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1698–1798 Zürich zur Zeit der Aufklärung

Zürich zur Zeit der Aufklärung

Jahrhundertwenden sind seit dem Jahr 1000, als der weitherum erwartete Weltuntergang nicht stattfand, auch Zeitenwenden und stehen bis heute für Veränderungen im praktischen, politischen und kulturellen Leben. So dringen denn am Ende des 17. Jahrhunderts Newtons Erkenntnisse in der Physik und Descartes rationales «Ich denke, also bin ich» ins allgemeine Bewusstsein und stärken den Glauben an die Vernunft; und Ende des 18. Jahrhunderts erschüttert die Französische Revolution weitherum die Gesellschaftsstrukturen, so auch die des Stadtstaats Zürich.

1648 fand mit dem Westfälischen Frieden das grosse Morden und Brandschatzen ein Ende, das den ganzen Kontinent während mehr als 30 Jahren heimgesucht und ganze Landstriche zerstört und entvölkert hatte. Die Eidgenossenschaft war weitgehend unversehrt geblieben, ein labiles Gleichgewicht zwischen den protestantischen Stadtstaaten und den katholisch gebliebenen Urkantonen hatte die 13 Kantone zur aussenpolitisch äussersten Vorsicht geführt, um nicht in dieses unüberschaubare Kriegsgemenge hineingezogen zu werden. Ein Resultat dieses ersten gesamteuropäischen Vertragswerks war die Anerkennung der Eidgenossenschaft als Staatenbund mit republikanischer Struktur und definierten Grenzen, unter der Auflage, sich der Neutralität zu verpflichten. Was folgte, war eine rund 150 Jahre dauernde Zeitspanne, in der sich die beiden Stadtstaaten Bern und Zürich ihren eigenen und lukrativen Geschäften widmen konnten.

Noch regierte in Frankreich um 1700 Louis XIV. mit absoluter Gewalt, und Europas Herrscherhäuser hatten diese Staatsform gerne übernommen, ermöglichte diese dem Adel und, nicht zu vergessen, dem katholischen Klerus bis anhin ungeahnte Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Prasserei. In den Zunftstädten Basel, Schaffhausen St. Gallen und Zürich hatten indes die Handwerker ihre Rechte bei der Wahl der Behörden behaupten können und pflegten einen rigiden Lebensstil, während in den alten Patrizierstaaten Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn die einst herrschende Minderheit sich durch Selbstergänzung der Räte mitsamt ihrem erblichen Besitz an der Macht hielten. Der Einfluss Frankreichs mit seinen Formen des gesteigerten Lebensgenusses der pri-

vilegierten Stände und der Vielfalt der neuen und aufregenden kulturellen Leistungen wie die der Literatur, des Theaters, der Architektur oder der Malerei wie auch ihrer neu gegründeten Akademien der Wissenschaft und der Künste konnte aber auch das puritanisch gesinnte Zürich nicht kalt lassen.

Handel bringt Wandel

Die Stadt Zürich war damals schon in ihrem Wesen eine offene Handelsstadt, die sich gerne mit Handelswaren und Ideen aus Italien, den holländischen, flandrischen und den selbstständigen Handelsstädten des Deutschen Reichs beschäftigte und sich – im Gegensatz etwa zu Bern – gegenüber der französischen Kultur im Allgemeinen und der französischen Machtpolitik im Speziellen eher reserviert verhielt. Hier hatte man die Machtdemonstration des Sonnenkönigs bei der Allianzerneuerung zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft im Jahr 1663 nicht vergessen, bei der dieser während des Schwurs seinen Hut aufbehalten hatte, wäh-

Der Weinplatz war seiner zentralen Lage wegen im 18. Jahrhundert Markt- und Begegnungsort. Das Haus zum Storchen beherbergte dank seiner Nähe zum Rathaus illustre Gäste.

rend die eidgenössischen Standesverteter ihn barhäuptig leisteten. Der Handel mit Frankreich verkomplizierte sich und Zahlungsverzüge häuften sich. Als Ludwig XIV. im Jahr 1685 das Edikt von Nantes auflöste und die Hugenotten aus seinem Königreich auswies und sich in der Folge eine Flut von Flüchtlingen über Zürich ergoss, wuchsen die Vorbehalte gegen Frankreich und seine Politik der Staatsräson stark. So stellte der französische Botschafter 1688 erstaunt fest, dass seine Bestechungsgelder in Zürich nur noch angenommen würden, wenn er gewährleisten könne, dass der Geldfluss streng geheim bleibe.

Junge Zürcher Kaufleute benutzten den relativen Landfrieden auf dem Kontinent, um im Ausland Sitten und vor allem Sprachen zu lernen, und viele der knapp 20-jährigen Jungpfarrer, die nach dem Studium am Carolinum zwar flügge, aber wohl einseitig theologisch firm waren, wollten oder mussten die Zeit bis zu einer Anstellung als Pfarrer im Zürcher Staatstaat oder aber als Arzt mit einem weiteren Studium ausfüllen, zum Beispiel in Leiden und Potsdam wie der spätere Stadtarzt Hans Caspar Hirzel.

Die Offenheit gegenüber Neuem galt dem Handel und der Kultur, nicht aber der Staatsordnung. Bereits im 17. Jahrhundert schränkte man die Einbürgerungen ein. Die regierenden Familien bildeten einen immer exklusiveren Kreis «regimentsfähiger Herren». 1705 sassen im Grossen Rat 18 Mitglieder der Familie Escher, 13 der Familie Hirzel, 10 der Familie Werdmüller und 7 der Familie Holzhalb. 1710 sah sich der Bürgermeister Johann Heinrich Escher im Rat von fünf seiner Söhne umgeben. 1713 fand eine Reform

Sitzung des Grossen Rats im neuen Rathaus um 1750. Stich von David Herrliberger.

Immerwährender Regimentsspiegel der Stadt Zürich. Auf den rund 160 dreh- und abnehmbaren Scheiben im Mittelteil sind die Namen, Wappen und Amtsdaten aller Klein- und Grossräte sowie der Amtsträger seit 1490 festgehalten. Die Eintragungen wurden bis 1798 nachgeführt. statt, die aber wenig änderte, ausser dass es noch schwieriger wurde, in die Bürgerschaft aufgenommen zu werden.

Aber weshalb sollte man auch etwas ändern, wenn es sich so gut damit leben liess? Die Zünfte behaupteten sich scheinbar weiterhin gegenüber der Kaufmannschaft, die Verwaltung war rechtschaffen und das Gerichtswesen rasch und unbestechlich. Die Landvögte übten in der Regel ein massvolles Regiment aus und die Landschaft profitierte ebenfalls vom Aufschwung, den der Handel und die sich verbreitende Industrialisierung mit sich brachten.

Doch zu ändern, sich gesellschaftlich zu öffnen und sich anzupassen wäre nötig gewesen. Zum einen waren alle einträglichen Ämter, die höheren Offizierschargen, die wissenschaftlichen Berufe, Lehrstellen oder Anwaltsberufe zwar nicht gesetzlich, so doch tatsächlich der regierenden Bürgerschaft vorbehalten. Der bedeutende Wissenschaftler Johann Jakob Scheuchzer warf als Sprecher einer Bürgerbewegung dem Rat nicht weniger als mangelnde Professionalität und Korruption vor und forderte mehr Mitspracherechte für die Bürger und die bäuerlichen Gemeinden. Ausgelöst hatten diese Intervention Mitglieder des Kollegiums der Wohlgesinnten, das sich um die Jahrhundertwende gebildet hatte und in dem sich regelmässig kritische, meist junge Pastoren, künftige Räte und Kaufleute zu Diskussionen und Meinungsbildung trafen. Sie monierten die krisenhaften Begleitumstände des Zweiten Villmergerkriegs zwischen Zürich und den katholischen Orten im Jahr 1712, den Zürich zwar gewonnen hatte und der zum lang anhaltenden Religionsfrieden in der Eidgenossenschaft führte, dies aber nur dank des massiven militärischen Engagements Berns. Die Kriegsentscheidung war ohne die Zustimmung des Grossen Rats und mit einer Brüskierung der Geistlichkeit erfolgt.

Allenthalben eine frische Brise

1715 starb Louis XIV., der seit 1661 wie kein Zweiter seine Zeit und den Kontinent kulturell brillant beeinflusst und geprägt, sein Land zugleich aber mit seinen kriegerischen Interventionen nahe an den finanziellen Ruin gebracht hatte. Seine Nachfolger unterliessen diese, nolens volens, fortan weitgehend und setzten vielmehr auf die Förderung infrastruktureller Massnahmen und auf die Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Zeitalter der «Lumières» war definitiv angebrochen. Auch in Zürich wurden neue Lichter angezündet: Die Orthodoxie der Zürcher Pfarrherren geriet ins Wanken, deren gesellschaftliche Autorität wurde auch vom Zürcher Rat zurückgebunden und neue theologische Bewegungen wie der Pietismus lösten das starre Glaubenskorsett auf.

Das Carolinum, die von Zwingli eingeführte theologische Hochschule, hatte die Zeichen der Zeit erkannt und Johann Jakob Scheuchzer 1710 zuerst als Mathematikprofessor und später – als er längst Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und Mitglied der Royal Society geworden war – zum Physikprofessor berufen. Das Lehrprogramm des Carolinums umfasste nun neben der Theologie die Literatur, die Geschichtsschreibung, die Naturwissenschaften und last, but not least die Kunst. Damit begann in Zürich die aufklärerische Epoche, die unter dem etwas spöttischen Begriff Limmat-Athen europaweit wahrgenommen werden sollte. All die Lavaters, Füsslis, Hirzels, Sulzers, Gessners oder Pestalozzis, die heute noch als Fixsterne dieser Epoche erscheinen, erhielten eine «geistige Imprägnierung» durch das Caroli num und speziell durch dessen beiden Lehrer Bodmer und Breitinger. Johann Jakob Bodmer war die zentrale Figur des literarischen Zürich. Mit seiner geistigen Wachheit und Neugierde, mit seinem sarkastischen Humor vermochte er seine Schüler anzuregen und zu begeistern. Als Herausgeber vergessener mittelhochdeutscher Werke wie der Manessischen Handschrift und von Teilen des Nibelungenlieds und als Übersetzer von Werken John Miltons und Homers wurde Bodmer auch über den Tag hinaus wirksam. Seine Publikationen trugen einen unverkennbaren Bekenntnischarakter, sie entwickelten Alternativwelten, schreckenerregende Dramen, in denen sich tapfere Republikaner gegen Tyrannen verteidigten.

Kaum dem Carolinum entwachsen, begann Bodmer eine lebenslange enge Zusammenarbeit mit Johann Jakob Breitinger, seinem Schulfreund aus der Zeit am Carolinum. Mit ihm zusammen gründete er die Gesellschaft der Mahler, in der sich Geist-

Johann Jakob Breitinger, Stich aus J. C. Lavaters Physiognomischen Fragmenten, 1775/1778, Stich von Johann Heinrich Lips.

Johann Heinrich Füssli im Gespräch mit Johann Jakob Bodmer (1778–1781). Füssli skizzierte das Bild auf seiner Rückreise von Italien nach England, die ihn zu seinen alten Freunden in Zürich führte, und malte es dann später in London. Er stellt den 80jährigen Bodmer als Mentor mit erhobenem Zeigfinger dar, sich selber malt er in freier Haltung als selbstbewusster Zuhörer, während sich in der Mitte Homer über die beiden wundert.

liche, Juristen, Ärzte und Professoren trafen, um über moralphilosophische Themen zu diskutieren. Dabei gaben die beiden von 1721 bis 1723 die Discourse der Mahlern heraus, eine Zeitschrift, die nach dem englischen Vorbild des Spectators literarisch-kritische Texte veröffentlichte. Sie war die zweite ihrer Art im deutschen Sprachraum und wurde sowohl in Hamburg wie auch in Leipzig bekannt. Daraus entwickelten die beiden eine gemeinsame Theorie, die sie 1740 unter dem Titel Critische Dichtkunst herausgaben und die sich in einen streitbaren Gegensatz zur Leipzigerschule von Johann Christoph Gottsched stellte, die der klassisch-rationalistischen, regeltreuen französischen Schule entsprach. Dieser Schule setzten Bodmer und Breitinger ein von Homer und der englischen Literatur beeinflusstes Plädoyer für eine stärkere Geltung der Einbildungskraft, des Wunderbaren und der Fantasie entgegen.

Obwohl Bodmer Vorbehalt gegen die französische Kultur hegte, kam er nicht von der Inspiration der französischen Literatur weg, Montesquieu war für den Geschichtsunterricht unerlässlich und den Werken von Jean-Jacques Rousseau verfiel er förmlich: Nach dem Erscheinen des Contrat social und des Émile (beide 1762) nährte er seine Schüler mit dem Denken des Genfers. Zu denen gehörten einige zur «bemerkenswerten Generation der Vierzigerjahre»: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli, Salomon Gessner, Johann Georg Sulzer und Johann Heinrich Pestalozzi.

Sie alle waren von der Aufklärung geprägt und beeinflussten diese ihrerseits – noch immer faszinieren die Bilder Henry Fuselys, der Zürich als Jungspund-Theologe verlassen musste und als «Tiefenpsychologe avant l’heure», als Malergenie und Präsident der Royal Society in London starb. Und heute noch richten sich Pädagogen in aller Welt an Pestalozzis «Kopf, Herz und Hand».

Zeigen, was man hat

Mit dem finanziellen Aufschwung in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts konnte die Stadt daran denken, mit dem St. Peter eine neue, architektonisch wirklich protestantisch gedachte Kirche

zu bauen. 1705 wurde das morsche Kirchenschiff abgebrochen und ein mit aufwändigen Stuckaturen in protestantisch gebremstem Rokokostil aufgeheiterter Kirchenraum gebaut. Ab 1713 wurde das Fraumünster renoviert. Man riss den Südturm ab und erhöhte dafür 1732 den Nordturm und wertete den Münsterhof städtebaulich auf. Durch das nun weitherum hörbare Geläut wurde der Le-

Das Langhaus von St. Peter ist der erste Kirchenneubau nach der Reformation. Blick zum Chor und zur Kanzel im Lettner.

Blick vom Zunfthaus zum Rüden zum Fraumünster, dem Münsterhof und zum 1757 vollendeten Zunfthaus zur Meisen. Es folgen die schlichten Häuser der Wühre. Unter dem Petersturm, den bis 1809 eine astronomische Uhr schmückte, erkennt maneine markante Baugruppe mit dem «Storchen» im Vordergrund. Der Weinplatz daneben hat sich bis heute so erhalten.

Das Muraltengut, einst eine ländliche Idylle, ist seit 1943 im bensrhytmus der Stadt beeinflusst. Beide Massnahmen waren eigentlich nur bedingt religiöser Natur, sie sprechen eher für den etwas eigennützigen Pragmatismus der Zürcher.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine kleine Elite, ihre Prosperität, ihre Weltläufigkeit und ihren Patriotismus mit residenzartigen Bürgerhäusern ausserhalb der Stadtmauern, aber nahe der Stadt zu demonstrieren. So liess der Handelsherr Johann Heinrich Frey in der Enge ein Landhaus im französischen Stil erbauen – das heutige Freigut –, das damals von einem deutschen Besucher als plumpe und altmodische Zurschaustellung des Reichtums abqualifiziert wurde. Raffinierter machte es wohl

Johannes Werdmüller, der beim Bau moderne Gerätschaften zum Einsatz brachte und damit die Neugier der Mitbürger stillte. Stilistisch orientierte sich der Bauherr des ebenfalls in der Enge, aber am See liegenden und heute als Muraltengut bekannten Anwesens an Berner Vorbildern – dagegen konnte ja wohl niemand etwas einwenden.

Besitz der Stadt Zürich. Diese nutzt es seitdem zu Repräsentationszwecken. Der Garten ist frei zugänglich.

Rechts davon das weithin sichtbare Hotel Schwert, die damals «beste und vornehmste Absteige weit und breit» und die UntereBrücke. Der Bildausschnitt endet mit der Ostfassade des Rathauses.

Der bedeutendste Privatbau dieser Zeit ist wohl der Rechberg, der zwischen 1759 und 1770 an der Zürichberghalde erbaut wurde. Hier war ein Palais, eine Stadtresidenz, entstanden, das den stilistischen Anforderungen seiner Zeit entsprach. Der Seidenfabrikant, Zunftmeister und Obervogt Hans Caspar Werdmüller liess sich hier als Herkules feiern und scheute sich nicht, monarchistische Motive zu bemühen. Überhaupt waren das Haus zum Rechberg, das Muraltengut oder der Beckenhof steinerne Werbemassnahmen, die die eigene Bonität demonstrieren sollten – die aber ziemlich quer zum zwinglianisch-zurückhaltenden Gestus der Zürcher und zum finanziell knapp gehaltenen Landvolk standen.

Den prächtigen Privatbauten musste durch städtische oder zünftische Bauvorhaben, die einem gemeinsamen Nutzen dienten, ein Ausgleich entgegengehalten werden. Das wurde erleichtert, weil ein geschickt betriebenes Kreditgeschäft um 1750, zusätzlich zu den gestiegenen Zolleinnahmen, die bereits volle Staatskasse geäufnet hatte – dies ganz im Gegensatz zum restlichen Kontinent, wo man überall mit dem Bankrott kämpfte. So wurde der Neubau des Zunfthauses zur Meisen, zwischen 1752 und 1757 in unmittelbarer Nähe des Fraumünsters erbaut, zu einem regelrechten Zunftpalast, der sich repräsentativ zum Münsterhof hin öffnete. Dennoch war hier war kein Palais für ein einzelnes Geschlecht gebaut worden, vielmehr zeugte es vom Gemeinwillen vornehmer Familien, die über den Nukleus der Zunft der städtischen Gesellschaft insgesamt Räume nicht nur für die Geselligkeit, sondern beispielsweise auch der Physikalischen Gesellschaft zur Verfügung stellte, die hier zudem ein von ihr geplantes Observatorium einbauen konnte.

In den 1750er-Jahren drangen Rousseaus Ideen in die zahlreichen Zürcher Zirkel (die Gesellschaften) ein – seine Saat ging auf: Noch stärker als sein Kampfruf «retour à la nature»

Das Zunfthaus zur Meisen, von der Limmatseite und der Münsterbrücke her gesehen.

Das Waisenhaus in Zürich von der Abendseite, um 1800, Aquatinta-Radierung von Johann Jakob Aschmann. Geplant wurde es vom italienischen Architekten Pisoni, der mit seinem Entwurf eines barocken Grossmünsters nicht zum Zug gekommen war.

«Der Neue Hof, samt dem ganzen Thal-Acker und dem Feld-Hof in der Vorstadt zu Zürich» – Wer erkennt hier den künftigen Paradeplatz? und sein Discours sur l’origine et des fondements de l’inégalité parmi les hommes und der etwas später erschienene Contrat social, der bereits 1762 in der Stadt kursierte, löste Rousseaus Erziehungsroman Émile ou de l’Éducation einen Impuls zu einer Tat aus, die das erwachende soziale Gewissen von Rat, Kirche und Zunft demonstrieren sollte: Die Waisenpflege war seit Langem einer der grossen Tolggen im Reinheft des Stadtstaats. Seit dem Jahr 1637 wurden im Nordflügel des Ötenbachklosters jeweils an die 140 Waisen untergebracht. Hier sollten sie fortan, in unmittelbarer Nähe zum Zuchthaus im Westtrakt, zusammen mit Kleinkriminellen und Vaganten durch harte Arbeit vom Müssiggang abgehalten werden,

der bekanntlich der Anfang allen Lasters ist. Nun aber sollten die Kinder als Mündel des Staats nicht mehr länger als potenzielle Straftäter gelten, sondern künftig zu wertvollen Mitbürgern der Stadt erzogen werden und mit guter Ernährung und umfassender Bildung der Armut entkommen. Das imposante, in der Gesamtwirkung dennoch ausgewogene Gebäude wurde 1771 eingeweiht und zeugt auch heute noch – ironischerweise als Hauptwache der Stadtpolizei – vom gebändigten Repräsentationswillen der Stadt.

Die Waldquelle, 1788. Gouache auf Papier von Salomon Gessner.

Täuschende Idyllen

Wenn die beiden Bodmerschüler Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füssli gemeinhin als Originalgenies gelten, so muss man Salomon Gessner als erleuchteten Dilettanten im besten Sinn bezeichnen. Denn dieser war schulfern auf der Landschaft erzogen worden, absolvierte halbherzig in Berlin eine Buchhändlerlehre und bildete sich autodidaktisch in Literatur und Zeichnen aus. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Anakreontischen Lieder und 1756 erschien die erste Ausgabe der Idyllen, die im Lauf der folgenden Jahre in 20 Sprachen übersetzt wurden. Um 1760 begann er ebenfalls, seine literarischen Werke selber zu illustrieren und um 1770 dürfte er im Ausland neben Lavater zum bekanntesten Schweizer Autor geworden sein. Zugleich führte er den von seinem Vater geerbten Verlag weiter, den er später mit der Druckerei Orell zum Unternehmen Orell, Gessner, Füssli & Co zusammenführte. Ausserdem beteiligte er sich 1780 an der Gründung der Zürcher Zeitung und, nicht genug, 1763 an der Gründung der Fayence- und Porzellanmanufaktur Schooren bei Kilchberg. Ab 1765 gehörte er dem Grossen Rat, ab 1757 dem Kleinen Rat an, zudem verwaltete er eine Vogtei und von 1781 an die Sihlwaldungen.

In den 1770er-Jahren war Zürich definitiv zu einem kulturellen Hotspot geworden. Goethe hatte die Stadt und ihre Bodmers, Lavaters, Hirzels dreimal, 1779 sogar quasi zur kulturellen Einführung, mit «seinem» jungen Herzog Carl August von SachsenWeimar besucht. Es folgten weiterhin Gelehrte, Adlige, Künstler und Flüchtlinge aus Frankreich, die auch nach dem Tod Bodmers

Kleinjogg vor seinem Hof. Druckgrafik nach einem Gemälde von Johann Heinrich Wüest. und Gessners neben Lavater und Hirzel das «geistige Zürich» kennenlernen wollten und ihre Eindrücke auf lebendige Weise zu dokumentieren wussten.

Die Idylle trog. Das Spannungsfeld zwischen Regierenden und Regierten, zwischen der Stadtbevölkerung und den Bauern und Arbeitern der Landschaft wuchs beständig an, ohne dass spürbare Reformen in Sichtweite gekommen wären. Immerhin bildete sich 1759 eine Oekonomische Kommission unter der Leitung des Oberstadtarzts Hans Caspar Hirzel, die zuerst einmal feststellen musste, dass man «wohl an Geld reich, aber doch an Lebensmitteln arm sein könne». In seiner Schrift Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers plädierte er für einen intensiven Meinungsaustausch mit und unter der Landbevölkerung und nannte als Beispiel eines bewussten Bauern den in der Nähe Rümlangs lebenden Jakob Gujer, genannt Kleinjogg, der seine landwirtschaftliche Tätigkeit auf einer genauen Naturbeobachtung aufbaute. Hirzel forderte eine symbolische Aufwertung des Bauernstands und hatte damit tatsächlich über die Grenzen hinaus Erfolg. Hirzel und seine Kommission gingen aber noch weiter, vermochten doch die im eigenen Land produzierten Nahrungsmittel nur noch zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung zu ernähren. Was würde geschehen, wenn die Erträge infolge wirtschaftlicher Rückschläge derart zurück- gingen, dass man ausserstande wäre, die nötigen Nahrungsmittel im Ausland zu kaufen? So empfahl die Kommission, die extensive Weidewirtschaft auf Stallfütterung umzustellen und den in den Ställen anfallenden Mist als Dünger auf die Wiesen und Äcker zu führen, um damit die Erträge zu erhöhen. Auch sollte die Dreifelderwirtschaft zugunsten des Anbaus von Getreide und Kartoffeln

und weiterem Gemüse aufgegeben werden, was wegen der uralten Weidegerechtigkeiten, die nur schwer abzulösen waren, zu starkem Widerstand führte. Es brauchte die Hungerjahre von 1770/71, um die Landwirte zum beschleunigten Handeln zu führen, noch mehr half wohl auch, dass 1795 der Kartoffelanbau auf Brachfeldern, Rütenen und neuen Aufbrüchen für zehntfrei erklärt wurde.

Die materielle Sicherheit der Landschaft war sehr unterschiedlich. 1771 waren, bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung auf der Landschaft von etwa 140000 Bewohnern, um die 40000 mittellos. Am meisten von Armut betroffen waren das Zürcher Oberland und das Unterland, kaum betroffen waren die Weinbaugebiete am Zürichsee, weil hier auch viel industrielle Heimarbeit verrichtet werden konnte. Die Einwohner der Landschaft hatten natürlich, nicht zuletzt durch die sich rasch verbreitenden Lesegesellschaften, mitbekommen, dass sich die Rhetorik der Aufklärung nicht auf den effizienten Anbau von Kartoffelfeldern beschränkte, und hatten an Selbstbewusstsein gewonnen. Scheinbar paradoxerweise kamen die vehementesten Forderungen nach Gleichstellung von Stadt und Land von den hablicheren Seegemeinden, die seit je den reichsten, aufgewecktesten und damit auch den unruhigsten Teil der Landbevölkerung stellten.

Die Zürcher Zeitung vom 25. Juni 1789 berichtet über den Beginn der Französischen Revolution. Sie war als Nachfolgerin der Montagszeitung 1780 von Salomon Gessner im Verlag Orell,Gessner Füssli & Co, dem heutigen Orell FüssliVerlag, gegründet worden. Zu Beginn wurde das der Aufklärung verpflichtete Nachrichtenblatt vor allem von Redaktoren aus Deutschland produziert.

Der Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792, von Jean Duplessis-Bertaux, Öl auf Leinwand, 1793. Im Vordergrund erkennt man an den roten Uniformen tote Schweizergardisten und an den blauen die Soldaten der französischen Nationalgarde.

Der Wind weht von Westen

Zudem war in Frankreich die Revolution ausgebrochen. Anfang 1789 vermeldete die Zürcher Zeitung blutige Unruhen, im April «gefährliche Ausbrüche des öffentlichen Missvergnügens» und im Juli «Grosse Revolution in Paris». Sie berichtete auch von den Umtrieben des Herzogs von Orléans (Philippe Égalité) und den Rettungsversuchen von Mirabeau und Necker – man war also informiert. Politisch herrschte hierzulande der Eindruck vor, dass das französische Volk nun durch die konstitutionelle Monarchie Mitsprache und Freiheit erhalte, wie diese hierzulande bereits vorhanden seien.Aber Johann Heinrich Pestalozzi mahnte 1791: «Sonst sind wir in unserer Schweiz lethargisch glücklich, mitten unter der sich bewegenden Welt. Indessen behagt meinem Personalgefühl dieses Glück nicht; vielleicht habe ich unrecht.» Im selben Jahr stimmte die Zürcher Regierung der Neuvereidigung der Schweizer Regimenter auf die Konstitution der französischen Nationalversammlung zu, statt wie bisher auf den König, und anerkannte damit die inzwischen durch die Revolution geschaffenen Tatsachen. Statt heroischer Gesten mahnten die Zürcher, oft gegen Bern, Solothurn und Freiburg, dass ein Krieg gegen Frankreich, auch zusammen mit einer Koalition – gemeint waren deutsche Monarchien und Österreich – nur zum Untergang führen würde. Am 10. August 1792 wurden aber in Paris die Tuilerien, die von den Schweizer Garden beschützt wurden, blutig gestürmt. Das zürcherische Regiment, das keine Gardefunktionen hatte und heil davongekommen war, traf Mitte Oktober zu Hause ein. 1794 formulierten die Stäfner Johann Caspar Pfenninger und Hans Heinrich Neeracher, der eine Chirurg und der andere Hafner, die in Gesprächsrunden gesammelten Klagen in einem Entwurf zu einer Denkschrift, die als Stäfner Memorial historisch geworden

ist. Begütigend wurde darin erklärt, dass die Verfassung «keine Veränderung leide», sie solle «nur allgemein über das ganze Land ausgebreitet» werden. Weil aber gleichzeitig massive Angriffe auf die Zünfte geführt wurden, die ja fundamental mit eben dieser Verfassung verbunden waren, war eigentlich klar, dass sich diese nicht auf die Landschaft übertragen liess. Die Klagen drängten auf Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit, Ablösung von Zehnten und Grundlasten, Gleichstellung im Wehrwesen und Wiederherstellung von vergessenen Gemeinderechten und -freiheiten. Alles in allem war es eine Vermischung der Forderungen nach natürlichen Rechten und der Abschaffung von Privilegien. Nun war die Zürcher Regierung, bei aller «Väterlichkeit», nie sehr für Kritik empfänglich gewesen – egal ob aus den eigenen Reihen oder den ländlichen Kreisen. Sie witterte Umsturzgedanken und reagierte heftig mit einem gerichtlichen Verfahren, bei dem Neeracher, Pfenninger und Andreas Staub, ein weiterer Stäfner, zur Verbannung verurteilt wurden und andere zu namhaften Geldstrafen. Angesichts der Ereignisse in Frankreich war dies eine kapitale Torheit: Nun solidarisierten sich Teile der Landschaft mit den Stäfnern und diese wiederum verstärkten ihre Forderungen. Am 5. Juli liess die Regierung Stäfa durch Truppen besetzen. Und wieder wurde ein Prozess gegen die Fehlbaren angestrengt – ihnen drohte nun die Todesstrafe. Darauf intervenierten in der Stadt, um Irreversibles zu vermeiden, unter anderen Lavater mit seinem Bruder Diethelm, Zunftmeister Bürkli und Pestalozzi. Die Urteile wurden deshalb abgemildert, über den Hauptschuldigen wurde symbolisch das Schwert geschwungen, Geldstrafen ausgesprochen und Lesegesellschaften verboten (sic!).

Man versuchte zum «courant normal» überzugehen, aber der Kraftakt der Regierung hatte zu viel an Sympathien und vor allem Vertrauen gekostet. Das illustrierte ausgerechnet der Weltbürger und Zürich-Fan Goethe, der 1796 für längere Zeit in Stäfa zu Gast bei seinem Freund Heinrich Meyer (Goethes rechte Hand und bekannt als «Kunschtmeyer» oder «Goethemeyer») weilte und vom verbreiteten Wohlstand beeindruckt war. Er meinte: «Was man sonst vom Oekonomen wünschen hört, das sieht man hier vor Augen: den höchsten Grad von Cultur, mit einer gewissen mässigen Wohlhabenheit; (...) es ist hier keine Hütte hier am Ort, alles Häuser und meist grosse Gebäude, die aber anzeigen, dass ein Landwirt darinnen wohnt.» Und noch, dass der «allgemeine Wunsch des Volkes» nicht erfüllt sei und sich dies «hie und da in kleinen Unruhen» äussere. Johann Heinrich Meyer aber sprach unverblümt von «einer völligen Revolution, die man hier am Ort vor zwei Jahren angefangen habe», und zur Situation der ganzen Eidgenossenschaft meinte er, «dass die Lage äusserst gefährlich sei, und es niemand übersähe, was daraus entstehen könne».

«Stäfner Memorial zum Jahr 1794. Ein Wort zur Beherzigung an unsere theüresten Landes-Väter!»

1783 endete das jährliche Exerzierprogramm der Gesellschaft der Pförtner mit einem Schaumanöver in Form einer Seeschlacht. In friedlichen Zeiten nahmen die durchaus ernsten Zwecken dienenden Manöver fast den Charakter einer Volksbelustigung an. Johann Jakob Aschmann zeichnete den kolorierten Umrissstich.

In den ersten Wochen des Jahrs 1798 behandelte der Rat unter dem steigenden Druck der ländlichen Unzufriedenheit die Fragen der Handels-, Gewerbe- und Studienfreiheit für die Landschaft und die Amnestie der Stäfner. Diese konnten denn auch Ende Januar in einem festlichen Triumphzug heimkehren. Im Februar erklärte sich der Rat der 200 für provisorisch und proklamierte zugleich die Gleichheit von Stadt und Landschaft – zu spät, um die Landschaft zu befriedigen. Einige exponierte «Aristokraten» setzten sich ab und am See wurden die ersten «Freiheitsbäume» errichtet. Als am 7. März die Eroberung Berns durch französische Truppen bekannt wurde, verbreitete sich «unglaublicher Schrecken». Der Grosse Rat trat am 13. März zum letzten Mal zusammen und auf dem Münsterhof wurde ein «Freiheitsbaum» aufgestellt. Am 26. April marschierten die Franzosen in Zürich ein, das nun zum ersten Mal fremde Truppen in seinen Mauern sah. An die Stelle der Alten Eidgenossenschaft trat die Helvetische Republik. Das Alte Zürich war zusammengebrochen, die neuen Gedanken der Aufklärung waren zwar von den Herrschenden aufgenommen, doch kaum verarbeitet und zu spät umgesetzt worden.

Der moderne Kanton Zürich entstand in den 1830er-Jahren mit Elan. Viele der Forderungen der Aufklärung wurden umgesetzt, nicht zuletzt das Primat der Bildung mit einer durchgehenden Volksschule und dem Bau der Universität, die das Vermächtnis Scheuchzers, Bodmer, Breitingers und Füsslis, von Lavater und Sulzer, Hirzel undPestalozzi quasi in den Genen hat.

Bis zur Gründung des Bundesstaats, der modernen Schweiz im Jahr 1848, mussten aber noch 50 Jahre der Wirren und Neuanfänge und ein Bürgerkrieg folgen, die eigentlich nur eines beweisen: Es braucht den Willen und die Mitarbeit aller Bürgerinnen und Bürger, um einen prospektiven, dem Gemeinwohl verpflichteten Staat zu bilden. Das hatten die Zürcher Räte zu spät begriffen. •

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