Gesundheitsvorsorge und insbesondere der Akutversorgung.
ADVERTORIAL
am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.
Fazit Die gesundheitliche Versorgung des ländlichen Raums ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht nur wirtschaftlichen Faktoren unterliegen. Lösungsansätze dafür finden sich in hausärztlichen Vor-Ort Sprechstunden, Mobilitätslösungen für den Arztbesuch in Verbindung mit einem flächendeckenden funktionierenden Rettungsdienst-System und gegebenenfalls einem hausärztlichen Notdienst. Im kleinstädtischen Bereich bedarf es einer Stärkung der hausärztlichen Notfallversorgung mit einer Ambulanz oder Notfallpraxis gegebenenfalls mit Anschluss an ein MVZ. In den Städten mit vorhandenen, aber überlasteten Rettungsstellen bedarf es eines Filters, am besten in der Rettungsstelle (Triage), und eines möglichst im räumlichen Zusammenhang angeordneten hausärztlichen Notdienstes (Portalpraxis) gegebenenfalls betrieben durch die KV, ein MVZ oder das Krankenhaus selbst. Die pflegerische Versorgung für Menschen im ländlichen Raum ist ebenso wie in den Städten ganzheitlich weiterzuentwickeln und zu verfestigen. Wohnraum für Pflegebedürftige, somatisch und demenziell, mit ambulanter Versorgung wird auf dem Land, im kleinstädtischen Bereich und in der Stadt dringend benötigt. Das vorhandene Angebot entspricht bei Weitem nicht dem aktuellen und zukünftigen Bedarf und ist daher mit entsprechenden Maßnahmen zu erweitern.
IRMTRAUD SWOBODA – SWOBODA | BEHR-SWOBODA ARCHITEKTEN + INGENIEURE BARBARA SCHOTT – HEINLE, WISCHER UND PARTNER JOCHEN KÖNIG – HKS | ARCHITEKTEN MARCUS BÜSCHER – AURUBIS STOLBERG
DOSSIER
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HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
MODULARES BAUEN IM GESUNDHEITSWESEN
Planungsaufgaben im Gesundheitswesen wie ein Bettenhaus, Behandlungs- und Untersuchungsräume oder auch Labors mit ihren wiederkehrenden Raumgrößen und sich wiederholenden funktionalen wie auch technischen Anforderungen sind prädestiniert für das „modulare“ Bauen. Wie aber verhält sich das Image des modernen, nachhaltigen, schnell auf- und abbaubaren Modulbaus zu dem ebenfalls positiv belegten Bauideal von „Stein auf Stein“ mit dem hohen Anteil von handwerklichem
Die Bandbreite dessen, was mit modularem Bauen gemeint sein kann, ist vielschichtig – von vorgefertigten Sanitärzellen oder Fassadenelementen bis hin zu fertigen containerartigen Raummodulen, meist aus Holz oder einer Stahl-Beton-Verbundkonstruktion. Dabei wird deutlich, dass Modularität nicht auf dreidimensionale Raumeinheiten beschränkt ist. So kommen zum Beispiel vorinstallierte Wandscheiben inklusive technischer Einheiten und fertiger Wandbekleidungen im Gesundheitswesen zum Einsatz. Die Vision der „Plug-In City“ wird unterdessen im Schulbau, bei Studentenwohnheimen, aber auch beim Krankenhausbau zur Realität – in Form von vorgefertigten Raummodulen, die vertikal und horizontal aufeinandergestapelt werden. Aber auch im Gesundheitsbau gibt es mittlerweile Beispiele, die zeigen, wie heute ein komplettes Krankenhaus mit Notaufnahme, Kreiß- und OP-Sälen sowie Radiologielaboren aus Modulen entstehen kann, so zum Beispiel das Nye Kirkenes Sykehus in Kirkenes im Norden Norwegens. Die bei der Modulbauweise vorherrschenden geringen Fertigungstoleranzen stellen beim Zusammenfügen der einzelnen Module eine besondere Herausforderung an die ausführende Firma dar, jedoch werden mit der seriellen Fertigung die Ausführungsfehler auf der Baustelle minimiert, was den zügigen Baufortschritt unterstützt.
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Sobald eine Bauaufgabe wenig Bauzeit auf der Baustelle erlaubt, eingeschränkte Bewegungsflächen für die Bauphase zur Verfügung stehen oder, wie bei der Sanierung des Charité-Hochhauses in Berlin, ein temporäres Bettenhaus notwendig wird, ist der Modulbau aufgrund der kurzen Bauzeiten, wenig Baulärm und der Möglichkeit des schnellen Wiederabbaus eine sinnfällige Möglichkeit. Die Wiederverwendbarkeit der Module und damit die Nachhaltigkeit der Bauweise spricht ebenfalls für den Modulbau. Höhere direkte Baukosten, eine längere, detailliertere Planungszeit und ein immer noch eingeschränkter Bieterkreis der ausführenden Firmen stehen dem gegenüber. Die detailliertere Planungszeit ist dabei ähnlich wie bei der Planung mit BIM zu sehen, sodass die modulare Bauweise und BIM gut korrespondieren können. Auch zeigen die gebauten Beispiele wie beispielsweise der Holzmodulbau der momentan in Frankfurt am Main entstehenden Schulen, dass trotz der Begrenzung durch die Modulform auf rechtwinklige, axiale Gebäudevolumen und standardisierte Leitdetails Bauten mit architektonischer Kreativität entstehen, die Zweckmäßigkeit, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit in sich vereinen.
ADVERTORIAL
Arbeiten auf der Baustelle?
MATTHIAS SCHOPPE – AURUBIS STOLBERG WIEBKE BECKER – ALBRECHT JUNG MARKUS PFISTERER – GMP
ARTUR PLATT – MORESE ARCHITEKTEN GESCHE GERBER – GERBER ARCHITEKTEN
DOSSIER
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HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
INNOVATIONEN IM GESUNDHEITSWESEN = INNOVATION FÜR MEHR GESUNDHEIT?
Der Gesundheitsbau von heute und morgen soll Heilungsprozesse fördern sowie Orientierung, Klarheit und Sicherheit für die Patienten bieten. Raumklima, Tageslicht, Haptik und Farben sind dabei wichtige Faktoren, die das Wohlbefinden sowohl der Patienten als auch der Angestellten steigern und nachweislich zur Genesung beitragen. Optimal eingerichtete Patientenzimmer und neueste Diagnose- und Operationstechnik gehören ebenso dazu wie auch motiviertes Personal. Demgegenüber
Raumgrößen, -funktionen und -einrichtung in Bestandsgebäuden passen heute nicht mehr zu Verweildauer, Diagnose und OP- Techniken. Gefragt sind neue Konzepte im Gesundheitsbau. Welche Entwicklungen, Prozesse und Strukturen gibt es bereits, um neue Potenziale zur Verbesserung des Gesundheitswesens erkennen und realisieren zu können? Was wäre darüber hinaus sinnvoll, und welche Hilfestellung kann dabei der planende Architekt geben?
Erkenntnisse und Vorschläge _ Strukturänderung beziehungsweise Prozessveränderung mithilfe von „One-day-surgery“ (Vermeidung einer vollstationären Krankenhausbehandlung, Sicherstellung einer patientengerechteren und wirtschaftlicheren Versorgung). _ Einsatz von Drohnen, diese liefern beispielsweise Material (zum Beispiel Blutkonserven) vom Institut zum Haus oder transportieren Laborproben. Aufgrund der engeren Vernetzung, sowie eine effizienteren und schnelleren Abläufen entsteht eine „smarte Gesundheitswelt“. Durch Zusammenfassung werden Funktionsflächen im Haus frei. _ Technologische neue Lösungen in der Medizintechnik führen zu Flächeneffizienz, Personaleinsparung und Kostenreduktion, aber auch zu kürzeren Verweildauern. Beispiele: Teilrobotik im OP, zum Beispiel bei Augenoperationen, 3D-Druck bei künstlichen Gelenken zwecks besserer Passform. _ Eine höhere ambulante Versorgung und weniger stationärer Aufenthalt bringen eine Verschiebung der Strukturen in allen Bereichen des Krankenhauses mit sich. Wichtig dabei sind das Aufteilen/Kanalisieren der Besucherströme an den Eingängen (Notfall, stationärer oder ambulanter Patient, Besucher, Lieferant) sowie die Anordnung und Gestaltung von Warte- und Aufenthaltsbereichen. Der Ablauf im Haus muss wie bei einem Organismus verstanden und unterstützt werden.
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ADVERTORIAL
stehen oftmals Anforderungen an die Hygiene, Abläufe und Strukturen.
KSENIA RIABCHENKO – STUDIO 44 (OHNE BILD) JÜRGEN SCHMIDT – KRAMPE SCHMIDT ARCHITEKTEN WOLFGANG HARDT – BURCKHARDT+PARTNER MIKAEL PETERSSON – CIBES DENIZ TURGUT – ALBRECHT JUNG
DOSSIER
_ Das Patientenzimmer erfordert eine besondere Aufmerksamkeit. Lichtfarbe, -temperatur und -stimmung, die Raumtemperatur und Luftqualität, die Raumakustik, der Aufenthalt von Bezugspersonen vom einfachen, aber vorhandenen und bequemen Besucherstuhl bis hin zur Übernachtungsmöglichkeit bei besonderen Patienten sind wichtige Aspekte zur Unterstützung des Heilungsprozesses. Die Möbel und Einrichtungen müssen Stauraum und gegebenenfalls Zusatzmöglichkeiten bieten (wie zum Beispiel Ablagen, Sitze, Ladesteckdose, Klappbett). Alle Teile der Einrichtung sollten eine geschlossene Einheit bilden. _ Neue technische Möglichkeiten im Patientenzimmer sind nur dann sinnvoll, wenn sie die oben aufgeführten Ziele unterstützen und nicht zum Selbstzweck werden. _ Durch Kostenreduktion entsteht Mehrwert für weniger Personen.
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HEALTHCARE SUMMIT IN SANKT PETERSBURG
Der Healthcare Summit in Sankt Petersburg wurde ermöglicht durch:
Dormakaba ist der Partner für Premium-Zugangslösungen und Serviceleistungen. Das Unternehmen mit über hundertjähriger Tradition bietet ganzheitliche Lösungen rund um das Öffnen und Schließen von Türen – von Türbändern über Türschließer bis hin zu automatischen Türsystemen sowie Zeit- und Zutrittskontrollsystemen. Produkte von dormakaba sind Spitzentechnologie und genießen einen exzellenten Ruf. Zuhause. Europaweit. Weltweit. www.dormakaba.com
Jung steht für edles Material, präzise Verarbeitung bis in die Details, für Haltbarkeit, Langlebigkeit in Funktion und Aussehen, für zeitloses Design und für einen beispiellosen Kundenservice. Das 1912 gegründete, heute 1.200 Mitarbeiter starke Unternehmen fertigt als Premiumanbieter von Schaltern, Steckdosen und Gebäudesystemtechnik mit TÜV-geprüftem Herkunftsnachweis „Made in Germany“ an drei Standorten: in Schalksmühle, Lünen und – als Spezialist für Elektronik, die Tochterfirma Insta – in Lüdenscheid. www.jung.de
Aurubis, 1866 als Aktiengesellschaft gegründet, ist führender Kupferproduzent und weltgrößter Recycler. Aurubis hat heute rund 6.500 Mitarbeiter in Europa und den USA sowie ein weltweites Bearbeitungscenter- und Vertriebsnetz. Aurubis kombiniert die Kupferproduktion mit der Kupferverarbeitung zu maßgeschneiderten, anwendungsspezifischen Produkten in der Architektur. Mit der NORDIC COPPER-Produktreihe kreieren Architekten individuelle Projekte und entwickeln einzigartige Varianten, die auch für künftige Generationen einen soliden Wert darstellen. www.aurubis.com
Cibes Lift befördert Personen und Lasten leicht und sicher auf jede Ebene. Bewährte schwedische Qualität in Kombination mit erstklassigem Design und ruhigem Fahrverhalten. Wir haben die richtige Lösung für vorhandene Gebäude und Neubauten. Unsere Lifte werden mit vorgefertigtem Schacht geliefert und benötigen keinen separaten Maschinenraum und keine Bodenvertiefung. Cibes-Liftsysteme können leicht an individuelle Anforderungen angepasst werden. Vom kleinsten bis zum größten Liftmodell bieten wir eine riesige Auswahl an Ausführungen an. www.cibeslift.com
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AR ZUM
Foto: Cyrill Matter
ARCHITEKTUR
REINIER DE GRAAF
BACK TO THE FUTURE.
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CHI STATUS
Foto: Cyrill Matter
ARCHITEKTUR
BJARKE INGELS
THE FUTURE IS NOW! 77
TEK DER
Foto: Cyrill Matter
ARCHITEKTUR
OMA
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TUR ARCHITEKTUR
Foto: Cyrill Matter
ARCHITEKTUR
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STOCKHOLM 81
Bjarke Ingels – einst als das dänische Architektur-Wunderkind des neuen Jahrtausends bezeichnet und im Metropolis Magazine 2011 als „Baby Rem“ kategorisiert – ist erwachsen geworden. Der Architekt wird 1974, also ein Jahr, bevor Rem Koolhaas mit Madelon Vriesendorp, Elia und Zoe Zenghelis das Office for Metropolitan Architecture gründen sollte, geboren. Nach seinem Studium arbeitet Bjarke Ingels ab 1998 für drei Jahre bei OMA; 2006 gründet er sein eigenes Büro.
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Reinier de Graaf, seit 1996 Partner von Koolhaas und Mitbegründer der OMA-Denkfabrik AMO (2002), kennt Bjarke Ingels also schon lange. 2013 sollten die Büros kurzzeitig in spannungsvolle Konkurrenz geraten, als sich neben Rem Koolhaas auch Ole Scheeren und Bjarke Ingels für den Springer-Campus-Wettbewerb in Berlin in der zweiten Runde gegenüberstehen. Gewinnnen und Bauen durfte keiner der beiden „Baby-Rems“, sondern der Meister selbst. Reinier de Graaf erstaunt die Welt derweil mit seinen eignenen Ideen. 83
Zwei Weltklasse-Büros eröffnen zeitgleich am selben Ort Großprojekte für denselben Investor und interpretieren dabei die Modulbauweise neu. Seltsam? Ja, zumindest außergewöhnlich. In Stockholm präsentieren OMA und BIG zwei Wohnungsbauten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: eine „verpixelte Wohnlandschaft“ und einen „Plattenbau für Reiche“. Im Interview verorten Bjarke Ingels und Reinier de Graaf ihre Sicht auf den Status der Architektur. VON JEANETTE KUNSMANN & STEPHAN BURKOFF
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Foto: Cyrill Matter
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Foto: Karl Nordlund
REINIER DE GRAAF
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ARCHITEKTUR
„ARCHITEKTUR IST EINE FRAGE DER AUSDAUER.“
Reinier de Graaf arbeitet eng mit Rem Koolhaas zusammen und das schon lange. In zweiter Reihe steht er dabei nicht. Ein Gespräch über Kopien in der Architektur, die Ordnung der Dinge und Plattenbauten für Reiche.
Ich denke, bis zu einem gewissen Punkt sind Wettbewerbe gut für die Architektur. Aber ohne Wettbewerb wäre es mir lieber gewesen!
Wir erleben hier die außergewöhnliche Situation, dass zwei der bekanntesten Architektur-Büros zur selben Zeit in einer Stadt jeweils ein Projekt für denselben Entwickler fertigstellen. Sehen Sie sich eigentlich als Wettbewerber? Nein, wir sind Kollegen. Vor vielen Jahren Und waren wir sogar sprichwörtlich Kollegen. Bjarke und ich pflegen ein freundschaftliches Verhältnis. Ich freue mich über seinen Erfolg.
Die Anforderungen sind schon sehr gestiegen. Manchmal hat man fast das Gefühl, man müsse ein Projekt schon fertig haben, um es überhaupt zu akquirieren. Hier war es anders. Wir hatten es mit einer guten Stadtverwaltung zu tun. Sie wollten etwas Tolles sehen – und wir haben ein abenteuerliches Gebäude vorgeschlagen. Nach einer relativ kurzen Wettbewerbsphase wurde daraus dann ein Auftrag. Ich habe also nicht grundsätzlich etwas gegen Wettbewerbe. Aber wenn es sich zwischen einem ewigen Arbeiten und Bangen bewegt, ist es sicherlich eine andere Geschichte.
Dennoch ist Wettbewerb ein wichtiger Aspekt in der Architektur. Sie mussten mit ihrem Entwurf ebenfalls erst einen Wettbewerb gewinnen, bevor Sie bauen durften.
Er grinst.
Wo liegen die echten Probleme in der Architektur? Das Problem beginnt mit solchen Situationen, in denen man sich mit Misstrauen konfrontiert sieht. Und es ist wirklich verrückt: Man kann dann noch so viele Beweise liefern, wenn es Misstrauen gibt, ist es fast unmöglich, es zu beseitigen. Was waren die größten Hindernisse bei dem Norra Tornen? Er überlegt. Keine Ahnung. In Hindernissen möchte ich eigentlich nicht denken. Es geht für mich weniger darum, Hindernisse zu überwinden, als ums Durchhaltevermögen. Architektur ist eine Frage der Ausdauer. Sehen Sie dieses Modell: Es ist in einer frühen Phase für den Wettbewerb entstanden. Und wenn man es sich jetzt anschaut, unterscheidet es sich nicht so sehr von dem, was gebaut wurde. Man entwickelt etwas mit einer gewissen Spontaneität, mit Enthusiasmus und einem Willen
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Foto: Courtesy OMA
„Genialität entsteht in der Vereinbarung von Dingen, von denen man dachte, dass sie nicht zusammenpassen.“
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Norra Tornen ist mit seinen 125 Metern eins der höchsten Gebäude Stockholms. Seine modulare Bauweise ließ ihn Woche für Woche um eine Etage wachsen. Die Betonmodule wurden vorab gründlichen Tests und eine Vielzahl von Adaptionen unterzogen. Zurzeit entsteht gegenüber des Turms sein etwas kleinerer Zwilling.
und muss es dann schaffen, es für die nächsten sechs Jahre zu lieben und zu pflegen, damit am Ende herauskommt, was geplant war. Das Hindernis ist die Zeit. Die Zeit und die Ausdauer. Was ist das Besondere an dem Projekt? In diesem Projekt machen wir eigentlich nicht viel mehr als einen sehr guten Witz, den wir immer wieder wiederholen. Das einzige, was dabei wichtig ist, ist, dass es sich um einen wirklich guten Witz handelt. Er lacht. Vor dem eigentlichen Baubeginn haben wir deshalb viel Zeit mit Mock-ups verbracht. Wir haben ein Element in ein bestehendes Gebäude eingebaut, es geprüft, es geändert, es geprüft und geändert. Wir haben die Betonfarbe abgestimmt, die Fensterrahmen geändert, die Farbe des Glases angepasst, viele kleine Details entwickelt. Aber
wenn man an kleinen Dingen arbeitet, dann muss man sie richtig machen. Das hat eine Menge Zeit gekostet. Als das erledigt war und alles passte, war es wie ein Roll-out auf der Baustelle. Bis auf die unteren sechs Stockwerke. Sie wurden vor Ort errichtet, wegen der Fundamente und des Tragwerks. Aber ab der sechsten Etage war es wie in einer Fabrik. Die Arbeiter haben pro Woche eine Etage fertiggestellt. Am Anfang mussten wir viel Zeit in die Kontrolle der Verarbeitung einbringen. Und dann war die Bauphase wie ein Flugzeug, das abhebt und per Autopilot alleine weiterfliegt. Darin liegt der enorme Vorteil der Fertigbauweise: eine begrenzte Bauzeit, aber auch eine begrenzte Involvierung. Es funktioniert so ähnlich wie eine Aufbauanleitung von Ikea. Er schmunzelt: eigentlich ein interessanter Bezug ... Prefabrication und gehobenes Wohnen klingt im ersten Augenblick etwas widersprüchlich. Das stimmt. Aber es ist ein schöner Wi-
derspruch: Plattenbau für Reiche, habe ich mal gesagt. Kommunistische Ästhetik für eher Wohlhabende. Das ist eine Form der Selektion durch die Haustür. Ich habe nichts gegen reiche Leute, solange sie Geschmack haben. Warum aber dieser brutalistische Wohnungsbauentwurf für Stockholm? Der Brutalismus ist ja eine schwedische Erfindung. Ich spreche von Paul Rudolph und Erik Gunnar Asplund. Die Art, wie Ralph Erskine raue Materialien für eine wohnliche Architektur eingesetzt hat, findet sich auch irgendwie wieder. Unsere Fassade wirkt ja sehr geerdet, fast bodenständig. Wir hatten zuerst auch weiße Variationen, die sehr glatt gestaltet waren. Hat sich aber nicht richtig angefühlt. Erst als das Modell richtig abgegriffen war und Teile von einem Lasercutter versehentlich braune Kanten bekommen hatten, lief es richtig gut. Erst da hat der Turm eine Materialität bekommen.
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Foto: Karl Nordlund
„In diesem Projekt machen wir eigentlich nicht viel mehr als einen sehr guten Witz.“
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Besonders charakteristisch für Norra Tornen ist die gebrochene Betonfassade. Für den Beton wurden die Kiesel als Zuschlag fast handverlesen, die Herstellung war kompliziert. Im fertigen Zustand reflektiert die Fassade die Sonne als ein warmes Licht.
Ist also Stockholm der Ausgangspunkt? Wir planen immer unterschiedlich, wo auch immer wir planen. Wir wiederholen uns ja auch nicht wirklich. Aber die Denkweise, die dahinterliegt, lässt sich zum Beispiel mit dem Timmerhuis in Rotterdam vergleichen. Das zugrunde liegende Prinzip, sich auf eine systematische, modulare Bauweise festzulegen, Bauzeit und damit Geld zu sparen, das man an anderer Stelle in die Qualität des Gebäudes investieren kann: Das ist schon ziemlich ähnlich. Aber hier in Stockholm haben wir es mit einem Gebäude von 36 Etagen zu tun – das Timmerhuis hat 14. Ich mag die Idee der industriellen Bauweise, um etwas zu bauen, das nicht primitiv wirkt. Wenn man sich Plattenbauten der DDR anschaut, sieht man, dass repetitives Bauen auch zu repetitiven Ergebnissen führen kann. Während die echten Plattenbauten schon fast wie eine tautologische Verstärkung ihren Herstellungs-
prozess nach außen tragen, fasziniert es mich, mit denselben Mitteln Gebäude zu planen, die eben nicht langweilig und mutlos sind, sondern interessant. Wie löst man das konkret? Die Ordnung darf nicht dazu dienen, Ordnung zu ermöglichen, sie muss das Maximum an Chaos erlauben. Es ist der Ansatz, formale Variationen zu schaffen, ästhetische Abwechslung mit einem Minimum an Elementen zu erzeugen. Dieser Kontrast ist der Kern des Experiments – was auch für das Timmerhuis gilt. Es basiert auf nur einer Idee, die in 44 individuellen Apartments jeweils völlig anders gespielt wird. So gibt es keine typologische Wiederholung in dem Gebäude, aber die größtmögliche Wiederholung von Konstruktionsmerkmalen. Das ist das Faszinierende an dieser Bauweise. Architektur beinhaltet die Aufgabe zur Versöhnung der Dinge, die eigentlich unvereinbar sind. Es gibt keine Architektur ohne Kompromisse.
Ich denke, gute Architektur handelt immer davon. Genialität entsteht in der Vereinbarung von Dingen, von denen man dachte, dass sie nicht zusammenpassen. Das klingt sehr fortschrittlich. Dennoch zeigt Ihr Entwurf viele Referenzen zu einer Architektur vergangener Tage. Liegt die Zukunft der Architektur auch in den Ideen der Vergangenheit? Ich glaube sehr an Ideen-Recycling. Und gerade in der Architektur drohen derzeit so viele gute Beispiele zu verschwinden. Da ist es doch ganz gut, wenn man diese Ideen neu interpretiert, damit wenigstens etwas bleibt. In der heutigen Zeit ist Langeweile ein Schlüsselfaktor für ästhetische Urteile. Das gilt natürlich auch für die Architektur. Und das unterscheidet die Architektur von heute sehr von der Zeit der frühen Modernisten. Sehen Sie, in Amsterdam gibt es eine Fülle an sprichwörtlichen Corbusiers.
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Sie stehen auf denselben Piloti, haben die gleichen Brises soleiles – und das in einem Land, in dem niemals die Sonne scheint! Diese Bauten sind komplette Kopien, von einem Architekten, der dafür respektiert wurde, einen anderen Architekten zu imitieren. So ein Verhalten würde heute überhaupt nicht mehr toleriert werden. Es gibt diesen Ethos, dass alles originell sein muss. Dabei entstehen mehr Gebäude, als es originelle Ideen geben kann in der Welt. Es kann nicht jeden Tag, jede Stunde, mit jedem Facebook-Post eine Revolution geben. Bis zu einem gewissen Grad kann die Architektur ihrer eigenen Denkschule nicht entkommen: dem Recyceln von Ideen. Vieles von dem, was wir für neu und originell halten, ist nur eine Wiederverwertung von etwas Altem.
bar ist. Aber auch, dass man seinen Auftraggeber kennt. Dass man eine Idee vom Menschen und seinem Leben als Nutzer hat. Als wir Ellen van Loon zur Eröffnung von BLOX in Kopenhagen interviewt haben, hat sie uns verraten noch nie ein Gebäude ohne Bar geplant zu haben. Gibt es ein wiederkehrendes Element in ihrer Architektur? Oh. Er überlegt. Ich gehe gerade mal im Geiste alle Gebäude durch, für die Ellen verantwortlich war. Vielleicht erwische ich sie ja bei Fake News! Er lacht.
Welche Fragestellungen vermissen Sie in der aktuellen Diskussion über Architektur und Stadtentwicklung? Ich denke die Architekturwelt ist unglaublich kurzsichtig. Um als Architekt überhaupt irgendetwas auf die Beine zu stellen, muss man so viele Probleme lösen, da ist das vielleicht auch entschuldbar. Aber Architekten sprechen nur über Architektur. Als wäre sie eine unabhängige, erhabene Kunstform, jenseits der Realität. Die Realität ist nicht willkommen. Ich finde, man muss sie umarmen! Wenn man Architektur getrennt von der Realität betrachtet, den Kontext nicht miteinbezieht, betreibt man ein sehr gefährliches Geschäft. Architekten sprechen nur über Gebäude. Und wenn sie über deren Kontext sprechen, sprechen sie über andere Gebäude, nämlich die drum herum. Aber Kontext ist auch immateriell zu verstehen. Die Situation, in der ein Projekt entsteht, ist häufig viel entscheidender als der direkte Kontext. Dabei geht es auch darum, den Markt zu kennen, damit man nichts vorschlägt, was vielleicht vor Ort gar nicht realisier-
Es stimmt wahrscheinlich. Für mich habe ich noch nie darüber nachgedacht. Vielleicht wären es bei mir generell die Außenräume in den Wohngebäuden. Ich habe nämlich in meiner eigenen Wohnung keine eigene Möglichkeit, an die Luft zu kommen, ohne das Haus zu verlassen. Bei den mediterranen Sommern dieser Tage vermisse ich das sehr. Was natürlich eine langweilige Antwort wäre. Denkt nach. Ich habe keinen Fetisch. Er lacht. Man könnte sagen, ich habe nie ein Gebäude ohne eine Toilette geplant!
Norra Tornen, 2018 OMA / www.oma.com Fotos: Karl Nordlund und Laurian Ghinitoiu
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BJARKE INGELS „ARCHITEKTEN MÜSSEN DER ZUKUNFT EINE FORM GEBEN.“ Seit Netflix und Big Time ist Bjarke Ingels auch außerhalb der Architektenwelt ein Star. Auf Instagram folgen ihm mittlerweile über eine halbe Million, darunter auch oma.eu – seine Architektur ist weltweit bekannt. Und jetzt auch in Schweden. Was will Bjarke Ingels? Sie bauen in New York und Frankfurt, Kopenhagen und Stockholm: Welche Geschichte sollen Ihre Gebäude den Menschen erzählen? Jedes Gebäude ist eine Resonanz auf eine Reihe von Parametern, das heißt den Möglichkeiten, die sich bieten, aber auch den Herausforderungen. Vielleicht müssen wir hier über das dänische Wort für Design sprechen: „formgivning“, im Deutschen Formgebung. Es bedeutet, Dingen, die bisher noch keine Form hatten, eine Form zu geben. Man gibt der Zukunft also eine Form, von der man sich wünscht, dass sie wahr wird. Ich denke, wir versuchen mit allen unseren Projekten jedem Ort
ein bisschen von einer lebenswerten Zukunft zu geben. Wie äußert sich das in 79&Park? Auf seine eigene leise Art natürlich. Es ist ja ein Apartmentgebäude, in dem Menschen leben sollen. Gleichzeitig bedeutet das Projekt für uns auch, ein Stück Stockholm mitzugestalten – wobei Landschaft und Architektur miteinander vereint, und die Vorzüge eines Lebens auf dem Land mit den kulturellen Vorteilen eines Lebens in der Stadt verbunden sind: ein schönes Projekt also! Wir haben dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungen und Apartments aus nur einem einzigen Modul-System entwickelt. Durch eine außergewöhnliche Topografie und die Lage geht das nicht gerade kleine Gebäude wirklich in der Umgebung auf. Es ist jetzt sieben Jahre her, dass uns Oscar angesprochen hat, um uns dieses schöne Grundstück zu zeigen. Auf zwei Seiten von einem Park und auf
zwei Seiten von der Stadt umgeben, war also schnell klar, dass wir beide Seiten mit dem Gebäude verbinden wollen. Es gibt eine Passage, die es ermöglicht, diagonal unter dem Gebäude durchzulaufen. Und dann haben wir die südwestliche Ecke des Gebäudes abgesenkt und die nordöstliche angehoben: So ergibt sich die Form des Gebäudes. Auf diese Weise wird der Innenhof mit Tageslicht versorgt. Alle Apartments sind unterschiedlich. Wie ist das Grundrisskonzept entstanden? Ja, keine Wohnung gleicht der anderen. Bei all seiner organischen Anmutung ist das Projekt dabei überraschend rational. Alles basiert auf einem einzigen Element, das fast unendlich wiederholt wird – ohne dabei Schuhschachteln zu erzeugen. Das Grundraster des Gebäudes haben wir um 45 Grad gedreht, damit man vom gesamten Gebäude eine Aussicht in den Park hat. Die
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ARCHITEKTUR Die Wohnungsgrößen im 79 & Park reichen von 35 bis 137 Quadratmetern. Viele der Apartments sind Maisonetten und verfügen über einen Zugang zu einer eignen Dachterrasse.
Sichtachsen sind so gewählt, dass trotz der Dichte auch Intimität entstehen kann. Durch die kaskadenhafte Struktur gibt es viele Terrassen und Dachgärten, die sich zum Himmel öffnen. Viele der Apartments sind als Duplex geplant und haben einen eigenen Zugang zum Dach. Spielt die Größe Ihrer Projekte eine Rolle für Sie? Ich habe auf jeden Fall einen Fehler gemacht, als ich mein Büro BIG genannt habe. Er lacht. Aber wir haben gerade in Kopenhagen eines unserer kleinsten und zeitgleich auch eins der größten Projekte fertiggestellt: Das kleinste ist das Noma, ein kleines Dorf aus individuellen Wohnungen und dem sagenhaften Restaurant. Nicht weit davon steht dann das Kraftwerk mit der Skipiste auf dem Dach: ein unglaublich großes Gebäude. Das Schöne an kleinen Projekten ist, dass man alles sehr detailliert kontrollieren und planen kann. Beim Noma haben wir bis zum einzelnen Ziegel und einzelnen Balken jede Position genau bestimmt. Bei großen Projekten muss man mehr in Prinzipien und Werten denken. Aber auch das hat eine Bedeutung. Beides ist wichtig. Was zählt abseits der Größe? Wir haben die Tendenz, Dinge nach ihrem Nutzen zu bewerten. Nach
ökonomischen Werten, logistischer Effizienz ... Aber Schönheit und Genuss sind auch sehr wichtige Aspekte des Lebens. In der Art, wie wir Entscheidungen im Privatleben treffen, haben die Faktoren Schönheit und Spaß ein-
Wie sieht Ihr Bild von der Zukunft aus? Die Geschichte des Menschen zeigt uns, dass wir mehr als jedes andere Säugetier in der Lage sind, zusammenzuarbeiten. Durch unsere eigene
deutig mehr Gewicht. Es verliebt sich ja niemand, weil sein Gegenüber besonders effizient oder gewinnversprechend ist. Man verliebt sich, weil man jemanden attraktiv findet.
Kommunikationsfähigkeit, unser Abstraktionsvermögen und die Erfindung des Marktes, noch viel mehr natürlich die Technologie, sind wir Meister der Kooperation geworden. Dadurch werden Probleme immer schneller erkannt und auch gelöst. Das ist meine Perspektive für die Zukunft.
Worin sehen Sie die größten Hindernisse für eine gute Architektur? Wenn man nur einen Millimeter vom Gewöhnlichen abweicht, muss man kämpfen: Das ist ein Hindernis, dem wir immer wieder begegnen. Sobald man vom Standard abweicht, wird alles teurer und komplizierter. Es geht also bei Hindernissen nicht mal darum, dass man als Architekt besonders ausgefallene Wünsche haben muss. Häufig genügt schon der Wunsch, eine bessere, abwechslungsreichere Architektur zu schaffen. Es gibt viele gute Gründe dafür. Aber es ist sicher die größte Hürde guter Architektur. Mögen Sie eigentlich Wettbewerbe? Er grinst. Nicht so sehr wie Aufträge. Aber bei den meisten Projekten muss man vor einer Beauftragung irgendeine Art von Auswahlprozess durchlaufen. Insofern gehören sie wohl dazu.
Das klingt sehr optimistisch. Optimismus ist keine Frage von Naivität oder Hoffnung. Er ist empirisch nachweisbar. Man sieht ja, dass viele Dinge immer besser werden. Und das werden sie nicht automatisch, sondern weil es Menschen gibt, die sich sehr dafür einbringen und zusammenarbeiten, um etwas zu erreichen. Ich finde Optimismus ist eine weitaus ermächtigendere Kraft als Pessimismus. Pessimismus macht selbstgefällig. Dieses Gefühl, alles wird immer schlechter, und man hat keine Chance, etwas an seinem Schicksal zu ändern. Wenn man aber optimistisch ist, dann kann man es schaffen und die Dinge angehen: „Ja, wir machen das und schauen uns an, wie es geht!“ Das motiviert doch, um sich anzustrengen und etwas zu erreichen. Optimismus ist empirisch gesehen valider als Pessimismus, und ich denke, er gibt einem mehr Handlungsspielraum.
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„Optimismus ist keine Frage von Naivität oder Hoffnung. Er ist empirisch nachweisbar.“
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ARCHITEKTUR Durch die versetzt eingesetzten Module gleicht kein Apartment dem anderen. Deckenhöhen von mindestens 2,75 Metern und große Fenster erzeugen trotz der Dichte ein angenehmes Raumgefühl.
Was bedeutet das für Ihre Architektur? Zum Glück gibt es viel Optimismus in der Welt. Architektur ist ja sehr langsam und teuer – sogar teurer als Film. Deshalb gibt es in der Branche eine große Abneigung gegen Risiken. Ein Zögern, etwas zu versuchen, was vorher noch nicht gemacht wurde. Aber jedes Mal, wenn es ein Projekt geschafft hat, all diese Hürden und Hindernisse zu überstehen, und dann wirklich mit einem kleinen Plus an Gestaltung realisiert wird, öffnet sich eine Tür: eine Tür, durch die andere hindurchgehen können. Man kann jetzt mit dem Finger auf Oscar Properties, OMA und auf uns zeigen und sagen: „Schaut, sie haben so etwas in Stockholm gemacht. Das können wir auch!“ Das klingt ebenfalls optimistisch. Sehen Sie, im Dezember bekomme ich einen Sohn (Anm. d. Red.: Darwin Otero Ingels kam am 21. November 2018 in Barcelona zur Welt). Er wird geboren werden, ohne zu wissen, dass es mal eine Zeit gab, in der man nicht in Kopenhagen auf dem Dach einer Müllverbrennungsanlage Skifahren konnte. Er wird es für gegeben halten, wie viele andere Dinge, an die wir uns in den letzten Jahren erst gewöhnen mussten. Das Jetzt wird sein Startpunkt und übrigens auch der seiner gesamten Generation. Nun stellen Sie sich vor, Sie starten hier und jetzt: Wie weit wird diese Generation fähig sein zu denken? Die Gestaltung der Zukunft ist also Ihr Antrieb? Ja, auf ganz verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Maßstäben. Wir arbeiten zum Beispiel gerade mit Hyperloop an einem ultraschnellen
Transportsystem. Außerdem haben wir aber auch an Studien zur Verbindung der Städte Dubai und Abu Dhabi geforscht, die es erlauben sollen, mit Überschall zwischen diesen Orten hinund herzureisen. Dabei haben wir in Dubai Vertreter des Ministeriums für Zukunft kennengelernt, die uns dann mit dem Projekt Mars Science City beauftragen haben, für das wir den Prototyp einer möglichen Wohneinheit auf dem Mars entwickelt haben. 3D-Druck aus vor Ort verfügbaren Materialien, eine Ästhetik die nicht so technisch, sondern von der arabischen Kultur abgeleitet ist. Wasserfilter gegen die Weltraumstrahlung. Solche Prototypen sind wichtig für einen Wissensaustausch und die Weiterentwicklung von Ideen – damit man später das echte Haus auf dem Mars bauen kann. Hoffentlich in nicht ganz so ferner Zukunft. Zukunft kann sich aber auch auf ganz andere Tatsachen beziehen. Eines unserer ersten Projekte war das Schwimmbad im Kopenhagener Hafen. Hier wird Zukunft gestaltet, indem ein Hafen so sauber wird, dass man dort schwimmen kann. Neben der Lebensqualität ist das natürlich auch ein ökologischer Beitrag zur Zukunft. Denn wo sich die Fische wohlfühlen, wird es auch den Menschen gefallen und gut gehen. Klingt gut. Wie schafft man es als Architekt, dass sich die Menschen wohlfühlen? Es kann einem gelingen, verschiedene Dinge miteinander zu kombinieren und damit Mehrwerte zu schaffen: wie es uns zum Beispiel bei dem Kraftwerk in Kopenhagen gelungen ist. Es hat sich dabei so etwas wie ein eigener Metabolismus gebildet, bei dem in mehrerlei
Hinsicht aus Müll Ressourcen werden. Außerdem ist ein Freizeitort entstanden, der neue Erlebnisse schafft – heute und in Zukunft. Es ist also möglich, als Architekt der Zukunft eine Form zu geben. Man kann die Zukunft nicht herstellen, aber man kann ihr ein Zuhause geben. Zukunft ist etwas, das von alleine passiert, alles ändert sich ständig, gesellschaftlich, geografisch, politisch und technologisch. Aber immer wenn die Welt sich ändert, passt das Alte nicht mehr. Es ergeben sich Brüche. Und an diesen Bruchstellen entsteht Raum für etwas Neues. Was früher eine stinkende, giftige Angelegenheit war, ist heute ein sauberer Vergnügungsort. Bjarke Inges wird um ein Selfie gebeten. Worin sehen Sie das Geheimnis Ihres Erfolgs als Architekt? Ich denke, wir geben uns einfach wirklich Mühe. Wir strengen uns wirklich an. Er lacht. Kann Architektur Gutes tun? Yes!
79&Park BIG Bjarke Ingels Group / www.big.dk Fotos: Laurian Ghinitoiu
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BAU 2019
Alles nur noch digital?
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Architects’ Run auf der BAU 2019
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DICKE WÄNDE IN DEVON
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Nach zehn Jahren Bauzeit wird das Ferienhaus von Peter Zumthor im britischen Devon gerade fertiggestellt. Die Villa aus Stampfbeton kann man ab März 2019 für die eigenen Ferien mieten.
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: JACK HOBHOUSE
Geschichtete Wände – Schon die Bruder Klaus Kapelle hatte Peter Zumthor 2007 aus Stampfbeton und mit zahlreichen Helfern realisiert. Das Material fordert Geduld. Tag für Tag wird jeweils nur eine Schicht Beton gestampft, die Architektur wächst langsam. Auch die Mauern des Kunstmuseums Kolumba in Köln sind aus Stampfbeton.
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Foto: Iwan Baan
Weil er einer der Architekten ist, die nur sehr wenig und sehr behutsam bauen, sind Ankündigungen von Projektfertigstellung aus seiner Hand selten zu lesen. Und auch wenn Peter Zumthor schon Ferienhäuser in Vals und anderswo gebaut hat, eine Villa in der englischen Landschaft fehlte bisher im Repertoire des Pritzker-Preisträgers (2009). Jetzt kommt sein Secular Retreat in Devon zum Abschluss. Vor zehn Jahren wurde Zumthor damit von Living Architecture beauftragt. Es ist das siebte Projekt in der Serie besonderer Ferienunterkünfte, mit denen der Philosoph und Kreativdirektor Alain de Botton und Direktor Marc Robinson zeitgenössischer Architektur im so konservativen Großbritannien eine Plattform bieten. Peter Zumthor reiht sich mit seinem Palladio-Bungalow aus mächtigen Stampfbetonwänden neben dem zur Hälfte über der Landschaft schwebenden Balancing Barn von MVRDV und dem postmodernen Radikalscherz House for Essex von FAT Architecture und Grayson Perry in eine ungewöhnliche Sammlung ein – selbst, wenn all das unter dem etwas populären Claim „Holidays in modern architecture“ aufgeführt wird. Living Architecture ist kommerziell, aber mutig, und eigentlich wäre es doch schön, wenn es dieses Format auch in anderen Ländern geben würde. Zum Beispiel in Deutschland. Dass Peter Zumthor in Devon eine der ältesten Betonarten verarbeiten lässt, kann man als Verweis auf sein Œuvre
Das Ferienhaus von Zumthor bietet mit fünf Schlafzimmern insgesamt Platz für bis zu zehn Gäste.
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Paradebeispiel fßr ein Gesamtkunstwerk. Peter Zumthor hat nicht nur die Architektur, sondern auch das gesamte Interieur samt Ensuite-Bäder entworfen.
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Natur, Garten und Horizont: Umsäumt von hohen Kiefern, die das Haus schützend umgeben, blickt das Secular Retreat von einer Anhöhe über die Landschaft der Grafschaft Süd-Devon.
verstehen: Schließlich hat er mit der Bruder-Klaus-Kapelle (2005–07) in der Eifel das Material Stampfbeton quasi salonfähig gemacht – und die Welt um eine feine Architekturikone bereichert. Wer heute mit einem Beton ohne Bewährung baut, muss jedenfalls wissen, was er tut. Und was er will. Begriffe wie Stille und Kontemplation waren Zumthors Ziele in Devon, auch nach einem unverstellten Ausblick auf die umgebenden Berge sehnte sich der Schweizer Architekt. Licht und Schatten verleihen der monumentalen Villa ihre Plastizität – ganz so, wie es auch die Künstler und Baumeister der Renaissance gerne mochten. Am Ende war es das Material, das die Geduld der Bauherren und des Architektenteams auf die Probe stellen sollte. Horizontal geschichteter Stampfbeton braucht viel Zeit, jede Linie markiere mindestens einen Arbeitstag, so sagt man. Welch schöner Gedanke: Dass ein Bauwerk auch Stück für Stück mit den Jahren wächst und nicht einfach in einem Sommer zehn Etagen in die Höhe gezogen werden. In Devon, das sehen wir nun, hat es sich durchaus gelohnt. Es handelt sich hierbei zwar nur um ein Ferienhaus, aber eines, das mit seinem enormen Gewicht eine ganz eigene Leichtigkeit verbildlicht.
Secular Retreat Devon 375 Quadratmeter, 2014–2018 Entwurf: Peter Zumthor Projektarchitekten Entwurf und Planung: Mole Architects Projektarchitekten Ausführung: David Sheppard Architects Living Architecture www.living-architecture.co.uk
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KALTE SCHULTER TROTZT SONNE & FEUER DREI GÄSTEHÄUSER IN SONOMA COUNTY, KALIFORNIEN
TEXT: ANNE MEYER-GATERMANN FOTOS: BRUCE DAMONTE
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Drei Kammern aus Beton klammern sich an einen steilen Hang und wagen sich bis über den Scheitelpunkt hinaus. Während sich im Inneren der versetzten Kuben der Raum nach Norden zu einer luftigen Weite öffnet, bleibt der Rücken von Sichtbeton geschützt. Casper Mork-Ulnes hat dieses raue Refugium im Norden Kaliforniens geplant und realisiert.
Sonoma County ist ein nordkalifornisches Weinanbaugebiet: Die Region bietet nicht nur edle Tropfen und ein sommerliches Klima, sondern wird auch immer wieder, zuletzt im Herbst 2018, von Waldbränden verwüstet. Deshalb wünschten sich die Bauherren – eine fünfköpfige Familie – für ihr Gästehaus einen feuerresistenten Baustoff. Die Wahl fiel auf Sichtbeton. Den ersten Stresstest hat der Bau schon bestanden: Bei verheerenden Waldbränden im Jahr 2017 wurde das Anwesen von den Flammen verschlungen. Wälder und Wiesen haben sie vernichtet, doch das Gästehaus, das sich zu dem Zeitpunkt noch im Bau befand, konnte das Feuer überstehen. Mittlerweile sind die Bauarbeiten abgeschlossen. Die drei Häuser auf quadratischem Grundriss stehen Seite an Seite und sind auf das Wesentliche reduziert: Schlafzimmer, Bad und Terrasse. Die Dächer sind wie Deckel von Joghurtbechern leicht konkav, sodass ihre Form mit der benachbarten Gebirgskette korrespondiert und der Giebel den Blick über den Canyon zu den Berggipfeln lenkt. Gleichzeitig schattieren sie die Terrassen. Nach Süden und zur Straße hin zeigen die Häuser mit quadratischem Grundriss eine verschlossene Rückenansicht, hinter der sich jeweils ein Gang mit einem separaten Entree befindet. So sind die Innenräume vor der kalifornischen Sonne geschützt. Kleine quadratische Fenster an der Westseite werfen Tageslicht in die Bäder.
Seltsam verschlossen zeigen sich die drei Gästehäuser von ihrer Rückseite. Gemaserte Betonflächen und die konkaven Dächer verraten zunächst nicht, was den Besucher erwartet.
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Von vorne erschließt sich das offene Konzept. Alle drei Häuser verfügen über einen über den Hang reichenden Balkon.
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ARCHITEKTUR Dem ersten Anschein nach verschanzt sich der Betonbau, doch im Inneren ergießen sich Licht und Luft in die Schlafräume. Mit dem Ausblick auf den Canyon entfaltet sich ein weiter Raum. An der Nordseite schiebt jedes Haus jeweils seine verglaste Ecke wie einen Schiffsbug in den Canyon. Das Grundstück bietet nur einen schmalen bebaubaren Streifen. Weil die Familie sich außer den drei Unterkünften auch einen Pool wünschte, rückte das skandinavische Studio Mork Ulnes Architects die Baukörper der Gästehäuser über den Scheitelpunkt des Hangs hinaus. Das verschaffte ihm nicht nur mehr Fläche, sondern einen ungestörten Ausblick über den Canyon und klimatische Vorteile: Zur Südseite hin sind die Kubaturen geschlossen, sodass es innen auch dann kühl bleibt, wenn die Sonne brennt. Von außen betrachtet hat der Bau einen beinahe wehrhaften Charakter, weil er sich komplett in Beton gewandet zeigt. Hier sind in den Baustoff Abdrücke der Schalung eingeIm Inneren dominieren Einfachheit und Klarheit. Großzügige Fenster erlauben einen Rundumblick, der aber auch mit Vorhängen eingeschränkt zu mehr Privatheit führen kann.
prägt – das verleiht ihm nicht nur eine interessante vertikale Struktur, sondern ist auch eine eingeflochtene Reverenz an die Geschichte der Holzproduktion der Region. Innen ist der Beton an den Wänden porös und an der Decke glatt verarbeitet. Kontrastierend dazu haben die Planer Türen aus Pinienholz mit organisch geschwungenen Griffen gewählt. Umgeben von Pinien und Manzanita-Sträuchern hat Casper Mork-Ulnes einen Unterschlupf geschaffen, der Schutz vor der Wildnis bietet und gleichzeitig ein interessanter architektonischer Balanceakt aus Beton und luftiger Weite ist.
Die einfache Geometrie versteckt die Qualitäten der Bauten. Die Eingangsbereiche sind jeweils identisch angelegt.
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Rigde House Gästehäuser Wohnfläche 153 Quadratmeter Bauphase: Januar 2016 bis Juni 2018 Architektur: Casper Mork-Ulnes www.morkulnes.com Fotos: Bruce Damonte
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SCHAUSPIELSCHULE
Foto: Schnepp Renou
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GROSSES THEATER So wie Schauspieler improvisieren müssen, geht es auch der Baukunst. Beide Disziplinen pflegen hin und wieder einen exzessiven Hang zur Dramatik. Ihre Bühne können sie sich einfach selbst schaffen.
Choreografie, Regie, Schauspiel und Puppenspielkunst: Alle Studierenden der Berliner Schauspielschule Ernst Busch proben seit diesem Herbst an ihrem neuen Zentralstandort. „Das Unfertige planen“ betiteln die Architekten von O&O Baukunst die Projektbroschüre. Ihr Umgang mit dem Bestand ist radikal, konsequent und mutig, aber auch budgetsparend. Form und Inhalt, Architektur und Schauspiel verkörpern hier, auf dem Eckgrundstück zwischen Chaussee- und Zinnowitzer Straße unweit des BND, Berlin, wie es mal war, wie es ist und wie es bitte sehr in Zukunft auch bleiben soll.
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: O&O BAUKUNST / HORST STASNY
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Dass ein Artikel über Architektur mit Günther Jauch beginnt, und dennoch ein ausgesprochen gutes Ende nehmen wird: Wer rechnet schon damit? Dann kommt auch noch Klaus Wowereit ins Spiel … Auch die Autorin wundert sich. Nostalgie breitet sich aus. „Arm, aber sexy“: Immerhin hat der schillernde
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Das dreiteilige Ensemle setzt sich aus dem Altbau der ehemaligen Opernwerkstätten, dem Bühnenturm und der gläsernen Schachtel des Theatercafés zusammen. Skizze: Manfred Ortner / O&O Baukunst.
Bürgermeister mit seinen drei Worten doch irgendwie dazu beigetragen, das Image einer jungen, wiedervereinten Hauptstadt international auf Hochglanz zu polieren. Klaus Wowereit, zu dieser Zeit gerade noch im Amt, hatte sich 2012/13 nämlich sehr geärgert. Grund dafür war ein Auftritt von Schauspielschülern in einer Fernsehshow von – und jetzt schließt sich der Kreis – Günther Jauch. Womit dieser nun sein architektonisches Wirken als Bauherr des wiederaufgebauten Potsdamer Stadtschlosses unfreiwillig ausgeweitet hat. Denn ohne die plötzliche und ungeplante Unterbrechung seiner Sendung (der sogenannte „Jauch-Eklat“) würde die Ernst-Busch-Schauspielschule heute vermutlich nicht in ihrem Ensemble an der Zinnowitzer Straße sitzen. Wobei die Inszenierung weniger auf Applaus abzielte, sondern für die notwendige Aufmerksamkeit sorgen sollte. Die Schauspielschüler kämpften um das ihnen versprochene Gebäude,
hatten dabei prominente Unterstützer und der Hochschule Verbundende1 wie Nina Hoss, Fritzi Haberlandt und Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier, aber auch Politiker der Opposition an ihrer Seite. Es war ein leidenschaftlicher Protest für die Architektur. Wann gibt es das heute noch? Szenenwechsel. Fünf Jahre später. Besuch vor Ort. Projektarchitekt Roland Duda führt mit einem stolzen Lächeln durch das Haus, er grüßt im Vorbeigehen, bekommt ein anerkennendes Hi, Hallo und Guten Tag zurück. Jeder in der Hochschule kennt den Architekten, seine Arbeit wird geschätzt. Nachdem das Büro O&O Baukunst 2011 den vom Senat ausgelobten Wettbewerb für sich entscheiden konnte, folgte ein Jahr später der Projektstopp. Natürlich ging es damals – wie sonst auch – allein um die Finanzierung. Die Baukosten würden zwei Millionen über dem Budget von 33 Millionen Euro liegen, so die Sorge, wobei es
doch gerade in der Hauptstadt wesentlich kostspieligere Dauerbaustellen gab und gibt. Man rechnete sich außerdem aus, dass die Sanierung der vier (in und außerhalb der Stadt verteilten) Standorte bestimmt um die zehn Millionen Euro günstiger sein würde als der Umbau der ehemaligen Opernwerkstätten an der Zinnowitzer Straße. Dank Günther Jauch (verkürzt gesagt) blieb das allen Beteiligten erspart. 2013 geht es endlich weiter. Dennoch bilden die Kosten ein enges Korsett, von dem sich eine gute Kreativleistung natürlich niemals beeinflussen lässt. Im Gegenteil. „Eine gewisse Begrenzung tut auch gut“, erklärt auch Roland Duda. Er arbeitet seit 1996 bei O&O, führt das Büro seit 2011 als einer von sechs Partnern und ist mit allen Wassern gewaschen. Das Planungsteam spart deshalb an verschiedenen Stellen, was der Architekt mit dem trickreichen Euphemismus „das Budget verdichten“ beschreibt. Wir stehen im Flur. Er legt
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ARCHITEKTUR
O&O Baukunst: Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin, Grundriss EG.
Es sind die Bretter, die die Welt bedeuten: Unbehandelte Lärche umhüllt den 24 Meter hohen Bühnenturm und zieht sich im Foyer der Schule weiter fort. Holz sei eben ein Theatermaterial, finden die Architekten. Dahinter befindet sich eine Polycarbonatfassade. Der Bestand aus den Fünfzigerjahren wurde an seiner Stirnseite aufgeschnitten wurde. Foto: Schnepp Renou
beide Handflächen mit Abstand übereinander und schiebt die obere langsam der unteren entgegen. Wieder ein Lächeln und der kurze Blick nach oben. Ab einer Höhe von 2,30 Metern ist nicht nur der Bestand unbehandelt geblieben, auch neue Elemente wie die Gipskartonplatten haben O&O konsequent im Rohzustand gelassen. So entsteht ein durchlaufender Horizont in den Fluren, der die Hochschule in zwei Hälften teilt: unten Bildung und Kultur, oben Baustelle. Dasselbe funktioniert ja auch bei der Stadt: Wäre der Himmel über Berlin derzeit nicht so grau, erschiene die Stadt auch nicht so bunt. Die Hälfte als Baustelle zu belassen (überspitzt gesagt), wäre als Konzept in einer Grundschule sicher nicht denkbar gewesen, gibt Duda zu bedenken. Zur Ernst-Busch-Schule hingegen passt diese ungewöhnliche Ansage. Die gesamte Materialsprache – von dem mit unbehandelten Lärchenholzbrettern verkleideten Bühnenturm (die „Bretter,
die die Welt bedeuten“), den Polycarbonat-Elementen der Fassade und dem gesäuberten und mit einem Schutz lasierten „Beton brut“ früher Tage, dem Tafellack auf den Wänden – erzeugt ein stimmiges Bild, ohne dabei zu viel zu versprechen. Dieses Gebäude ist wie ein sehr kluges Provisorium, das von innen noch stärker zu Berlin passt, als von außen. Das Ergebnis erinnert mit seiner gesamten Atmosphäre an den Pariser Ausstellungsort Palais de Tokyo, der 2000 und 2012 von Lacaton & Vassal umgebaut und weitergedacht wurde. Auch das Team von Roland Duda beweist ein feines Gespür für die hohen Räume, scheut sich aber nicht vor Entscheidungen, die anderen Architekten sicherlich schlaflose Nächte bereitet hätten. Möglich ist dieser fast freche Umgang nur durch die hochwertige Ausführung der Details, die den robusten offenen Charakter der Hochschule auffängt.
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PROJEKTE
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Die Ernst-Busch-Hochschule ist nicht einfach irgendeine Schauspielschule, sondern eine berüchtigte Talentschmiede, auch für die Zukunft des deutschen Films und des deutschen Theaters. Regisseure wie Leander Haußmann, Thomas Ostermeier und Armin Petras haben hier studiert, Schauspieler und Schauspielerinnen wie Sandra Hüller und Nina Hoss, Lars Eidinger, Devid Striesow und August Diehl, Fritzi Haberlandt und Jasna Fritzi Bauer, Jan Josef Liefers und Karoline Herfurth, Charly Hübner und Henry Hübchen ihr Handwerk gelernt. Nur Manfred Krug und Matthias Schweighöfer haben ihre Schauspielausbildung an der „Ernst Busch“, so liest man, abgebrochen. Erfolgreich sind sie trotzdem.
Aber wo steht sie überhaupt? Hinter dem Titanic Hotel, nur ein paar Schritte vom streng gerasterten Bundesnachrichtendienst (Kleihues + Kleihues) und der verkrampften Sapphire-Skulptur (Daniel Libeskind) entfernt, zwischen neuen Luxuswohnungsbauten in einem charmelosen Gewand, das man früher als Platte bezeichnet hätte. Es ist ein Quartier, das Investoren komplett neu erfinden wollen. Die Frage, wem die Stadt gehört, steht während der Eröffnung der Schule Ende Oktober nicht aus purem Zufall im Raum – pardon: auf der Bühne. Und umso schöner ist es zu sehen, wie es der Ernst-BuschSchauspielschule im großen Maßstab auf diesem versteckten Grundstück gelingt, als Freak gleichermaßen Ruhe und Leben in dieses Viertel zu bringen. Robust, offen und provisorisch. Als Roland Duda die Treppe – eine instagramtaugliche Betonskulptur, die im
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Übrigen als zweiter Fluchtweg dient, aber gar nicht danach aussieht – hinuntergeht, zeigt er noch auf den Keller und erinnert sich an das große Eröffnungsfest. Voll sei es gewesen, alle wollten dabei sein. Die Studierenden haben ihr Haus in einen Club verwandelt, der in den Kellerräumen sein Epizentrum hatte. Alles nur für einen Abend. Die Nacht verfliegt. Wir sind ja in Berlin.
Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch / www.hfs-berlin.de Projektarchitekten O&O Baukunst / www.ortner-ortner.com BGF: 16.000 Quadratmeter Bauherr: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Berlin Planung/Realisierung: 2011–2018
ARCHITEKTUR
Es entsteht ein durchlaufender Horizont in den Fluren, der die Hochschule in zwei Hälften teilt: unten Bildung und Kultur, oben Baustelle. Das selbe funktioniert ja auch bei der Stadt: Wäre der Himmel über Berlin der nicht so grau, erschiene die Stadt auch nicht so bunt.
TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: ADRIÀ GOULA
Foto: Manfred Ortner / O&O Baukunst
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ARCHITEKTUR
JACQUES HERZOG ZUR KULTURSCHEUNE DER GEWINNERENTWURF DER SCHWEIZER STAR-ARCHITEKTEN HERZOG & DE MEURON IM WETTBEWERB UM DAS MUSEUM DES 20. JAHRHUNDERTS WAR NICHT DIREKT AUCH SIEGER DER HERZEN. INZWISCHEN HAT DIE SCHEUNE IHRE ERSTE ÜBERARBEITUNG ERFAHREN. IM INTERVIEW ERLÄUTERT JACQUES HERZOG EINIGE DETAILS UND SEINEN STANDPUNKT ZUR MUSEUMSARCHITEKTUR.
Wie hat sich der Prozess der Weiterentwicklung Ihres Entwurfs für Sie dargestellt? Wir sind zufrieden. Der Dialog mit der Bauherrschaft war sehr intensiv und interessant. Wie ich meine, ist dies auch am Resultat ablesbar. Das Projekt ist zur richtigen Architektur geworden und in allem viel konkreter und präziser als es das Wettbewerbsprojekt noch war.
TEXT: STEPHAN BURKOFF FOTO: ADRIANO BIONDO
Welche Aspekte würden Sie dabei hervorheben? Alles, was wir im Wettbewerb versprachen, haben wir nun noch einmal radikalisiert: Das Gebäude präsentiert sich jetzt noch archaischer und bezüglich der Materialien noch präziser. Es ging darum, das Paradox zwischen Archaik und Einfachheit einerseits und andererseits den Technologien, die dieser Archaik widersprechen, auszuarbeiten. Die Platzierung der Screens, die Verschieb- und Beweglichkeit gewisser großflächiger Gebäudeteile musste sorgfältig überlegt werden. Diese Balance zwischen unterschiedlichen Themen, die so wichtig ist für das Gelingen dieses großen Gebäudes, haben wir durchsetzen können. Wir sind überzeugt, dass die Perforation, diese alles entscheidende Leuchtkraft von innen, nun funktionieren wird. Wir haben ja viele Museen gebaut. Auch in diesem Fall konstituiert sich die Bauherrschaft aus intelligenten, kreativen Leuten, die es gewohnt sind, mit Künstlern zu arbeiten. Dadurch ist der Prozess für uns als Architekten besonders spannend, denn wir verfolgen ja eigentlich die gleichen Ziele, gehen dabei aber unterschiedliche Wege.
Welches ist Ihr Weg? Wir betrachten die Dinge immer Schritt für Schritt, bis das Ganze richtig sitzt. Da ist auf der einen Seite der Scharoun-Platz, der stimmen muss, und auf der anderen der Raum bis zur Neuen Nationalgalerie von Mies: Überall muss das Gebäude einwandfrei funktionieren und in einer Balance gehalten werden. Die Folge davon wird sein, dass sich die Menschen dort gern aufhalten. Sie können unterschiedliche Orte aufsuchen: eher besinnliche oder eher lebendige, wo sie sich selbst inszenieren können, wie auf der breiten Treppe, die ja fast wie eine Tribüne funktioniert. Wir sind bestrebt, all diesen menschlichen Verhaltensweisen, diesen sozialen Patterns Rechnung zu tragen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass so ein Gebäude am Schluss vom Publikum angenommen wird – das Allerwichtigste für uns. Die Tate Modern beispielweise ist nur deshalb so erfolgreich, weil sie als Social Sculpture funktioniert.
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INTERVIEW Sie haben vorhin gesagt, dass Sie noch nie Kompromisse gemacht haben, die Sie nachher bereut hätten. Was war Ihnen wichtig? Was waren bisher die größten Reibungspunkte in diesem Projekt? Es war uns sehr wichtig, den großen Anteil an Ausstellungsflächen zu erhalten. Außerdem legten wir Wert darauf, Ausstellungsräume mit Tageslicht einzurichten, obwohl Museumsleute das aus versicherungstechnischen Gründen manchmal nicht so gerne haben. Und außerdem war es uns ein großes Anliegen, eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Räume zu schaffen. Unser Glück ist, dass der Bauherr, vertreten durch Udo Kittelmann, das auch wollte. Mit ihm ist es fast, als würden wir mit einem Kollegen sprechen. Es gab Diskussionen, aber wirkliche Reibungspunkte nicht.
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Ist die Kombination der eher simplen äußeren Erscheinung mit dem komplexen Innenleben vielleicht einer der Gründe, wieso das Projekt in der Öffentlichkeit nicht direkt auf Gegenliebe stieß? Ja, weil die Leute es erst nicht verstanden haben. Ich denke, man wird nach der Überarbeitung feststellen, dass die Kritik leiser wird. Man sieht jetzt, gerade auf der Nordseite, wie lebendig und spielerisch das Ganze wird. Es ist natürlich völlig ungewöhnlich, dass man an einem so wichtigen Ort frech und fast provokativ eine so einfache, fast banale Form aufstellt. Auch wenn sie ungemein aktuell ist. Aber ich glaube, schließlich werden die Menschen das Gebäude lieben, weil wir für sie Orte gestalten, an denen sie sich gern aufhalten werden. Sie mögen eine behagliche Ecke, eine gewisse Geborgenheit, aber auch städtische Eleganz und Großzügigkeit. Diese ganz gewöhnlichen sinnlichen Bedürfnisse des Menschen wollen wir hier allesamt berücksichtigen und abbilden.
Ihr Entwurf soll, das war Teil der Bauaufgabe, auch zur Vernetzung innerhalb des Areals beitragen. Spielt die Vernetzung, auch im übertragenen Sinne, eine wachsende Rolle für die Architektur? Aber natürlich! Die Leute werden überall Aufenthaltsorte suchen, um sich mit ihren Laptops und Smartphones hinzusetzen und auszutauschen. Die Frage für uns Architekten ist ja, wie tauglich ist eine so alte Kulturform wie die Architektur heute noch. Und solange wir keine Cyborgs sind, brauchen wir Orte, die unseren Bedürfnissen als Menschen entsprechen. Das bleibt. Aber die Menschen sind kritisch. Sie halten sich nur dort auf, wo es ihnen gefällt. Uns als Architekten interessiert, wie sich der Mensch im Außenraum verhält. Wo geht er gern hin, wo fühlt er sich eingeladen, sich informell oder auch formell zu treffen? All diese Dinge haben Mies bestimmt überhaupt nicht interessiert ... nicht mal Scharoun.
ARCHITEKTUR Wie stehen Sie zum Werk Scharouns? Vorhin, als wir hierherkamen, habe ich es gesagt: Ich liebe Scharoun für die Fähigkeit, manchmal unglaublich schlechten Geschmack so einzusetzen, dass das Ergebnis brillant ist. Das ist für mich ein Schritt weg von Mies in eine informelle Art zu denken. Unser Weg ist nochmals ein bisschen anders. Man kann aber nicht einfach sagen, das ist altertümlich, das ist vergangen und das ist jetzt das Neue. Wenn etwas für den Moment, wenn man es baut, stimmt, dann wird es auch in hundert Jahren noch seine Berechtigung haben.
Sie haben Ihr Konzept für die Tore am Gebäude vorgestellt, die mit Screens ausgestattet werden sollen, Stichwort „Eventisierung“ der Kunstwelt. ist das heute notwendig? Nur, wenn es auch als Kunstform funktioniert: Ich möchte lieber, dass die Künstler die Screens als Display nutzen, als dass nur besuchsrelevante Informationen wie Termine angezeigt werden. Wir haben ja auch das M+ in Hongkong geplant, wo das ganze Gebäude als Screen funktioniert. Hongkong ist natürlich die Stadt der Screens. Aber derjenige des Museums wird der einzige sein, der nicht kommerziell genutzt wird. Das heißt, die künstlerische Botschaft geht in diesem Fall ins kommerzielle Medium hinein. Und das ist eine Art Umstülpung, eine Umkehrung der Waffen: ein kommerzielles Tool in einer nicht kommerziellen Nutzung. So stelle ich es mir vor. Aber tatsächlich sollen diese Tore auch eine Art Gegenspieler zu der Archaik des Grundgebäudes sein.
Kann man Ihren Entwurf so nicht nur physisch, sondern auch immateriell als Brücke zwischen Mies und Scharoun verstehen? Könnte man vielleicht. Unser Entwurf ist die Position von heute. Er lässt aber die Position der benachbarten Gebäude bestehen. Bei Architekturen ist es nicht anders als bei Kunstwerken: Mir ist es eigentlich egal, in welcher Zeit es entstanden ist, ich muss einfach die Qualität spüren. Dann kann ich mich selbst anders wahrnehmen. Ich erkenne mich da und ich erkenne auch die Andersartigkeit von der einen zur anderen Position, und zwar ohne das werten zu müssen. Sind Sie mit dem Ergebnis glücklich? Ich bin nie glücklich (lacht). Aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Ich bin zufrieden damit, wie wir den Entwurf bearbeiten konnten, und ich freue mich sehr darauf, ihn in den nächsten Schritten weiter zu verfeinern.
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PROJEKTE
BALDACHIN DER STILLE TEXT: JEANETTE KUNSMANN FOTOS: SIMONE BOSSI
Für das neue Krematorium im belgischen Aalst haben Kaan Architecten nicht nur die passende Form gefunden, sondern treffen auch den richtigen Ton für eine Architektur der Stille.
Mit einer Grundfläche von 74 mal 74 Metern zeigt sich das Crematorium Siesegem als beachtliches Monument – platziert in einer hügeligen Parklandschaft außerhalb der Stadt Aalst, keine 25 Kilometer von Brüssel. Neben dem Gebäudeteil für die Zeremonie, der sich in zwei Aussegnungshallen unterschiedlicher Größe gliedert, mussten die Rotterdamer Architekten weitere Funktionen wie Eingang, Erschließung und Café, Logistik und Verwaltung einplanen. Das Team von Kaan Architecten und der Landschaftsarchitekt Erik Dhont planten die inneren Raumfolgen so, dass sich jeder intuitiv zurechtfindet. Sie verbinden den puristischen Krematoriumsbau auf eine poetische Weise mit seiner Umgebung. Im Norden sammelt ein Teich aufgefangenes Regenwasser, während die sanften Hügel
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Die pastellgelbe Feuerbestattungsanlage samt der technischen Installation bildet eine eigene Architektur innerhalb des Krematoriums.
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Eine sanfte Hügellandschaft von Erik Dhont bettet das pure Betonmonument ein.
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ARCHITEKTUR Wenn das Tageslicht auf die mit italienischem Marmor verkleideten Wände fällt, entsteht eine würdevolle Atmosphäre für die Trauernden.
Die eleganten Sitzbänke sind mit beigen Lederpolstern bezogen – ein Farbton, der innerhalb des Gebäudes immer wieder auftaucht.
einen Urnengarten umschließen. Patios, eine Terrasse und Einschnitte lockern das Gebäude auf und bringen Tageslicht in das Innere. Bäume und Büsche verbinden sich mit der Architektur. Über allem ruht ein großes Dach: ein Baldachin aus Beton. Auffällig sind an dem Neubau die Höhe der Räume (6,40 Meter) sowie das gezielte Zusammenspiel von besonderen Materialien. Diese sind den Architekten zufolge von zentraler Bedeutung, um dem Ort eine ruhige Stimmung zu geben. Während die hellen Sichtbetonfassaden ein Gegengewicht zum zukünftig grünen Landschaftspark setzen, entwickelt sich im Inneren ein spannungsvoller Dialog aus italienischem Marmor, glattsamtigem Beton und Eichenparkett. Die Betondecken hingegen haben eine raue Oberflächenstruktur, um die Akustik zu verbessern und Ruhe in die Hallen zu bringen. Die Architektur soll den Übergang von einer belebten
Außenwelt zu einem metaphorischen und physischen Innenraum, der von Ruhe und Zurückhaltung geprägt ist, begleiten, erläutern die Architekten ihren Ansatz für den Entwurf. Mit der Idee konnten sie sich 2012 in einem internationalen Wettbewerbsverfahren durchsetzen.
Crematorium Siesegem Neubau / 5.475 Quadratmeter / 2018 Projektarchitekten KAAN Architecten kaanarchitecten.com Landschaftsarchitekten Erik Dhont erikdhont.com
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Fliesenmuster Hive Pearl aus der Kollektion Majestic von Ceramiche Piemme. 144
ARCHITEKTUR
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Die Vertiefung der Oberfläche Die Keramikhersteller in der norditalienischen Region Emilia-Romagna verwandeln gebrannte Erden in raffinierte Fliesen. Dabei bewegen sie sich zunehmend von der Fläche in den Raum und bringen dynamische Reliefstrukturen und täuschend echte Trompe-l‘œilEffekte ein. Durch die Loslösung vom rechteckigen Standardformat lassen sich Fliesen zu spielerischen Kompositionen verdichten.
TEXT: NORMAN KIETZMANN
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CERSAIE – CONFINDUSTRIA CERAMICA
Es ist kein Zufall, dass sich Firmen in bestimmten Regionen niederlassen. Schließlich ist jeder Produktionszweig an Rohstoffe gebunden. Auch in Italien lassen sich die Branchen geografisch verorten. Das Zentrum für Lederverarbeitung liegt im Umland von Florenz. Holzstühle werden rund um Udine im Friaul hergestellt. Und die Produktion von Fliesen erfolgt in der Emilia-Romagna. Das Städtchen Sassuola unweit von Bologna gilt bereits seit der Renaissance als Keramikzentrum. 425 Millionen Quadratmeter Fliesen sind dort 2017 produziert worden, rund 80 Prozent der gesamten italienischen Keramikproduktion. Der Dachverband der Branche, die Confindustria Ceramica, hat dort seinen Sitz. Und alljährlich im September werden auf der Keramikmesse Cersaie in Bologna die Neuheiten der Branche präsentiert. Die Herstellung von Fliesen erfolgt nach einem klaren Prinzip: Quarzsand, Feldspat, Schamotte, Farbstoffe und mineralische Zusätze werden zu feinen Pulvern gemahlen und in rotierenden Zylindern vermischt, die mitunter drei Stockwerke in die Höhe aufragen. Die daraus entstandene Masse wird anschließend in Platten gepresst, von denen erst große und später kleinere Segmente abgeschnitten werden. Auf langen Bändern wandern sie durch verschiedene Veredelungsstufen bis in die Öfen, wo sie bei Temperaturen von 1.200 Grad Celsius gebrannt werden. Vier Fünftel aller Erzeugnisse von den Firmen der Confindustria Ceramica
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Leuchtendes Fliesen-Parkett: Kollektion Pop Job von Studio Job für Mirage. Rechte Seite: Fliesenmuster Jungle Cold aus der Kollektion Majestic von Ceramiche Piemme.
sind für den Export bestimmt. Gefragt sind keineswegs nur glattglasierte, einfarbige Fliesen. Im Trend liegen vor allem täuschend echte Holz-, Beton-, Marmor- und andere Natursteinoptiken. Andere Fliesen erinnern an mattes Industrieglas, abgetragenes Leder und verwaschene Stoffe. Keramik hat den Vorteil, dass sie stark belastbar und gegen Feuchtigkeit gewappnet ist. Auch ist sie im Vergleich zu Stein deutlich leichter, wodurch Transport und Montage vereinfacht werden. Um die hochauflösenden Trompe-l‘œil-Motive aufzubringen, durchlaufen die Fliesen vor dem Brennen verschiedene Färbestationen. Eine wichtige Rolle spielt die Vertiefung der Oberflächen durch dreidimensionale Mikrostrukturen,
die ebenso vor dem Brennprozess aufgetragen werden. Fliesen in Holzoptik können mit rauen, unregelmäßigen Strukturen die Anmutung abgetretener Dielen erzielen. Oder sie lassen als ein unregelmäßig vor- und zurückspringendes Relief an gestapelte Bretter denken. Bei den Hölzern geht die Tendenz in zwei verschiedene Richtungen: Auf der einen Seite sorgen warme Teak- und Ebenholztöne für einen Ausflug in die tropischen Wälder Südostasiens. Auf der anderen Seite entführen die hellen Nuancen von Ahorn, Esche und Kiefer geradewegs nach Skandinavien. Dass die Natur keineswegs wortwörtlich interpretiert werden muss, beweist der Fliesenhersteller Mirage mit der Kollektion Pop Job. „Wir haben die
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Hinter dem Waschbecken Fliesenmuster Geometric Warm. An der linken Wand Fliesendekor Snow, beides von Panaria Ceramica. Linke Seite: Fliesenserie Bio Select von Lea Ceramiche im Farbton Wallnuss-Zimt.
Holzstruktur auf grafische Art behandelt und übertrieben, sodass ein Parkett mit leuchtenden Farben entstand“, sagt Nynke Tynagel vom Designbüro Studio Job, das die Kollektion entworfen hat. Der hohe Sättigungseffekt der Fliesen wird nicht nur mit einer starken Pigmentierung erzielt. Indem eine Glasschicht im sogenannten Twin-Surface-Verfahren auf die Feinsteinzeugoberfläche aufgetragen wird, intensiviert sich die Wirkung der Farben. Selbstbewusste Akzente setzt der Hersteller Ceramiche Piemme mit der Kollektion Majestic. Die Fliese Glam Black lässt an einen schwarzen Marmor mit einer starken weißen Maserung denken. Auch hier liegt der Reiz in der Übertreibung. Die Strukturen überlagern sich zu einer komplexen Textur, die bei naher Betrachtung sogar Züge eines Action Paintings in sich trägt. Aufgedruckte Drei- und Vierecke in changierenden
Farben unterstreichen den artifiziellen Charakter dieser Fliesenkollektion und bringen einen Hauch von Art déco ein. Immer mehr Fliesen vermeiden abweisend glatte Oberflächen und warten stattdessen mit dreidimensionalen Strukturen auf. Das Spektrum ist weit gefächert und reicht von regelmäßigen und unregelmäßigen Wellen über polygonale Vertiefungen bis hin zu abstrahierten, in die Keramikoberfläche eingelassenen Blattformen. Was sie verbindet, ist ihre Wirkung: Sie erzeugen spannungsvolle Schattenwürfe, die mit dem Winkel des einfallenden Lichtes variieren und Wand und Boden mit sensorieller Ausdruckskraft beleben. Unterstützend wirkt hierbei die zunehmende Loslösung vom Standardformat der typischen Baumarktfliese zugunsten von runden, dreieckigen oder hexagonalen Zuschnitten. Nach dem Mix-&-Match-Prinzip können Fliesen
verschiedener Farben, Oberflächenstrukturen und Materialanmutungen kombiniert werden, womit die Einsatzmöglichkeiten über klassische Badezimmer- und Spa-Anwendungen weit hinausgehen. Keramik wird zu einem flexiblen Allrounder in der Innenarchitektur, der keineswegs allein in der Flache verharrt, sondern selbstbewusst den Raum erobert.
Confindustria Ceramica Die Confindustria Ceramica ist der Verband italienischer Unternehmen, die Keramikfliesen, feuerfeste Materialien, Sanitärartikel, Geschirr und technische Keramik herstellen. Mit der Cersaie findet in Bologna jährlich die größte Leisungsschau der Branche statt. www.confindustriaceramica.it
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MIT DEM BUICK NACH MANHATTAN VON NIKLAS MAAK
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MAGAZIN
Die Wagen, die vor der alten Autowerkstatt von Watermill auf Long Island im Gras parken, sind nicht deswegen schön, weil sie perfekt gepflegt sind. Im Gegenteil. Sie sind ziemlich heruntergekommen, das aber auf eine Weise, die einem gute Laune macht. Die Alfa Romeo Spider und die Broncos, die Mercedes Cabrios und Buick Electras haben Schrammen und Dellen und Rost, der Chrom ist matt geworden, Verdeck und Lack sind von vielen Sommern in den Dünen von Montauk und Bridgehampton ausgeblichen – und genau das macht sie aus. Sie erzählen in all ihrer Heruntergerocktheit von einem gelungenen Leben. Sie wurden von Menschen gefahren, die ihre Sommer damit verbrachten, in weißen Holzhäusern mit Blick auf weiße Segelboote den weißen Sand aus ihren weißen Hosen zu klopfen, über Schotterpisten zu donnern und seltsame Geschäfte abzuwickeln und seltsamen Ideen nachzugehen und seltsame Dinge zu tun und an der rot gestriche-
in einem. Ich war in Orlando gewesen und wollte ein paar Tage in New York bleiben, und in diesen Tagen, hatte mein Freund Philipp gesagt, könne ich bei ihm wohnen. Ich nahm, weil wir nach Montauk fahren wollten, einen Mietwagen am Flughafen und kam am Nachmittag in Manhattan an. Philipp war nervöser als sonst und fuchtelte mit den Händen herum, und es war nicht ganz klar, ob er sich freute, mich zu sehen. Seine winzige Wohnung in der Jones Street lag in einem alten Brownstone Building, dessen Treppengeländer so oft schwarz lackiert worden war, dass man die Zierlöwen, die am Eingang des Aufgangs jeweils eine Kugel festhielten, kaum noch erkennen konnte. Es sah aus, als seien sie in einem Ölteppich geschwommen. Überraschend, sagte Philipp schließlich, habe sich Justine angekündigt, eine Jugendfreundin, deswegen wäre es ungünstig, wenn ich bei ihm schlafe. Ich nahm also den Mietwagen –
nen Fischbude in Napeague sehr rote Lobster Rolls zu essen und manchmal mit offenem Verdeck Richtung Westen in die Stadt zu fahren, nach Manhattan. Und jedes Jahr sahen ihre Cabrios, so wie sie selbst auch, ein bisschen versandeter und ausgeblichener und verwitterter aus, bis die ehemaligen sogenannten Traumwagen nur noch ein paar tausend Dollar wert waren und trotzdem immer noch die gute Laune endloser Sommer ausstrahlten, die sie auf eine fast magische Weise gespeichert zu haben schienen. Als ich in Amerika lebte, habe ich mir für den Preis, den ein Mietwagen für zwei Wochen gekostet hätte, so einen Wagen gekauft, einen Buick aus den späten Sechzigerjahren. Meine damals schon sehr ökologisch veranlagten Freunde schimpften und nannten den Wagen „Midlife-Chrysler“, obwohl es gar kein Chrysler war und ich nicht die geringsten Anzeichen einer Krise zeigten. Sie jammerten, was der 7.2-Liter-Achtzylinder mit der Umwelt anstellen würde. Aber ich habe ihn so wenig gefahren, dass allein die Produktion einer der albernen selbstlenkenden Dosen, die jetzt die Stadt vor dem Abgaskollaps retten sollen, viel mehr Dreck macht, und ich habe weniger Rinderfilets von methanfurzenden Kühen gegessen und keine Kreuzfahrten gemacht. Meine Ökobilanz sah trotz Buick nicht schlimmer aus als die der Freunde - und es gibt nun mal fast nichts Schöneres, als nachts mit einem dieser alten Buicks von Water Mill nach Manhattan zu fahren, vorbei an Orten, die Utopia oder Babylon heißen, hinein in die Stadt, durch die dann leeren Avenues, in den Tunnel, der sich wie eine italienische Bergstraße auf eine abenteuerliche Weise durch die Grand Central Station bohrt, bis vor Mies van der Rohes Seagram Building, an dessen Bar ein zum Auto passender Martini serviert wird. Ich habe das ein paar Mal gemacht. Meine Erinnerung an Manhattan hat überhaupt viel mit Nächten in Autos zu tun. Als ich das erste Mal nach New York kam, wohnte ich sogar
einen roten Dodge mit New-Jersey-Kennzeichen, das mich als das auswies, was die Manhattanites „Bridge-and-Tunnel-People“ nennen – und fuhr los, um mir ein Hotel zu suchen. Es fand allerdings irgendeine Messe statt, und alle bezahlbaren Hotels waren ausgebucht, und die Zimmer in den Hotels, die nicht ausgebucht waren, kosteten pro Nacht genauso viel, wie ich im Monat für meine Wohnung ausgab. Also parkte ich den Dodge am Park und verbrachte meine erste New Yorker Nacht auf der Rückbank des Wagens. Gegen acht wachte ich auf, holte mir im L‘Express an der Park Avenue einen Kaffee und fuhr nach Downtown, um bei Philipp zu duschen. Er öffnete die Tür mit einem zerknüllten Gesicht. Er war bleich, und man sah, dass er nicht geschlafen hatte. Und, sagte ich. Philipp fuchtelte mit einem ungetoasteten Toastbrot umher und schaute grimmig. Er war mit Justine essen gegangen, sie hatte sich auf dem Heimweg bei ihm untergehakt, aber dann war sie müde gewesen und hatte sich ausgezogen und wortlos in ihr Bettlaken eingerollt; seitdem lag sie dort, eingewickelt wie eine ägyptische Mumie, und schlief. In den nächsten Tagen kam Philipp nicht nennenswert weiter, deswegen schlief ich auch die nächsten Tage im Auto. Ich entwickelte eine Technik, auf der Rückbank zu schlafen, ohne dass die Beine in den Fußraum fielen, beschloss aber mitten in der Nacht, die Rückbank halb umzuklappen und die Beine in den Kofferraum auszustrecken, was härter war, aber mehr Platz versprach. Ich sah jetzt aus wie das Opfer eines Gewaltverbrechens. Am dritten Tag regnete es morgens. Vor dem Gramercy Park Hotel hing die Fahne nass herunter, über den goldenen Baldachin rauschte der Regen auf den Bürgersteig. Ich sah, als ich aufwachte, als Erstes das Lenkrad des Dodge und den darauf abgebildeten Widderkopf. Der Widder ist das Symboltier von Dodge, auf jedem Lenkrad sieht man die Hörner des Widders. Und dieser Widder sprach mit mir. Der Widder fragte mich:
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MIT A NACH B
„Are you ok?“ Und es dauerte eine Weile, bis ich sah, dass die
werden können, und wenn sie statt in Shoppingmalls im Inter-
Stimme dem Polizisten gehörte, der mit einer Taschenlampe im Anschlag am Seitenfenster stand. So was wird es, wenn man den Stadtplanern glauben darf, schon in relativ naher Zukunft nicht mehr geben, weder in New York noch anderswo. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, die Autos so sehr hasst, dass sie sie am liebsten guillotinieren würde, hat bereits angekündigt, dass in zehn Jahren kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr durch Paris fahren wird. Vorbei die Zeiten, in denen man seinen Citroën DS lässig am Straßenrand vor dem Café in die Knie sinken ließ, einen Pernod bestellte und dann heimfuhr. In Zukunft wird man, weil es den Autoherstellern und den Juristen zu kompliziert ist, Roboterautos und von Menschen gesteuerte Wagen zu koordinieren, die von Menschen gesteuerten Wagen im Namen von Umweltschutz und Lebensqualität ganz aus den Städten verbannen. Dann werden in Paris, Berlin und vermutlich auch in Manhattan nur noch von Algorithmen gesteuerte, selbstlenkende Dosen herumgeistern, die man mit dem Smartphone herbeiruft und die einen überall hinbringen. Nur stehenbleiben und in ihnen schlafen kann man leider nicht mehr, jedenfalls nicht zu einem Preis, der unter dem eines Hotelzimmers liegt. Vor Kurzem wurde die Designerin Patrizia Urquiola gefragt, was sie denn, wenn sie auf dem Weg von Zu Hause zur Arbeit in einem selbstlenkenden Auto machen würde. Sie überlegte kurz. Offenbar ging der Interviewer davon aus, dass man im Zukunft immer noch von Zu Hause zur Arbeit fährt und dass diese Arbeit immer noch in irgendwelchen Bürotürmen in einem Stadtzentrum stattfindet, was ja, wenn man die Sache mit der Robotisierung ernst nimmt, gar nicht so selbstverständlich ist. Man könnte sich auch fragen, wohin einen das Roboterauto überhaupt fahren soll, wenn die Leute nicht mehr in Bürotürmen oder Fabriken arbeiten, weil diese Arbeiten von Algorithmen und Maschinen viel besser erledigt
net Online-Shopping machen und sich Netflix statt Kinofilme anschauen. Urquiola umging elegant die Frage, warum man in Zukunft überhaupt noch in die Stadt fahren soll, und erklärte, man könne das selbstfahrende, lenkradlose Auto ja zu einem mobilen Gym machen. Schöne neue Roboterwelt: ein Fitnessstudio auf Rädern ... Workout, körperliche Betätigung und gleichzeitig zur Arbeit gleiten ... nicht schlecht. Andererseits kann man beides schon länger in einem Ding haben. Das Ding heißt Fahrrad. Sein Nachfolger als Massentransportmittel, das Auto, wird, wenn es so weitergeht, bald nur noch an abgelegenen Stränden zu finden sein, an Plätzen wie dem Friedhof der glücklichen Straßenkreuzer in Water Mill. Aber was heißt Friedhof.
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Noch fahren sie ja, noch ist es nicht zu spät – noch kommt man sogar in die Stadt, bei Nacht, noch sind die Motoren warm.
EIN ABSCHIED … Niklas Maak schreibt für das Feuilleton der FAZ und ist ein passionierter Autofahrer. Seine Kolumne Mit A nach B verbindet Architekturkritik mit Automobil– expertise.
MAGAZIN
LinkUP
Xilium
Denuo
www.NowyStylGroup.de 153
ZUHAUSE IN DER KUNST
ZUR KUNST AM BAU Walter Grasskamp, emeritierter Professor der Münchner Akademie der Künste, hatte für seine Studenten immer Kekse, Tee und 500-Euro-Scheinen nachempfundene Servietten im Büro. „Damit die so was auch mal sehen.“ Ein anregendes Gespräch über Kunst, der man im Zweifel nicht entgehen kann.
VON JEANETTE KUNSMANN & STEPHAN BURKOFF
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Herr Grasskamp, braucht man heute noch Kunst am Bau? Hätte ein Architekt des 18. Jahrhundert überhaupt verstanden, worüber wir reden? Er hätte es verstanden, aber
angewandte Kunst, weil die, die das machen, sich als Künstler fühlen und nicht als Designer. Ist es nicht auch so, dass manchmal guten Museumskünstlern bei Kunst am Bau schlechtes
ganz anders. Er hätte gewusst, er kann nicht alles alleine machen. Er würde aber überhaupt nicht verstehen, dass eine abstrakte Bronze in einer Berliner Nachkriegssiedlung Kunst am Bau sein soll. Erstmal würde er die abstrakte Bronze nicht verstehen. Er würde nicht verstehen, warum der Architekt nicht vorschreiben kann, was dahinkommt. Er würde sich fragen: Wie ist es dazu gekommen? Und dann würde man ihm sagen: Es sind so viele Künstler ausgebildet worden, Ende des 19. Jahrhunderts, dass die einfach keine Marktplätze hatten und dass man die in irgendeiner Weise versorgen wollte. Das sind unübersichtliche Felder, in denen sich das bewegt. Sobald man die Frage stellt, ob die Architektur das braucht, ob die Gesellschaft das braucht, ob das einen sozialen Sinn macht, kommt man in dieselbe Diskussion wie Kunst im öffentlichen Raum. Die ist allerdings im Fall der Kunst am Bau gesetzlich geregelt. Bei Kunst im öffentlichen Raum steht es den Städten, den Bauherren und Kommunen frei, da was zu machen oder zu unterlassen.
Design unterläuft?
Meinen Sie denn, es wäre besser, wenn der Architekt wieder den Auftrag an den Künstler vergibt und sich miteinbezieht? Wäre das auch heute noch eine Lösung?
Ich kann nur feststellen, dass es in gewisser Weise in eine Sackgasse geführt hat. In der Nachkriegszeit ist so viel Kunst am Bau gemacht worden, mit dem ganzen Wiederaufbau, dass sich so eine Art Subkultur ergeben hat – die sozusagen die ernstzunehmenden, freien Künstler, die mit so was nichts zu tun haben wollten oder vielleicht auch nichts zu tun kriegten, verachtet haben als angewandte Kunst, während ein großer Bereich von Künstlern da ein Auskommen fand und zum Teil auch gute Lösungen geliefert hat. So sind zwei Märkte entstanden, und dieser Markt wurde wurde auf Dauer auch attraktiv für Künstler die sich anfangs zu fein dafür waren. Es ist aber damit auch ein Markt entstanden, der eigenen Regeln folgt. Es ist ein Problemfeld mit wechselnder Problemlage, aber interessant als Nebenschauplatz der Museumskunst – und ich sage bewusst als Nebenschauplatz der Museumskunst und nicht als
Welches Kunstwerk passt denn gut an seinen Ort? Eine der besten Lösungen, die ich kenne, ist der Münchner U-Bahnhof Oberwiesenfeld von Rudolf Herz. Das müsst ihr euch angucken, das ist einfach umwerfend. Das ist super. Das ist richtig durchdacht. München hat ja 1970 angefangen, die U-Bahn zu bauen, mit der Olympiade zusammen, sodass man, wenn man mit der U-Bahn fährt, je nach Strecke einen Schnitt durch ein bestimmtes Jahrzehnt hat. Manche Kollegen, meist sogar direkt aus der Akademie, haben das einfach nur als Auskleidung betrachtet. Manche haben es überdekoriert mit Mobiliar. Manche haben mit dem Licht gespielt. Es gibt die verschiedensten Lösungen. Aber das mal vom Schauplatz her zu denken: Was passiert da? Man fährt da ja nicht nur rein, man hat zwei verschiedene Blickwinkel. Das hat er, wie ich finde, genial gelöst. Das halte ich für ein gelungenes Beispiel. Und ich denke auch, dass viele Beispiele, die man in den Fünfziger- und Sechsigerjahren gemacht hat und die in den Siebzigerund Achzigerjahren als Verlegenheitslösung gesehen worden sind, heute wieder ein bisschen Patina haben. Das kann man wieder angucken.
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ZUHAUSE IN DER KUNST Bei einem U-Bahnhof erfüllt ja die Gestaltung tatsächlich einen Zweck. Oder im sozialen Wohnungsbau. Das sind ganz extreme Schaufelder, mit denen man da zu tun hat. Und was die Kritik an der Kunst im öffentlichen Raum in den Achzigerjahren war, war rückblickend natürlich auch die Kritik an der Kunst am Bau: Das sie einfach zu oft nach aus der Schublade gezogenen Lösungen aussah, die man auf alles pappen konnte. Die Engländer haben das „Parachute Art“ genannt, also Fallschirmkunst, die man wie mit dem Versorgungshubschrauber abwirft. Aber umgekehrt ist es natürlich auch interessant und noch viel konfliktfreudiger, das mal aus der Nutzerperspektive zu sehen. Wir reden ja jetzt sozusagen als Historiker und Theoretiker. Wenn es um Gelände geht, das nicht transitorisch ist, als U-Bahn oder Flughafen, das bringt einem keine Verletzung bei, wenn man da irgendwas sieht, das man nicht aushalten kann. Aber wenn man in einem Universitätslabor arbeitet oder in einem sozialen Wohnungsbau wohnt und dauernd da ist, dann wird das Kunstwerk ja zum unwillkommenen Mitbewohner. Und da kriegt es, ob es will oder nicht, ob der Künstler das wahrhaben will oder nicht, eine soziale Bedeutung. Und es gehört zum elitären Selbstverständnis der Moderne, diese sozialen Bedeutungen zu verachten. Was durchaus vom Publikum goutiert wird. Es gibt ein Publikum, das gerne provoziert wird. Das hat die Moderne sozusagen herangezüchtet, und das wird auch bestens bedient. Die sammeln und bezahlen das auch. Aber das züchtet ein bestimmtes Künstlerselbstverständnis heran, geprägt von einer großen Überheblichkeit gegenüber dem Rest der Gesellschaft – die manchmal eine nötige Produktionsvoraussetzung ist, aber manchmal auch nur eine Ausrede. Und da dort das meiste Geld
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fließt, strahlt das aus in die Feuilleton-Diskussion als die maßgebliche Kunst – man kann es sich also, wenn man da mitspielt, gar nicht leisten, irgendwann mal einen Kompromiss gemacht zu haben. Aber bei Kunst am Bau müssen sie Kompromisse machen. Und das muss nicht unbedingt bürokratisch sein, es kann ein intelligenter Vorschlag sein. Weniger von oben herab, mehr als Dialog? Mir ist ein Kindergarten, vor dem fünf Bronzeschildkröten eines unbekannten Künstlers stehen, die wir ganz furchtbar finden, weil wir sagen „Tierplastik geht doch ohnehin nicht mehr und dann auch noch Schildkröte und dann auch noch schön“, lieber. Wenn ich sehe, wie die 20 Kinder, die da versorgt werden, sich morgens darum streiten, wer darauf reiten kann! Jemand der so was macht, wird niemals in die Biennale-Kunstzirkulation kommen, ist mir aber genauso wichtig – es nützt ihm oder ihr aber nichts. Und insofern ist der Kunst-am-Bau-Markt in gewisser Weise auch ein Reservat für einen Sozialbezug von Kunst, der ansonsten kein hohes Prestige hat. Sind Bewertungsschemata, nach denen man zu einer brauchbaren Bewertung von möglichen Objekten für Kunst am Bau kommt, vorstellbar? Das halte ich für ausgeschlossen. Eine Cartha der Vernunft, das gibt es nicht. Es ist immer ein konkreter Bau, ein konkreter Ort, eine konkrete Konstellation von Bauherr, Architekt und Nutzer und eine konkrete Konstellation von Fachleuten, die eben à la „drei Kollegen, zehn Meinungen“… Im Grunde kann man es immer nur irgendwie entscheiden, und dann sieht man in zehn Jahren, ob es gepasst hat oder nicht?
Es gibt gelungene Werke und nicht gelungene Werke. Aber es gibt kein anderes Modell. Die These von Habermas „die Demokratie legitimiert sich durch das Verfahren“, heißt eben, dass jeder Versuch, eine Normenliste aufzustellen, zum Scheitern verurteilt ist, weil sie immer wieder erneut zur Debatte steht. Aber manchmal wäre man natürlich froh, wenn schon ein bisschen Vorwissen oder Vorreflexion oder auch Problemkunst da wäre und nicht alle immer sagen: „Ist doch schön.“ Oder: „Es passt doch gut hier hin“. In Münster bin ich jahrelang eine Straße nicht mehr entlanggefahren, weil da was hinkam, das mir nicht gefiel. Ich saß sogar in der Kommission. Das war das Amtsgericht. Und dann, eines Tages, hatte ich einen Mietprozess und musste da rein, das hat mich sehr geärgert. Und es ist nicht heilbar. Es ist prinzipiell nicht heilbar, und das ist auch gut so. Auch die Kriterien, auf die wir drei uns jetzt in stundenlangen Diskussionen einigen könnten, sind beim nächsten Beispiel schon nicht mehr anwendbar. Oft verändert sich aber auch die Wahrnehmung der Kunst über die Zeit. Das stimmt natürlich. Das, was die Bewohner anfangs hassen, verteidigen sie nach einem Jahrzehnt mit Zähnen und Klauen, denn dann ist es schon Teil ihres Territoriums geworden. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Aspekt, der Territorialaspekt – auch in der Kunst im öffentlichen Raum – der unterschätzt wird. Das Besetzen von Territorien, das Eingewöhnen und Einwachsen in Territorien. Das beste Beispiel waren die Kugeln von Claes Oldenburg in Münster von 1977. Wenn die wirklich gerollt hätten werden können, dann wären die im Aasee gelandet. Die waren so was von verhasst, die waren jedem Münsteraner ein Dorn im Auge und lagen auch noch so exponiert an der
Hauptflanierzone. Und sie waren auch schlecht, weil sie damals keinen Betongießer gefunden haben, der das nahtlos machen konnte. Sie haben zwei Hälften aufeinandergesetzt, das heißt, es waren gar keine Billardkugeln, sondern die hatten einen Horizont, was völliger Schwachsinn ist. Das ärgert mich jedes Mal, wenn ich es sehe – aber sie kriegten es nicht hin. Damit war die ganze Illusion der Rollbarkeit und Allumsichtigkeit weg. Aber wenn irgendwas den Hass der Münsteraner auf sich fokussierte, waren das die Kugeln. Bei der nächsten Runde, 1987, also zehn Jahre später, waren alle froh, dass die noch da waren. Und wieder zehn Jahre später haben die eine Stadtteilzeitung, wo die als Wahrzeichen vorne drauf sind. Das würde die Stadt heute genauso verteidigen, wie sie es damals angegriffen hat. Aber das hat nicht nur mit Gewöhnung zu tun. Ich glaube, das ist ein komplizierter Prozess von territorialer Besetzung und Identifikationszeichen. Da ist es am Schluss fast egal, wie die aussehen.
Walter Grasskamp ist Autor zahlreicher Werke zu moderner und zeitgenössischer Kunst, zur Museumsgeschichte, Kulturpolitik und Kunst im öffentlichen Raum, Theorie der Moderne, Kunst und Geld, Konsumtheorie sowie Popkultur.
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FOLGE 8
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MAGAZIN
Moden von gestern
DER LENDENSCHURZ VON ANNE WAAK
Eines der erfolgreichsten Modelabels des vergangenen Jahres (und des Jahres davor und dessen davor auch) war Gucci. Seit der Designer Alessandro Michele den Laden übernommen hat, steigen die Umsätze verlässlich und rekordverdächtig, im vierten Quartal 2017 waren es ganze 45 Prozent. Der französische Luxuskonzern Kering, zu dem Gucci gehört, verzeichnete damit sein profitabelstes Jahr überhaupt. Wenn einer also den Zeitgeist zu lesen und für sich zu nutzen weiß, dann ist das Michele. Für den kommenden Frühling und Sommer empfiehlt der 46-jährige Italiener dem sich als Männer identifizierenden Teil seiner Fan-Schar (aber so genau nimmt Michele es nicht mit den Geschlechtergrenzen, Stichwort „Gender Fluidity“) Lendenschurze in verschiedenen Ausführungen: aus mit Kristallen besetzter weißer Seide oder schwarzem Leder mit aufgesetzten Nieten. ”Es war“, schrieb Vogue.com „bislang Micheles sexuell geladenste Kollektion“. Der Lendenschurz also. Reclams vorzügliches Mode- und Kostümlexikon von 1987, das ich für diese Kolumne immer wieder zu Rate gezogen habe, widmet dem „Schurz“ fast zwei Absätze. Der Name leitet sich vom althochdeutschen Wort „scurz“ für abgeschnitten oder kurz ab, es handele sich bei diesem Objekt, das „zum Schutz der Schamteile“ um die Hüften geschlungen wird, um eines der ältesten Kleidungsstücke überhaupt. In der späten Altsteinzeit, also um etwa 20.000
v. Chr., und damit lange, bevor der Mensch überhaupt sesshaft wurde, bestand der Schurz aus Fellen oder Flechtwerk, im ägyptischen Altertum handelte es sich bei ihm schon um ein dünnes, meist fein gefälteltes Leinentuch, das Männer aller Stände als Hauptbekleidungssstück trugen. Lediglich beim König und den Priestern war es mit farbigen Bordüren und Goldfäden durchwirkt. In der griechischen Antike trugen Athleten, wenn sie nicht gleich nackt herumturnten, ein durch die Beine geführtes und an der Hüfte geknotetes Tuch. Heute, so informiert uns das Lexikon, existiert der Schurz „meist in Form eines an einer Schnur befestigten Schamtuchs, (als) einziges Kleidungsstück bestimmter Naturvölker“. Im November dieses Jahres wurde der südafrikanische Kulturaktivist Thando Mahlangu, 34, der sich in Johannesburg nur mit dem Kopfschmuck und dem Lendenschurz der Ndebele-Volksgruppe bekleidet auf dem Weg zu einem Geschäftstreffen befand, vom Sicherheitspersonal des öffentlichen Fernverkehrs vom Bahnsteig geworfen und angeblich sogar verprügelt. Merke: Wer heute noch einen Lendenschurz trägt, lebt gefährlich. Guccis aufgeglamte Schamkapseln (siehe dazu auch den ersten Teil dieser Kolumne in DEAR 01/2017) erinnern an die lange Historie das Kleidungsstückes. Zufällig feiert aber auch gerade ein anderes, ganz ähnliches Accessoire sein Streetwear- und Laufsteg-Revival: die lange verlachte Gürteltasche,
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Die Kollektion ist, wie bei ihm üblich, eine wilde Mischung aus Materialien, Stilen und Verweisen: Siebziger und Achziger, Disco und Gayclub, Kreischpink zu Tiefrot, lila Pailletten, Federboas, bibogelbe Rüschen, Animalprints, Wollpullunder, Denim, Satin und Leder. Die Show fand im Pariser Nachtclub Le Palace im Stadtteil Montmartre statt, der so rattig und abgefeiert war, dass Gucci den Teppich erneuern ließ, damit die erlesene internationale Mode-Crowd sich nicht ekeln musste. Aber auch etwas entschärft erinnerte der Ort des Geschehens an eine Ära, so formulierte es der Designer, „als du neue Lover treffen und nicht endende Nächte haben konntest“. Vermeintlich unschuldigere, sorgenfreiere Zeiten, nach denen man sich am besten im Lendenschurz tanzend zurücksehnt.
Gucci Spring/Summer 2019 Ready-To-Wear Collection, Foto: © Gucci
Gucci Spring/Summer 2019 Ready-To-Wear Collection, Foto: © Gucci
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die heute statt aus neonfarbenem Nylon aus schwarzem Leder gearbeitet ist. Auch wird sie nicht mehr zwangsläufig vorm Schritt hängend getragen, sondern meist lässig um die Schulter geschlungen. Eine andere, quasi ewige Referenz des Lendenschurzes und -schutzes ist selbstverständlich der gepolsterte Mittelteil der Ausgehuniform der gewalttätigen Gang um Alex DeLarge in Stanley Kubricks A Clockwork Orange von 1971. Sex und Gewalt im Jahr 2018 – hat da jemand #Metoo geflüstert? Kaum eine andere gesellschaftliche Bewegung hat zuletzt in großen Teilen der Welt zu mehr Verwerfungen geführt; sie wird uns (hoffentlich) noch auf Jahre beschäftigen. Alessandro Michele interpretiert den Komplex lustvoll und spielerisch und den Lendenschurz als etwas, das immer gleichzeitig verdeckt und genauso vehement auf das zu Verdeckende hinweist.
Anne Waak schreibt unter anderem für Monopol und Welt am Sonntag über Kunst, Kultur und Gesellschaft, sehr gern auch über Mode. Zusammen mit Annika von Taube und Holm Friebe veranstaltet sie das Talk-Format NUN – Die Kunst der Stunde.
Stilprägend Der neue NOMAR Besprechungstisch
palmberg.de 161
BÜCHER
Promenade #007 Givaudan Zurich Innovation Center, Kemptthal © Georg Aerni
Promenade #001 Haus der Religionen, Bern © Marco Frauchiger
Promenade #006 Wohnen (verschiedene Orte) © Annalena Fröhlich
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PROMENADES Das Schweizer Büro Bauart Architekten und Planer erforscht mit seiner Publikation Promenades. Fotografie und Architektur die wechselseitige Beziehung von Architektur und Fotografie – und stellt nebenbei in sieben Spaziergängen seine Projekte vor. „Wir suchen keine endgültigen Konzepte, uns liegt vielmehr daran, ein gewisses Potenzial an Aneignungen, Weiterentwicklungen und nachträglichen Anpassungen von Bauwerken in unsere Architektur einzubeziehen“, schreibt das sechsköpfige Team von Bauart. Die Fotos von Marco Frauchiger, Renate Buser, Susanne Völlm, Marco Schibig, Annalena Fröhlich und Georg Aerni erzählen ihre eigenen Geschichten und ein Selfie-Competition entwickelt eine neue zeitgemäße Form für das Genre der Architekturfotografie. Begleitet werden die Bildessays von den Texten des Architekturpublizisten Markus Jakob.
Promenades. Fotografie und Architektur, Park Books, Gebunden, 128 Seiten, 2018, Englisch, Deutsch, Französisch, 48 Euro.
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UND MORGEN?
WIE SIE SEHEN, SEHEN SIE NICHTS. Das Lagerfeuer des 21. Jahrhunderts, der flimmernde Bildschirm, ist heute allgegenwärtig. Oftmals hilfreich ist, was er uns zu erzählen hat, wenn es um Fahrpläne und dergleichen geht. Meist handelt sein Inhalt aber von Dingen, die wir kaufen, gut finden oder fördern sollen. Und das so reichweitenorieniert an jeder Straßenkreuzung, jeder Hauswand, Haltestelle, auf Stelen, in Schaufenstern, Geschäften, Werbetafeln, im Smartphone, E-Mails etc. pp. Ganz schön viele Aufforderungen, die es immer schwieriger machen, einem Gedanken zu folgen oder ungestört menschliche Interaktion zu erleben. Insofern freuen wir uns über diese Erfindung: eine Brille, die Screens und Monitore ausblendet. Stellen Sie sich eine Umwelt ohne Bildschirme vor! Jungunternehmer Scott Blew und Designer Ivan Cash haben die IRL-Brille erfunden und suchen Starthilfe bei der Fundraising-Plattform Kickstarter. Für den optischen Effekt der Brille ist ein Polfilter auf den Gläsern verantwortlich, der Licht horizontal polarisiert. Vertikal schwingende Lichtwellen von Bildschirmen gelangen somit nicht mehr zum Auge. Bleibt nur zu hoffen, dass uns das fehlende Flimmern nicht einsam werden lässt. Wäre ja schrecklich, wenn uns die Leere auffiele, die die Medien in unserem Leben füllen. sb
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