GROOVE #116 - STUDIOBERICHT: Chris Liebing

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Technik

Studiobericht Chris Liebing

Chris Liebing ist nicht nur der Schöpfer des Begriffs „Schranz“, über den er heute lachend sagt: „Hätte ich gewusst, wie populär das wird, hätte ich mir was Schöneres überlegt.“ Sondern als DJ und Produzent auch einer der beständigsten Namen auf den obersten Plätzen fast aller relevanten DJ-Polls – und gleichzeitig einer der ersten und konsequentesten Digital-DJs. Was zeigt, dass dem Publikum am Ende herzlich egal ist, womit jemand auflegt und dass vielmehr das Was das entscheidende Kriterium für ein gelungenes DJ-Set ist. Wir können uns also, zeitgleich zum Erscheinen von Traktor Pro, kaum einen kompetenteren Gesprächspartner in Bezug auf digitales Auflegen wünschen. TEXT: Numinos FOTOS: Bernd Bodtländer

Schon sehr früh fand Liebing für sich heraus, dass das einfache Mixen von Platten ihm nicht die kreativen Eingriffsmöglichkeiten bietet, die er sich wünschte. Darum erweiterte er sein Setup kontinuierlich in Richtung umfassender Echtzeit-Manipulation. Ein erster Schritt dahin war ein Cyloops-Sampler, dem bald ein Alesis

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Air Fx und ein Korg Kaoss-Pad folgten. Und auch als er bereits mit Final Scratch auflegte, stellte Liebing sich einen zweiten Rechner dazu, auf dem Ableton Live mit diversen Loops und Effekt-Plugins lief. Dadurch konnte er ihn über seine Hammerfall-Soundkarte in Echtzeit als Effektgerät nutzen. Dabei hatte er mit einigen Anfangsschwierigkeiten in Bezug auf das Equipment zu kämpfen, das damals in den Clubs bereitsteht. So erinnert er sich, dass er anfangs mit einem Allen & Heath Xone 1D und Xone 92 gearbeitet hat, wobei er insbesondere die 4-Band EQs und das flexible Effekt-Routing des 92ers zu schätzen lernte. Das war allerdings zu einer Zeit, in der Veranstalter noch nicht einmal wussten, was ein Xone 92 ist. Weshalb Liebing vorübergehend einen Xone 3D benutzte, der ja Mischpult und Controller in einem ist. Heute, wo in vielen Clubs der Xone 92 zur Standardausstattung gehört, muss er nur noch seine beiden „Seitenteile“ (die Xone 1D) dazupacken. Liebings Faszination an umfassenden technischen Eingriffsmöglichkeiten hat ihren Ursprung vor allem in jenen Liveauftritten, die er einst gemeinsam mit Jochen Paap alias Speedy J bestritten hat und an die er sich begeistert erinnert: „Wir haben da auf den Gigs ein riesiges Equipment aufgebaut und entsprechend viel Spaß gehabt, damit dann zu spielen. Und wenn man einmal so viel Kontrolle und so viele Möglichkeiten hatte, dann will man nicht mehr zurückgehen.“ Und hier sieht Liebing die Entsprechung zum Auflegen mit

Digitalcontrollern und Traktor: „Ich will immer an Knöpfen drehen – da muss was passieren. Das ist für mich auch die Arbeit, die die Leute dann nachvollziehen können. Und es entkräftet alle Vorurteile, man könne bei DJs, die mit Computern auflegen, nicht sehen, was sie machen.“ T, B, G, D, M Im Gespräch erweist sich Liebing als durch und durch Controller-affin und kann sogar der Inkompatibilität zwischen den ControllerZuweisungen von Traktor 3 und Pro positive Seiten abgewinnen, die ja von vielen Anwendern kritisiert wird und mit entsprechender Neuprogrammierung verbunden ist. „Ich finde das nicht ärgerlich, sondern gut, denn es ist eine gute Gelegenheit, sich und seine Arbeitsweise auch mal wieder neu zu hinterfragen“, sagt Liebing. Er habe mit Traktor 3 und den Controllern mittlerweile sturzbesoffen und blind seine Auftritte bestreiten können. „Aber indem man gezwungen ist, alle Zuweisungen und Strukturen noch mal zu überdenken, kommt man im günstigsten Fall auf neue, interessantere und vielleicht sogar bessere Möglichkeiten – von alleine setzt man sich ja nicht hin und macht das mal eben.“ Bemerkenswert ist dabei, dass Liebing das Auflegen mit Traktor als fordernder empfindet als früher das Arbeiten mit Vinyl, was er damit begründet, dass er heute permanent mixt und neu arrangiert. Das sei mit dem Auflegen vergangener Tage, bei dem man eine Platte bis zum


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Ende auslaufen ließ und dann den Übergang machte, nicht zu vergleichen. Die verschärften Anforderungen manifestieren sich auch darin, dass Liebing nicht mit Playlisten oder alphabetischen Registern arbeitet, sondern seine Tracks mit einer Handvoll Buchstaben ordnet. „Ich unterteile grob in die Richtungen, wie ich ein Stück empfinde“, erklärt er, „und das bezeichnen dann am Ende die Buchstaben T, B, G, D und M.“ Dabei steht für T alles, was technoid ist, B für Sachen, die etwas basslastiger sind, G für Tracks, die er für grooviger hält, D für „deep“ und M für „minimaler“. Angesprochen auf seine Tools, von denen man glauben könnte, es seien einfach nur Loop-Elemente, offenbart Liebing einige ziemlich fortschrittliche, logische, aber auch kontroverse Gedanken in Bezug darauf, wie sich das Auflegen durch die digitale Technik bereits verändert hat und weiter verändern wird: „Ich glaube, wir stehen gerade erst am Anfang der digitalen Zeit und fangen langsam an zu ergründen, was wir damit tun können. Das heißt, das Veröffentlichen und Auflegen geschieht immer noch sehr im alten TrackSchema des Vinylzeitalters. Dass man also zwei oder vier Titel hat, und die laufen so, wie sie sind, und dann mischt man die ineinander.“ Liebing betont, dass das aber nie seine Herangehensweise war und er immer schon durch Loopen und Effekte das Arrangement selbst verändern wollte. Diesen Eingriffen waren durch die bisherige Art, wie Tracks veröffentlicht werden, nämlich als fertige Stücke mit Anfang, Mittelteil und Ende, trotz aller Software- und Hardware-Tools enge Grenzen gesetzt. ZWEI STARKE HAUPTTRACKS Um diese Einschränkung zu umgehen, hat Liebing eine völlig neue Release-Struktur für sein Label CLR entwickelt: „Wir werden pro Veröffentlichung zwei A-Seiten veröffentlichen, also zwei starke Haupttracks, was daran liegt, dass es mich immer geärgert hat, eine tolle A-Seite zu haben und dann eine langweilige B-Seite. Ich finde, man sollte eine Platte einfach umdrehen können, und das sollte genauso

ICH WILL IMMER AN KNÖPFEN DREHEN – DA MUSS WAS PASSIEREN gut weitergehen. Pro Track wird es dazu noch zwei Tools geben. Das werden aber nicht einfach nur Teile davon sein, sondern völlig umgebaute Stücke. Es geht also nicht darum, einfach nur Spuren stumm zu schalten oder Frequenzen rauszudrehen. Sondern das Ding neu zu konstruieren, sodass man es komplett über einen anderen Track legen kann. Nimm doch mal zum Beispiel die Nummer ‚Grindhouse’ von Radio Slave und stell dir vor, die wäre als Tool veröffentlicht worden – also nur mit dem Synthpad, der Bassline und dem Vocal. Wir haben ja jetzt durch das automatische Beatmatching die Möglichkeit, so was locker über andere Sachen zu legen. Jetzt ist es doch noch so, dass du in den Club kommst und die Nummer hörst und denkst: ‚Ahhh, hab ich Millionen Mal gehört, ich weiß genau, wo das Break sitzt, kenn ich, langweilig.’ Jetzt stell dir aber vor, dass die Nummer jedes Mal, wenn du in den Club gehst, irgendwie anders ist.“ Gerade im kontrovers diskutierten Beatmatching sieht Liebing dann eher eine Befreiung als eine verwerfliche technologische Krücke: „Als Friedemann Becker von Native Instruments mir vor Jahren erzählte, dass sie planen, in der 3er Version eine Funktion für automatisches Beatmatching einzuführen, bin ich fast an die Decke gesprungen. Ich sagte, dass niemand die Software und die DJs mehr ernst nehmen würde und Traktor dann tot wäre. Dann hab ich mir das durch den Kopf gehen lassen und mich gefragt, was Beatmatching denn im Kern ist: eigentlich doch nur, dass du mit deinem Kopfhörer auf einem Ohr im Club stehst und drei von zehn Minuten stumpfsinnig zwei Platten synchronisierst, wovon wirklich kein Mensch was hat. Und dass diese nutzlose, egozentrische Tätigkeit wirklich nur dann bemerkt wird, wenn du Scheiße baust.“

EQUIPMENT (auszugsweise):

Computer: MacPro 2 x 2.8GHz Quad Core / 16 GB Speicher / OS X 10.5.5 Soundkarten: RME Fireface 800, 400 Primäres Monitorsetup: PMC MB2S Hot House Subwoofer (angetrieben von zwei Mono Audio Net Amp II Max) Yamaha HS 80M Nearfield Mischpult: 24 Kanal Trident Series 8T Sequenzer: Logic Pro, Ableton Live Klangerzeuger Hardware: Korg Radias Studio Electronics Red Eye SE-1X Dave Smith Prophet 08 Nord Lead Rack Elektron Machine Drum Roland 303 (Devil Fish Mod.), 808, 909 Klangerzeuger Software: Korg Legacy Collection Native Instruments Komplete. Kore 2 Arturia Komplete Collection Virus Powercore Outboard: Eventide H8000 Empirical Labs Distressor SL 4000 G (Nachbau) Transient Designer SPL Allen and Heath Xone VF-1 Sherman Filterbank Moogerfooger Ringmodulator

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