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Das «Oktobermanifest» des Zaren
from Karin Huser: Ostwärts, wo der Horizont so endlos ist. Eine Schweizer Familie im Zarenreich
by NZZ Libro
dem Herrscher eine Petition übergeben, die ihre Forderungen enthielt; viele von ihnen vertrauten noch immer auf die herkömmliche Vorstellung vom «gütigen Väterchen Zar». Doch die persönliche Schutzgarde des Zaren war mit der Situation vollkommen überfordert: Als die Menge ihrer Aufforderung, wieder abzuziehen, nicht Folge leistete, verloren die Soldaten die Nerven und schossen wild in die Menschenansammlung. Durch die ausgelöste Massenpanik kamen über 100 friedlich demonstrierende Menschen ums Leben. Diese als «Blutsonntag» in die Geschichte eingegangene Tragödie in der Hauptstadt – in Warschau folgte am 1. Mai ein ähnliches Gewaltszenario zwischen polnischen Arbeitern und dem russischen Militär – löste im ganzen Imperium eine Streikwelle aus, politisierte selbst bisher passive Untertanen und brachte sie dazu, ihre mehrheitlich erbärmlichen Lebensbedingungen nicht mehr länger hinzunehmen. Es war aber nicht der «Blutsonntag», sondern erst der tödliche Anschlag vom 4./17. Februar 1905 auf den unpopulären Grossfürsten Sergei Alexandrowitsch, Moskauer Generalgouverneur und Onkel des Zaren, der Nikolai II. den Ernst der Lage vor Augen führte. August von Schulthess hielt sich damals gerade mit seinen Töchtern Emma und Marie in Moskau auf, um ihnen die Stadt zu zeigen. Die drei wurden Augenzeugen dieser Bluttat.
Angst vor weiteren Unruhen und einem allfälligen Machtverlust und nicht die Einsicht, dass nur tiefgreifende Reformen zu einer sozialen Stabilität führen konnten, liessen den Zaren zumindest teilweise auf die Forderung nach einer Volksvertretung eintreten. Zwei Wochen nach dem Attentat auf den Grossfürsten erklärte er seine Absicht, durch Vertrauensmänner des Volks eine Versammlung (Duma) wählen zu lassen und diese künftig zur Beratung gesetzlicher Vorlagen beizuziehen. Diese Ankündigung heizte aber die revolutionäre Stimmung nur noch zusätzlich an. Die öffentliche Ordnung löste sich allmählich auf und das Land versank für mehr als ein Jahr in Chaos, Angst und Schrecken, wovon August mit eindrücklichen Schilderungen Zeugnis ablegt.
Das «Oktobermanifest» des Zaren
Erst das «Oktobermanifest» des Zaren, das der inzwischen rehabilitierte und zum Regierungschef ernannte Sergei Witte verfasst hatte, vermochte die Lage zumindest bei den liberalen Kräften innerhalb der Opposition zu entspannen. Das Manifest sah bürgerliche Freiheitsrechte vor und wandelte die Duma von einem beratenden in ein gesetzgebendes Organ um. Es entzog die Regierungs-
organe jedoch der Aufsicht durch das Parlament und räumte dem Zaren ein unbeschränktes Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse ein. Damit war der Vorläufer der ersten russischen Verfassung geschaffen. Gleichzeitig schlug der neue Innenminister Petr Durnowo mehrere Streikbewegungen in eigentlichen Strafexekutionen brutal nieder und erwarb den zweifelhaften Ruhm, wieder geordnete Verhältnisse hergestellt zu haben. Mit den weitreichenden Agrarreformen, die Durnowos Amtsnachfolger Pjotr Stolypin ab April 1906 ankündigte und rasch in die Praxis umzusetzen begann, zeichnete sich ein tiefgreifender Wandel der herkömmlichen Gesellschaftsstruktur ab.
Stolypin, im Juli 1906 zum Ministerpräsidenten befördert, war zwar überzeugter Monarchist, erkannte jedoch, dass das Zarenregime ohne fundamentale Reformen und Zugeständnisse an die Bauernschaft auf Dauer nicht zu halten war. Als Erstes setzte er das Recht auf privaten Landbesitz für Kleinbauern durch; geringverzinste Agrarkredite und ein Ausbildungsprogramm sollten den bäuerlichen Landerwerb ermöglichen. Doch der private Landbesitz führte zwangsläufig zur Auflösung der bislang festgefügten Ordnung des «Mir» (Dorfgemeinschaft) und der «Obschtschina» (Umverteilungsgemeinde), einer Interessen- und Schicksalsgemeinschaft innerhalb der ländlichen Gesellschaft. Das gefiel namentlich den älteren Gemeindegenossen nicht, die bisher in patriarchalischer Tradition überwiegend über das Wohl und Weh des «Mir» bestimmt hatten und nun ihren Machteinfluss schwinden sahen. Konflikte innerhalb der Dorfgemeinschaften waren die Folge. Sodann verfolgte Stolypin rigoros jegliche revolutionären Regungen in der Bevölkerung, die er – wie bereits seine Vorgänger Plehwe und Durnowo – unschädlich machen wollte. Er baute die Geheimpolizei weiter aus und schreckte selbst vor standrechtlichen Massenexekutionen nicht zurück. Für die erwähnte Kampfzelle der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR), die aus der «Narodnaja Volja» hervorging und deren Anführer sich in Paris, aber auch in Genf und Zürich aufhielten und die Terroraktionen aus der Ferne lenkten, war der eiserne Ministerpräsident die Hassfigur in Person. Bereits am 12. August 1906 versuchte die Kampforganisation ihn mit einem Bombenangriff auszuschalten. Während Stolypin mit leichten Verletzungen davonkam, starben bei dem Attentat rund 30 Menschen; eine seiner Töchter und sein Sohn wurden schwer verletzt. Erst fünf Jahre später, am 11. September 1911, gelang der Kampforganisation der PSR in Kiew der tödliche Anschlag auf Stolypin, der kurz zuvor von seinem Amt als Ministerpräsident zurückgetreten war.
Wie instabil die innenpolitische Lage auch in den Jahren 1906 und 1907 blieb, zeigt die Tatsache, dass in kurzer Abfolge neue Volksvertretungen gewählt