Erforschung des Leserverhaltens beim Zeitunglesen · Deutscher Drucker Heft 31 1989
Norbert Küpper
Blickaufzeichnung Erforschung des Leserverhaltens beim Zeitunglesen Norbert Küpper Büro für Zeitungsdesign Gutenbergstr. 4 D-40670 Meerbusch Telefon (0 21 59) 91 16 15 E-Mail: nkuepper@newspaperdesign.de Dieser Beitrag ist die weltweit erste Studie um Thema Blickaufzeichnung bei Tageszeitungen. Die Aktualisierung auf die neue Rechtschreibung erfolgte am 13. August 2007.
Das Leseverhalten beim Zeitunglesen kann aufgezeichnet werden. Das Gerät hat ungefähr das Gewicht einer Ski-Brille. Der Leser kann sich frei bewegen und auch die Zeitung in eine bequeme Lese-Position bringen. Man kann die Fixationspausen aufzeichnen und exakt feststellen, welche Teile der Zeitung gelesen wurden und welche nicht.
Über den Autor Diplom-Designer Norbert Küpper ist Spezialist für Zeitungsdesign. Er hat u.a. folgende Zeitungen neugestaltet: die Waldeckische Landeszeitung in Korbach, die Deister- und Weserzeitung in Hameln, Allgemeine Zeitung in Mainz, Badisches Tagblatt in Baden-Baden. Er führt Zeitungsdesign-Seminare in Zusammenarbeit mit dem BDZV, der Standortpresse und dem Institut für publizistische Bildungsarbeit durch. Außerdem hat er einen Lehrauftrag für Typografie an der Fachhochschule Düsseldorf.
Problemdefinition Bei meiner Arbeit als Zeitungsdesigner treten immer wieder Fragen auf, die nur Teilweise beantwortet werden können. Es ist bisher vor allem unklar, wie der Leser die Zeitung nun tatsächlich nutzt. Folgt er den Wegen, die ich ihm als Designer vorgeben möchte, oder geht der Leser eigene, unkonventionelle Wege, die nicht vorbestimmt werden können? Um zu gefestigten Erkenntnissen zu kommen, wurde das Projekt Blickaufzeichnung von mir durchgeführt. Fragenkatalog Durch die Blickregistrierung und die Auswertung sollten Antworten auf folgende Fragen gefunden werden:
Gibt es bestimmte Einstiegspunkte für den Leser auf der Seite, z.B. Fotos, Überschriften, Farben? Gibt es bei der Betrachtung einer Zeitungsseite eine Strategie oder geht jeder Leser unterschiedlich vor? Gibt es auf einer Seite Blickpunkte (Fixationen), z.B. Fotos, Überschriften, Kurzmeldungen oder andere Rubriken, die von überdurchschnittlich vielen Lesern wahrgenommen werden? Werden Bilder stets stärker beachtet als Texte? Werden mehr kurze Beiträge gelesen als lange? Muss zwischen geübten Lesern und Neulingen, die die zu lesende Zeitung nicht kennen beim Leseverhalten unterschieden werden?
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Norbert Küpper
Titelseite Die Titelseite besteht aus feststehenden und variablen Elementen: Links befindet sich stets einen Nachrichtenspalte, die auch regionale Themen enthält. Neben dem Kopf links ist ein ÜbersichtsKasten mit Angaben über den überregionalen Teil, rechts ist entweder eine Anzeige oder ein Kasten mit den Angaben über den jeweiligen Lokalteil. Alle anderen Teile der Titelseite sind variabel. Oft werden größere Bilder eingesetzt als in dieser Ausgabe. Für die Tests wurde stets eine normale Zeitung benutzt. Es wurde nicht mit speziell produzierten Seiten gearbeitet, weil eine möglichst normale Lese-Situation erreicht werden sollte.
Auswertung Aus der Grafik kann man folgendes entnehmen: 83% haben die Hauptschlagzeile gelesen, 43% haben auf das Bild rechts geschaut. Überdurchschnittlich viele Leser nutzen die Nachrichten-Spalte auf der linken Seite. Die beiden großen Artikel über dem Bruch wurden von nur 13% der Leser bis zum Ende gelesen. Bei dem Beitrag „Frist für die Stromwirtschaft“ (rechts) haben 35% die Überschrift gelesen, 4% den ersten Absatz und kein Leser den Rest des Artikels. Bei dem Artikel „Wahl-Ergebnis zwischen SED-Lob...“ (am Fuß der Seite) haben 48% die Überschrift gelesen, 18% den ersten Absatz, 13% den zweiten Absatz und 9% den Rest. Die Personen brechen einfach das Lesen irgendwo im Artikel ab.
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Testmethode Mir war seit langem bekannt, dass es eine Methode gibt, Augenbewegungen aufzuzeichnen. Wenn man z.B. in einem Supermarkt nach einem Produkt greift, so ist der Weg zum Regal, die Größe und
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Hinweise: Die oben abgebildete Seite wird links als Grafik dargestellt. Man kann anhand der Rasterfläche erkennen, wie intensiv einzelne Bilder, Überschriften oder Texte genutzt wurden. Je dunkler die Rasterfläche, desto mehr wurde der entsprechende Teil der Seite betrachtet oder gelesen. Die Zahlen geben die Nutzung in Prozent an. 23 Leser entsprechen 100 %. Angaben über 100 % ergeben sich, wenn Leser einen Teil der Seite mehrmals betrachten. Das geschieht oft bei Bildern.
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Das Team Idee, Konzept und Organisation lagen bei mir. Mit der Durchführung der Tests beauftragte ich die Fachhochschule für Wirtschaft in Pforzheim. Diplom-Betriebswirt Harald Gleißner, Diplom Betriebswirt Jeanette Welz und Michael Fohrer betreuten das Projekt. Als Testobjekt wählte ich das Badische Tagblatt in Baden-Baden, eine Zeitung, die im Januar 1989 von mir neugestaltet worden ist.
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Gestaltung der Packung, die Platzierung – oben, mittig oder unten – unter anderem auf Tests der Blickverläufe zurückzuführen. Ein großer Anwendungsbereich ist auch die Anzeigenwerbung, denn man will ja wissen, ob die Leser einer Illustrierten auch die Anzeigen wahrnehmen und ob die Gestaltung eventuell verbessert werden kann. Zur Feststellung des Leseverhaltens wird ein Gerät benutzt, mit dem die Fixationen beider Augen aufgezeichnet werden. Das Gerät selbst wiegt ungefähr so viel wie eine Ski-Brille. Es enthält im oberen Teil ein Objektiv mit dem das Gesichtsfeld der jeweiligen Testperson aufgezeichnet wird. Die Fixationspausen – das sind die Momente des scharfen
Sehens – werden mit der Cornea-ReflexMethode erfasst: ein Infrarotstrahl wird auf die Augen gerichtet und von dort reflektiert. Diese Reflexe werden aufgezeichnet und mit der Aufnahme des Gesichtsfeldes kombiniert. Man kann später ein Video-Band auswerten, das alle Fixationen genau zeigt. Es werden also nicht die Augenbewegungen festgehalten, weil während dieser Bewegungen – Sakkaden – nichts gelesen werden kann. Scharfes sehen ist nur bei Fixationen möglich. Für die Tests wurde der NAC-Eye-Mark-Recorder V benutzt. Dieses Gerät hat den Vorteil, dass die Testperson sich sehr frei bewegen kann. Man ist nicht an2 eine bestimmte Position gebunden und kann auch die Zeitung frei in der Hand halten.
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Seite zwei und drei Die Seite zwei wird für Hintergrund-Berichte benutzt und enthält täglich nur zwei bis drei Beiträge und zwei Kommentare, die stets links im Kasten stehen. Die Seite drei ist dem Ressort Politik zugeordnet. Die rechte Spalte wird meist für kurze Meldungen genutzt. Bei der Auswertung ergab sich, dass die Leser stets die Doppelseite als Einheit auffassen. Es werden z.B. Bilder und Überschriften auf beiden Seiten gleichmäßig beachtet oder es finden Sprünge von einer Seite zur andern statt. Dieses Ergebnis ist wahrscheinlich nicht auf die größeren Zeitungs-Formate übertragbar. Es ist z.B. fast unmöglich, eine Doppelseite im Nordischen Format zu überblicken.
Auswertung Die beiden großen Bilder wurden von allen Lesern betrachtet. Das rechte Bild wurde von einigen Lesern mehrmals angesehen. Darum ergibt sich ein Wert von 104 %. Das kleinere Bild auf Seite zwei unten wurde dagegen nur von 39 % der Leser angesehen. Der Beitrag „Warum Eltern zu Tätern werden“ (Seite zwei oben) wurde von überdurchschnittlich vielen Lesern beachtet. Das großflächige Bild, die Aufgliederung durch Zwischenüberschriften und das Thema dürften hier zusammengewirkt haben. 30 % der Leser haben diesen Artikel zu mehr als der Hälfte gelesen. Der Kommentar links oben wurde ebenfalls zur Hälfte gelesen. Gute Werte erreicht auch der linke untere Teil der Seite zwei. Die Spalte mit den Kurzmeldungen auf der rechten Seite wird überdurchschnittlich beachtet.
Realistisches Leseverhalten Vielen Forschungsergebnissen wird mit Misstrauen begegnet, weil die Tests in wissenschaftlichen Labors mit entsprechender Atmosphäre durchgeführt wurden. Durch die Blickaufzeichnungsbrille, die den Leser nicht weiter behindert, sowie durch die lockere Gestaltung des TestsAblaufs in den Räumen des Zeitungsverlages wurde eine normale Lesesituation erzielt. Hinzu kommt, dass die Augenbewegungen und die Informationsaufnahme durch den Leser nicht bewusst gesteuert werden. Es geschieht automatisch. Die Verbindung von Gehirn und Auge ist sehr direkt. Unser Bild von der Welt ist stets vollständig, obwohl wir nur ca. ca. 2 qcm unseres Umfeldes
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ständig scharf sehen können. Das Gehirn ergänzt das Gesichtsfeld und lenkt das Auge stets auf wichtige, interessante Dinge. Welche Dinge bei der Zeitungslektüre interessant sind, sollte sich herausstellen. Ablauf der Tests Um herauszufinden, ob sich Leser und Nichtleser hinsichtlich ihres Verhaltens unterscheiden, wurde 30 Studenten – 15 männlich und 15 weiblich – ausgewählt und in der Räumen der Fachhochschule getestet. Bei den Studenten ergab sich ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Zum Vergleich wurden 30 Leser und Abonnenten in das Verlagshaus des Badischen Tagblatts in Baden-Baden gebeten. Diese Gruppe wurde entsprechend
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der Leserstruktur ausgewählt. Das Alter reichte von 18 bis 73 Jahren. Es ergab sich ein Durchschnitt von 40 Jahren. Es waren auch hier 15 Männer und 15 Frauen beteiligt. Der Beruf spielte eine gewisse Rolle: Angestellte, Selbständige, Facharbeiter, Beamte, Hausfrauen und Gastronomen. Es nahmen aber auch Schüler und Rentner an dem Projekt teil. Die Gruppe sollte für die Zeitung möglichst repräsentativ sein, da man in Baden-Baden aus den Ergebnissen auch eigene Rückschlüsse ziehen wollte. Für die Tests wurde jeweils eine tagesaktuelle Ausgabe gewählt. Es wurde keine spezielle Ausgabe produziert, weil sonst das Charakteristikum der Tageszeitung – die Aktualität – verloren gegangen wäre. Die Testpersonen sollten realistisch le-
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Seite vier und fünf Seite vier ist dem Ressort Baden-Württemberg, Seite fünf Baden zugeordnet. Auf diesen Seiten gibt es keine feststehenden Rubriken. Zur Regel gehört allerdings, dass kurze Meldungen in Kästen zusammengefasst werden. Auf Seite fünf sieht man zwei solcher Kästen.
Auswertung Bilder werden überdurchschnittlich beachtet. Bei dem Bild links oben mit 113 % Beachtung durch die Testpersonen wird der zugehörige Blindtext von 48 % am Anfang bis zu 30 % am Ende gelesen. Seite 4: Der Beitrag „Steinstele bereitete den Archäologen Sternstunde“ (links unten) wurde praktisch nicht gelesen. Die Überschrift wurde von 61 % gelesen, das Bild rechts zu diesem Artikel wurde von 74 % betrachtet. Mögliche Gründe: Der Artikel ist zu lang. Beim Grundtext fehlen Zwischenüberschriften. Die Platzierung ist ungünstig. Seite 5: Es ist auffällig, dass der Artikel rechts oben auch praktisch unbeachtet bleibt – ausgenommen die Überschrift, während der Beitrag rechts unten von 30 % bis zum Ende gelesen wurde. Hier harmonieren offenbar Artikellänge, Bildanteil und Inhalt.
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Gibt es bestimmte Einstiegspunkte für den Leser auf der Seite? In den meisten Fällen beginnt der Leser die Informationsaufnahme bei einem großflächigen Bild oder bei einer Überschrift. Jede Seite sollte einen Schwerpunkt haben, der dem Leser einen solchen Einstiegspunkt anbietet. Das kann ein Bild sein oder eine Überschrift, die mindestens 36 Punkt groß sein sollte. Dieser Einstiegspunkt sollte im oberen Bereich der Seite sein. Er Muss sich nicht direkt unter dem Kopf befinden. Werden Bilder stärker beachtet als Texte? Bilder werden wesentlich stärker beachtet als Texte. Die abstrakte Reihenfolge der Buchstaben muss vom Gehirn erst
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sen – darum fiel die Entscheidung für die normale Ausgabe. An einem Tag konnten 23 Personen der Gruppe der Leser getestet werden. Die Ergebnisse dieser großen Gruppe wurden für die hier abgebildeten Auswertungen benutzt. Es liegen noch zahlreiche ausgewertete Zeitungen von kleineren Test-Gruppen vor, die hier nicht wiedergegeben werden können. Nach Ende des Tests nahmen die Teilnehmer an einem zusätzlichen Interview teil. Es sollte ermittelt werden, ob sich die Leser an bestimmte Bilder oder Texte erinnern konnten. Dieses Interview diente als weitere Absicherung der Testergebnisse. Die Leser wurden auch um Kritik und Verbesserungsvorschläge gebeten.
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entschlüsselt werden. Bilder können wesentlich schneller wahrgenommen, verstanden und behalten werden. Bilder wurden – bis auf wenige Ausnahmen – von mehr als 80% der Leser betrachtet. Gibt es bestimmte Blickpunkte – Rubriken, Überschriften, Bilder – die von unerwartet vielen Lesern wahrgenommen werden? Außer den Bildern werden die meisten Überschriften gelesen. Kurze Beiträge, die in einer Spalte oder einer Rubrik zusammengefasst werden, werden wesentlich häufiger gelesen als andere Beiträge. Artikel mit Bildern werden häufiger gelesen als Artikel ohne Bilder.
Erforschung des Leserverhaltens beim Zeitunglesen · Deutscher Drucker Heft 31 1989 Leseablauf am Beispiel eines Lesers Die Zeitung wurde von vorne nach hinten gelesen. Die Abbildung rechts zeigt die Reihenfolge der Informationsaufnahme am Beispiel eines Lesers. Es handelt sich ebenfalls um Seite vier und fünf. Der Leser beginnt bei dem Bild oben links (mit 1 markiert). Er liest danach zwei Spalten des Bildtextes und geht dann zu den Kurzmeldungen links oben. Anschließend liest er noch die Hälfte des Artikels „Schon gespenstische Züge“ (mit 5 markiert). Danach wird zur rechten Seite gewechselt. Dort wird zunächst die Überschrift einer Kurzmeldung gelesen, dann die Überschrift oben und danach wird das Bild betrachtet. Als Abschluss wird der Beitrag am Fuß vollständig gelesen.
Leseablauf am Beispiel eines Lesers Die Zeitung wurde von hinten nach vorne gelesen. Die Informationsaufnahme beginnt bei dem Bild auf der rechten Seite. Danach werden Überschriften und Kurzmeldungen oben links gelesen, sowie der Beitrag am Fuß der Seite fünf. Anschließend erfolgt der Wechsel auf Seite vier. Auch hier dient das Bild als Einstieg in die Seite. Die Leser, die von vorne nach hinten gelesen haben, betrachteten meist die linke Seite zuerst. Die Leser, die die Zeitung von hinten nach vorne gelesen haben, betrachteten die rechte Seite zuerst.
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Werden Beiträge, die am Fuß der Seite stehen seltener gelesen als andere? Für die Auswahl eines Artikels durch den Leser spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die stets zusammenspielen. Allein die ungünstige Platzierung kann die Informationsaufnahme nicht verhindern. Man muss mehrere Fehler gleichzeitig machen. Beispiel Seite vier unten. Der Beitrag „Steinstele bereitete den Archäologen Sternstunde“: ß Platzierung am Fuß der Seite, ß langer Artikel, ß keine Zwischenüberschriften, ß möglicherweise kein sehr aufregendes Thema, ß ungünstige Platzierung des Bildes. Ergebnis: Der Beitrag wurde praktisch
nicht gelesen. Beispiel Seite fünf unten. Der Beitrag „Das Grauen vor der Haustür dokumentiert“: ß Platzierung am Fuß der Seite, ß relativ kurzer Artikel, ß das Foto wurde gut in den Textblock integriert, ß interessant getextete Überschrift. Ergebnis: Der Beitrag wurde von 30% der Teilnehmer bis zum Ende gelesen. Dieser Wert ist höher als der Haupt-Aufmacher der Titelseite! Beispiel Seite fünf oben. Der Artikel „Weit mehr Krebstote als im Landesdurchschnitt“: ß Platzierung rechte Seite oben, ß relativ kurzer Artikel, ß kein Bild,
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ß unangenehmes Thema. Der Artikel rechts oben wurde genauso wenig gelesen wie der Artikel links unten. Der Leser verschafft sich offenbar durch die Betrachtung von Bildern und durch das Lesen von Überschriften einen Überblick und entscheidet völlig unabhängig, ob er einen Artikel liest oder nicht. Wird die rechte Seite stärker beachtet als die linke? Die Leser haben beim Berliner Format die Seiten als Doppelseiten aufgefasst. Sie sind auch auf den Seiten hin- und her gesprungen. Leser, die die Zeitung von vorne gelesen haben, haben meist zuerst auf die linke Seite geschaut, Leser,
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Titelseite Lokalteil Auf der Seite dominieren oben rechts zwei Bilder. Unterhalb des Bruchs rechts befindet sich ebenfalls ein Bild, das zu dem Artikel „Bauarbeiten an der Oosüberdeckelung“ gehört. Der Umbruch ist hier nicht ganz Korrekt.
Auswertung Der Lokalteil wird intensiver genutzt als die überregionalen Seiten. Die meisten Beiträge der Titelseite des Lokalteils werden von 30 % der Testpersonen bis zum Ende gelesen. 27 % der Abonnenten begannen ihre Lektüre mit dieser Seite. Selbst ein Artikel, der links unten platziert wurde, erhält hohe Beachtungswerte. Aufgrund des hohen Nutzungsgrades des Lokalteils ist es verständlich, dass Anzeigenkunden diesen Teil bevorzugt nutzen. Die Anzeige wurde von 22 % der Testpersonen betrachtet, 9 % haben einzelne Angebote gelesen.
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die die Zeitung am Ende begonnen haben, haben meist zuerst auf die rechte Seite geschaut. Die abgebildeten Grafiken zeigen entsprechende Beispiele. Die von Anzeigenkunden bevorzugte rechte Seite wird also vom Leser nicht stärker beachtet als die linke. Es gibt auch in wissenschaftlichen Publikationen keinen Beweis dafür, dass die rechte Seite stärker beachtet würde. In welcher Reihenfolge erfolgte die Informationsaufnahme? Es ist bekannt, dass manche Leser die Zeitung von hinten nach vorne lesen oder mit dem Lokalteil beginnen. Hier verhielten sich Studenten und Abonnenten unterschiedlich, wie die folgenden Tabellen zeigen:
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Studenten von vorne nach hinten zuerst den Lokalteil von hinten nach vorne
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Ein Viertel der Abonnenten begann mit dem Lokalteil, ein Fünftel begann mit der letzten Seite. Diese umgekehrte Reihenfolge wurde meist durch die gesamte Zeitung durchgehalten. Die Gruppe der Studenten nutzte die Zeitung zu 73% von vorne nach hinten. Diese Ergebnisse stimmen mit Leserbefragungen anderer Zeitungen überein.
Wird der Lokalteil stärker genutzt als der überregionale Teil? Da ein Viertel der Abonnenten zuerst zum Lokalteil gegriffen hat, zeichnet sich schon eine stärkere Nutzung dieses Teils ab. Die Auswertung der Titelseite des Lokalteils zeigt, dass diese Seite viel intensiver genutzt wird als z.B. die Titelseite der Zeitung. Es werden nicht nur die Überschriften gelesen, sondern auch der Grundtext. Wann wird die Zeitung gelesen? Auf die Frage „Wann lesen Sie die Zeitung?“ antworteten die Abonnenten in dem anschließenden Interview: vormittags: 83 % nachmittags: 10 % abends: 7%
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Seite zwei und drei des Lokalteils Die linke Seite ist dem lokalen Feuilleton zugeordnet, die rechte dem Lokalteil. Bei der linken Seite ist auffällig, dass fünf Artikel nahezu gleicher Größe als Blöcke angeordnet werden. Bei der rechten Seite ist die Spalte mit den Kurzmeldungen wieder charakteristisch.
Auswertung Auch bei dieser Doppelseite werden die Bilder mehr beachtet als die Texte. Bei der linken Seite ist auffällig, dass die Artikel am Fuß der Seite relativ hohe Nutzungs-Werte erreichen, während die beiden Beiträge in der Mitte nur sehr wenig gelesen werden. Bei dem Artikel „Mit Bravour Erfolge erreicht“ ist am Ende noch eine leichte Steigerung von 0 auf 4% festzustellen. Ein Leser hat die Überschrift gelesen und dann den letzten Absatz. Die rechte Seite wird wesentlich stärker genutzt. Die Kurzmeldungen werden mit 43 bis 35% sehr gut genutzt. Die Anzeige rechts unten wird von 35% der Leser beachtet.
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Werden Artikel bis zum Ende gelesen oder werden viele nur „angelesen“? Man muss davon ausgehen, dass es für den Leser völlig normal ist, einen Artikel an irgendeiner Stelle abzubrechen. Darum gilt ja auch die alte journalistische Regel, dass die Wichtigkeit eines Beitrages nach hinten abnimmt. Ob ein Leser einen Beitrag vollständig liest, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Positive Einflüsse: ß Blickfang (Bild oder Überschrift), ß kurzer Artikel, ß Zwischenüberschriften, ß Auflockerung des Textblocks durch Bilder oder Grafiken, ß interessantes Thema, ß gut getextete Überschrift.
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Negative Einflüsse: ß kein Blickfang (kein Bild, Überschrift zu klein), ß langer Artikel, ß keine Zwischenüberschriften, ß keine Auflockerung des Textblocks durch Bilder und Grafiken, ß relativ uninteressantes Thema, ß schlecht oder unklar getextete Überschrift. War der Lese-Ablauf bei den Testpersonen ähnlich? Der Leser geht vom großen zum kleinen Element vor. In den meisten fällen wurden als erstes die großen Bilder betrachtet, danach die Überschriften. Die ersten drei bis vier Fixationen waren bei den meisten Lesern gleich. Nach diesem
Überblick entscheidet der Leser individuell, welche Beiträge er lesen will. Man sollte darauf achten, dass die Überschrift auch tatsächlich etwas über den Inhalt des folgenden Artikels sagt. Extrem kurze Überschriften sind da meist nicht sehr sinnvoll. Man sollte nicht die wesentlichen Aspekte eines Beitrages in die Dach- oder Unterzeile packen, sondern wenn irgend möglich in die Überschrift. Überschriften könnten also öfter zweizeilig sein, um diesem Anspruch zu genügen. Der Einstieg in den Beitrag sollte klar strukturiert sein. Man sollte nicht zu viele Elemente in den Überschriften-Apparat einbauen: nicht Dach- oder Unterzeile, sondern eines dieser Elemente. Nicht einen extrem langen Vorspann,
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Erforschung des Leserverhaltens beim Zeitunglesen · Deutscher Drucker Heft 31 1989 Regeln: Grundsätzliches Lesen heißt arbeiten. Durch die Gestaltung der Zeitung muss dem Leser die Arbeit erleichtert werden. Die Seite sollte nicht zu vollgestopft werden, weil sie dann unübersichtlich wird. Der Leser soll jeden Tag ein klar gegliedertes, übersichtliches Produkt erhalten. Der Leser orientiert sich zunächst an Bildern und Überschriften. Hier klare Zuordnungen oder Abtrennungen zu schaffen, ist besonders wichtig. Jede Seite sollte einen eindeutigen Schwerpunkt haben. Das kann ein Bild sein oder eine Überschrift. Durch die klare Setzung eines Schwerpunktes wird dem Leser ein Einstieg in die Seite vorgegeben. Bilder Eine Seite ohne Bilder ist abzulehnen, weil sie dem Leser keinen Einstiegspunkt anbietet. Bilder sollen nie als Füllmaterial dienen, weil der Leser sich sehr stark an Bildern orientiert und sie meist zuerst anschaut. Schmuckbilder, die nicht zu einem Beitrag gehören, sollen in einen Rahmen gestellt werden, damit sie nicht falsch zugeordnet werden können.
Lange Artikel Lange Artikel müssen durch Zwischenüberschriften gegliedert werden.
Bilder sollten nicht in einer Ecke geballt sein. Man sollte sie lieber über die Seite verteilen.
Lange Artikel sollten durch ein großflächiges Bild eingeleitet werden, damit das Interesse des Lesers geweckt wird.
Bilder dürfen im Bruch stehen, sofern es keine Druckprobleme gibt.
Lange Artikel werden gelesen, wenn bestimmte Faktoren zusammenkommen: - Bild als Aufmacher, - gut getextete Überschrift, - Grundtext durch Zwischenüberschriften gegliedert, - interessantes Thema.
Kurze Artikel Kurze Artikel oder Meldungen werden von den Lesern sehr intensiv genutzt. Sie müssen in Spalten oder Kästen zusammengefasst werden. Kurze Artikel dürfen nie an einen langen Beitrag angehängt werden, weil falsche inhaltliche Zuordnungen möglich sind. Überschriften Die Überschriften sollten klar und eindeutig formuliert sein. Der Leser soll wissen, welches Thema in dem Beitrag behandelt werden soll. Lieber eine relativ lange Überschrift als eine kurze nichtssagende. Der Überschriften-Apparat sollte nicht zu weit ausgedehnt werden. Es ist nicht sinnvoll, Dach- und Unterzeile zu verwenden. Grundtext Der Vorspann sollte nicht zu lang sein. Er sollte inhaltlich das Thema weiter anreißen, ohne zusammenfassend sein zu müssen. Je länger ein Beitrag, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er zuende gelesen wird.
Die wichtigsten Themen eines Artikels sollten am Anfang stehen. Die Lesewahrscheinlichkeit sinkt mit der Länge des Beitrags.
Wurde die Dachzeile gelesen? Die Informationsaufnahme begann fast immer mit der Überschrift. Die Dachzeile wurde entweder anschließend oder überhaupt nicht gelesen. Bei dem Interview sagten die Leser:
Muss zwischen geübten Lesern und Neulingen, die die Zeitung noch nicht kennen, beim Leseverhalten unterschieden werden? Man geht davon aus, dass jüngere Menschen die Zeitung schneller lesen und weniger intensiv nutzen. Bei dem hier vorliegenden Test konnte kein Unterschied im Verhalten der Studenten und der Abonnenten festgestellt werden. Auch unterschied sich das Verhalten von jungen Lesern nicht von dem alter Leser.
Die Dachzeile lese ich erstens und gehe dann zur fetten Überschrift, dann zum Text: 9,3 % Ich lese erst die Überschrift und dann die Dachzeile: 41,9 %
Folgerungen Der Leser folgt den Wegen, die ihm der Designer vorgeben möchte, aber er tut es auf eine völlig individuelle und nicht zu verallgemeinernde Weise. Es
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Bilder, die zu einem Artikel gehören, sollten mit dem Text einen Block bilden: Blockumbruch.
Es ist für den Leser normal, einen Beitrag mitten im Text abzubrechen.
sondern einen kurzen Text, der den Leser weiter in die Story hineinzieht. Danach sollte der eigentliche Beitrag beginnen. Das wichtigste gehört an den Anfang, weil zum Ende hin viele Leser einfach abbrechen.
Lange Artikel werden nicht gelesen, wenn folgende Faktoren zusammenkommen: - kein Bild, - unklar formulierte Überschrift, - Grundtext ohne Zwischenüberschrift, - uninteressantes Thema. Lange Artikel können in verschiedene kurze aufgesplittet werden, die jeweils eine Überschrift erhalten. Platzierung Die Platzierung eines Artikels auf der Seite ist nicht entscheidend. Der Leser findet selbst die Themen, die ihn interessieren. Leser, die die Zeitung von vorne nach hinten lesen, schauen meist zuerst auf die rechte Seite. Leser, die die Zeitung von hinten nach vorne lesen, schauen meist zuerst auf die linke Seite. Beiträge ohne Bild am Kopf der Seite werden unter Umständen trotz der guten Platzierung nicht gelesen. Beiträge mit Bild am Fuß der Seite können hohe Lese-Frequenzen erreichen.
ist erstaunlich zu beobachten, wie jeder Leser seinen eigenen Weg durch die Tageszeitung findet. Wer einmal ein Video-Band mit den Blickbewegungen beim Zeitungslesen gesehen hat, der weiß eines ganz sicher: Lesen ist mühsame Arbeit. Meine Aufgabe als Zeitungsdesigner ist es, dem Leser die Arbeit der Informationsaufnahme zu erleichtern. Noch sind zu viele Zeitungen unübersichtlich gestaltet. Man stopft die Seiten gedankenlos voll. Viele Zeitungsseiten werden in Hektik und planlos zusammengebaut. Wer seine Arbeit diszipliniert ausführt, wird auch am Ende ein übersichtliches und klares Ergebnis erzielen. Nur durch gestalterische Klarheit und Einfachheit kann das Ziel erreicht werden: dem Leser die Arbeit erleichtern.