NZZ Folio: Dez 2011

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Die Zeitschrift der Neuen Z端rcher Zeitung, Dezember 2011

Ich liebe dich Wo bist du?


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D A S PA R F U M . E I N E N E U E E S S E N Z

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e d itori a L

Sechs Suchende Ein Jahr lang begleiteten wir sechs Singles auf der Partnersuche. Warum es so schwierig ist, den Richtigen zu finden.

Drei Frauen, drei Männer. Sechs Lebensgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die doch etwas verbindet: der Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden. Sie machen sich auf, jeder auf seine Art, sie suchen, wie Millionen andere Singles auch, mit Inseraten off­ und online, in Single­Chatrooms, in Clubs und auf Single­Spaziergängen – nie gab es mehr Möglichkeiten. Lisa ist 41, alleinerziehende Mutter, Galeristin, Reisende. Die Singles­Börsen im Internet kennt sie fast alle. Sie ist butterfly und CH8HH6V5. Unter anderem. Johann, 32, kam vor vier Jahren aus Göttingen nach Zürich, um seine Disser­ tation zu beenden. Eingebettet in eine Freundeswelt aus Pärchen, scheint er als Einziger plötzlich allein geblieben. Sepp ist 52. Er lebte in Bulgarien, suchte in der Ukraine. Er verkaufte Brathüh­ ner und hoffte, an seinem Anhänger die Frau fürs Leben zu treffen. Judit, 54, sucht im oberen Männersegment. Partnervermittlungsagenturen und Inserate in der NZZ sollen die Ärztin in starke Arme führen. Paolo ist 29 und Mikrobiologe. Sein Comingout hatte er mit 22 Jahren. Er lebt nicht nur digital auf der Überholspur – doch in Clubs übersieht man ihn. Romy, 69, inseriert in Zeitungen. Es melden sich Heiratsschwindler und Män­ ner, die nur das eine wollen. Und die will sie nicht. Nie war es leichter, den passenden Partner zu finden, sagen Experten. Tech­ nisch gesehen mag das stimmen. Praktisch gesehen ist der Umgang des Men­ schen mit der Liebe kompliziert wie zu allen Zeiten – vielleicht, weil jeder etwas anderes von ihr erwartet, vielleicht, weil jeder etwas anderes unter ihr versteht. Und so ist der Wunsch, für jemanden zur Welt zu werden, oft schmerzvoll, der Weg zum auserwählten Herz nicht selten voller Wirrungen. Doch jeder Gang durch die tiefschwarze Nacht lohnt, wenn der Tag einen mit den Worten «Ich liebe dich» begrüsst. Gudrun Sachse PS: Tour de Suisse, das schwierigste Rätsel der Schweiz, hat zwar dieses Jahr be­ reits im August begonnen, aber jetzt geht’s richtig los! Auf den Seiten 41– 44 gilt es 24 Aufgaben zu knacken. Wer es schafft, ist so gut wie im Final, in dem es wie immer ein halbes Kilo Gold zu gewinnen gibt.

b i Ld e r

Portraits Die Singles in diesem Heft wurden porträtiert von der Fotografin Suzanne Schwiertz, Zürich. Lisa in ihrer Galerie.

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inh a LtSV e r Z e iCh n i S

1 5 9 11 11 13 15 15 16

th e m a : iCh Li e b e d i Ch

18 auftakt

titelblatt Von Max Grüter und Patrick Rohner editorial Sechs Suchende. Von Gudrun Sachse beim Coiffeur «Sie mögen die intime Atmosphäre». Von Frerk Froböse Seitenblick Ode an das Tram. Von Luca Turin icon poet Horror. Zerlegt Die Universalwaffe. Von Jeroen van Rooijen rätsel Das Single­Traumpaar. Von CUS binders Vexierbild Wo ist Jane Birkin? Von Hannes Binder Liebhaber Cees Nooteboom. Von Anja Jardine

20 ein bisschen Unendlichkeit

Johann trank in diesem Jahr Kaffee mit Suza und Elena, spazierte neben Livia, bis ihm an einer Hochzeit Lara begegnete. Von Gudrun Sachse 28 der nächste beste

Lisa wusste ganz genau, was sie wollte: einen Mann, mit dem sie sich so gut versteht wie mit ihrem besten Freund. Von Barbara Klingbacher 36 allein am Grill

Erst suchte Sepp in Bulgarien und in der Ukraine. Jetzt wartet er in seinem Güggeli­Express auf eine Frau, die es ernst meint mit ihm. Von Claudia Wirz 41 tour de Suisse

Das schwierigste Rätsel der Schweiz. 46 nie hand in hand

Judit hat viel erreicht – mit System, Ausdauer und unerbittlicher Härte gegen sich selbst. Nur der Liebe lässt sich so nicht beikommen. Von Anja Jardine 56 365 tage Stress

Paolo verlagerte sein Leben ein Jahr lang ins Internet. Das Ergebnis: Hunderte Mails, Dutzende Dates, ausgefranste Nerven. Von Florian Leu 64 rendez-vous mit romy

CH­Frau, 68, 163 cm, NR, jung geblieben, attraktiv, schlank, sucht humorvollen Mann (63–73) mit Niveau. Von Barbara Schmutz

romy und Sepp, paolo und Johann.

74 75 76 79 79 80 81 82

ZU m h e F t

das experiment Die Topfkollekte der Eitelkeiten. Von Reto U. Schneider Schlaglicht Vor 20 Jahren starb die Sowjetunion. Von Wolf Schneider Wer wohnt da? Gut gefüllter Speicher. Von Gudrun Sachse Vom Fach Unter uns. Von Benno Maggi am herd Vielfalt im Eintopf. Von Andreas Heller Leserbriefe Folio Folies Von Gerhard Glück Vorschau / impressum

die Singles

Bei den Singles haben wir auf die Nachnamen verzichtet. Um die Personen zu schützen, die Johann, Paolo und all die anderen dieses Jahr trafen, haben wir ihnen andere Namen gegeben. Im Text wird dies nicht zusätzlich erwähnt.

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Es gibt noch etwas Besseres als einen Nespresso Grand Cru.


b e i m Co iFFeU r

«Sie mögen die intime Atmosphäre» David Eary frisiert Menschen und malt Bilder. Beides lässt sich in seinem Wohnzimmer bewundern. Einmal Haare schneiden, bitte!

david eary, 41, Cascais, portugal, zog vor zwölf Jahren aus der kanadischen Provinz Manitoba in die portugiesische Küstenstadt. Er lebt allein und hat in seinem Privathaus einen Ein-Mann-Salon eingerichtet. Eary nimmt etwa 3500 Euro pro Monat ein, Miete bezahlt er 850 Euro. Cascais ist eine Kleinstadt mit 35 000 Einwohnern, 25 Kilometer westlich von Lissabon, direkt am Atlantik – ein beliebter Wohnort für portugiesische und ausländische Besserverdienende. 2bu hair Styling Mit seiner hauptsächlich internationalen Klientel spricht Eary englisch. Die Kunden schätzen die intime Atmosphäre seines Salons im Wohnzimmer, das auch als Galerie für seine abstrakte Malerei dient. preis pro haarschnitt Ein Damenhaarschnitt kostet pauschal 50 Euro. Männer zahlen 25 und Kinder 20 Euro. portugal Einwohner: BIP pro Kopf: Milch: Brot: Kinobillett: Zigaretten: Taxi:

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10,6 Millionen 15 200 Euro 1 Liter 70 Cent 1 Kilo 1.20 Euro 5.50 Euro 4 Euro 10 km 11 Euro

Welcher Haarschnitt ist im Moment angesagt? Bei Frauen liegt «hinten kurz, vorne lang» im Trend. Am Nacken rasiere ich die Haare fast ab, an den Ohren und am Pony dürfen sie wehen. Haben Sie eine spezielle Methode? Viele Kollegen hatten das Rasiermes­ ser lange vergessen und entdecken es jetzt wieder. Ich hatte es nie zur Seite ge­ legt. Das Messer hat einen weichen Schnitt. Warum sind Sie Coiffeur geworden? Schon mit 14, 15 Jahren habe ich allen in meiner Familie die Haare geschnitten. Es gefiel mir, mit verschiedenen Stilen zu spielen. Es gefällt mir noch heute. Wie haben Sie Ihr Handwerk erlernt? Als ich 21 war, habe ich eine Coiffeur­ schulebesucht.IchschlossdenKursnach sieben statt nach neun Monaten ab, und beim Wettkampf aller Coiffeurschüler aus Manitoba kam ein Juror zu mir und bot mir einen Job in seinem Salon an. Was sind Ihre Zukunftspläne? Ich möchte in Portugal bleiben und meine Kundschaft vergrössern, vielleicht einen weiteren Salon eröffnen. Als ich in Portugal ankam und sechs Monate später meinen Salon eröffnete, freute ich mich, wennproTageinKundeauftauchte.Heu­ te arbeite ich von 10 bis 19 Uhr. Ausser­ dem möchte ich reisen! Viele Kunden kommenausdemAusland.Ichkönntefür ein Wochenende bei ihnen unterkom­ men und so ihre Heimatstädte kennen­ lernen. Wer schneidet Ihre Haare? Der Freund, mit dem ich damals von Kanada nach Portugal gekommen bin, betreibt heute seinen eigenen Salon. Alle ein bis zwei Monate gehe ich dorthin. Haben Sie viele Stammkunden? Fast alle Kunden sind Stammkunden. Viele kenne ich seit zehn Jahren. Über sie gewinne ich neue Kunden. In der briti­ schen Schule hat eine Lehrerin nicht nur ihre Familie, sondern ganze Schülerscha­ ren für mich gewonnen. Sprechen Sie englisch oder portugiesisch mit Ihren Kunden? Meine Kundschaft besteht zu achtzig Prozent aus Ausländern, wir sprechen

englisch miteinander. In Cascais sind die Expats daheim. Ich spreche mittlerweile aber auch Portugiesisch. Welche Art Kunde ist die grösste Herausforderung für Sie? Solche Kunden, die mit viel Föhnen und Kämmen ihrem Haar zu Volumen verhelfen wollen, obwohl ihr Haar nicht dafür gemacht ist. Wann ist eine Frisur aus Ihrer Sicht gelungen? Wenn sie zum Kopf, dem Auftreten und dem Lebensstil des Kunden passt. Wenn der Kunde zufrieden ist. Haben Sie sich schon einmal geweigert, einen Wunsch auszuführen? Ja, wenn ein Kunde konkrete Ideen hat, die aber mit seinen Haaren schwer zu realisieren sind. Oder die nicht zu seinem Lebensstil passen, zum Beispiel weil eine Frisur aufwendig wäre, der Kunde sich zu Hause aber nicht darum kümmern mag. Warum betreiben Sie Ihren Salon in Ihrem Wohnzimmer? In Kanada arbeitete ich in einem Salon mit 18 Stühlen. Immer gab es Streit zwi­ schen den Coiffeuren über die Musik, die im Salon gespielt wurde. Und die Kunden lästerten übereinander. Ich schätze die Unabhängigkeit und meine Kunden die intime Atmosphäre. Wie verbringen Sie Ihren Abend? Das Übliche: Essen oder Drinks mit Freunden. Wir bleiben meist hier in Cas­ cais an der Küste oder fahren nach Lissa­ bon. Ausserdem habe ich ein Hobby: Ich male abstrakte Acrylbilder. Mein Wohn­ zimmer ist also nicht nur Coiffeursalon, sondern auch Galerie. Wo machen Sie Ferien? Einmal im Jahr fliege ich nach Kanada, um meine Familie zu besuchen. Im Som­ mer bleibe ich hier und mache Strandfe­ rien in Cascais oder an der Algarve. Werden Sie eines Tages nach Kanada zurückkehren? Ich fühle mich wohl hier und habe vor, in Cascais zu bleiben. Mittlerweile habe ich Freunde hier, der Strand und das Meer sind herrlich. Die Sonne scheint mehr als in Manitoba. Frerk Froböse

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S e ite n b LiCK

iCon poe t

Ode an das Tram

Horror

Autos sind wie streunende Hunde, der Trolleybus ist ein Milchgesicht. Über allen Verkehrsmitteln steht das Tram, erhaben und unnahbar.

Drei Szenen, die das Blut in den Adern gefrieren lassen sollen.

Wann immer jemand auf das Problem des freien Willens zu sprechen kommt, muss ich an Trams denken. Am Tram sollten wir uns alle ein Beispiel nehmen. Das Auto hat einen freien Willen. Es biegt ab, wohin es will, selbst gegen den Ver­ kehr und die Schilder, die sagen: Abbie­ gen verboten! Es kann die Strasse verlas­ sen und über Felder fahren und sieht immer drollig aus, wenn es dies tut. Die Vorstellung eines Autos von Freiheit ist eine leere Strasse, seine Idee von Revolu­ tion heisst Verfolgungsjagd, und seine Vorstellung von einem Heldentod ist der Sturz von der Haute Corniche in die Tiefe, dem eine Explosion folgt. Bewegen wir uns im Schritttempo vor­ wärts und betrachten jenes merkwürdige Zwitterwesen, den milchgesichtigen Trol­ leybus. Er muss an zwei Kabeln festge­ bunden werden, weil seine Gummisoh­ len verhindern, dass der Strom in die Erde fliesst. Schwankend schlängelt er sich durch die Strassen und tut so, als sei er frei. Aber es ist nur die klägliche Freiheit, die Spur zu wechseln, und noch die kleinste Exzentrik eines Trolleybusses wird damit bestraft, dass er einen Menschen darum bitten muss, die Kontaktrolle wieder aufs Kabel zu setzen. Betrachten Sie im Vergleich dazu ein Tram: sein Elefantengewicht, seine ge­ mächlichen, friedlichen Bewegungen, seine olympische Erhabenheit über die leichteren Kreaturen, die um seine Füsse herumwuseln. Das Tram gibt gar nicht erst vor, einen freien Willen zu haben. Man weiss, wenn man in seine Nähe kommt, dass es nichts Schlimmes im

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Sinn hat, und doch könnte es Sie, ohne böse Absicht, unter seinen Rädern zer­ malmen. Selbst die Laute, die ein Tram von sich gibt, um den Weg freizumachen, sind vol­ ler Würde: ein kräftiges Klingeln ersetzt die nervige Hupe. Wenn seine Ampel Grün zeigt, gleitet es majestätisch um die Kurve wie ein Geschöpf, das keine Angst kennt. Das Tram ist unnahbar. Es fährt auf gleissenden Schienen ins Zentrum der Stadt, oft hat es eine eigene, vom Plebs getrennte Fahrbahn, wie für einen königlichen Besucher von Blumenrabat­ ten eingefasst. Das Tram zeigt keinen Gefühlsaus­ druck, es hat keinen Scheinwerfer, um den Weg auszuleuchten, keine Brems­ lichter, um die Unachtsamen zu warnen. Wenn es durch Regenfluten oder Stras­ senkrawalle gestoppt wird, wartet es ein­ fach, bis der Weg wieder frei ist, und setzt sich dann erneut in Bewegung. Das Tram nimmt es genau, es folgt im­ mer demselben Weg wie ein Philosoph auf seinem morgendlichen Spaziergang. Man könnte es als begrenzt bezeichnen, aber wenn es an eine falsch gestellte Wei­ che kommt, die es in einen anderen Stadtteil bringen würde, hält es an und denkt nach, bis es schliesslich das Gleis in die gewohnte Stellung bringt. Davon können Eisenbahnen nur träumen. Der Schriftsteller Henri Michaux ant­ wortete einmal auf die Frage, ob er an Gott glaube: «Nur wenn ich arbeite.» Das ist es: Autos sehen nie aus, als ob sie ar­ beiteten. Selbst bei hohem Tempo erwe­ cken sie den rastlosen Eindruck arglisti­ ger, streunender Hunde. Eisenbahnzüge sind zu gross und zu wild, um sich mit an­ deren gemeinzumachen. Trams haben das rechte Mass: Sie sind ebenso mächtig wie sanft, rücksichtsvoll und unaufgeregt lassen diese urbanen Wahrzeichen der Alten Welt ihre Stufen herab, um uns ein­ steigen zu lassen. Trams wollen nur die Freiheit, das zu tun, wofür sie auf Erden sind. Trams leben, wie mir scheint, im Frieden mit sich selbst.

Beim Cocktail als wahre Geschichte er­ zählt: Ein Tauchgang bei stürmischer See, drachengleich flüchten die Rochen. Im Wrack, das Schott fällt zu, ich bleib hängen. Die Maske beschlägt. Was bleibt, ist Entsetzen. Stephan balke, Schwarzhäusern be

Eine Maske tragend, steige ich nachts, lei­ se wie ein U-Boot durch den Ozean, in dein Schlafzimmer. Mit Glas schneide ich dir die Haut von den Knochen, spanne sie an einen Kleiderbügel und lasse sie wie einen Drachen im Nachtwind steigen. bruno hählen, innertkirchen be

Übervolle Kleiderbügel in der Garderobe, lauwarme Drinks, eine lausige Band, die zum dritten Mal «Yellow Submarine» spielt; und jetzt will noch Frau Isen­ schmid, dieser schwitzende Drache, mit mir tanzen – das war mein erster und letz­ ter Maskenball. michael ritter, eschen (FL)

machen Sie mit: Trumpfen Sie als Weinkenner auf, und beschreiben Sie den Charakter eines edlen Rotweins möglichst kurz und blumig. Ihr Text muss fünf aus den unten abgedruckten Symbolen abgeleitete Worte enthalten (auch im übertragenen Sinn). Die besten Beiträge werden veröffentlicht und mit dem Spiel «Icon Poet» der Gebrüder Frei belohnt (im Buchhandel erhältlich). Schicken Sie Ihren Text bis zum 12.Dezember 2011 an iconpoet@nzz.ch oder an NZZ Folio, Icon Poet, Postfach, 8021 Zürich.

Luca turin Illustration: Fabienne Boldt

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Z e rLeGt

Die Universalwaffe Einst gehörte es zwingend zum gut angezogenen Herrn, aber schon lange fristet das Gilet ein Nischendasein. Dabei hat es gerade dem modernen Mann einiges zu bieten. Mit der Weste wird das Leben des Homo digitalis wieder erträglich. Denn diese praktische Universalwaffe der männli­ chen Garderobe bietet genügend Platz, um alles zu verstauen, was ein Mann mit sich herumschleppt; Smartphone, USB­ Stick, Badge, Schlüssel, Kopfhörer, Visi­ tenkarten. Die körpernah geschnittene Weste nimmt all diese Dinge ohne zu murren auf, wogegen bei Jacke und Hose immer die Taschen ausbeulen. Eine Weste, in der Schweiz auch Gilet genannt, wärmt, kleidet und nützt – ein Bauchansatz lässt sich damit raffiniert kaschieren. Dennoch hat sie die Mode­ welt vergessen. Man bekommt sie in vie­ len Geschäften gar nicht mehr oder nur als dritten Teil von zu pompösen Hoch­ zeitsanzügen. Nach einem Solitär muss man suchen. Doch wenn so kommerziel­ le Trendmarken wie Scotch & Soda aus Amsterdam den Klassiker wieder aufle­ gen, besteht Hoffnung auf ein Comeback. Ihre beste Zeit hatte die Weste, die der Legende nach zuerst von Englands König Charles II. um 1660 getragen wurde, etwa zwischen 1750 und 1910. Damals waren Männer, die zwischen Hemd und Jackett keine Weste trugen, unvollständig geklei­ det oder schlimmer: Man konnte sie gar nicht ernst nehmen. Denn die Weste war ein Zeichen von Wohlstand und Status, für das man gern etwas kostbarere Stoffe oder auch Stickereien verwendete. Schuld am Verschwinden der Weste war die US­Konfektionsindustrie, die An­ fang des 20. Jahrhunderts eine von den englischen Traditionen unabhängige Form von männlicher Eleganz formulier­ te und dabei als erstes die Weste aus dem Programm kippte. Der Zweite Weltkrieg tat sein Übriges: In vielen Ländern Euro­ pas war es wegen der Rationierung der Stoffe gar nicht mehr erlaubt, Westen zu schneidern. In den 1950er Jahren be­ mühte sich eine «neo­edwardianische» Gruppe von Schneidern in London dar­ um, der Weste neuen Kredit zu geben, doch vergeblich: Die Männer hatten sich inzwischen an das Leben ohne gewöhnt. Die auf dieser Seite zerlegte, recht gerade geschnittene und vierknöpfige Weste von Scotch & Soda aus reiner

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Weste, 100% baumwolle, von Scotch & Soda, 190 Franken.

Baumwolle wird am Ende ihres Verarbei­ tungsprozesses stückgefärbt; das gibt ihr den unregelmässigen, leicht knittrigen Vintage­Effekt. Dass beim Färben und Waschen die Vlieseinlage des Innenfut­ ters zerfetzt wird, sieht nur der, der das Teil zerlegt. Praktisch und genügend gross proportioniert sind die drei einge­ stürzten Leistentaschen sowie die kleine, für eine Taschenuhr oder Visitenkarten geeignete Innentasche im linken Brust­ teil. Dass der Rücken nicht aus billiger Kunstseide, sondern aus demselben Twill gefertigt wird wie das Vorderteil, gibt dem

Gilet eine robuste, alltägliche Note. Das verstellbare Rückenband erlaubt es, die Taillierung etwas nachzubessern. Fast zweihundert Franken sind für ein in China in Grossserie gefertigtes Klei­ dungsstück zwar eine stolze Summe, doch irgendwoher muss es ja rühren, dass der Einzelhandel Scotch & Soda ge­ rade so verehrt: Die Marke macht noch richtig schön fette Margen möglich. (Das zerlegte Gilet ganz: Seite 80.) Jeroen van rooijen Foto: Patrick Rohner

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AU CH SCH Ö N H EIT EN TS P R I N G T D ER I N G EN I EU R S K U N S T. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NbIwNAEAzbfDog8AAAA=</wm>

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R ÄT S E L

Das Single-Traumpaar Wer aussieht wie sie, hat viele Bewunderer. Manch einen hat sie abgewiesen. Aber warum hat sie ihn nie erhört, mit dem sie eigentlich zusammen ist? Raten Sie mit – und gewinnen Sie! wird es ganz seltsam, ist da noch ein Dritter, noch ein Er. Ein Gnom, verglichen mit unserem Single, und auch von viel schrofferem Wesen. Wäre dieser Dritte vielleicht … Aber nein, wir bleiben bei unserem Single-Traumpaar. Wie heissen die beiden?

Sind sie nicht das Schweizer Traumpaar schlechthin? Obwohl sie schon eine gefühlte Ewigkeit beisammen sind, handelt es sich dennoch um zwei Singles, das steht doch ausser Frage. Das verwirrt Sie jetzt? Wir sind eben ein Rätsel hier und kein Speed-Dating-Event. Warum haben sich die beiden bloss nie getraut, haben nebeneinanderher gelebt, ohne den entscheidenden Schritt zu gehen? Vielleicht liegt es daran, dass sie doch ein Stück höher gewachsen ist als er, auch wenn er sich in den letzten Jahren bemühte, grösser zu erscheinen. Vielleicht konnte er nicht verwinden, dass sie eine Menge Bewunderer hat. Kein Wunder bei ihrem Aussehen. Johann, der erste Mann, der mit ernsthaften Absichten daherkam und sie beinahe nicht gefunden hätte, eroberte sie beim ersten ernsthaften Annäherungsversuch im Sturm. Na schön, es geschah nicht gleich am ersten Abend, doch zwei oder drei Tage später. Dafür wurde sie dann vom Geschwätz der Leute zu Johanns Madame erklärt. Viele spätere Bewerber wies sie ab, wenn auch nicht alle. Er, der Single, schmollte – oder interessierte ihn die Liebe am Ende gar nicht? Sie, so kann man argumentieren, bewahrte ihre Tugend dennoch. Ob sie wartet, dass er ihr einen Antrag macht? Das wird er nicht, denn das würde unser Weltbild auf ewig erschüttern. Und es würde ihren bisher mit Geschick verteidigten Ruf arg gefährden. Falls Sie nun meinen, trotz dem Singledasein verbinde das Traumpaar doch sozusagen das Joch der Ehe, dann liegen Sie nicht ganz falsch. Eigentlich, und nun

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Auflösung des Rätsels aus Folio 11/11 Vermutlich muss man für kein anderes Produkt so lange vorausplanen wie für das Anpflanzen, die Aufzucht und Pflege von Eichen (Quercus): 150 oder 200 Jahre dauert es, bis der langsam wachsende Baum geschlagen und zu Bauholz wird. Die neue Fussgängerbrücke von Rapperswil nach Hurden ist aus Eichenholz. Vom alten, geländerlosen Steg waren Hunderte von Fussgängern ins Wasser

gestürzt und ertrunken: 540 Todesopfer wurden in den Jahren von 1360 bis 1878 gezählt. Nach der letzten Eiszeit wanderte die Eiche wieder in die Schweiz ein. Einsenden und gewinnen: Wer das Rätsel gelöst hat, kann die Antwort an folioraetsel@nzz.ch schicken (oder per Post an Verlag NZZ Folio, Rätsel, 8021 Zürich). Aus den Einsendern der richtigen Lösung wird ein Gewinner ausgelost, der eine exklusive Folio-Tasche erhält. Einsendeschluss ist der 12. Dezember 2011; der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Ende 2012 werden alle Monatsgewinner überdies zu einem Nachtessen mit dem Rätselmeister CUS eingeladen. Gewinnerin des November-Rätsels war Mary Engler aus St. Gallen.

CUS Illustration: Anna-Lina Balke

B I N DE RS V E X IE RB I LD

Wo ist Jane Birkin?

Aus Gründen des Urheberrechts nicht elektronisch erhältlich.

Auflösung auf Seite 80.

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Li e b h a b e r

Abwesend nur für die anderen Der Schriftsteller Cees Nooteboom sah im Juni 1957 die Niederlande hinter sich verschwinden und ist, wie er sagt, «nie mehr ganz zurückgekehrt». Eine existentielle Angelegenheit. Ihn zu erwischen ist, als wolle man einen Floh fangen. Immer die Frage: Wo steckt er jetzt? Hin und wieder kommt eine E­ Mail im Telegrammstil: In Eile, bin in Ve­ nedig, nächste Woche im Allgäu. – Viel­ leicht in London im Juni? Danach schlecht, drei Monate Lateinamerika, Medellín, Bogotá, Buenos Aires, zurück im September. – Dieses Wochenende in Düsseldorf, dann Brüssel, wahrschein­ lich Paris wegen Fernsehsendung. – Mor­ gen Amsterdam, in einer Woche mit Boot über Palma nach Barcelona: 15 Stunden Schiff, dann Madrid. Gruss C. N. Doch plötzlich die Chance, Cees Nooteboom dingfest zu machen, im Oktober auf Menorca, seinem zweiten Wohnsitz neben Amsterdam. «Wir sind nur schwer zu finden», sagt er, «dafür wunderbar isoliert.» So soll es wohl sein. Grau ist der Himmel über Mahón, es stürmt. Die Palmen an der Promenade biegen sich im Wind, das Meer, in Schach gehalten von diesem zweitgrössten Na­ turhafen der Welt, begehrt nur leise auf. Wie viele Meere Nooteboom wohl schon betrachtet hat? Und beschrieben in fünf­ zig Jahren Weltenbummelei? «Ein endloser Platz grünes Wasser, voll springender Scherben, schmerzen­ den Lichts.» Das sieht der junge Matrose in «Der verliebte Gefangene», 1957 war das. Nooteboom hatte auf der «San Rio» angeheuert, den Atlantik überquert, Hä­ fen besucht, die Namen tragen wie tropi­ sche Früchte – Paramaribo, Moengo, Saint­Laurent­du­Maroni. «Da wusste ich bereits, dass es etwas bedeutet, Schriftsteller zu sein», sagt Nooteboom. Nur was? Ein paar Jahre zuvor, mit 17, noch be­ vor er von der Klosterschule geflogen war, hatte er sich zum ersten Mal auf den Weg gemacht – mit dem Fahrrad von Hil­ versum in Holland bis nach Belgien und Luxemburg, «erste Grenzen, erste Na­ men, erste Hügel, erste Schlösser». In sei­ nem Reisetagebuch allerdings entdeckt der Schriftsteller fünfzig Jahre später «nirgends auch nur einen Hauch von Ta­ lent». Dennoch war es die Initialzün­ dung, «die erste Konfrontation mit dem anderen».

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Seit er sich mit 19 Jahren einen rucksack geschnappt, seiner mutter mitgeteilt hat «ich gehe jetzt» und sich als anhalter an die Strasse gestellt hat, ist Cees nooteboom unterwegs.

Er reiste als Tramper kreuz und quer durch Europa. Die Erlebnisse verschmol­ zen zu dem Roman «Philip und die an­ deren», ein erfolgreiches Début. Plötzlich nannte man ihn Schriftsteller. «Doch was bedeutet das in der täglichen Wirklich­ keit?» Nooteboom wusste es nicht.

Nomadenstamm aus zwei Personen Im Roman «Der Ritter ist gestorben» ging er dieser Frage nach; es sollte 17 Jahre lang sein letzter sein, bis 1980 «Rituale» den internationalen Durchbruch brach­ te. Bis dahin hatte er Reisereportagen ge­ schrieben, Erfahrungen gesammelt und versucht herauszufinden, wie beides zu­ sammenhing: Reisen und Schreiben. Es schien, als könne die Denkfabrik Noote­ boom nur mechanisch betrieben werden.

Unterwegssein, Betrachten und Den­ ken ermöglichen ihm das Schreiben, «die­ ses unvergleichliche Ineinandergehen von Poesie und Philosophie», das ein Kri­ tiker schon im Début­Roman erkannte. Und so ist er nun mal wochen­, mal monatelang unterwegs, vor allem in Süd­ amerika, Europa und Asien. Ein Einzel­ gänger in Begleitung. Seit dreissig Jahren reist Nooteboom mit seiner Frau, der Fotografin Simone Sassen. Oder wie er es formuliert: «Ich bin ein Nomadenstamm, der aus zwei Personen besteht.» Vielleicht komme der Hang zum No­ madischen aus seiner Kindheit, sagt Nooteboom. Zwischen seiner Geburt 1933 und dem Zweiten Weltkrieg sind seine Eltern acht Mal umgezogen. Folge dieser Unrast sei, dass er sich an die ers­

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ten zehn, zwölf Lebensjahre nicht erin­ nere. «Nur vereinzelte Bilder – mein Va­ ter, wie er stehend etwas isst. Oder wie er im Kriegswinter 1944 einen Rahmen spannt, um Vögel zu fangen.» Im Jahr darauf starb er bei einem Bombenangriff auf Den Haag.

Briefe an Poseidon Jeden Sommer zieht der Nomaden­ stamm auf diese Baleareninsel, ganz in den Süden nach San Luis. Breite Mauern aus geschichteten Steinen unterteilen das Land in zahllose Parzellen, machen es zum Labyrinth, Nootebooms Haus ist das letzte in der Strasse. Ursprünglich ge­ hörte es einem Kleinbauern, nun gärtnert hier der Schriftsteller. Schön sieht es aus. Und wer «Roter Re­ gen» gelesen hat, war schon einmal da. Er weiss von den Palmen, die Nooteboom gepflanzt hat, von Maria, der Nachbarin, und natürlich von Fledermaus, der Katze, beide schon lange fort. Dafür schreit jetzt ab und zu ein Esel hinter irgendeiner Mauer. «Hören Sie!» sagt Nooteboom, «gleich antwortet der andere. Die haben sich noch nie gesehen, aber sie unterhal­ ten sich oft.» Hinten im Garten ist das Studio – ein schlichter weisser Raum mit einer über­ schaubaren Zahl Bücher, einem langen Tisch, einem roten Lederstuhl und einem Laptop. Hier in dieser Mönchszelle, und nicht unterwegs, werden die erbeuteten Weltfragmente verwoben, werden neue Geschichten ersonnen. Zurzeit schreibt Nooteboom Briefe an Poseidon, kein Wunder, dass die zwei sich über die Jahre nähergekommen sind. Nooteboom sagt, er frage den Mee­ resgott zum Beispiel, wie das sei mit der Unsterblichkeit – ob man die Menschen verachte oder beneide. Manchmal erzähle er ihm auch ein­ fach nur eine Geschichte, wie die von Mann und Frau, die nach dreissig ge­ meinsamen Jahren heiraten wollen, und kurz vor der Hochzeit stirbt die Frau. Un­ tröstlich wendet sich der Mann an einen Priester, fragt, ob sich da nichts machen liesse. Und so vermählt der Priester den Mann mit dem Hut seiner Frau. «Das ist ein kleiner Brief. Damit kann er tun, was er will», sagt Nooteboom und meint Po­ seidon. 75 Briefe sollen es werden, 69 hat er schon. Lauter Fundstücke aus Süd­ amerika. Ginge es nach ihm, könnten sie gleich wieder hinfahren. «Ich war sehr glücklich

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dort», sagt Nooteboom. Er hat auf dem Poesiefestival in MedellÍn gelesen. Und plötzlich habe er gedacht: Amazonas! Wunderbar! Zumal er gerade das Buch eines Freundes über die Anden in Ecua­ dor las. «Diese Vulkane möchte ich se­ hen.» Gedacht, getan. So bahnen sich Nooteboom und Sassen ihren Weg über die Erdkugel, wobei Sassen nicht selten das Organisatorische erledigt. Packen zum Beispiel. «Wenn ich meinen Koffer auspacke, habe ich das Gefühl, ich ver­ nichte ein Kunstwerk, so sehr hat sie es inzwischen perfektioniert.» Irgendwo angekommen, «muss ich loslaufen und die Stadt haben, muss ver­ stehen, wo ‹es› ist», sagt Nooteboom. Da­ für entwickle man keine Technik, aber Intuition. Und nicht immer ist es notwen­ dig, mit den Menschen zu sprechen, um zu begreifen, wer sie sind und wie sie le­ ben. In Ushuaia zum Beispiel, der vor­ letzten Bastion vor dem Südpol, betrach­ tet Nooteboom lieber ein uraltes Radio aus Kolonialzeiten, das die Briten einst angeschleppt haben, und stellt sich vor, wie «sie hier gesessen und fernen eng­ lischen Stimmen gelauscht haben». Das ist Nootebooms Welterfassung. «Meine Frau sagt: ‹Du findest immer das richtige Restaurant.›» Was Hotels angehe, brauche er keinen Luxus. Als man ihn in Delhi mal in das «Oberoi» einquartiert habe, habe er den Concierge gebeten, ihm in Varanasi ein einfaches Hotel zu empfehlen. Er fand ei­ nes, das so «basic» war, dass es nur so viel kostete wie im «Oberoi» ein Glas Wein. Auch zum «Oberoi» sei er immer im Tuk­ tuk gefahren, obwohl die nicht vor dem Haupteingang halten dürfen. «Ich liebe den öffentlichen Verkehr», sagt Nooteboom, «man ist damit doch mehr im Land.» Gleichzeitig werde man zu dem, was man wirklich sei, zu «einem totalen Aussenseiter, der nirgendwo hin­ gehört». Für ihn ist das «ein Gefühl von fast metaphysischer Gelassenheit». Doch dann wieder sieht er Sardana­ tänzer vor der Kathedrale in Barcelona – wie die Leute einen Kreis machen, wie sie einander die Hände geben, wie sie zu ein­ dringlicher Musik diese komplizierte Schrittfolge tanzen. «Da kommen mir die Tränen. Sie haben etwas, das ich nicht kenne, etwas, was ich wahrscheinlich gar nicht wollen würde. Trotzdem hat es et­ was sehr Schönes.» anja Jardine

Älter als Grappa.

1779 in Bassano del Grappa, Provinz Veneto: Bortolo steht an den kupfernen Brennblasen in seiner Osteria direkt an der Brücke über die Brenta. Er hat vor einigen Tagen Vinello gekostet, den die Bauern der Region aus Grespa brennen, dem Traubentrester. Der kantige, trübe Branntwein hat einen vollmundigen Kern, den Bortolo vollenden will. Seine Bemühungen werden belohnt. Was aus dem gläsernen Ausguss fliesst, ist der Anfang einer erfolgreichen Geschichte. Der Geschichte der Distilleria Bortolo Nardini. Und da es Grappa bis dahin nicht gegeben hat, steht bei Nardini noch heute die traditionelle Bezeichnung «Aquavite». <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0srQ0MAEAqrc73w8AAAA=</wm>

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Ich liebe dich

Wo bist du?

nach vier e-mails schlägt Judit das hotel bellevue in bern als treffpunkt vor: «Um 19 Uhr in der Lobby, in der nähe vom Klavier.»

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Ein bisschen Unendlichkeit Johann trank in diesem Jahr Kaffee mit Suza und Elena, spazierte neben Livia – bis ihm auf einer Hochzeit Lara begegnete. Von Gudrun Sachse

Kaum ist der Schmerz einer gescheiterten Liebe vergangen, erwacht erneut die Sehnsucht nach ihr. Den ewigen Kreis­ lauf von Schmerz und Sehnsucht, wir tun ihn uns an, «weil nur die Liebe schafft, dass wir uns unendlich fühlen», sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Diese Unendlichkeit dau­ ert oft nur Sekunden, sagt er – niemals aber könne sie ein ganzes Leben lang anhalten, wer sich das erhoffe, scheitere. Johann erhofft sich keine ununterbrochene Glückselig­ keit. Aber vermutlich wolle er noch immer zu viel, sagt er. Eine Beziehung, in der sich Lieben und Geliebtwerden die Waage halten. Er hält inne, dann fragt er: Ist das wirklich zu viel? Johann ist 31. Vor vier Jahren zog er aus seiner Studen­ tenbude in Göttingen nach Zürich in den Kreis 5 in eine Wohngemeinschaft. Die Wohnung liegt in einem Neubau neben trendigen Bars und Geschäften unter Viaduktbogen. Das Wohnzimmer ist gross, fast ein Saal. Mit Maja und Jo­ hannes teilt er sich eine braune Couch, einen flachen Fern­ seher, die offene Küche, einen Balkon mit Hängematte in dezentem Beige und ein Bad. Aus seinem Zimmer sieht er in einen Innenhof mit schlanken Bäumchen. Meist aber sind die luftigen Vorhänge vor den grossen Fensterschei­ ben zugezogen. Um sieben Uhr morgens klingelt Johanns Wecker. Du­ schen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, den Trams ausweichen, eine quälende Steigung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Hier schreibt er an seiner Dissertation in Organisationspsychologie, Thema: Sicher­ heitsvorschriften bei der Bahn. Die vorbereitenden For­ schungen dazu verschlangen Jahre. Drei Aufsätze sollen es werden. Seit einem Jahr ist sein erster Aufsatz fertig – genau so lange ist sein letzter Liebeskummer her. Daniela meldete sich für ein Zimmer in der Wohnge­ meinschaft. Man war sich auf Anhieb sympathisch. Zwei Monate hoffte er auf ihre Liebe, am Ende siegte Danielas Exfreund. Auf seinem Bett schrieb er ihr Briefe – abge­ schickt hat er sie nie. Fünf Jahre ist Johann schon Single. Fünf Jahre durch­ streift er mit allzeit bereitem Herzen die Stadt und das In­ ternet. Lernt er eine kennen, ist er zurückhaltend. Seinen Entscheidungen lässt er Zeit zum Reifen. Oft bis zur Über­ reife. Anders als ein Bär, der die Früchte noch sauer und grün verspeist, wartet Johann ab, bis sie reif und süss sind – in der ständigen Gefahr, dass sie ein anderer vor ihm schnappt. Es ist ein Dilemma, dessen ist sich Johann bewusst. Viel­ leicht liegt es aber auch daran, dass er sich in den fünf Jah­ ren an seine Freiheiten gewöhnt hat. Soll er die für eine unreife Stachelbeere aufs Spiel setzen?

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Weihnachten 2010 verbringt Johann in Schweden mit El­ tern und Geschwistern. Er sitzt im Zug und schaut aus dem Fenster ins tief verschneite Land. Johann ist eine angeneh­ me Erscheinung, schlank, dunkle Haare, Augen, die sich dem Himmel anpassen, mal etwas blauer, heute etwas grauer. Seine Hände mag er, sagt er, und auch seine Beine kämen bei Frauen gut an. Es wird eine geben, die seine Zahnlücke oben links lieben wird. Doch bis dahin werden noch Monate vergehen. Das Ferienhaus in Småland kauften seine Eltern vor 15 Jahren. Seine Mutter ist 67, Psychologin, sein Vater 70, pen­ sionierter Pädagoge. Nachdem sie zwei Kinder adoptiert hatten, kamen die eigenen – zuerst Johann, dann Michael. Im weiten Garten werkeln die Eltern, die Birken sind in Kälte erstarrt. Johann mag die Ruhe. In Småland wird ihn sein Vater fragen, weshalb er keine Freundin habe. Eine bisher nie gestellte Frage. Johann wird einen Moment irritiert sein und antworten: «Ich bin wohl zu wählerisch.» Sein Vater wird nicken, ihm keine Ratschlä­ ge erteilen, ihm einfach nur ermutigend auf die Schulter klopfen. Johann ist das recht. Null Grad in Zürich. Am Nachmittag des 31. Dezember legt Johann Jeans, ein dunkles Hemd und den dazu passenden Blazer aufs Bett. Ja, so kann er ihr gegenübertreten. In sei­ nem Kopf geht er Stunde um Stunde durch, sein Hirn er­ hitzt sich; er gibt sich geschlagen. Warum den Abend nicht einfach auf sich zukommen lassen, anstatt ihn jetzt schon durchzuplanen? Johann lernte Dina auf der Weihnachtsfei­ er an seinem Institut kennen. Sie unterhielten sich und stellten fest, dass sie Silvester auf derselben Feier verbrin­ gen würden. Sie war witzig, sah gut aus, dissertierte wie er. Johann ist zuversichtlich. Minus drei Grad. Johann macht sich auf den Weg. Als Gastgeschenk eine Flasche Wein in die Umhängetasche ge­ steckt. Die Gäste sitzen an einem langen Tisch und schie­ ben warmen Käse auf die Gabeln. Dina und Johann tau­ schen ein paar Sätze: «Was macht die Diss?» – «Ganz gut, und deine?» Kein Fünkchen, das überspringt. Um Mitter­ nacht gehen die Gäste auf die Dachterrasse, schauen in den erleuchteten Himmel Zürichs, johlen bei jeder Rakete und prosten dem neuen Jahr zu – wer eine Liebe hat, küsst sie. Der Himmel ist klar. Nur die zu hoch geschossenen Rake­ ten gehen im Nebel unter. Johann hatte sich den Abend anders vorgestellt. Er hatte sich Dina anders vorgestellt. Noch nie war es so einfach, einen Partner zu finden, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Musste man vor zwanzig Jahren noch Discos abklappern und die mögliche Partnerin

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Johann, 32: «ich bin wohl zu wählerisch.»

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ich liebe dich – wo bist du?

in stundenlangen Gesprächen nach Vorlieben und Ge­ meinsamkeiten aushorchen, genügen heute einige Klicks im Internet, eine Suchanfrage nach dem Partner mit dem erwünschten Profil. Man wisse, was man bekomme, habe mit keinen Überraschungen zu rechnen, die einen auf «Start» zurückwürfen – wenn sie etwa plötzlich Kinder wol­ le, er aber nicht. Was Experten als kurzen Weg bezeichnen, ist Johanns persönlicher Gang nach Canossa. Er weiss das, er war bei Parship und Elite Partner. Noch bevor man sich begegnet,

Fünfzehn Frauen haben sich auf seine Anzeige gemeldet. Für Johann nicht nur Grund zur Freude. kehre man sein Innerstes nach aussen, sagt er. Irgendwie erniedrigend. Ohne die «natürliche Phase des Kennenler­ nens» fühlt sich Johann überfahren. Und doch versucht er es erneut. Im Online­Stadtmaga­ zin Ronorp schaltet er eine Anzeige. Unter «Mann sucht Frau» schreibt er: «Alle guten Männer sind vergeben? Kann ja nicht sein, sonst wäre ich nicht Single.» Er sass lange über diesem Satz, der witzig sein sollte, nicht abgedroschen oder plump. Der ein bisschen sein sollte wie er – charmant. Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Duschen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, den Trams auswei­ chen, eine quälende Steigung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Die Einsamkeit des Schreibens. Abends trinkt er mit Freunden ein Bier, geht ins Kino oder liest. Ab und zu ein Telefonat mit seinen Eltern, bei denen er mit 19 Jahren auszog, um Psychologie zu studieren. Und immer kontrolliert er die Mails. Fünfzehn Frauen haben sich auf seine Anzeige gemel­ det. Für Johann nicht nur Grund zur Freude. Fünfzehn Blind Dates bedeuten fünfzehn Treffen, in denen das Un­ verbindliche gleich verbindlich würde, in denen «sie weiss, was ich will, und ich weiss, dass sie einen sucht». Johann möchte nicht fünfzehn Frauen «abarbeiten», er will sich Zeit nehmen und entscheidet sich für fünf Bewer­ berinnen. Johann sitzt im Café Elena gegenüber. Er schaut in ihre Augen, er achtet auf ihr Lächeln, auf ihre Stimme, die er eher tief mag, nur nicht gepresst. Sie unterhalten sich freundlich und verabschieden sich «kurz und schmerzlos». So geht es ihm mit Elena, mit Suza, mit Nathalie. «Anders als in früheren Zeiten können moderne Menschen problemlos alleine leben», sagt Wilhelm Schmid. Für dieses Modell spricht, dass es viel Ärger erspart. Nicht erst in der Beziehung, auch auf der Suche danach. Johann meldet sich für einen Singles­Walk an. Fünfmal jährlich spaziert Tanja Gentina zwei Stunden mit Suchen­ den durch Zürich. Unter Bäumen, an Brunnen oder auf lauschigen Plätzen stellt sich Tanja Gentina in die Mitte des

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Grüppchens, liest ein Gedicht zur Liebe und bittet die Teil­ nehmer – einen nach dem anderen –, sich vorzustellen. Johann hat für den heutigen Tag die Farben des Gross­ wildjägers gewählt: grünes Hemd, khakifarbene Hosen mit geräumigen Taschen, in der einen steckt ein Sonnenhut. Sieben Frauen und sieben Männer versammeln sich beim Landesmuseum, wo Limmat und Sihl ineinanderfliessen. Eine Teilnehmerin schaut in die Gesichter der Anwesen­ den, dreht sich um und geht wieder. Wer seine Zeit mit Partnersuche verbringt, muss sie bewusst einsetzen, zwei Stunden am falschen Ort sind zwei Stunden weniger am vermeintlich richtigen. Johann sind die Frauen «zu alt», das sah er schon, als er ankam. Aber er bleibt im Halbkreis ste­ hen, «wo ich nun schon mal hier bin». Als erster stellt sich Peter vor. Der 42jährige ist nach ei­ ner Woche Sportferien auf Sardinien gesund gebräunt. Ein Tausendsassa mit einnehmendem Lächeln, das er Livia et­ was länger als den anderen Anwesenden schenkt. Ausge­ rechnet Livia, ist sie doch die einzige Frau an diesem Nach­ mittag, die Johann trotz ihren 37 Jahren kennenlernen möchte. Wüsste er, wie, würde er sie ansprechen – bevor Peter das tut, wenn möglich. Livia trägt ein Sommerkleid, rote Blumen auf weissem Grund, den Hut eines Dandys keck auf dem Kopf. Tanja Gentina liest «Klärchens Lied» von Goethe: «Glücklich al­ lein ist die Seele, die liebt …», dann führt sie die Gruppe auf einem hölzernen Steg der Sihl entlang. Max ist mit dabei. Zehn Jahre war er verheiratet, jetzt habe seine «Noch­Ehefrau» einen Neuen und sauge ihn fi­ nanziell aus. Michael war 17 Jahre katholischer Priester, er lebte und arbeitete im Vatikan. Der Papst grüsste ihn mit Namen, wenn er an ihm vorbeiging. Klaus, Vater dreier Kinder, trennte sich nach 17 Jahren von seiner Frau, weil es nicht mehr passte. Angela ist seit vier Jahren Single – wie die meisten hier. Sie teilte den Mann mit einer anderen, bis sie genug davon hatte, die Stunden zu zählen, die er mit der Konkurrentin verbrachte. Die Liebe entzauberte sich. Nach dem schlimmsten aller Gefühle, der Verlorenheit, fand sie den Weg zurück zu sich selbst und schliesslich hierher zum Spaziergang. Gemeinsam erklimmt die Gruppe die Steinstufen des al­ ten botanischen Gartens. Es ist warm, in der Luft hängt der Duft blühender Sträucher. Johann ist der Jüngste in der Runde, vor Peter, der ihm, zugegeben, Sorgen bereite. Thy­ mian, Oregano und neben dem Kräutergarten Johann, der sich in wenigen Sätzen charakterisieren soll, der attraktiv und witzig rüberkommen soll, der Livia beeindrucken soll, wählt als Einstieg seine Doktorarbeit. Er zweifelt an der Glaubwürdigkeit der Hobbykataloge, die seine Vorredner runterleierten: Zehnkämpfer, Tierschützer, Weltenbumm­ ler und nebenbei noch Führungskraft. Nach seinem Plädoyer geht er den restlichen Weg allein. Im Restaurant bestellt er eine grosse Apfelschorle. Am an­ deren Tischende sitzt ein gutgelaunter Peter vor seinem Bier und prostet Livia zu. Peter sei ein geübter Spaziergän­

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ich liebe dich – wo bist du?

ger, hat Johann herausgefunden. Vier Mal sei er bereits beim Singles­Walk dabei gewesen. Vorsprung durch Erfah­ rung. Nervlich sei er eindeutig besser gerüstet. Tanja Gentina leitet seit zwei Jahren die Spaziergänge. In dieser Zeit weiss sie einzig von einem Paar, das sich gefun­ den hat. Dass es hier auf Anhieb klappe, sei unwahrschein­ lich, sagt sie. Aber hier lasse sich die Kunde streuen, auf

Das Telefon klingelt. Seine Eltern singen «Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen». Heute wird Johann 32. dem Markt zu sein, sagt sie. Im Grunde sei es simpel: «Je mehr es wissen, desto grösser die Chancen, jemanden ken­ nenzulernen. Am Ende hilft nur Mundpropaganda.» Der Abend ist warm, Livia und Peter wollen noch weiter an den See. Johann – warum eigentlich nicht – schliesst sich an. Eine Stunde später hat er nicht ins Gespräch gefunden. Aus dem «Warum eigentlich nicht?» wurde ein «Warum tue ich mir das eigentlich an?». Weil Menschen energiebedürftige Wesen seien, sagt Wilhelm Schmid. «Und sind Begegnungen manchmal auch schmerzlich – sie sind der einzige Weg, einen Menschen zu finden, der unglaubliche Energien im eigenen Selbst frei werden lässt.» Es ist der 1. Juni, 7 Uhr 30. Das Telefon klingelt. Maja bringt es Johann ans Bett. Seine Eltern singen «Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen». Heute wird Johann 32. Im Regal stehen die Eltern gerahmt und lächeln ihn an. Ein harmonisches Paar. Abends grilliert Johann Steaks, Würste und Hühner­ schenkel auf dem Balkon. Den Kartoffelsalat machte er un­ ter Anleitung seiner Mitbewohnerin Maja mit Mayonnaise und Gurkenwasser, lecker, aber nicht leicht. Im Wohnzim­ mer stellen sie zwei Tische zusammen. Als er seine Freunde kennenlernte, waren alle noch Singles. Jetzt halten seine Freunde ihre Partnerinnen im Arm oder streichen sanft über wachsende Babybäuche. Wäre Johann eine Frau, spräche man von Torschluss­ panik, sagt ein Freund und prostet ihm zu. «Lass es auf dich zukommen, mach deine Dissertation, dann hast du den Kopf frei – was willst du dir jetzt noch eine Frau in dein Leben quetschen?» rät ein anderer. Die Sprüche kennt er. Er hasst sie alle, doch der schlimmste sei der: Abwarten, nur kein Stress, dann werde sich was ergeben. Wie aber solle man passiv suchen? Ent­ spannt und doch aktiv? Wenn er eine Frage an Wilhelm Schmid hätte, dann würde er ihm diese stellen. «Raus, ran, auf das Zufallsglück hoffen. Allerdings mehr als hoffen geht nicht», sagt Schmid. «Wir können diesen Zufall nicht herbeiführen, aber immerhin wahrscheinli­ cher machen.» Das Leben hat einen zeitlichen Rahmen, und der setzt Suchende unter Druck. Zufälle sind der un­

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kalkulierbare Faktor in diesem Spiel, und die Kunst besteht darin, sie für die Liebe zu nutzen. «Ich habe keine Lust mehr», sagt Johann Mitte Juli. Johann trägt jetzt einen Bart, ums Handgelenk ein Lederband, die Hemdsärmel hochgekrempelt. «Ich habe keine Lust mehr, ich habe sie gefunden», sagt er und spricht in dieser einen Stunde mehr als sonst in zwei. Lara ist ein unerschöpfliches Thema. Ein wunderschönes Thema. «Lara ist wunder­ schön», sagt Johann. Er erzählt von der Reise nach Nordhessen, die er antrat ohne Hoffnung. Er erzählt von der «schönen» Burg, auf der die «tolle» Hochzeit stattfand. Schon kurz nach der Ankunft sei sie ihm aufgefallen. Das schwarze Kleid, die kurzen, dunklen Haare. Ab und zu kreuzten sich ihre Blicke. Als führte ihn ein Magnet, suchte er ihre Nähe. Ein Freund machte ihm Mut: Sprich sie an. Johann tat es. Er zeigt auf seinem iPhone die Fotos: Hier steht er und singt mit Kollegen ein Hochzeitslied für das Brautpaar. Läs­ sig, eine Hand am Mikrophon, in der anderen ein Bier, im Festsaal der Burg. Da hinten steht Lara. Man sieht nur ei­ nen kleinen Teil des dunklen Haares. Lara neben Freun­ den, Lara ins Gespräch vertieft. Er erzählt, dass sie sich an die Bar setzten und dort bis morgens um drei Uhr blieben. Er wartete auf ein Zeichen, eine kleine Berührung, ein zufälliges Streifen der Arme, der Beine. Sie redeten, und er bekam kurze Einblicke in ihr We­ sen. Momente, wie man sie bei einer Bergtour hat, wenn die Bäume den Blick auf das Tal freigeben. Die Sicht gefiel ihm. Als er sie fragte, ob sie mit ihm Essen gehen würde, und Lara zusagte, war es um ihn geschehen. Dass sie in Hamburg lebte und er tausend Kilometer weiter südlich, hinderte ihn nicht daran: Ihm wurde schwindlig vor Glück. Als wäre er auf dem Gipfel angelangt und blickte direkt in die gleissende Sonne. Er war unfähig, die einfachsten Schritte zu tun – sollte er sie küssen, berühren? Um vier Uhr umarmten sie sich und wünschten sich eine gute Nacht. Im August kommt Lara nach Zürich. Johann erwartet sie auf dem Perron. Sie spazieren zu ihm nach Hause, den Bars und Geschäften entlang durch den Regen. In seinem Wohnzimmer macht er ihr die grosse Ledercouch für die Nacht bereit. Am nächsten Tag fahren sie mit dem Zug nach Luzern. Tretbootfahren auf dem Vierwaldstättersee, historische Holztafeln studieren auf der Kapellbrücke, das ganze Pro­ gramm. Abends ein Open­Air­Jazzkonzert. Am Seeufer legt er den Arm um sie. «Ich finde dich toll», sagt er. Lara nimmt seine Hand und hält sie fest. Zu Hause in Zürich legt Johann Jamie Cullum auf. Lara schläft in dieser Nacht nicht auf der Couch. Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Duschen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, eine quälende Stei­ gung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Sein Aufsatz

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ich liebe dich – wo bist du?

schreibt sich locker. Die Seiten füllt er mit Leichtigkeit. Zwei Drittel sind geschafft. Bald ist Wochenende, das Zug­ billett gekauft. Anfang September ist Johanns Glück einer Nervosität gewi­ chen. Er sitzt in seinem Büro, lächelt tapfer und hält daran fest, dass alles gut werden könnte, aber: Die Turbulenzen der letzten Wochen hätten ihm zugesetzt, sagt er. «Das ist alles nicht so einfach.» Was ist nicht einfach? «Die Sache locker anzugehen. Lara und ich sollten uns erst mal kennenlernen.» Macht ihr das nicht seit Wochen? «Ich mag sie, sie ist attraktiv, ich bin gerne mit ihr zusam­ men. Aber diese Beziehung okkupiert mein Leben.» Tut das nicht jede Beziehung? «Es gibt Phasen, da bin ich mir unsicher, ob sie mich wirk­ lich mag.» Wie kommst du darauf? «Sie sagt, sie sei sich unsicher.» Hmm. «Es ist schwierig.» Hmm. «Bei meiner ersten Beziehung war der Anfang allerdings auch holprig, im Grunde waren wir erst nach einem halben Jahr zusammen.» Warum wagt ihr es nicht einfach? «Es ist lange her, dass wir beide Beziehungen hatten.» Warum geniesst du nicht einfach, was ihr jetzt habt? «Das sagen meine Freunde auch. Ich kann diese Ratschläge nicht mehr hören.» Und nun? «Es gibt Phasen, da geht’s, und dann gibt es Phasen, wo ich den Stress der Unsicherheit nicht abschütteln kann. Es gab Tage, da war ich mir sicher, dass ich das hinbekomme mit der Fernbeziehung. Heute ist nicht so ein Tag.» Das Problem ist die Distanz? «In Fernbeziehungen steckt eine Fixiertheit. Drei Tage ist man auf Gedeih und Verderb zusammen, und dann sieht man sich wieder tagelang nicht. Das Kennenlernen ge­ schieht nicht fliessend, sondern geplant. Das hat nichts Na­ türliches.» Fährst du trotzdem wieder nach Hamburg? «Nächstes Wochenende.» Lara wohnt alleine. «Charmant chaotisch», beschreibt Jo­ hann ihre Zweizimmerwohnung in Hamburg Altona. Sie frühstücken auf dem kleinen Balkon, spazieren an der Elbe entlang, essen selbstgeschmierte Käsebrötchen an der Ha­ fenmole. Sie sprechen über gemeinsame Freunde, das Le­ ben in einer fremden Stadt – aber nur selten über ihre Ge­ fühle. Sie mag ihn, das hat sie ihm einmal gesagt, sie mag seine Zahnlücke, seine Hände, seine Läuferbeine. Und kaum hatte sie gesagt, dass sie etwas für ihn empfin­ den würde, schürte sie wieder Zweifel: Sie sei sich unsicher.

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Unsicher, ihre Freiheit aufgeben zu wollen. Unsicher, je­ manden so nahe in ihr Leben zu lassen. Johann möchte seinen Rucksack packen und Hamburg verlassen. Sofort. Doch Johann bleibt. Er hält an der Hoffnung fest – auch wenn er längst selbst zu zweifeln begonnen hat. Er möchte nicht schon wieder von vorn beginnen – nach dem Schmerz

Tagsüber schreibt er an seiner Arbeit, abends grübelt er an der Beziehung. Liebe fühlt sich anders an, das weiss er. wieder zur Sehnsucht, um zur Liebe zu gelangen. Erhofft er sich wirklich zu viel? Liegt es nicht eher an der Liebe? Es muss an der Liebe liegen. Warum nur ist sie so kompliziert? «Wäre es einfacher, würde uns bald die Langeweile einho­ len», sagt der Philosoph lachend. Wilhelm Schmid ist seit 28 Jahren verheiratet, seine Frau sitzt ihm gegenüber und zwinkert ihm zu. «Kompliziert wird es nur dadurch, dass da ein anderer ins Spiel kommt, der nicht immer dasselbe will wie ich, oft mit ganz anderen Sichtweisen, Fühlweisen, Denkweisen», sagt Schmid. Aber genau das sei ja das Reiz­ volle daran. Zurück in Zürich. Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Jo­ hann fährt in sein Büro an der ETH. Tagsüber schreibt er an seiner Arbeit, abends grübelt er an der Beziehung. Liebe fühlt sich anders an, das weiss er. Er hat sie schon erlebt. Er fährt nach Hamburg. Er kauft Brötchen fürs Früh­ stück. Sie essen auf dem Balkon, gehen spazieren und abends in ein kleines Kino. Sie sprechen wenig, als bangten sie, den Rest Sauerstoff zu verbrauchen, der sie zusammen­ hält. Kurz vor Mitternacht kehren sie zurück in Laras Woh­ nung, setzen sich auf ihr weiss bezogenes Bett. Sie sagt: «Wir sollten es bleiben lassen.» Am nächsten Morgen bringt Lara Johann zur Tür. Im Flur umarmen sie sich. «Es wäre schön, mal wieder etwas von dir zu hören», sagt sie. «Ja», sagt Johann.

Gudrun Sachse ist NZZ-Folio-Redaktorin.

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Der nächste Beste

Lisa wusste ganz genau, was sie wollte – einen Mann, mit dem sie sich so gut versteht wie mit ihrem besten Freund. Von Barbara Klingbacher

Es existiert ein Algorithmus fürs Beziehungsglück. Seine Herleitung ist kompliziert wie die Liebe selbst, er beruht auf der 37­Prozent­Regel aus der Entscheidungstheorie und komplexen Berechnungen am Münchner Max­Planck­ Institut. Und doch lässt er sich zu einer Faustregel für die Partnersuche verdichten: Man trifft sich mit etwa einem Dutzend Singles, ohne einen zu erwählen, merkt sich aus dieser Stichprobe den besten (den Referenzsingle), sucht weiter und nimmt dann den nächsten, der besser ist als der Referenzsingle. «Take the Next Best»­Algorithmus heisst das Regelwerk, mit dem sich die Chance auf einen guten Partner maximieren lässt. Mathematisch gesehen zu­ mindest. Der bisher Beste war Carmelo. Man muss sich Lisa am Ende der Vernissage im November 2010 als glücklichen Single vorstellen. Es ist ein Freitag­ abend, von Westen her zieht ein Sturmtief Richtung Zürich, und Lisas Galerie namens Peripher füllt sich mit Menschen. Lisa, Halb­Puerto­Ricanerin, dunkle Locken, dunkle Au­ gen, schwebt von Freunden zu Bekannten, lacht hier, küsst dort, füllt Weingläser nach, macht Menschen miteinander bekannt. Doch Lisa ist an diesem Abend mehr als nur Gast­ geberin. Für drei Männer, die vor den Wachskreidezeich­ nungen von Wilfredo Mercado stehen, ist sie ein Date: Sie ist Kuratorin, 41, Zürich. Und CH8HH6V5, 41, Kulturschaf­ fende. Und butterfly, 41. Lisas Geschichte hält sich nicht an ein Kalenderjahr. Sie beginnt im Spätsommer 2010 mit einem Entscheid. Lisa beschliesst, einen Partner zu finden. Systematisch geht sie die Suche an, wie ein Projekt oder vielleicht: wie ein Experi­ ment am eigenen Herzen. Die Versuchsperson: Lisa, Single seit fünf Jahren. Als junge Frau wollte sie Kontinente berei­ sen und in fremden Ländern wohnen. Sie heiratete jung, mit 26 Jahren, einen Journalisten, der hoffte, dereinst Aus­ landskorrespondent zu sein. Darauf wurde eine Tochter geboren, ein Einfamilienhaus bezogen, ein Kräutergarten angelegt, ein Familienauto angeschafft; eine Weile lang war es Glück. Irgendwann aber wurde die Schnittmenge der Träume kleiner, die Verbundenheit kam abhanden, es folg­ ten die üblichen Enttäuschungen, die unvermeidbaren Verletzungen, dann war die Ehe am Ende. Nach der Trennung im Jahr 2005 brauchte Lisa Zeit, um den Alltag mit der damals neunjährigen Tochter neu zu organisieren, um zu einem entspannten Verhältnis mit dem Exmann zu finden und um ihr Leben zu überdenken. Sie schloss ein Nachdiplomstudium in Cultural Studies ab, sie begann ein Doktorat, baute ihre Galerie auf. Mehrere Wochen im Jahr, jeweils in den Schulferien, arbeitete sie als

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freie Kuratorin auf Puerto Rico, wo sie einen grossen Freun­ deskreis hat. Allein war Lisa in diesen Jahren nie. Aber einsam, manchmal. Sie hätte sich gerne finden las­ sen, sie hoffte, dass der Zufall ihr einen Mann – intelligent, kulturinteressiert, gerne ohne Glatze, sicher ohne Ehefrau – ins Leben bringt. Dass er eines Tages in einer Ausstellung neben ihr steht. Bei einem Fest im Freundeskreis auf dem Balkon mit ihr eine Zigarette raucht. Oder, romantisch: mit dem Velo auf dem Trottoir vor ihrer Galerie stürzt und sie um ein Pflaster bittet. Aber die meisten Männer, die in die­ sen fünf Jahren neben ihr vor einem Kunstwerk oder mit ihr auf einem Balkon standen, waren gebunden, und selbst von diesen hätte ihr keiner gefallen. Ein paar Singles lernte sie kennen, zehn vielleicht, aber es funkte bei keinem. «Ich verliebe mich nicht leicht», sagt Lisa, «das passiert mir nur ganz selten.» Einige zaghafte Versuche hat sie gestartet: Sie meldete sich bei einer Onlinepartnerbörse an und scheiterte schon an den Fragen: Ihr Partner schlägt vor, spontan übers Wo­ chenende nach Paris zu fliegen, sind Sie dabei? Lisa würde Ja sagen, ohne zu zögern. Lisa als Mutter hingegen müsste absagen. Bei den meisten Antworten wählte Lisa die Reali­ tät, und als sie zum Schluss ihr Profil ausdruckte, erkannte sie sich selbst nicht wieder. Einmal ging sie zu einem Dîner surprise. Doch sämtliche Männer meldeten sich kurzfristig ab – es wurde dann ein Frauenabend. Manchmal schaute Lisa auf dem Heimweg auch alleine auf ein Bier in einer Bar vorbei. Dort, wo einer Frau wie ihr, so sagten die Freunde, die Männer doch nur so zufliegen müssten. Aber Lisa wuss­ te: Dort fallen sie einem nur sturzbetrunken vor die Füsse. Dass Lisa ihre Suche ausgerechnet im Spätsommer 2010 beginnt, hat zwei Gründe: Einerseits ist ihre Tochter inzwi­ schen vierzehn und sie muss nicht mehr in erster Linie dar­ auf achten, ob ein neuer Mann in die Familie passt. Ande­ rerseits: «Don’t go chasing waterfalls», sagt sie. Lisa kommt gerade wieder einmal aus Puerto Rico zurück und muss sich eingestehen, dass es wohl keine Zukunft gibt mit dem Mann, der ihr in all den Jahren am besten gefallen hat: Car­ melo, ein puertoricanischer Künstler, intelligent und mit Haaren auf dem Kopf. Er ist ihr bester Freund, seit über zwanzig Jahren, er hat sie durch ihre Hochzeit und ihre Scheidung hindurch begleitet, mit ihm kann sie lachen und streiten wie mit keinem anderen. Lisa hätte sich vorstellen können, aus der Freundschaft eine Beziehung keimen zu lassen. Doch Carmelo schienen die Distanzen zu gross: 21 Jahre Altersunterschied, 7350 Kilometer Luftlinie. Lisas Plan: Sie will einen Mann finden, mit dem sie den Alltag teilen kann. Und es muss ein Mann sein, mit dem sie

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Lisa, 42: ÂŤich verliebe mich nicht leicht. das passiert mir nur ganz selten.Âť

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ich liebe dich – wo bist du?

sich so gut versteht wie mit Carmelo, mindestens. Sie sucht den nächsten Besten. Lisa wappnet ihr Herz mit Humor und meldet sich bei zehn Singleplattformen an. Sie füllt auf Kontaktanzeigen­ Sites Wohnort, Alter, Grösse ein. Sie lädt ihr Foto auf yep­ nep.ch hoch, wo einzig das Aussehen über einen Kontakt entscheidet. Und sie nimmt sich mehrere Stunden Zeit, um die Persönlichkeitstests der Onlinepartneragenturen aus­ zufüllen, als Lisa diesmal, nicht als Mutter. 80 Fragen auf Elite Partner; 200 auf E­Darling; 74 auf Parship. Lisa trägt

Lisa verabschiedet sich, noch bevor die verabredete Stunde um ist. Ihren Kaffee bezahlt sie selbst. Bildungsstand und Einkommen ein; sie kreuzt fünf Eigen­ schaften an, die sie am besten beschreiben, sechs Hobbies, denen sie gerne nachgeht, drei Freizeitbeschäftigungen, bei denen sie sich entspannt; sie entscheidet, dass sie Saxo­ phon lieber mag als Geige, gemeinsame Schlafzimmer lie­ ber als getrennte, warme Räume lieber als kühle. Zum Schluss ist Lisa butterfly, 41. Und Kuratorin, 41, Zürich. Und CH8HH6V5, 41, Kulturschaffende: 160 cm gross; Kinder: 1, im Haushalt lebend; Gelegenheitsraucherin. Unkompli­ ziert, natürlich, zärtlich, humorvoll, nachdenklich. Interes­ siert an Fotografie, Literatur, Kunst, Musik, Kino, Reisen. Gerne beschäftigt mit Lesen, Ausgehen / Freunde treffen, ins Kino/Theater gehen. Sie sucht: einen Mann zwischen 40 und 50 Jahren; 165 bis 180 cm gross; Raucher: egal; Kin­ der: egal; Region: Zürich, Bern, Luzern, Basel. Innert Stunden füllt sich ihre Mailbox: «Er, Geschäfts­ führer, 43 Jahre, könnte gut zu Ihnen passen.» «Martin möchte mehr über Sie erfahren!» «Mitglied KATZ1ER2 schickt Ihnen ein Lächeln.» Lisa sucht Seelenverwandtschaft und findet Matching­ punkte. Aus den Persönlichkeitstests destillieren die Part­ neragenturen Lisas Profil und gleichen es mit jenen der anderen Singles ab. Die Maximalpunktzahl variiert von An­ bieter zu Anbieter, das Prinzip aber ist meist dasselbe: Punkte gibt es nicht nur für Übereinstimmung bei Hobbies, Interessen und Musikgeschmack. Sondern auch für unter­ schiedliche, sich ergänzende Charaktereigenschaften. Zwei besonders Durchsetzungswillige würden sich in einer Beziehung bekämpfen, eine sehr Anhängliche braucht je­ manden, der etwas Distanz schafft, ein extrovertierter Mensch lockt den Introvertierten aus der Reserve: Wenn man eine Person mit sich selber matcht, erreicht man in der Regel nur 80 von 100 möglichen Punkten. Stunden verbringt Lisa nun im Internet, voller Zuver­ sicht. Ihr Weltbild hat sich gewandelt. «Von: Da draussen gibt es niemanden zu ‹Wow, so viele interessante, belesene Männer, die alle zu mir passen», sagt sie. Wie Katalogware besichtigt Lisa die Profile, liest sich durch Vorlieben und

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Charaktereigenschaften, schreibt und beantwortet E­Mails. Dann beginnt sie zu daten: Zum Beispiel Toni, 43, Geschäftsführer, 91 von 100 mög­ lichen Matchingpunkten. Sein Profil verspricht einen ein­ fühlsamen, tiefgründigen, charakterstarken Akademiker, sein Foto ist ansprechend, doch als Toni Lisa im Café ge­ genübersitzt, spricht er mit Ostschweizer Dialekt. Schlim­ mer aber scheint Lisa, was er sagt: Kaum hat er seinen Kaf­ fee bestellt, beginnt er von seiner Exfrau zu erzählen, dieser «Zwetschge», die ihn bei der Scheidung über den Tisch ge­ zogen habe. Und von seiner Tochter, mit der er die Wo­ chenenden stets im Europapark oder im Alpamare ver­ bringe. Lisa verabschiedet sich, noch bevor die verabredete Stunde um ist. Ihren Kaffee bezahlt sie selbst. Andreas, 41, Kommunikationsfachmann, 94 von 114 Punkten. Lisa gefällt sein verträumter Blick und dass er ger­ ne reist, Museen mag und Bücher liest. In der Bar bestellt sich Andreas ein Bier, dann erzählt auch er von seiner Scheidung. Er vermisst das Familienleben, die Kinder; sein Alltag scheint ein Meer aus Einsamkeit. Lisa findet ihn nicht unsympathisch, aber sie will kein Rettungsanker sein. Am nächsten Morgen schreibt sie, dass sie es bei diesem einen Abend belassen möchte. «O nein!» mailt er zurück, für ihn sei die Sonne aufgegangen bei diesem Date. Sie treffen sich nicht wieder. Martin, Berufsberater, 41 Jahre, 88 von 100 Punkten: ein Mann mit einem verschmitzten Lächeln, der Spaziergänge und Reisen, Bücher und Filme liebt. Lisa trifft Martin spon­ tan in einem Café im Quartier, beide haben wenig Zeit, beide fahren mit dem Velo vor. Lisa gefällt das Lächeln auch offline, man plaudert über Jobs, die Stadt, das Sin­ gleleben und verabredet sich für einen Spaziergang auf den Üetliberg. Am Sonntag fährt Martin mit dem Auto vor, öff­ net den Kofferraum, wechselt die Schuhe, packt eine Out­ doorjacke aus. Dann beginnt er seinen Mantel zu falten, minutiös, minutenlang. «Pedantisch», denkt Lisa. Während des Spaziergangs hängt das Gespräch zwischen ihnen wie zäher Nebel. Das Restaurant, das sie anpeilen, hat Ruhetag. Martin beginnt zu nörgeln, «kompliziert, unflexibel», denkt Lisa. Bald kehren sie um, schreiten nebeneinander her, schweigend und schnell. Lisa fühlt sich einsamer, als wenn sie alleine den Berg hinunterginge. Noch zweifelt sie nicht am System. Schliesslich scheint die Auswahl an Männern im Internet unendlich. Lisa verän­ dert ihre Sucheinstellungen. Die Männer dürfen nun 35 bis 60 Jahre alt sein und aus der ganzen Schweiz stammen. Sofort spült das Matchingsystem noch viel mehr potentielle Partner an die Oberfläche. Aber Menschen sind wie Marmeladen – mehr Auswahl führt nicht zu beherzterem Zugreifen. Auch bei der Part­ nerwahl spielt das berühmte Konfitürenparadox, das die US­Psychologin Sheena Iyengar entdeckt hat: Wenn Super­ marktkunden aus 24 Konfitüren wählen können, ist die Chance, dass sie eine kaufen, zehnmal niedriger, als wenn

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nur 6 Sorten zur Auswahl stehen. Die britischen Forscher Marco Francesconi und Alison Lenton haben den Erfolg von 84 Speeddating­Veranstaltungen ausgewertet, bei de­ nen gut 3600 Singles teilgenommen hatten. Ihre Erkennt­ nis: Je grösser und vielfältiger die Auswahl an potentiellen Partnern, desto kleiner die Zahl der Verabredungen. Nach einem Monat und weiteren Dates grenzt Lisa die Aus­ wahl wieder ein. Sie sortiert die Vorschläge nun nicht mehr nach Matchingpunkten, sondern mit einer Art Ausschluss­ verfahren, mit dem kein Suchprogramm rechnen kann. Die Matchingsysteme vergleichen nämlich auch den sozioöko­ nomischen Status und gehen davon aus, dass Frauen sich in der Regel nach oben verlieben. In Lisas Mailbox landen

Als er ihr ins Ohr raunt, er müsse jetzt auf den Zug, falls er die Nacht nicht hier verbringe, sagt sie: «Bon voyage!» daher viele Männer, die gebildet, gutverdienend und kar­ riereorientiert sind. Lisa aber will keinen Mann, der vor al­ lem nach Prestige und Status strebt. Sie sortiert sämtliche Männer aus, die Golf spielen, selbst wenn sie auch noch Bücher lesen. Sie klickt Segler weg, das Hobby vermochte sie schon bei ihrem Exmann nicht zu begeistern. Und wer von Cabriofahrten und Ferien im Luxushotel schwärmt, hat ebenfalls keine Chance. Tim, 45, Kunsthändler, mailt Lisa an und bittet um ein Date. Sie zögert. Auf dem Foto trägt er ein Seidenfoulard unter dem Anzug, das lässt nichts Gutes vermuten, und dass er die Zürcher Kronenhalle­Bar, wo 2,2 Deziliter Evian 6 Franken 50 kosten, als Treffpunkt vorschlägt, ebenfalls nicht. Aber schliesslich sagt Lisa trotzdem zu. Und siehe da: Es wird ein netter Abend. Tim erweist sich als Gentleman, aufmerksam, zuvorkommend, «ein Lichtblick», sagt sie, «einer anderen Frau wirklich zu gönnen». Lisa lädt Tim zur nächsten Vernissage in ihrer Galerie ein, obwohl sie weiss, dass sie sich nicht in ihn verlieben wird. Zu unterschiedlich sind die Kreise, in denen sie sich gerne bewegen. Aber Freunde könnten sie werden. Zur gleichen Vernissage lädt sie auch Phil ein. Phil, ohne Altersangabe, aber deutlich älter als Lisa, ist Geschäfts­ mann und hat ihr gleich zwei Fotos von sich geschickt, ei­ nes «in Schale», eines «casual». Sie konnte keinen Unter­ schied erkennen. Aber Phil schien an Kunst interessiert, hatte schon einmal eine Galerie mitaufgebaut, also dachte sie: Warum denn nicht? Und Lisa lädt Jean­Yves ein, einen IT­Fachmann aus der Romandie. Jean­Yves ist der Einzige ohne Matchingpunk­ te. Lisa hatte sein Foto auf yepnep.ch entdeckt, einer Site, die ganz anders funktioniert als die seriösen Vermittler­ dienste: Man lädt ein Bild von sich hoch, legt Sucheinstel­ lungen wie Alter und Wohnort fest und klickt sich dann durch eine beinahe endlose Galerie von Singlefotos. Findet

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man jemanden sympathisch (oder attraktiv oder sexy), klickt man auf yep, wenn nicht, auf nep. Sobald zwei User yep zueinander sagen, können sie sich kontaktieren. Lisa, auf yepnep «butterfly», ist bereits ein wenig erschöpft von all den Männern, die sie psychologisch und charakterlich ideal ergänzen sollen. Sie findet Jean­Yves einfach hübsch. Ein gegenseitiges «yep» und ein paar E­Mails später sagt er zu, zur Vernissage zu kommen. Am Vernissagenabend, an jenem Freitag im November, füllt sich Lisas Galerie mit Menschen. Tim, der Kunsthänd­ ler, erscheint als einer der ersten und fügt sich so mühelos zwischen all den Freunden und Bekannten ein, als gehöre er seit Jahren dazu. Später kommt Phil, weltgewandt, aber so gar nicht Lisas Typ. Sie stellt ihm kurzerhand eine Wirt­ schaftsjournalistin vor, mit der er den Abend verplaudert. Als letzter trifft Jean­Yves ein, gutaussehend wie verspro­ chen, überschwenglich, doch nervtötend. Immer wieder versucht er, Lisas Hand zu fassen, ihren Arm zu drücken. Sie geht auf Distanz, und als er ihr irgendwann, später, ins Ohr raunt, er müsse jetzt auf den Zug, falls er die Nacht nicht hier verbringe, sagt sie: «Bon voyage!» Die letzten Gäste gehen spät. Der Abend war ein Erfolg, mehrere Bilder sind verkauft, und Lisa ist glücklich. Nach mehr als einem Dutzend Dates gesteht sie sich ein, dass sie mit den Onlineagenturen keinen Mann finden wird, der besser ist als der Beste. Es ist eine Erleichterung. «Am An­ fang war es aufregend», sagt Lisa, «aber inzwischen fühlt es sich an, als müsse man eine Liste abarbeiten.» Der Suchaufwand beim Onlinedating steht in krassem Missverhältnis zum Erfolg: Das hat Dan Ariely, ein ameri­ kanischer Professor für Verhaltensökonomik und der Autor des Buches «Fühlen nützt nichts, hilft aber», herausgefun­ den. Nutzer von Datingsites verbringen durchschnittlich 5,2 Stunden pro Woche mit der Durchsicht von Profilen und weitere 6,7 Stunden, um sich mit den potentiellen Partnern per E­Mail auszutauschen. Aber nur gerade 1,8 Stunden pro Woche wenden sie auf, um andere Singles in der realen Welt zu treffen – meist mit geringem Erfolg. Und es macht nicht einmal Spass. Ariely hat die Studienteilneh­ mer befragt, ob sie lieber im Internet stöbern und danach daten oder sich in dieser Zeit lieber einen Film im Fernse­ hen ansehen würden. Die Singles entschieden sich mehr­ heitlich für den Film. Wahrscheinlich eine Liebeskomödie. Auch vom ausgeklügelten Matching hält Ariely wenig. Singlebörsen gehen seiner Ansicht nach von einer völlig falschen Voraussetzung aus. Sie behandeln die Menschen als «Suchgüter», bei denen der Konsument schon vor dem Kauf in Erfahrung bringen kann, ob er bekommt, was er will – wie bei einer Digitalkamera, die sich mit wenigen Anga­ ben wie Megapixel, Zoombereich und Speicherkapazität umfassend beschreiben lässt. Potentielle Lebenspartner hingegen seien, wenn schon, «Erfahrungsgüter», deren Qualität man erst nach vollzogenem Konsum beurteilen könne. Wer glaubt, die Informationen «1,82 m», «Akademi­

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ker» oder «zuverlässig» würden etwas über die Möglichkeit, sich zu verlieben, aussagen, kann genauso gut versuchen, den Geschmack eines Apfelkuchens anhand seines Fett­ oder Zuckergehalts vorauszusehen. Im Januar 2011 geht Lisa zurück auf Feld eins. Sie hat alle Profile im Internet gelöscht, dafür beginnt sie, im Stadt­ newsletter Ronorp in den Inseraten der Kategorie «Ge­ meinsam» zu stöbern. 298 Männer suchen dort eine Frau; 57 Frauen einen Mann. Lisa durchforstet die Texte nicht nach Attributen, die passen könnten, sondern nach Stim­ mungen und Formulierungen, die ihr gefallen. «Gemein­ sam Tränen lachen und um die Häuser ziehen» etwa, oder «Heute abend würde ich gerne mit dir Moules et frites es­ sen». Sie meldet sich auf Anzeigen wie «Wetten, dass sich keine Frau getraut, mit mir spontan ein Glas Wein zu trin­ ken?», und sie verfasst selber Texte: «w/40+ sucht ausserge­ wöhnlichen Partner, selbstsicher, romantisch, grosszügig, spontan, du magst Abendspaziergänge, Reisen, Lesen, hast Humor und Haare auf dem Kopf, du bist Schweizer, Latein­ amerikaner oder Afrikaner, sprichst Deutsch oder Spa­ nisch, Englisch, Französisch oder Italienisch.» Oder kürzer: «But I still haven’t found what I’m looking for.» «Hier fühlt es sich nicht an, als würde man einen Mann aus einem Katalog bestellen», sagt sie, «sondern so, als wür­

de man einen Wunsch in die Welt hinausschicken und ein­ fach warten, was zurückkommt.» Lisa trifft sich in den nächsten zwei Monaten mit Män­ nern auf ein Bier, zum Kaffee, für Konzerte, zu Spaziergän­ gen, selten war sie so viel unterwegs, selten fühlte sie sich so sehr als Frau. Ihre Tochter, die längst von der Partnersuche weiss, scherzt jeweils, sie solle nicht zu spät nach Hause kommen. Aber Lisa bleibt keine Nacht weg. Einige der Männer können vielleicht Freunde werden, zu mehr reicht es nie. Und die Ronorp­Community, das merkt Lisa bald, ist nicht besonders gross. Als sie jemanden kontaktiert, der «jetzt gerne mit dir im Wald spazieren» würde, stellt sich heraus, dass es der ist, der schon «gerne mit dir Moules et frites essen» wollte. Und dreimal landet sie in der Mailbox des gleichen Anästhesiearztes. Im Frühling sagt Lisa plötzlich: «Ich treffe mich nicht mehr mit verschiedenen Männern.» Im März hat sich Peter auf das Inserat gemeldet, das Lisa auf Ronorp verfasst hatte. Peter mag Abendspaziergänge, ist romantisch, grosszügig, spontan, und er hat Locken. Aus einem Kaffee am Sonntag­ morgen wurde ein Brunch, daraus ein Spaziergang auf den Zürichberg, und abends gingen die beiden noch ins Kino, «Another Year» von Mike Leigh. Sie haben sich oft gesehen in den vergangenen Wochen. Lisa weiss nicht, was daraus

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wird, aber im Moment geht sie nur noch mit Peter aus. Sie sagt: «Ich könnte mich jetzt in etwas hineinsteigern, wil­ lentlich. Aber ich will uns Zeit lassen, einfach sehen, wo es hinführt.» Zwei Monate später ist Peter: ein guter Freund. Lisa sagt, sie verstehe sich wunderbar mit ihm. Aber wenn sie sich am Montag für Samstag verabreden, freut sie sich darauf und vermisst ihn bis dahin nicht. «Peter», sagt Lisa, «ist der beste Mann, den ich dieses Jahr kennengelernt habe. Und jetzt, wo ich das weiss, muss ich mir eingeste­ hen: Der Mann, mit dem ich am liebsten zusammen wäre, ist immer noch Carmelo.» Im Juli fliegt Lisa für fünf Wochen nach Puerto Rico. Sie hat beruflich dort zu tun, sie weiss, dass Carmelo seine Mei­ nung in der Zwischenzeit nicht geändert hat. Kurz vor der Reise meldet sie sich für eine Speeddating­Party an, die Ende September stattfinden wird. Aus Neugierde, als Teil ihres Experiments und vielleicht auch, damit nach Puerto Rico eine Option bleibt, die sie noch nicht ausprobiert hat. «Am liebsten würde ich dort auf sieben Salsa tanzende Süd­ amerikaner treffen», sagt sie, bevor sie geht. So bestechend der «Take the Next Best»­Algorithmus auch ist: Er garantiert für nichts. Er maximiert nur die Wahr­

scheinlichkeit, einen guten Partner zu finden, und er birgt ein Risiko in sich: Wenn der Beste bereits in der Stichprobe war, wird kein anderer danach an ihn heranreichen. Und: Sobald zwei virtuelle Singles aufeinandertreffen, ohne sich füreinander zu entscheiden, geht die Suche weiter. Es führt kein Weg zurück. Die Liebe aber hält sich nicht an algorithmische Regeln. Im Spätsommer 2011 kehrt Lisa aus Puerto Rico zurück, genau ein Jahr nachdem sie ihr Experiment gestartet hatte. «Die Speedflirting­Party muss ich absagen», mailt sie, kaum ist sie in Zürich gelandet. Carmelo hat nachgedacht. Das Herz befragt. Seine Sucheinstellungen verändert: Die Frau, mit der er lachen und streiten kann wie mit keiner anderen, darf nun doch 21 Jahre jünger und 7350 Kilometer weit weg sein. Am 9. Dezember 2011, einem Freitagabend, findet in Lisas Galerie wieder einmal eine Vernissage statt. An den Wänden hängen die Bilder von Carmelo, der Künstler wird anwesend sein. Er bleibt für zwei Monate in der Schweiz, im Februar hat Lisa einen Flug nach Puerto Rico gebucht. Eigentlich sei das kein Happy End, sagt sie, sondern: der Anfang. barbara Klingbacher ist NZZ-Folio-Redaktorin.

© Marc Paeps / TGV Lyria

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Allein am Grill

Erst suchte Sepp in der Ukraine und in Bulgarien. Dann wartete er in seinem Güggeli­Express auf eine Frau, die es ernst mit ihm meint. Von Claudia Wirz

Wenn der Güggeli­Sepp im Dorf ist, freut das alle. Die Hausfrauen, die nicht aufwendig zu kochen brauchen. Die Kinder, die sowieso immer gerne Poulet essen. Die Väter, die nicht lange aufs Essen warten müssen. Die Schüler, die in der kurzen Mittagspause schnell etwas Warmes wollen. Oder den Besitzer des Gemüseladens nebenan, dem «Sepps rollender Güggeli­Express» zusätzliche Laufkundschaft be­ schert. Darum mag man ihn, den Sepp, der mit seinem Anhän­ ger und seinem Landrover sommers wie winters zum Stras­ senbild in der Region um den oberen Zürichsee gehört. Man mag seinen tadellosen Service, die Würzung seiner Güggeli – ein energisch gehütetes Geheimrezept. Man mag seine immerzu galante Zuvorkommenheit, seine Professio­ nalität, seine niemals aufdringliche Freundlichkeit. Kurz: «Der Sepp», wie man ihn überall kennt, macht viele Leute glücklich. Und trotzdem ist der Sepp allein. Im Leben und bei der Arbeit. Das bulgarische Experiment Er hätte es gern anders. Die Sehnsucht nach einer Partner­ schaft ist seine ständige Begleiterin, eine Konstante in sei­ nem Leben. Auch heute, an diesem kalten Januartag. Flüchtige Bekanntschaften und Abenteuer sind seine Sa­ che nicht. Er wünscht sich vielmehr eine Partnerin an sei­ ner Seite, mit der er nicht nur Tisch und Bett, sondern auch die Arbeit teilen könnte, schlicht das ganze Leben. Der Sepp träumt davon, seinen Güggeli­Wagen, mit dem er seit vier Jahren unterwegs ist, in ein florierendes kleines Cate­ ringunternehmen auszubauen, das auch selbstgemachte Salate und andere Delikatessen anbietet. Und das geht eben nur mit der richtigen Partnerin. Einmal glaubte er, sie gefunden zu haben, die Richtige. Damals hatte er den Güggeli­Wagen noch nicht, dafür aber einen Bauernhof in Bulgarien. Doch das Experiment einer bäuerlichen Existenzgründung im Osten scheiterte ebenso wie die Ehe mit der Bulgarin, mit der er in die Schweiz zu­ rückkehrte. Sepps Geld war aufgebraucht, alles weg. Dabei ist die Landwirtschaft dem Sepp keineswegs fremd. Als Jugendlicher begann er seine berufliche Lauf­ bahn mit einer Lehre auf dem Bauernhof. Doch der Sepp ist «nicht so der Schultyp», wie er sagt. Er brach die Lehre ab. Es folgten viele Jahre als Arbeiter auf dem Bau und schliess­ lich das bulgarische Experiment. 2002 wurde der Sepp Va­ ter eines Töchterchens, doch auf den Tag genau nach fünf Jahren habe die Frau die Ehe beendet, sagt der Sepp und spekuliert, ob dies möglicherweise mit dem Niederlas­ sungsrecht zu tun gehabt habe. Wie auch immer – der Kon­

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takt zu Exfrau und Tochter ist mittlerweile vollständig abge­ brochen. Für den Sepp ist das Thema vom Tisch. Er ist einer, der nach vorne schaut, ist er immer schon gewesen. «Wenn ich Ja sage, dann meine ich es so und mache kei­ nen Rückzieher», sagt er. Das Ende der Ehe kam für ihn deshalb eher unerwartet. Spurlos geht so ein Tiefschlag na­ türlich an niemandem vorbei, auch am Sepp nicht. Doch Selbstmitleid und Verbitterung passen nicht zu ihm. Er wis­ se, sagt er, dass er für die Geschehnisse der Vergangenheit mitverantwortlich sei und die Schuld nicht anderen in die Schuhe schieben könne, auch wenn das bequem wäre. Und er weiss auch, dass nur er selber an der Situation etwas ändern kann. Der Sepp ist ein Unternehmer. Tugenden wie Eigenver­ antwortung, Initiative, ein Optimismus der unerschütterli­ chen Sorte und der Drang, niemandem auf der Tasche zu liegen, das sind seine Triebkräfte, seine Ideale. Dass er im April vor vier Jahren zum Güggeli­Grill­Betreiber wurde, ist ebendieser Einstellung zu verdanken. Damals war er näm­ lich arbeitslos und ausgesteuert. Aber untätig zu Hause herumsitzen, das konnte er einfach nicht. Alles, was er noch hatte, steckte er in sein kleines Unternehmen, auf das er sehr stolz ist. «Ich habe alle Rechnungen bezahlt. Ich schulde niemandem etwas, und einen Lohn kann ich mir auch ausbezahlen.» Allein mit der Liebe klappt es nicht. An Versuchen hat es seit dem Ende der Ehe nicht gefehlt. Einmal lernte er über einen Bekannten eine Frau aus der Ukraine kennen. «Aber das war nichts.» Und einmal melde­ te er sich auf ein Inserat in der «Tierwelt». Zu mehr als ei­ nem Telefongespräch kam es aber nicht. Auch selber hat er schon einmal ein Inserat geschaltet. «Es kamen drei Brie­ fe», sagt er und winkt ab mit einer Geste, die keinen Zweifel daran lässt, dass dieses Unterfangen im Nichts endete. Als gebranntes Kind will der Sepp keine Kompromisse mehr eingehen. Bei der nächsten muss alles passen. Sonst bleibt er lieber allein. Liebe am Anhänger Es ist nach wie vor so, dass sich viele Paare am Arbeitsplatz kennenlernen. Als Einzelkämpfer kann sich der Sepp nicht in einem Team umschauen, ein Handicap. Aber «am An­ hänger», wie er sagt, hat er eine Fülle von Kontaktmöglich­ keiten zum anderen Geschlecht. Es wäre ihm denn auch am liebsten, wenn es «am Anhänger» funken würde. Es ist wärmer geworden. Der Frühling steht bevor, und mit den spriessenden Blumen keimt auch die Hoffnung, dass es am Anhänger auch in Herzensangelegenheiten vor­ wärtsgeht. Für andere Begegnungen bleibt dem Sepp oh­

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Sepp, 52: ÂŤWenn ich Ja sage, dann meine ich es so.Âť

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ich liebe dich – wo bist du?

nehin so gut wie keine Zeit. Dienstags bis samstags ist er an seinen fünf Standorten zwischen Hinwil, Uznach und Au am Zürichsee unterwegs, montags muss der Anhänger gründlich gereinigt und gewartet werden. Oft genug muss der Sepp auch den Sonntag für Unterhaltsarbeiten her­ geben. Selten kommt er vor zehn Uhr abends nach Hause, ge­ schafft vom Arbeitstag und nicht in der Stimmung für den Ausgang. Dafür kocht er sich jeden Abend ein warmes Es­ sen, eine eiserne Regel. Ohne warmen Znacht geht er nie zu Bett. Und trotzdem ist er gertenschlank, fast schon mager. Ob Braten, Cordon bleu oder Gemüse – mit dem Sepp be­ kommt eine Frau auf jeden Fall einen Mann, der weiss, wie man kocht, und dessen Rezepterepertoire weit über die streng geheime Güggeli­Würzung hinausgeht. Nur das Ab­ waschen zu nächtlicher Stunde, sagt er, sei seine Sache nicht. Das erledige er lieber in der Früh. Sieben Jahre jünger soll sie sein Plötzlich ist der Sommer da, und endlich stehen die Ferien bevor. Unzählige Poulets hat der Sepp die letzten Monate gekauft, gewürzt, aufgespiesst, grilliert, verpackt und ver­ kauft, mit Hunderten von Kunden und Kundinnen geplau­ dert. Doch der Sepp ist immer noch allein. Die Traumfrau ist noch nicht am Anhänger aufgetaucht. Zu flüchtig sind die Begegnungen, auch wenn er die Kundschaft mittlerweile gut kennt. Die meisten Kundinnen seien sowieso entweder ganz jung oder verheiratet, sagt er. Und beide Kategorien kommen für ihn, der nun auch schon über fünfzig Jahre alt ist, nicht in Frage. «Im Idealfall ist eine Frau fünf bis sieben Jahre jünger als der Mann», meint er, und mit der Treue nimmt er es sehr genau. Einen Seiten­ sprung könnte er weder verstehen noch verzeihen, sagt er. Der Sepp ist eben ein Mann mit Prinzipien. Für einen Flirt am Anhänger gibt es aber auch andere Hindernisse. Es gibt weder die Zeit noch die Musse dafür, wenn gleichzeitig ein Dutzend Kunden für ein Güggeli an­ stehen. Und das ist zumindest während der Hauptzeiten fast immer der Fall. Die Arbeit im Güggeli­Wagen ist Kno­ chenarbeit, «ein richtiger Chrampf». Im Sommer läuft ei­ nem der Schweiss über die Stirn, im Winter bläst einem die Eisluft ins Gesicht. Den Absatz gilt es jeden Tag vorherzuse­ hen, damit nie zu viele und nie zu wenige Güggeli verkaufs­ fertig sind. Keine leichte Aufgabe, doch der Sepp kann sich auf seine Erfahrung verlassen. Eigentlich weiss der Sepp ja genau, dass es sich bei der ganzen Sache mit der Liebe sowieso mehr um eine Träu­ merei als um ein realistisches Szenario handelt. Und er weiss auch, dass er selbst daran seinen Anteil hat. Er habe sich, sagt er, im Umgang mit der Kundschaft eine Art Schutzschild aufgebaut, damit der Anhänger nicht zu einer Anlaufstelle der Redseligen werde. Denn das wäre dem Ge­ schäft nicht förderlich. So gibt er sich stets sehr freundlich, aber professionell und diszipliniert, wünscht hundertmal

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am Tag «en Guete» und freut sich, wenn die Kunden wie­ derkommen – der Güggeli wegen, versteht sich. «Ich weiss», sagt der Sepp, «dass ich mehr tun müsste, um jemanden kennenzulernen.» Der Sepp denkt dabei an Tanzabende in der Umgebung oder auch einmal «in Zürich unten», doch zurzeit fehlen ihm dazu die Zeit und die Kraft. Das Internet ist für ihn, der mit dem Computer nicht viel am Hut hat, keine Variante für die Partnersuche. Doch viel­ leicht bringen ja die Sommerferien die ersehnte Wende, wer weiss. Drei Wochen Sommerferien, das bedeutet für ihn zwar zu einem guten Teil Wartungsarbeiten am Anhän­ ger, aber auch Ausspannen auf dem Campingplatz irgend­ wo in der Zentralschweiz. Dort geniesst er die Ruhe, die Erholung jenseits des harten und auch einsamen Lebens als Güggeli­Grill­Betreiber. Und dann gibt es vielleicht auch noch Zeit für sein Hob­ by, das Schwyzerörgeli. Im Alltag kommt er fast nie dazu, aber mit den Ferien kommt nun endlich die Gelegenheit, mal wieder mit Gleichgesinnten Musik zu machen. Wer weiss, was sich dabei alles ergeben könnte! Die Antwort ist: nichts. Die Ferien sind vorbei, der Regen hat Sepps Sommer verpfuscht, und die Liebe hat auch nicht eingeschlagen. Weder auf dem Campingplatz noch beim Schwyzerörgeli­ spielen. Geörgelet wurde sowieso nur an einem einzigen Tag, und auf dem Campingplatz, da habe es vor allem älte­ re Leute gehabt, meint der Sepp. Er habe die Ruhe auf dem Campingplatz aber auch gebraucht, um sich zu erholen und über seine Zukunft nachzudenken. Dass der Sepp nach viereinhalb Jahren als Einzelkämp­ fer in seinem Güggeli­Wagen müde geworden ist, erstaunt niemanden. Schliesslich hatte er schon harte Berufsjahre hinter sich, als er mit seinem Unternehmen begann. Als Unternehmer sind sein Arbeitspensum, seine Präsenzzei­ ten enorm, die Anforderungen im Umgang mit den leicht verderblichen Lebensmitteln hoch. Mit dem Lebensmittel­ inspektor, der ihn regelmässig besucht, habe er es «immer gut gehabt.» Aber er weiss seit diesem Sommer auch, dass die Zeit gekommen ist, sich von seinem kleinen Unterneh­ men zu trennen. Die Gesundheit gehe schliesslich vor, meint er. Der Güg­ geli­Sepp ist Vergangenheit, er ist jetzt nur noch der Sepp, der eine Anstellung sucht, wo er weder Hitze noch Kälte noch Dämpfen ausgesetzt ist. Und damit ist es auch aus mit dem Traum von der Traumfrau «am Anhänger». Die letzte Tour Der 1. Oktober ist der Tag seiner letzten Tour. Durch eine glückliche Fügung, sagt er, habe er sein Geschäft innert kurzer Zeit verkaufen können. Es sind nun zwei Personen, die den Güggeli­Grill betreiben und alle bisherigen Stand­ orte weiter bedienen. Auf ihr Güggeli muss die Kundschaft also nicht verzichten. Der Sepp ist froh, dass «sein» Ge­ schäft nun mit neuer Besatzung weitergeführt wird. Für ihn

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ich liebe dich – wo bist du?

Der Sepp glaubt fest an seine Gabe als Heiler. Heute braucht er die Technik vor allem für sich selbst, und es tue ihm einfach gut. Auch seine Lehrerin sei von seinen Fähig­ keiten beeindruckt, sagt er. Schon als Kind habe er «mehr gespürt als alle anderen»; ein Eindruck, den er durch Erleb­ nisse während seiner Reiki­Ausbildung bestätigt sieht. Ob der Sepp durch Reiki vielleicht auch das findet, was ihm am Güggeli­Wagen verwehrt geblieben ist? Bis jetzt hat sich nichts ergeben. Vielleicht liegt es daran, dass die Kur­ se, die er bisher besucht hat, ausschliesslich Einzellektio­ nen waren.

ist der Güggeli­Grill mehr als nur ein lapidarer Broterwerb gewesen. Er ist ihm ans Herz gewachsen. Der Sepp pflegt den Kontakt zu den neuen Besitzern, denn immer wieder ergeben sich Fragen rund ums Güggeli­Braten. Dann ist Sepps Expertise gefragt. Dass man so einen Grill ganz allei­ ne viereinhalb Jahre lang betreiben könne, sagt der Sepp, könnten die neuen Besitzer fast nicht glauben. Der Verkauf seines Geschäfts hat sich übrigens dort ergeben, wo der Sepp sich gewünscht hätte, auf die Richtige zu treffen – am Anhänger, während eines Gesprächs mit einem Kunden. Das Leben im Güggeli­Wagen ist Vergangenheit, aber die Hoffnung, die Richtige doch noch irgendwo zu treffen, hat der Sepp nie aufgegeben. Auch wenn es das Leben nicht immer gut mit ihm gemeint hat, ist er voller Zuversicht. Er sei ein zufriedener Mensch, sagt er, weil er wisse, dass jeder seines Glückes eigener Schmied sei. Mehr gespürt als alle anderen Wohin die Reise geht, das weiss er noch nicht. Möglich, dass es ihn nach Japan ziehen wird. Der Sepp ist nämlich ein Anhänger von Reiki, einer Heilungs­ und Energielehre aus Japan. Die Ausbildungsstufen Reiki I und Reiki II hat er bei einer Lehrerin in der Schweiz absolviert. Die Meister­ stufe, sagt er, möchte er gern in Japan erreichen.

Claudia Wirz ist NZZ-Redaktorin mit Schwerpunkt Bildung und Gesellschaft.

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Tour de Suisse Das schwierigste Rätsel der Schweiz ist diesmal kaum zu knacken. Dabei wäre es so einfach. Sie finden die 24 Orte, und wir treffen uns am 14. Januar zum Final. Von CUS Aber alles schön der Reihe nach: Begonnen hat unser Rätsel bereits im August. Sie haben es gar nicht mitbekom­ men? Macht nichts, die schwersten Bergetappen liegen oh­ nehin noch vor Ihnen. Nur die Besten werden durchkom­ men, nur die Schlauesten den Weg ins Ziel finden. Dem Sieger winkt ein halbes Kilo Gold. Da lohnt es sich zu leiden! Jede Etappe zählt Gewinnen können Sie schon, wenn Sie 6 beliebige Auf­ gaben knacken. Dann haben Sie die Chance auf einen unserer zehn Swiss­Survival­Preise. Mit 12 Richtigen sind Sie im Rennen um den Grand Prix de la Montagne. Für den Tour­de­Suisse­Preis müssen Sie schon 18 Orte finden. Schicken Sie uns dazu einfach die Namen der gesuchten Gemeinden.

Vom P zur nächstgelegenen Plattform 25 min (laut Schild). Wo?

Sollten wir bei der einen oder anderen Frage mehrere Gemeinden berühren, reicht uns eine davon. Und wer alle 24 Orte findet, ist schon so gut wie im Final. Am 14. Januar 2012 treffen wir uns zum Showdown um das goldene Trikot – wie immer ein Barren aus purem Gold. Schicken Sie Ihre Lösungen bis spätestens 10. Januar 2012, 12 Uhr an folioraetsel@nzz.ch. Der Rechtsweg ist aus­ geschlossen. Mitarbeiter der NZZ und ihre Angehörigen dürfen nicht teilnehmen. Kleiner Tip In den Folio­Ausgaben August, September, Oktober und November 2011 war je ein Hinweis zu unserem Rätsel versteckt. Stöbern Sie also in den alten Folio­Heften, denn bei genauer Durchsicht finden Sie die Hinweise. (Sie können die vier Hefte zum Sonderpreis von 30 Franken / 40 Euro inklusive Versandkosten bestellen: versandser­ vice@nzz.ch.) Ab 19. Dezember können Sie die vier Ausga­ ben komplett im Internet unter www.issuu.com/nzzfolio studieren.

Kein städtebaulicher Akzent, dafür Riesen-Tamtam um das Gesuch der Gemeinschaft. Wo?


Hier wurde angeblich die Idee geboren. Wo?

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Ohne Fahrzeug fast nicht zu erreichen. Wo?

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S.27 WO?


Alberts Kunststück. Alle 10 Jahre unten durch - und länger als früher. Der Fussball-Sepp lässt grüssen. Wo?

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Weltkulturerbe? In Hillary's steps. Wo?

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Ganz nah: Mitten im Jahr das übliche Theater! Wo?

Gesamtlösung Die wollen wir diesmal gar nicht wissen. Sie sollten sie dennoch herausfinden. Denn sonst wissen Sie nicht, wo der geheime Ort ist, an dem wir uns zum Final treffen. Wer uns den Namen dieser Gemeinde rechtzeitig schickt, hat die Eintrittskarte für den Final gelöst. Genaueres erfahren Sie nach Einsendeschluss. Vergessen Sie nicht den vollständigen Namen, Ihre Anschrift und Ihre E-MailAdresse. Aber Vorsicht, eine kleine Kontrollfrage stellen wir dann vor Ort. Die beantworten Sie mit links, wenn Sie beim Rätsel selbst mitgemacht haben.

Und so geht’s zum Final Auf die erste Antwort im Sinne unserer Gesamtlösung treffen wir linkerhand, wenige Schritte vor «1369». Die Nummer 24 ist die letzte und liegt zwischen 400 und 500. Und was ist, wenn ein Hinweis mehrere Schweizer Gemeinden berührt – wie etwa die Frage zum Röstigraben? Egal – soweit sie zur Gesamtlösung passen, gelten alle dort vorkommenden Gemeinden als ein Hinweis. Wenn Ihnen das nicht genau genug ist, dann gilt eben der im Sinne der Gesamtlösung zuerst erreichte Ort. Bei Nummer 14 sind Sie schon nahe der Gemeinde, in der wir uns treffen. Sie müssen nur noch ein Stück zurück: Um wie viele Minuten (schnellster Wert), das sagt Ihnen die Nummer des Hinweises mit der Telefonnummer «… 15». Wenn Sie vom bei Nummer 14 gesuchten Ort mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, geht es im besten Fall drei Minuten schneller. Wir richten uns nach den offiziellen Angaben. Aktuelle Infos zum Rätsel unter www.nzzfolio.ch.


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Nie Hand in Hand

Judit hat im Leben vieles erreicht – mit System, Ausdauer und unerbittlicher Härte gegen sich selbst. Nur der Liebe lässt sich so partout nicht beikommen. Von Anja Jardine

Es gab auch schöne Erlebnisse. Einmal war sie mit ihrem Vater im Wald von Szigetköz, um Wild zu beobachten, wie jedes Jahr am 24. Dezember. Judit in weissem Mantel und mit weissen Stiefeln, so hockten sie im Schnee, Rücken an Rücken, der Vater blickte in die andere Richtung. Judit war noch klein, sie sollte ganz, ganz still sein. Da kam ein Reh. «Es kam so nah, ich wusste nicht, was tun.» Nicht rühren, hatte der Vater gesagt, ihn bloss nicht erzürnen. Judit und das Reh sahen sich an. «Und dann», sagt sie und spricht so leise, als könne man das Reh noch heute verjagen, «streckte es den Hals vor und schnüffelte an meiner Schnauze.» Nein, sagt Judit, «man kann dem Papa nicht böse sein». Er habe nur ihr Bestes gewollt, nur deswegen immer ihr Bestes verlangt. «Hast du ein Resultat? Ja oder nein? Immer nur diese eine Frage. Ja oder nein?» Im Januar 2011 ist die Faktenlage eindeutig: Nein. Auch wenn es längst nicht mehr der Vater ist, der die Frage stellt, sondern Judit. Es lässt sich nicht leugnen. Judit ist noch immer allein. Dabei hat sie nichts unversucht gelassen. Sie hat mit allen in Frage kommenden Partneragenturen Kon­ takt aufgenommen, sich im Internet bei Parship, Elite Part­ ner und Friendscout registriert, drei bis vier Mal pro Jahr in der NZZ inseriert und regelmässig auf die Inserate suchen­ der Herren geantwortet. Da, der Beweis: zwei Ringordner, «Männer 2009» und «Männer 2010», voll mit Kontaktan­ fragen, E­Mail­Korrespondenzen, Internetprofilen, hand­ geschriebenen Postkarten und Briefen – ergänzt durch Visitenkarten, Firmenbroschüren, Konzertprogramme, Hintergrundrecherchen zu den Interessen der Kandidaten: Texte über Dürrenmatt, Supraleitungen oder Arktisfor­ schung, daneben Ausdrucke von Telefonbucheintragun­ gen und Wegbeschreibungen auf Google Maps. «Das ist ein absolut systematisches Vorgehen: Partner­ suche Judit», sagt Judit. «Du verfolgst eine Linie, geht es nicht weiter, nimmst du Alternative 1, dann Alternative 2.» Alles andere in ihrem Leben ist sie auch so angegangen: das Medizinstudium in Budapest – dank Bestleistungen durch ein Stipendium finanziert und summa cum laude abgeschlossen –, die Ausbildungen zur Fachärztin für Ra­ diologie, Akupunktur und Neuraltherapie. Dann, nachdem sie einen Schweizer kennengelernt, geheiratet und in sein Land gezogen war, das Schweizer Staatsexamen sowie die Facharztprüfung in Zürich. Beim Abschluss war die Ehe schon geschieden. Allein auf sich gestellt, gründete Judit ihre eigene Hausarztpraxis, eine Ungarin in Bern. Immer hat sie ihr Äusserstes gegeben, immer hatte sie Erfolg. Nur was die Männer anbelangt, ist der Wurm drin. Liebe Unbekannte, liebe Lady, liebe Inserentin, verehrte Freundin, liebes noch unbekanntes Du, Ihr Profil weckt

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mein Interesse, Ihr Inserat spricht mich an, Deine Zeilen machen mich neugierig. Judit hat mit zahlreichen Män­ nern korrespondiert, sie hat nicht wenige getroffen, man­ che mehrmals. Auf eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein, ein Abendessen, einen Opernbesuch, eine Velotour, eine Bergwanderung und, ganz selten, auch mal ein Wochen­ ende. Vereinzelt erreichte die Hoffnung einen solchen Pe­ gel, dass Judit mit einem Mann schlief, allerdings nicht, ohne ihn zuvor auf HIV, Hepatitis und Syphilis zu testen. «Ohne Pass keinen Sex», sagt Judit und schmunzelt. «Ich bin Ärztin. Ich sehe zu viel.» Es gab Anfänge, Hoffnungen. Aber keine Liebesbeziehung. Bisher. Neues Jahr, neues Glück. Anfang 2011 ist Judit guter Dinge. «Weitermachen», sagt Judit, «aber nicht verbittert, sondern fröhlich.» Notfalls allerdings mit unerbittlicher Härte gegen sich selbst. Zurückweisungen nimmt sie sportlich. Demüti­ gungen registriert sie, abstrahiert sie, heftet sie ab. Wie jene am Anfang ihrer Suche vor zweieinhalb Jahren. Judit war nach Zürich gefahren, um die in der NZZ annon­ cierenden Partnervermittlungsagenturen aufzusuchen. Unter anderem eine Dame, die auf ihrer Website verspricht, auch für Menschen älteren Jahrgangs Sicherheit und Schutz zu bieten. Nach dem Gespräch drückte sie Judit ei­ nen Einzahlungsschein für die 15 000 Franken Vermitt­ lungsgebühr in die Hand (für ein halbes Jahr «aktiv», da­ nach «Reserve»), musterte sie und sagte: «Sie sind ganz hübsch, aber mit Ihrem Alter wird das problematisch.» Da war Judit 51. Unterschrieben hat sie nicht. Judit ist nicht zimperlich. «Seelische Kränkungen oder Hysterie gab es bei uns zu Hause nicht», sagt sie, «das ge­ hörte sich nicht. Nur Fakten, Fakten, Fakten. Wenn es weh­ tut, musst du dich eben zusammenscheuchen.» Judit hat eine eigene Sprache. Sie ist nicht immer leicht zu verstehen, obwohl sie fliessend Deutsch spricht. Nicht selten schöpft sie eigene Worte. Um die zu decodieren, braucht es Übung und Geduld. Sich zusammenscheuchen zum Bespiel: den Schmerz in Schranken weisen. Zudem diktiert ihr ungarischer Akzent den Rhythmus ihrer Sätze. Ein Akzent, der an Worte wie Mosonmagyaróvár gewöhnt ist – dort ist Judit aufgewachsen, in der Hauptstadt von Szi­ getköz mit Auen an Donau und Leitha. Studiert hat sie in Budapest, wo noch heute die Fiaker durch das Schlossvier­ tel fahren. Deswegen sagt Judit jetzt auch: «Ich renne nicht nach einer Kutsche, die mich nicht aufnehmen will.» Die Ärztin sitzt auf der Behandlungsliege in ihrem Sprechzimmer, ein 53 Jahre altes Mädchen, ein sehr dün­ nes Mädchen, im rosafarbenen Wollkleid, mit rosafarbe­ nen Wollstrümpfen und einem scheuen, vergnügten Lä­

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Judit, 54 : ÂŤWas ist falsch an meinem profil?Âť

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ich liebe dich – wo bist du?

cheln. Die Füsse in den schwarzen Lackclogs baumeln in der Luft. «Am Wochenende war ich Ski fahren», sagt Judit. Erst seit zwei Jahren steht sie auf Ski und ist schon die Lau­ berhornpiste runter. «Du musst nur trainieren», sagt Judit, Dehnbarkeit zum Beispiel, und ehe man sich’s versieht, zieht sie den linken Fuss aus dem Schuh und hebt ihn hin­ ter den Kopf, zirkusreif. Im nächsten Moment rutscht das

Noch im Februar kommt es zur Staffelübergabe: Der Witwer verabschiedet sich höflich, der Luftikus stellt sich tot. dünne Mädchen auf dem Praxisboden in den Spagat. So ist Judit. Was sie macht, das macht sie richtig. Da kriegt viel­ leicht so mancher erst mal einen Schreck. Sie streicht das Kleid glatt, also, neues Jahr, neues Glück, oder nicht? Der dritte Ordner ist angelegt, die Angel bereits wieder ausgeworfen: «Treffen die unverzichtbaren Attribu­ te: 52–64, schlank, NR, ungebunden, erfolgreich, gutsitu­ iert, grosszügig, humorvoll, sportlich, ein Liebhaber der klassischen Musik, auf Sie zu? Dann sollten Sie sich bei mir (Ärztin, 53, 173, NR; temperamentvoll, schlank, unabhän­ gig, selbständig) melden. Handschriftliche Antworten mit Photo auf die folgende Chiffre.» Der Rücklauf auf das Inserat in der NZZ sei «so lala», sagt Judit. Nachdem sie die Kandidaten, die zu alt sind, die, die zu weit entfernt wohnen, die, die unseriös wirken, weil sie nichts Konkretes über sich verraten, sowie die Werbebriefe von professionellen Kupplern und das Gekritzel der Spin­ ner vom Typ: «Hi geile Sie, Lust auf einen netten boy» aus­ sortiert hat, sind noch zwei Herren im Rennen: ein solider Witwer aus Bern und ein Luftikus von Architekt, ebenfalls aus Bern. Beide hat sie bereits getroffen, und sie scheint zu ahnen, dass der eine zu solide ist, um nicht zu sagen: langweilig, und der andere zu wenig solide ist, um nicht zu sagen: ein Schürzenjäger. Trotzdem bleiben die Eisen noch im Feuer. Der Luftikus versetzt sie immerhin in leichte Unruhe – ein belebender Zustand, der einen Tick vom Alleinsein ent­ fernt ist. Öfter als sonst checkt sie das Display ihres Handys. Die stetig neuen Nachrichten, Briefe, Anbahnungen ma­ chen es möglich, sich eingebunden zu fühlen in das Netz von Menschenbeziehungen. Es ist ein bisschen so, als wenn man das Radio laufen lässt, um Stimmen zu hören. Judits letzte Beziehung liegt zweieinhalb Jahre zurück, sie dauerte fast neun Jahre. Eine Wochenendbeziehung. «Ich fühlte mich wie seine Mätresse», sagt Judit. Der Mann hatte all die Eigenschaften, für die sie emp­ fänglich ist: erfolgreich, wohlhabend, gebildet. Ein Öko­ nom in Führungsposition. «Er arbeitete wie ein Löwe, vol­ les Programm und jeden Tag Fitness», sagt Judit. «Er hat mich angespornt. Das hat mir eine Zeitlang gefallen.» Sein Tagesrhythmus allerdings war streng und erlaubte keine

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Abweichungen, das galt auch für Samstag, ihren gemeinsa­ men Tag: Ausschlafen, Einkaufen im Brockenhaus, Autos anschauen bei Ferrari und Porsche, Lebensmittel einkau­ fen in der Migros. Danach Gartenarbeit, Zeitung lesen, Ko­ chen, Sex. Und am Sonntagmorgen hiess es: «Ich habe noch zu tun.» Erst im Laufe der Jahre habe sie bemerkt, dass er an dem, was sie tat, kaum Anteil nahm, geschweige denn sie jemals unterstützte. «Als wir uns kennenlernten, drei Jahre nach meiner Scheidung, hatte ich keine eigene Persönlich­ keit in der Schweiz. Ich hatte immer studiert, gearbeitet und lebte sehr isoliert. Und dann kam er.» Als ihre Praxis anfing gut zu laufen, wurde es ein Wett­ kampf auf allen Ebenen, da hatten sich zwei gefunden. Fuhren sie Velo, fuhr er voraus, holte Judit ihn ein, sagte er: «Ich warte jetzt schon 2 Minuten 30 auf dich.» Auch beim Spazierengehen sei er immer zwei Schritte vorausgegan­ gen, sagt Judit, «nie Hand in Hand». Noch im Februar kommt es zur Staffelübergabe: Der Wit­ wer verabschiedet sich höflich, der Luftikus stellt sich tot, doch bevor Enttäuschung spürbar wird, materialisiert sich aus der Datenflut im Internet ein 66jähriger CEO. Nennen wir ihn F. Knappe Wortwechsel, leichtfüssig im Ton und immer schneller im Takt. Nach vier E­Mails von jeder Seite verständigt man sich auf ein Treffen im Hotel Bellevue. «Um 19 Uhr in der Lobby, in der Nähe vom Klavier», schlägt Judit vor. Sie trifft die Männer gern dort. «Es ist angenehm, nicht laut, dort gibt es bequeme tiefe Sessel. Und falls dir der andere nicht gefällt, kannst du schnell Abschied neh­ men.» Ausserdem ermögliche der Ort eine gewisse Selek­ tion. «Ist der Mann parkettsicher?» Die Kellner schmunzel­ ten jedenfalls manchmal, sagt Judit, «Wieder ein anderer!» «Gute Wahl, my dear», schreibt F., «Ciao e a presto!» Sei­ ne Nachrichten zeigen die klassischen Symptome von Un­ geduld und Vorfreude eines virtuell Verliebten. Ein merkwürdiger Zustand, so scheint es. Einer, der sich immer mal wieder einstellt und mit dem Gegenüber nicht zwangsläufig etwas zu tun haben muss. Im schlimmsten Fall rein gar nichts. Es ist, als geriete das Individuum völlig autonom dorthinein, ausgelöst durch einzelne Worte oder Fotos, die etwas in ihm zur Resonanz bringen. Zu den Akten gelegt jedenfalls werden nach dem Treffen im «Bellevue» nur noch zwei E­Mails, beide von Judit. Die erste ist eine Einladung, sie möchte sich revanchieren. Die zweite trägt den Betreff: stillschweigender Löwe. Darin bit­ tet Judit um eine Erklärung «für die exponentielle Senkung des Interesses». Der Löwe bleibt stumm. «Ich verstehe es nicht», sagt Judit. Sie würde es so gern verstehen, sachlich analysieren, sich jeder Wahrheit stel­ len. Aber dieses Schweigen am Ende ist eine harte Nuss. Einer hat sie mal wissen lassen, sie sei ihm zu anorektisch, ein anderer sagte, er könne ihre Sprache nicht verstehen, und noch einer schrieb in einem sehr schönen Brief, sie sei eine faszinierende Frau, aber es habe leider nicht gefunkt.

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ich liebe dich – wo bist du?

Doch das sind Ausnahmen. In aller Regel endet es wie bei F., wenn die Männer abspringen: sang­ und klanglos. Judit meldet sich immer ab. An Rückgrat mangelt es ihr nicht. Für das, was die Männer tun, hat sie feste Begriffe gefun­ den: Der hat mich gekündigt, rausgeschmissen, gelöscht, ist abgesprungen ohne Indikation oder «diplomatisch aus­ gerutscht», soll heissen: ausgewichen. Meist sagt sie es la­ chend, um im selben Atemzug hinzuzufügen: «Aber jetzt ist

10 Männer für 6000 Franken waren vereinbart und bezahlt, nach dem fünften teilte die Dame Judit mit: «Sie sind unvermittelbar, zu alt.» mir etwas Köstliches passiert …» – «Einen Moment, bitte», möchte man einwerfen, «ist F. schon überwunden?» – «Ja», sagt Judit, tapfer wie ein kleiner Soldat. Und etwas leiser: «Es darf sich nicht lagern.» In ihrer Seele. Judit rennt nicht nach einer Kutsche, die sie nicht aufnehmen will. Also, wenden wir uns der köstlichen Sache zu. Nach ihrer Scheidung hatte Judit sich bei einer Partnervermittlungs­ agentur in Küsnacht angemeldet und so ihren Exfreund kennengelernt, den Banker. Im gleichen Kandidatenpool war damals noch ein zweiter Banker, und just dieser Herr taucht nun im April 2011 bei Parship auf. «Vor 13 Jahren habe ich ihn in eine Anatomieausstellung in Basel ge­ schleppt», sagt Judit, «da ist er auf und davon.» Anatomie ist Judits Steckenpferd, das liegt in der Fami­ lie. Ihr Vater, ein Tierarzt, nahm seine drei Kinder früh mit in den Stall. «Mit fünf durfte ich die Ampullen halten oder die Pfötchen, mit sechs habe ich gelernt, die Lunge eines Pferdes zu auskultieren. Der Papa hat mir alles wunderbar erklärt. Er zeigte mir ein Gasödem unter der Haut eines Pferdes, sagte: ‹Schau mal, das ist ein Symptom einer Teta­ nusinfektion, so schön sieht man es nur ganz selten.›» Der «Tierarztpapa» funktionierte ausgezeichnet. Zum Internationalen Frauentag – im Sozialismus ein wichtiger Festtag – schenkte er seiner Tochter einen Sack Menschenknochen, in der Nähe war ein Friedhof aufgelöst worden. «Ich war überglücklich und recht überrascht. Acht Schädel auf einmal! Und jede Menge Oberarme, einige Oberschenkel. Wunderschön für eine Medizinstudentin im zweiten Jahr. Wir haben alles ausgekocht und die Schädel auf dem Balkon an der Sonne trocknen lassen.» Der «Privatpapa» war ein anderer. Streng, ungeduldig, despotisch. Lob gab es nie. Die Mutter fügte sich. «Du musst lernen», hiess es immer. «Sonst kannst du in der LPG Mais hacken.» Schlechte Leistungen wären für den Papa eine Schande gewesen. Wagte ein Kavalier einen Besuch, ver­ graulte der Vater ihn. Kaum war er weg, fragte er: Was war das für ein Regenwurm? «Ich habe wenig Erfahrungen ma­ chen können», sagt Judit, «das muss ich jetzt nachholen.» Sie war Anfang dreissig und Ärztin in einer Praxis in Bu­ dapest, als ihr klar wurde, dass es an der Zeit war, sich

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ernsthaft mit Männern zu beschäftigen. An Verehrern mangelte es ihr nicht. In dieser Zeit fragte sie ein Patient, ob sie einem Schweizer Freund Budapest zeigen könne, schliesslich spreche sie Deutsch. «Es ist kein Zufall, dass ich den genommen habe, der mich am weitesten fortführte», sagt Judit. Der Schweizer hatte Lebenserfahrung, war stark, gross. Doch schon bald fand Judit die Spuren seiner Lieb­ haberinnen im Ehebett. «Nach 4 Jahren minus einem Tag kam es zur Scheidung», sagt sie. «Es war so gut.» Der Banker jedenfalls wusste Judits Ausführungen über Gasödeme 1998 nicht zu schätzen und verliess damals fluchtartig die Ausstellung. Und nun erscheint sein Foto wieder auf Judits Bildschirm, übrigens nicht der erste alte Bekannte in diesem Jahr, über die Jahre lässt sich ein gewis­ ses Recycling feststellen. Doch es gibt einen Grund, warum Judit ein zweites Mal mit ihm Kontakt aufnimmt. Sein Bild erinnert sie an jemanden, ihre grosse Liebe in Budapest noch als Studentin, er war ihr Gruppenleiter an der Inter­ nistischen Fakultät, «klug, schön und scheu». Eine platoni­ sche Liebe. Die zufällige Ähnlichkeit verleiht dem Ex­Banker ein un­ verdientes Flair, als sie sich nun nach 13 Jahren zum zwei­ ten Mal treffen. Der Mann erkennt Judit nicht wieder, die Anatomie hat zum Glück keine bleibenden Schäden hin­ terlassen. Er berichtet von seinem beruflichen Werdegang, von seinen Plänen, Judit hört zu. Erst später, als die Um­ stände es verlangen, wird sie sich die Eindrücke wachrufen, die sie jetzt unbewusst registriert: «biologisch viel älter, Al­ tersflecken an den Händen, wenig Bewegung, städtisches Leben, absoluter Managertyp, kein Krankheitsgefühl, keine Wahrnehmung». Es sei furchtbar, sagt Judit, «als Doktor sehe ich alles». Wie neulich – als ein Herr ihr erzählte, er habe mit 50 einen Herzinfarkt gehabt. Judit dachte automatisch: «Medikation Betablocker, schwache Erektion.» Vom Body­Mass­Index über Bluthochdruck bis hin zu Impotenz aufgrund zu viel Testosteron vernichtenden Bauchspecks: Judits professio­ nellem Blick bleibt nichts verborgen. Dennoch lässt der Ex­Banker ihr Herz höher schlagen. Vielleicht liegt es an ihm, vielleicht am Nachglühen der Vergangenheit. Sie verbringen einen angenehmen Abend, «am Ende sagte er: ‹Ich muss jetzt in die Richtung, zum Bahnhof geht es dort entlang.› Das heisst, es ist aus.» Judit hat Abschiede zu deuten gelernt. Ein sofortiger Blick aufs Handy, kaum dass man auseinandergegangen ist, verheisst nichts Gutes. Ein Blick zurück lässt hoffen. Ein in Gedanken versunkenes Davongehen auch. Eine Frau nicht zum Bahnhof zu begleiten ist ein Zaunpfahl. «Das habe ich als schmerzhaft empfunden», sagt Judit, «aber klar interpretiert.» Der Frühling benimmt sich wie ein Sommer. Bäume und Sträucher erwachen explosionsartig, Silvesterraketen gleich, und füllen das Wartezimmer mit Allergikern. Judit,

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Neu: Knorr Saucen für feinsten Geschmack.

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Knorr Suprême Saucen: beste Zutaten für höchsten Genuss.


ich liebe dich – wo bist du?

die auch Komplementärmedizin anbietet, hat viel zu tun, «secklet von morgens bis abends». Wenn sie mit der Büro­ arbeit fertig ist, spielt sie im Röntgenzimmer Querflöte, turnt oder studiert Singleprofile im Internet, schnell und routiniert. Kommt es zu einem interessanten Kontakt, schlägt sie bald ein Treffen vor. Von langen Korresponden­ zen hält sie nichts. «Das ist Energieverschwinderei.» Einen Herrn trifft sie zum Lunch, 45 Minuten hat er ein­ geplant und nutzt die, um über die gewinnbringende Zer­ schlagung von Unternehmen zu referieren. Sie trifft zwei weitere, einen zum Apéro, einen zum Kaffee, und lernt et­ was über dies und das. Judit ist eine ausgezeichnete Zuhö­ rerin. «Es ist interessant, was so ich alles lerne.» Sie beendet die Skisaison mit dem Chamonixgletscher und meldet sich zu einem Tenniskurs an. Spätabends fährt

«Wenn du mein Blut willst, dann sofort.» – «Kein Problem», habe ich gesagt, «im Gepäckraum ist mein Notfallkoffer, bitte sehr.» sie manchmal zum Hotel Ambassador und schwimmt ein paar Bahnen im Hotelpool. Am Wochenende studiert sie die Kontaktanzeigen in der NZZ, antwortet auf die eine oder andere; es sind kurze Standardbriefe, deren erster Satz auf den Adressaten gemünzt wird. Stets unterzeichnet sie mit ihrem vollen Namen und verweist auf die Website ihrer Praxis. Judit ist für Transparenz. Das kann auch von Nach­ teil sein. Einmal antwortete sie versehentlich auf das Inserat ei­ nes Herrn, mit dem sie bereits vor zwei Jahren Kontakt hat­ te, ihn allerdings beendete. Da der Mann damals nicht lo­ ckerliess und sie mit unerquicklichen SMS belästigte, liess sie ihn wissen, sie habe jemanden gefunden. Nun schreibt er ihr wieder kryptische Nachrichten, in denen er sie als «typische Lügnerin aus dem Osten» beschimpft. Das gibt es immer mal wieder: Hassbriefe ohne Absen­ der – wirre Zeilen voller Rechtschreibfehler und kruder Ge­ danken: «Hoi akademisches Occasions­Guetsli … mit dei­ nem verzweifelte Sponsoringaufruf betr. Grosszügiger Gentlemen welcher unsere sanierungsbedürftige Ge­ schäftsfrau verwöhnen und auf Händen tragen soll» und so weiter. So etwas berührt Judit nicht. Sagt sie. Zumal die Absender der Wahrheit ferner kaum sein könnten. In aller Regel ist es Judit, die die Konzertkarten bezahlt. Ihr langjähriger Freund, zweifellos ein sehr reicher Mann, hat sie in den neun Jahren kaum je zum Essen einge­ laden, zum Geburtstag schenkte er ihr eine CD, und das Armband, das er ihr zuletzt aus Dubai mitbrachte, war aus Plastic. Nein, Judit sucht keinen Ernährer, keinen Sponsor, nichts dergleichen. Aber schön wäre mal jemand auf Au­ genhöhe, mal jemand, der so grosszügig ist wie sie selbst. Wie jener Mann, nennen wir ihn B., der ihr auf einem Spaziergang durch Bern unter den Lauben spontan einen Strauss roter Rosen gekauft hat. Überhaupt war sie mit B.

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dem Glück sehr nah, 2009. Er hatte auf ihre Annonce geschrieben, sie rief ihn an. Er wollte sie baldmöglichst treffen. Und da Judit grad in Biel war und er in Pfäffikon, verabredeten sie sich in der Mitte: Egerkingen, Raststätte Mövenpick. Der Anfang war filmreif: «Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Nach einem leichten Abendessen haben wir einen Spaziergang ge­ macht und uns über Architektur und Musik unterhalten, wir hatten genau den gleichen Geschmack. B. war so be­ geistert, hat mich umarmt, geküsst. Und als er später sagte, dass er sich mehr wünsche, rutschte mir heraus: ‹Ohne Check keinen Sex.› Spontan und originell, wie B. war, ant­ wortete er: ‹Wenn du mein Blut willst, dann sofort.› –‹Kein Problem›, habe ich gesagt, ‹im Gepäckraum ist mein Not­ fallkoffer, bitte sehr.› Dort sass er dann im Schein der Ta­ schenlampe, und ich zapfte ihm Blut ab. Meine einzige Sor­ ge war, dass er ohnmächtig werden könnte.» Am nächsten Tag schickte sie die Probe ein, und alles wurde gut. Es folgten herrliche Monate. B. kam nach Bern, besuchte ihre Praxis und zeigte Judit die Gebäude der Stadt, die er gebaut hatte. «Stolz, begeistert von seinem Werk, aber nicht hochnäsig», sagt Judit. Sie wurde seiner Familie vorgestellt, begleitete ihn zu einem Kundenanlass nach St. Moritz, alles sah nach Zukunft aus. Doch dann kehrte seine Exfrau zurück. «Damals hat mein Herz geblutet», sagt Judit. «Er hatte ein Lebensfeuer, das man selten findet.» Wieder treibt der Frühling Knospen, doch andere diesmal. An einem lauen Abend im Wonnemonat Mai erwartet Judit auf der Terrasse des «Bellevue» einen Herrn zum Dinner. Wie immer hat sie sich schön gemacht, und obwohl sie längst keine Illusionen mehr hat, ist da – auch wie immer – ein leichtes Kribbeln. Der Mann ist angeblich Privatier, ver­ bringt viel Zeit auf Barbados, widmet seine Tage dem Es­ sengehen und Golfspielen – nicht das, was Judit sucht. Aber eine Agentin aus Zug hat ihr «diese Begegnung ermög­ licht». Na, vielen Dank. Ebendieser Dame zahlte Judit bereits im Jahr 2006 (in einer Phase der Trennung von ihrem Exfreund) 4500 Fran­ ken für die «Unterstützung bei der Wahl eines passenden Partners», wobei die Agentur sich verpflichtete, «indivi­ duell abgestimmte Partnervorschläge» zu machen, «die Vermittlungsdauer geht bis zum Erfolg». Die Agentin prä­ sentierte Judit die Profile dreier Herren: zweiseitige Steck­ briefe über das Aussehen, die Selbsteinschätzung der Per­ sönlichkeit, Ausbildung, Beruf und Hobbies. Dazu jeweils eine Fotografie. «Einer hat mir gefallen, zwei nicht», sagt Judit. Dem einen, der ihr gefiel, ein Wirtschaftsboss auf ei­ ner Yamaha, gefiel wiederum Judits Foto nicht. So kam es zu keinem Treffen. Und fortan war die Vermittlerin wie vom Erdboden verschluckt. Judits Profil erschien nie auf der Website ihrer Agentur, Judits Anfragen, sowohl telefo­ nisch als auch per E­Mail, blieben unbeantwortet. Erst als Judit der Vermittlerin im Mai dieses Jahres mit­ teilte, dass ihre Partnersuche im Folio porträtiert würde

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und sie über ihre Agentur nur Schlechtes zu berichten habe, meldet sich die Dame prompt und bietet unverzüg­ lich einen Kandidaten auf, ebendiesen Privatier. Zum Rendez­vous erscheint ein Herr, der viel redet, nichts fragt, sich über Spargel und Wein beschwert und recht bald sagt: «Wir passen nicht zusammen», worauf Judit antwortet: «Das sehe ich auch so», worauf er kundtut, dass die Agentin ihn zu diesem Treffen überredet habe, eigent­ lich habe er nicht kommen wollen. Das macht 4500 Franken für drei Fotos, ein Rendez­vous und eine nicht zu bemessende Portion Demütigung, doch Judits Anwalt sagt, da könne man nichts machen. Mit Partnervermittlungsagenturen hat Judit keine guten Er­ fahrungen gemacht. Eine Agentur vermittelte ihr 2008 drei Profile für 2800 Franken, darunter ein psychisch kranker Mann, «der bereits drei Selbstmordversuche hinter sich hatte und mich mit stundenlangen Telefonaten heimsuch­ te, bevor er sich dann leider tatsächlich das Leben nahm. Die Vermittlerin hatte nicht bemerkt, dass er hochpatholo­ gisch war.» Jene Kupplerin aus Küsnacht, die ihr vor vielen Jahren ihren Exfreund vermittelt hatte, verlangte diesmal 6000 Franken für zehn Männer, nach dem fünften teilte sie Judit mit: Sie sind unvermittelbar, zu alt. Den Rest des Geldes erstattete sie nicht zurück. Eine deutsche Agentur, die Judit um eine Offerte bat, schickte eigens eine Mitarbeiterin nach Bern. «Eines Tages erschien in meiner Praxis eine grosse farbige Frau mit ei­ nem Yorkshireterrier, die vier Stunden lang Psychoterror veranstaltete, als ich mich weigerte, den Vertrag zu unter­ schreiben», sagt Judit. Die Agentin machte ein Riesendra­ ma, sagte, ihr Chef würde ihr die Hölle heissmachen, wenn sie das Geschäft nicht zum Abschluss brächte. Notfalls wür­ de man von 14 000 auf 12 000 Franken runtergehen. Die Dame informierte Deutschland, von dort kamen Anrufe, Judit wurde unter Druck gesetzt. Am Ende wurde sie die Agentin nur los, indem sie ihr 665 Euro für die Reisekosten gab. Den Vertrag hat sie nie unterzeichnet. Judit hat schnell damit begonnen, Konditionen und Ver­ träge von ihrem Anwalt prüfen zu lassen, und ist zum Schluss gekommen: «Weg von diesen Agenturen!» Selbst über ihr eigenes Profil musste sie den Kopf schütteln – aus ihrem Haus in Muri wurde stets eine Villa, «alles wird sechsmal hochgestapelt», sagt Judit.

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ENA Micro 9 – der kleinste One-Touch-CappuccinoVollautomat der Welt

Der Juni ist regnerisch, aber Judit macht eine tolle Entde­ ckung: die Happy Hour in Zürich, veranstaltet von einer 85jährigen Dame, die früher eine Partnervermittlung hatte und der es im Alter langweilig geworden ist. Zweimal im Monat lädt sie jetzt Singles um die fünfzig in ihre Attika­ wohnung in Kloten zu einem ungezwungenen Beisam­ mensein ein. Jeder muss sich vorab persönlich bei ihr vorstellen. Es kommen nie mehr als dreissig Personen, Männer und Frauen zu gleicher Zahl. Die Patronin offeriert

Uneingeschränkten Genuss auch bei eingeschränkten Platzverhältnissen bietet die ENA Micro 9 One Touch allen Liebhabern von Kaffeespezialitäten. Eine neu entwickelte, auf die Zubereitung einer Tasse abgestimmte Brüheinheit garantiert ein Espressoergebnis erster Güte und macht sie zum kleinsten Vollautomaten der Welt, der auf Knopfdruck und ohne Verschieben der Tasse Cappuccino und Latte macchiato zubereitet. JURA – If you love coffee

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Champagner, Gourmethäppchen und hält sich ansonsten zurück, das alles zu einem Unkostenbeitrag von 100 Fran­ ken pro Abend. «Ich bereite nur den Rahmen, den Rest müssen die Leute allein machen», sagt die Patronin, die gern anonym bleiben möchte. Hier fühlt Judit sich wohl. «Die Leute lachen von Herzen», sagt sie. Die Kunst be­ steht darin, nicht an einem Gesprächspartner hängenzu­ bleiben, sondern zu zirkulieren. Als Judit an einem Tisch landet, an dem zufällig drei Personen aus der Holzindustrie stehen, sagt sie, sie habe auch mit Holz zu tun. Sie erzählt, wie sie als Studentin in der Ambulanz gefahren ist und ei­ nen Schwerverletzen versorgen musste, dessen Bein noch unterm Tram steckte. Und wie unendlich froh sie gewesen sei, als sie sein Hosenbein aufschnitt und feststellte, dass er ein Holzbein hatte. Judit kann ausgesprochen witzig sein. Meist hält sie damit hinterm Berg, dass sie Ärztin ist, weil sie immer wieder die Erfahrung macht, dass die Herren gern en passant ihre Dienste in Anspruch nehmen. «Ich habe da ein Problem, darf ich dich mal anrufen?» Einer, der sich prompt in ihrer Praxis anmeldet, macht in der Happy Hour einen überwältigenden Eindruck auf sie: «Endlich ein solcher! Ein Industrieller, extrem leistungs­ fähig, er fährt Rennvelo, Mountainbike, Alpinski, Skating. Er ist Rennfahrer und Präsident eines Automobilclubs. Er besitzt mehrere Fabriken und ist politisch engagiert.» Ge­ wissermassen ein Alphamännchen in Hochpotenz. Die Untersuchung bestätigt unverwüstliche Männlich­ keit, zu Judits aufrichtiger Bewunderung lässt sich in dem Blut des Herrn «Null Komma null oxidativer Stress» nach­ weisen, nur zu viel Eisen, Ironman persönlich. Wen wundert es da, dass man sich noch im Sprechzimmer näherkommt bzw. übereinander herfällt. Das hat es noch nie gegeben. «Es ist selten so, dass meine Gefühle schneller sind als mein System», sagt Judit. Jetzt ist sie durch den Wind, jetzt schöpft sie Hoffnung, ignoriert das ungute Gefühl. Doch es ist ein Strohfeuer. Was sie anfangs für Leiden­ schaft hält, erweist sich als eine nicht ganz gesunde Libido. Schon bald tritt bei Judit Befremden an die Stelle der Lust. Sie ist froh, als die Liaison nach wenigen Treffen im Sande verläuft. «Er hat mich fasziniert», sagt sie, «aber sympa­ thisch war er mir eigentlich nicht.» Jedenfalls habe er ihr eine ganz neue Erfahrung gebracht: Sex ohne Vertrauen. «Nichts für mich», sagt Judit. Wochen später erfährt sie zu­ fällig von einem Patienten, dass ebendieser Herr wegen mehrerer Delikte angeklagt ist. Judit ist still in diesen Julitagen. Es scheint, als habe sie kei­ ne Lust mehr. Es scheint, als gäre etwas in ihr. Sie kündigt Parship. Sie arbeitet viel, lanciert in ihrer Praxis ein Stress­ präventionsprogramm, hospitiert in Stresskliniken. Am Wochenende fährt sie mit dem Velo 30 Kilometer nach Thun, trinkt dort zwei Cappuccini und fährt wieder heim. Abends isst sie manchmal allein auf der Terrasse des «Bellevue» und geniesst den Blick auf die Aare. Hin und wieder hat sie ein Rendez­vous, doch keines ist der Rede

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wert. Die Ausbeute ihres Juniinserats bringt das Übliche. Sie hat den Text leicht umformuliert, etwas weicher ge­ zeichnet; nun finden sich unter den Zusendungen mehr ältere Herren, die ihr unbeirrt schreiben, obwohl Judit die Altersgrenze bei 64 setzt. «Was soll ich mit einem 73jähri­ gen?» fragt Judit. Zumal die älteren Semester nicht selten eine potentielle Pflegerin suchen, da eignet sich eine Ärztin natürlich gut. Aber Judit schwebt anderes vor. Sie studiert

Judit schreit, wirft mit Blumentöpfen um sich. «Jedes Wort», sagt sie später, «schmerzte in meinen Ohren.» weiterhin die Profile im Internet, allerdings mit dem Elan eines Schülers, der Hausaufgaben macht. Auf Elite Partner erreichen sie nur noch wenig Anfragen, «was ist falsch an meinem Profil?» fragt Judit. Es ist ein Profil wie viele andere auch, die Fotos zeigen ein bisschen mehr Femme fatale, als sie ist. Dreierlei fiele dem flüchtigen Leser vielleicht auf: Dass sie zum Frühstück Fisch isst, dass sie, wäre sie ein Kunstwerk, eine Statue aus weissem Marmor wäre. Und dass «Ehrgeiz» ihr erstes Handlungsmotiv ist. «Und?» fragt Judit. Ehrgeiz ist im hiesigen Sprachgebrauch nicht eindeutig positiv besetzt, schon gar nicht bei Frauen. Das verblüfft Judit. Im Sozialismus sei das anders, sagt sie und schüttelt den Kopf. «Der Papa hat uns so trainiert», hat Leistung und Liebe untrennbar verknüpft. Nicht von ungefähr arbeitet sie unentwegt an der Optimierung ihrer selbst. Deswegen ist es ja auch so schwer zu verstehen: All die doch vermeint­ lich gesuchten Attribute verkörpert sie in Tat und Wahrheit. Sie ist eine erfolgreiche, gutsituierte Akademikerin, Unter­ nehmerin, Sportlerin und Musikliebhaberin, unabhängig, humorvoll und fit wie eine Dreissigjährige. Und trotzdem! Der Papa hat jeden Grund, stolz zu sein. Anfang September feiert Judit das zehnjährige Bestehen ihrer Praxis, die Eltern reisen aus Ungarn an. Das Ereignis ist generalstabsmässig geplant: Judit offeriert ihren Patienten ein schweizerisch­ ungarisches Buffet, präsentiert ihren Werdegang in einer kleinen Diashow, lässt drei Musiker ein klassisches Konzert darbieten, zu guter Letzt spielt sie selber «Die Forelle» von Schubert auf der Flöte. Mehr als hundert Patienten erschei­ nen, von jungen Frauen mit ihren Babies bis hin zu alten Mütterchen an Gehwagen, auch einige Männer. Und wer Judit zwischen ihren Patienten sieht – wie sie Wangen strei­ chelt, Hände drückt, Scherze macht –, begreift eines sofort: Sie ist eine hingebungsvolle Ärztin. Das ist es, denkt man, was endlich jemand entdecken sollte: dieses grosse, warme Herz, verpackt in schrägen Humor. Das Laub hängt noch an den Bäumen, da rafft Judit sich ein letztes Mal auf. Sie schreibt einen Sammelbrief an zwanzig Männer auf Elite Partner: «Ihr Profil ist sehr sympathisch,

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Judit freut sich auf die Weihnachtszeit, sie sagt: «Da bin ich wie ein Kind.» Sie liebt Märchen. Man wünschte ihr so sehr, dass eine Art Prinz des Weges kommt, vielleicht sogar in ihre Praxis, sie dort antrifft in ihrem rosa Kleid, den Fuss hinterm Kopf, und kurzschlussartig das Juditsche System ausser Kraft setzt. Noch ehe sie sich’s versieht, ist er wieder verschwunden, ihr zum Abschied ein Rätsel hinterlassend: «Es kommt in die Praxis, aber ein Patient ist es nicht. Es weiss, wo es langwill, aber ein CEO ist es nicht. Es besitzt grosse Reichtümer, aber situiert ist es nicht. Es hat viel ge­ lernt, aber einen Titel trägt es nicht.» Und dann müsste er eigentlich nur noch den Schuh verlieren auf seinem eiligen Weg die Treppen hinab auf die Strasse. Judit hinterher, das Rätsel längst entschlüsselt. Und unten, mitten in Bern, steht eine Kutsche und wartet auf sie.

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ich würde gern mehr über Sie erfahren.» Kurz und bündig wie ein Vermisstenaufruf im Kaufhaus. «Drei melden sich zurück, zwei habe ich getroffen, von beiden höre ich nichts mehr.» Der eine ist ein verwitweter Zahnarzt, der nach ei­ nem lockeren Treffen in Zürich zum Abschied sagt, er wür­ de sie in Bern besuchen, dann aber ihr Profil löscht, der andere ein Chemiker aus Deutschland, der sie mehrfach vertröstet, bevor er endgültig verstummt. «Warum bin ich so ein Männerschreck?» fragt Judit. Im Oktober rastet Judit aus. Sie hat eine sehr strenge Woche hinter sich – Praxis, Notdienst, kaum Schlaf, in einer Nacht muss sie sechs Hausbesuche machen. Zwischen­ durch ein Telefonat mit einem potentiellen Lebenspartner, der sie schroff abkanzelt, als er ihren Akzent hört. Danach wieder Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und dann am Sonntag reisst das Telefon sie aus dem Tiefschlaf, und dran ist ausgerech­ net der eine Mann, dessen Zuschrift auf ihr Septemberinse­ rat ihr so gut gefallen hat wie schon lange keine mehr. Zu­ mal sie den Absender kennt. Es ist ein Kollege aus Bern. Das Gespräch verläuft unglücklich, Judit ist so benommen, als sei sie betrunken. Als sie den Hörer auflegt, weiss sie, dass der sich nie wieder melden wird. Eine weitere Nieder­ lage in dieser endlosen, nicht zu begreifenden, bösartigen Aneinanderreihung von Niederlagen. Und dann kommt sie am Montagmorgen in die Praxis, und der Drucker funktio­ niert nicht. Die Assistentin weiss nicht, wo sie eine Patrone auftreiben soll, und warum der zweite Drucker auch nicht funktioniert, weiss sie auch nicht. Da läuft das Fass über. Judit schreit, wirft mit Blumentöpfen um sich. «Jedes Wort», sagt sie später, «schmerzte in meinen Ohren.» Erschöpft und zerbrechlich sieht sie aus. «Da kommt endlich mal einer, der mir gefallen könnte, und ich verpat­ sche das. Wie kann ich so angeschlafen sein?» Je wütender Judit ist, desto süsser wird ihre Sprache. «Es zeigt sich, dass ich ungeeignet bin für eine Partnerschaft. Es ist höchste Zeit, das zu sehen.» Und wohin mit der Sehnsucht?

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anja Jardine ist NZZ-Folio-Redaktorin. Die Bilder entstanden mit freundlicher Unterstützung des Hotels Bellevue, Bern.

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365 Tage Stress

Paolo verlagerte sein Leben ins Internet. Das Ergebnis: Hunderte Mails, Dutzende Dates, ausgefranste Nerven. Von Florian Leu

Es war wie ein Erwachen, als der Zwerg mit dem Lederhut auf ihn zukam. Ein Jahr lang hatte Paolo versucht, einen Mann kennen­ zulernen, den er lieben könnte. Ein Jahr voller Mails, Chats, Treffen in Bars, Blicken aufs Handy. Im September fragte einer über eine Datingseite nach Paolos Nummer. Er gab sie ihm, sie verabredeten sich für denselben Abend. Drei Stunden später sass Paolo vor der Bar und wartete. Da steu­ erte der Kleine mit dem Hut auf ihn zu, sprach ihn an und umarmte ihn. Er roch nach Rosen und Angstschweiss. Er sah aus wie ein Waldschrat. Sie redeten, sagten aber nichts. Paolo ging aufs Klo und rief eine Freundin an. Sie solle zurückrufen und darauf drängen, dass er ins Labor komme: ein Notfall wegen eines Experiments. Als er sich wieder neben den Kleinen setzte, klingelte das Handy. Er sagte, dass er leider losmüsse. Der Kleine meinte, er werde ihn fahren und auf ihn warten. Während der Fahrt schlug er aufs Steuerrad und rief: «Wie schön, dass wir uns begegnet sind! Was für ein Zufall!» Paolo stieg aus, verschwand im Gebäude, versteckte sich hinter einer Säule. Zwanzig Minuten später fuhr der Kleine endlich davon. Paolo ging heim und hasste die Welt. Er trank einen Wodka nach dem andern und schaute «Inglori­ ous Basterds», in dem Elitesoldaten einen Nazi nach dem andern über den Haufen schiessen. Das Mantra in seinem Kopf: Warum gerate ausgerechnet ich an einen Zwerg? Die Antwort: keine Ahnung. Aber ich verdiene etwas Besseres. Paolo ist 29, Filipino, Mikrobiologe, Musikjunkie, Ge­ schichtenerzähler, Gourmet. Bis vor sieben Jahren behielt er für sich, dass er Männer mag. Er wuchs in Manila auf, überall Sittenwächter, alles voller Ultrakatholiken. Nur im Internet war er frei. Hier sah er, dass er kein Freak war, sei­ ne Lust kein Wahn. Als er sein Comingout hatte, studierte er Medizin und Biologie in Atlanta. Er traf eine Freundin und redete stundenlang nur Belangloses, bevor er sich traute. Dann besuchten ihn die Eltern. Er wanderte durch einen Wald mit ihnen. Der Vater wollte schon heim, als Paolo sagte, er sei schwul. Die Eltern schwiegen und schau­ ten zu Boden. Sie nickten und wirkten, als hätten sie jeman­ den verloren. Paolo war damals mit einem Freund zusammen, neun Monate lang. Nach dem Abschluss gab er die Beziehung auf und zog nach Zürich, um an der ETH den Doktor zu machen. Das war vor drei Jahren. Seither hatte er Flirts, die verpufften. Dates, die nirgends hinführten. Stillstand. Herbst vor einem Jahr. Paolo beginnt den Stillstand zu has­ sen. Er geht zweimal am Tag joggen, eine Stunde morgens,

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eine abends, erst sechs, dann acht Kilometer. Lässt er einen Lauf aus, fühlt er sich mies. Geht er eine Woche nicht ins Kraftstudio, kommt er sich wie ein Weichling vor. Zehn Kilo leichter, kauft er Kleider, geht öfter zum Coif­ feur, steht länger vor dem Spiegel, entdeckt seinen Bizeps, meldet sich bei drei Datingseiten an: OK Cupid, Purple­ moon, Gay Romeo. Orte der schnellen und harten Sprache, Zärtlichkeit bitte anderswo suchen. Trotzdem reicht es manchmal, wenn er etwas liest, das ihm gefällt. Und er fühlt sich wieder wie ein Teenie: so hoffnungsvoll, so verdreht. Neujahr. Paolo reist nach Asien. Erst heiratet der Bruder auf den Philippinen, dann fliegen alle nach Japan. Silvester feiern sie in Kyoto, das zum ersten Mal seit zehn Jahren unter einer dünnen Schneedecke liegt. Einmal spaziert Paolo durch die Stadt und betritt ein Café, um sich zu wär­ men. Ein Mann setzt sich dazu, sie unterhalten sich fünf Stunden lang. Am Ende denkt Paolo, dass der Aberglaube stimmt und Unterwäsche Glück bringt, solange sie rot ist und man sie an Neujahr trägt. Wieder in Zürich, geht Paolo oft an Abendessen, die schwule Studenten veranstalten. Er lernt Leute kennen, mit denen er ab und zu etwas trinkt, mehr nicht. Obwohl nur fünf oder sechs Jahre älter als die Studenten, hat Paolo den Eindruck, er gehöre zu einer anderen Generation. Man kann Paolo wenig vorwerfen. Er ist einer, der bessere Fragen stellt als neun von zehn Journalisten. Suchen Freun­ de Musik, fragen sie ihn. Wenn sie wissen wollen, wie ein Album entstanden ist, erfahren sie von ihm, dass der Sän­ ger sich nach einer kaputten Liebesgeschichte in eine Blockhütte zurückzog und einen Winter lang alle Instru­ mente selber spielte. Paolo fährt oft nach Paris, seine Gross­ mutter hat dort eine Wohnung. Die Liste der Pariser Re­ staurants, die er besucht hat, ist lang wie eine Speisekarte. Er liebt Gelage, gibt fast all sein Geld dafür aus. Gespräche mit ihm langweilen nie. Wer zuhört, könnte ihn für einen Schreiber halten, der seine Stories vor Publikum testet. Wenn ich ihn Freunden vorstelle, sagen sie später, was denn das für einer gewesen sei. Einer, der sich an alles erin­ nert, was ich ihm anvertraue. Einer, mit dem ich mehr la­ che als mit den meisten. Was mit seinem Witz zu tun hat, aber mehr noch mit seiner Ehrlichkeit, die gnadenlos und erfrischend ist. Als einer fragte, ob er an der Hochschulsta­ fette teilnehme, sagte Paolo mit einem Lächeln: «Ich laufe nicht zum Spass. Sondern aus Selbsthass.» Fast all seine Freunde sind in einer Beziehung. Mit ihnen auszugehen erinnert ihn daran, dass er das fünfte Rad am Wagen ist, der Pausenclown. Als würden sich die Paare zwi­ schendurch einen Alleinunterhalter leisten, der ihnen den

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paolo, 29: ÂŤich bin einfach unsicher, was meine Chancen angeht.Âť

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Abend versüsst, seine Pappnasen und Zaubertricks dann aber wieder einpackt und einen Abgang macht. Warum ist einer allein, der interessant und interessiert ist? «Weil ich wenig tue, um es zu ändern. Und wegen der Sprache. Die ist aber eigentlich nur eine Ausrede. Ich bin einfach unsicher, was meine Chancen angeht. Ich habe einfach Zweifel, dass jemand mich will.» Mit Mathe zur Liebe des Lebens März. Paolo schreibt mehr Mails denn je, schreibt sie in die kleinen Dialogfenster der Datingseiten. Oft bekommt er Antworten, die einer Aufgabe gleichen: Finde die dreissig Fehler. Oft kommen auch gar keine Antworten. Der Refrain des Onlinedatings ist kurz: «Profil gelöscht.» Paolo lernt Frank aus London kennen. Sie treffen sich auf einer Seite, auf der man viel von sich preisgibt und die Schnittmenge abgleicht. Bei Paolo und Frank beträgt die Quote neunundneunzig Prozent. Die Seite heisst OK Cupid, das Produkt von fünf Statistikern. Nutzer können mehr als 700 000 Fragen beantworten und angeben, wie wichtig es ihnen ist, dass der Gesuchte diese oder jene Frage gleich beantwortet: mit Mathe zur Liebe des Lebens. In drei Wochen tauschen sie über vierhundert Mails aus, meist über eine Seite lang. Paolo schaut alle zehn Minuten auf sein iPhone, kontrolliert dauernd seine Mails und glaubt es kaum, wenn nichts Neues eingetroffen ist. Beim Joggen wählt er die Strecke so, dass er zwei Runden dreht. Wenn er an seiner Wohnung vorbeikommt, rennt er hoch und checkt rasch die Mails. Schliesslich reden sie am Telefon, ein Gespräch voller Anspielungen. Später schläft Frank mit einem Ex, der ihn dann zurückweist. Er ist traurig, flennt in den Hörer. Paolo tröstet ihn und fürchtet, das Ganze könnte zur Freund­ schaft werden. Trotzdem machen sie Pläne, nach Spanien zu reisen. Stattdessen fliegt Paolo für einen Kongress nach England. Als er das Visum erhält, zittern seine Hände, schnürt sich sein Hals zu. Bevor er geht, sagt er: «Es macht mich froh, dass ich mich so treiben lasse.» Bevor er das Flugzeug zurück nimmt, sagt er: «Ich weiss jetzt, wie gut ich darin bin, mich in etwas reinzusteigern.» Sie trafen sich in einer Bar. Schon als Frank reinkam: sofortiges Schmetter­ lingssterben. Aber das Gespräch sei nett gewesen. April. Als wir uns treffen, sieht Paolo blass aus und redet wenig. Die Sache mit Frank hat ihn ausgezehrt. Er kommt sich wie ein Phantast vor, der aus Prozenten, Buchstaben und einer Stimme die Möglichkeit einer Liebe gebastelt hat. Wir schweigen eine Weile. Dann reden wir über die Aus­ sichtslosigkeit, jemanden zu finden. Irgendwann erwähnt Paolo die Gleichung von Frank Drake. Der Astronom aus Chicago hat sie vor fünfzig Jahren auf­ gestellt und so die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass es im Weltall Planeten gibt, deren Bewohner Zeichen in den Raum senden, so wie wir. Erst zählte Drake die Sterne, die gross genug sind, um ein Sonnensystem zu beleuchten.

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Dann zog er jene ab, die keine Trabanten haben. Später jene, deren Planeten vom Licht zu weit weg sind. So machte Drake weiter, am Ende hatte er nur noch ein paar Planeten übrig, zwei oder drei. Seine Kollegen waren skeptisch und meinten, dass wir völlig allein seien. Andere hielten das für Platzverschwendung und sagten, es gebe noch eine Menge Welten da draussen. Zum Spass übertragen wir die Glei­ chung auf die Partnersuche und nehmen an, ein Mann su­ che im Raum Zürich nach einem Freund. Die Hälfte der Einwohner fällt weg, denn der Mann sucht nur nach Männern. Es wäre gut, wenn der Gesuchte weder im Altersheim sitzt noch Pickel ausdrückt, sondern so alt ist wie der Suchende: 25 bis 35. Etwa ein Zehntel würde übrig bleiben: 50 000. Es wäre von Vorteil, wenn ein dreistelliger IQ vorhanden wäre. Sagen wir, der Gesuchte müsste einen Hochschulabschluss haben. Was die Zahl um drei Viertel kürzen würde: 12 500. Weil der Suchende Indie liebt, müss­ te auch der Gesuchte eine Neigung zu Gitarrenmusik ha­ ben, Abteilung Einfühlsamkeit. Sagen wir, dass jeder zehn­ te solche Musik mag: 1250. Der Jemand hätte gern einen Mann, der die Haare auf seinen Beinen in Ruhe lässt und auch ohne ein Badezimmerschränkchen voller Crèmes und Salben auskommt. Bei all den rasierten und androgy­ nen Typen, die ein gestreiftes Leibchen über die Hühner­ brust ziehen und in Röhrenjeans herumlaufen: 500. Es ist schwer, Chemie in Zahlen zu fassen. Doch gehen wir davon aus, dass der Suchende zehn Prozent aller Män­ ner riechen kann, was immer noch ziemlich viel ist: 50. Nach Abzug der Schnarcher: 30. Nicht ganz unwichtig ist auch, dass nur Schwule in Frage kommen. Ihr Anteil liegt in der Schweiz bei fünf bis zehn Prozent, je nach Schätzung. Ausserdem sollte der Gesuchte fliessend Englisch spre­ chen. Bleiben fünf haarige, maskuline, belesene, englisch­ sprachige, nicht schnarchende Männer ohne Hühnerbrust und Crèmetubensammlung, irgendwo im Raum Zürich, ei­ ner Fläche so gross wie London. Doch dachten wir nicht daran, dass viele schon einen Freund haben. Da waren es nur noch zwei. Zwei von einer Million. Viel Glück. Matt sitzen wir an unserem Restauranttischchen. Trams rattern die Universitätstrasse hoch. Paare gehen vorbei und umarmen sich. Wir hocken da und schweigen. Wenn das kein Zeitungsbericht, sondern ein Film wäre, liefe jetzt ein Lied von Stiller Has. Schlichte Gitarre, sanftes Schlagzeug, dann die tiefe Stimme des schweren Sängers: «Verlore wie ne Gagu / Schwäben i dürs läären All / U us däm All da gits kei Uswäg, will / Will das hueren All isch überall.» Juli. Mittwochs ist «Heldenbar», der schwule Abend im «Provitreff», einem Club im Kreis 5. Unter der Discokugel tanzen Männer in engen Shirts, die aussehen wie riesige Nussknacker. Ihre Blicke grasen das Gelände mit der Regel­ mässigkeit eines Radars ab. Paolo, eher klein, schlüpft un­ ter dem Radar durch. Über eine Treppe gelangt man auf eine Terrasse, wo einem die Limmat vor den Füssen vorbei­ fliesst. Paolo verhält sich wie immer: neugierig, redselig,

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Bis wir Beni Stöckli und sein Team auch in Zukunft erfolgreich unterstützen können, wollen wir nicht ruhen.

Können Sie unternehmerischen Herausforderungen ebenso zuversichtlich entgegenblicken wie Beni Stöckli? Beni Stöckli ist CEO von Stöckli Outdoor Sports. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MTO3NAEAH8RE0w8AAAA=</wm>

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In dritter Generation stellt er mit seinem Team Qualitäts-Skier her, die in der Schweiz und zunehmend auch in ausländischen Märkten stark nachgefragt werden. Der anhaltende Erfolg von Stöckli Outdoor Sports basiert dabei auf dem Wissen und Können der Mitarbeitenden, die das Unternehmen mit ihrer Erfahrung und innovativen Ideen konstant vorwärtsbringen und neue Märkte mit Produkten wie dem Stöckli-Elektrobike erschliessen. Bei UBS kennen wir die finanziellen Herausforderungen, denen sich KMU auf nationalen und internationalen Märkten stellen müssen. Darum können unsere Experten Unternehmen wie Stöckli Outdoor Sports gezielt beraten und sich bietende Chancen aufzeigen. Und bis wir das auch für Sie tun können, ist eines sicher:

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ich liebe dich – wo bist du?

zugewandt. Leute lernt er keine kennen. Dennoch kommt er oft hierher, um mit Freunden zu trinken. Wir stehen am Wasser, es ist lau und schön. Paolo sagt, die vergangenen Wochen seien schlimm gewesen, dann erzählt er nur Gu­ tes. Er sagt, er habe sich in letzter Zeit beschissen gefühlt, dann lächelt er nur. Nach drei Drinks reden wir über das Konzept der «Melancholie light». Vielleicht habe alles mit dem Teufelskreis zu tun, in den Leute gerieten, die sich lange nach jemandem sehnten. Wer niemanden habe, sei der Einsamkeit und der Traurigkeit manchmal ausgeliefert, auch wenn es ihm meist gutgehe. «Wer jemanden will, darf auf keinen Fall zeigen, dass er auch mal einsam und traurig ist. Zeigen darf er höchstens Melancholie light.» Er verscheucht eine Mücke. Dann erzählt er vom Kon­ zert eines japanischen Künstlers, das er vor kurzem ge­ sehen hat. Auf der Bühne standen Roboter und machten Musik. «Ich nahm mir vor, wenigstens einen Roboter abzu­ schleppen», sagt Paolo. Später schildert er, wie er mit ei­ nem Mann ausging, den er durch die Arbeit kennengelernt hatte. Sie tranken, sie tanzten, nach einer Weile fiel seinem Begleiter ein Scheinwerfer auf den Kopf. Blut, Ambulanz, Notfallaufnahme. Gesehen haben sie sich dann nicht mehr. August. Seit ein paar Wochen ist Andrew in der Stadt, ein dünner, nachdenklicher Business Consultant aus England. Von einer Freundin hört Paolo, dass Andrew ihm gefallen könnte. Im August lernen sie sich kennen und ziehen bis fünf Uhr morgens durch die Bars an der Langstrasse. Nach dem zweiten Treffen schreibt Paolo mir eine Mail: «Wir haben vor dem ‹Exil› abgemacht, er kam fünf Minuten zu früh. Eine Stunde mussten wir warten, dann konnten wir rein. Ich plane immer wie ein Besessener und habe eine Liste gemacht mit Themen. Auf die hätte ich zurückgreifen können, wenn es öd geworden wäre. Ich wäre einfach kurz aufs Klo, hätte die Liste konsultiert. Aber gestern brauchte ich keine Listen. Zweimal verkniff ich es mir sogar, auf die Toilette zu gehen: Ich wollte das Gespräch nicht unterbre­ chen. Ein Gespräch über Musik, das Leben im Ausland, Schwulenstrände in Spanien. Über Bären und Leder und Kink – worauf er nicht so steht. Na ja, keiner ist perfekt! Ich habe genug erfahren, um mehr wissen zu wollen. Wir haben Pläne für Samstag skizziert: Wir wollen eine Tour durch die Schwulenbars der Stadt machen. Es gibt so viel, was ich ihm zeigen will! Irgendwie sollte ich da auch noch ein Abendessen drunterjubeln. Wüsstest du vielleicht eine Adresse? Und wir haben vor, im Oktober nach Paris zu fahren. Wir werden nicht allein sein, aber wir werden wohl ein Zimmer teilen. Er warnte mich, dass er schnarche. Aber wer hat denn gesagt, dass wir schlafen werden? Ich staple jedenfalls schon einmal die Gatorade­Flaschen. Es fällt mir schwer, nicht zu lächeln. Es fällt mir schwer, nicht jede Se­ kunde von gestern nacht in Zeitlupe anzugucken.» Um wieder nüchtern zu werden, reden wir über die Vor­ gänge im Kopf von Verliebten: Wenn zwei sich näherkom­ men, werden die Hirnwindungen zu Achterbahnen für

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Dopamin. Es lässt das Lustempfinden in die Höhe schnel­ len, steigert den Tatendrang, verringert die Traurigkeit. Wenn Menschen sich zu lieben beginnen, geht nichts ohne eine Dosis davon, zumindest am Anfang. Später kommt Oxytocin dazu: Das Vertrauen steigt, die Anhänglichkeit nimmt zu, die Angst schwindet dahin. Vasopressin erhöht die Erregung und lässt den anderen hübscher wirken. Zu­ letzt sinkt der Serotoninanteil im Blut: Verliebte werden zu Besessenen, begegnen Konkurrenten mit mehr Aggression. Dieses Wissen könnte Psychiatern bald helfen, Leute mit Liebeskummer zu behandeln. Interessant an der Hirnche­ mie ist auch, wie die Phasen sich ablösen: die Mechanik der Liebe. Die Botenstoffe stärken die Wahrnehmung, die ihrerseits Botenstoffe anregt, was weitere Reaktionen nach sich zieht. Man kann das zu nutzen versuchen. Ein Besuch auf dem Rummelplatz zum Beispiel kann dazu führen, dass das Gehirn des Begehrten Dopamin ausschüttet. Was mit etwas Glück eine Kettenreaktion in Gang setzt. Paolo erzählt von einem Gehirnforscher, der das ver­ sucht und an einer Konferenz davon berichtet hat. Der Mann musste für eine Konferenz nach Indien, mit dabei war eine Kollegin, die er heimlich liebte. Da er gerade keine Achterbahn griffbereit hatte, lud er sie zu einer Rikscha­ fahrt ein, eine Nahtoderfahrung, eine Dopamingarantie. Sie rasselten dahin, immer wieder knapp an einem Zu­ sammenprall vorbei. Die Frau kreischte vor Angst und vor Glück, fast eine Stunde lang. Sie stiegen aus, der Mann fand sie schöner denn je. Sie rief, was für eine Freude die Fahrt gewesen sei. Dann sagte sie: «Und hast du gesehen, was für ein unglaublich schöner Mann der Rikschafahrer war?» Die wärmste Woche des Jahres Zwei Tage nachdem Paolo und Andrew zum ersten Mal al­ lein unterwegs waren, gehen wir laufen. Er ist schnell, das Gespräch atemlos. Er sagt, er habe die Hoffnungen bereits wieder gedimmt. Er wolle nicht erneut riskieren, enttäuscht zu werden. Als er Frank kennenlernte und sah, wie sich ihre Interessen glichen, wurden seine Beine zu Gummi. Nach­ dem er gemerkt hatte, dass nie etwas daraus würde, blieb er eine Weile still, meldete sich selten, wirkte kühl. Einmal schrieb er eine Mail mit nur zwei Zeilen: «Zurzeit ist all mei­ ne Hoffnung im Keller. Aber ich erhole mich schnell.» Wir laufen der Limmat entlang, als Regen einsetzt. Erst sprüht es, dann giesst es, nach drei Minuten sind wir nass Wir rennen weiter, einmal schlägt ein Blitz neben uns ein. Aber auf dem Weg zurück spannt sich ein doppelter Regen­ bogen über die Stadt. Beim Bier danach entwerfen wir die Tour durch die Schwulenbars. Der Plan: Mit einem Abendessen anfangen, vielleicht im Niederdorf, vielleicht im «Little Istanbul», so­ fern man draussen sitzen kann. Dann auf einen Drink ins «Daniel H.» an der Müllerstrasse und immer darauf achten, dass Andrew sich schön betrinkt. Die Langstrasse hoch und ins «Provitreff». Von dort wären es noch etwa fünfzehn Mi­

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ich liebe dich – wo bist du?

nuten nach Hause, und unterwegs könnte man sich am Fluss küssen, vielleicht auf der Brücke hinter dem Damm­ weg. Falls Andrew dann doch nicht will, aus welchen Grün­ den auch immer: alles auf den Alkohol schieben. Am Morgen nach dem Date kommt eine Mail: «Es war gut, kein Zweifel. Viele gute, ein paar wenige schlechte Zei­ chen. Statt nur etwas zu trinken, machten wir tatsächlich eine Nacht mit Abendessen daraus. Er hatte drei Angebote für den Abend, wollte aber mit mir umherziehen. Fünf Stunden sprachen wir ohne Pause. Erst hatte ich Angst, dass die Leute in der Bar ihn ablenken würden. Aber er achtete nur auf mich, als stünde ich in einem Lichtkegel. Wir sprachen über Merkmale, die wir mögen. Ich passte voll in sein Schema. War es seine Absicht, mir all das zu sa­ gen? Jedenfalls: Wir werden uns am Samstag wiedersehen, wenn wir unsere Gruppen bei der ‹Roten Fabrik› zusam­ menbringen. Weniger gute Zeichen: Es mache ihm nichts aus, Single zu sein. Er wisse noch nicht, ob er im Dezember wegen der Arbeit anderswo hinziehen müsse. Er fände es schön, wenn sein Ex auf Besuch käme. Ist er denn noch nicht über ihn hinweg, nach mehr als sechs Monaten? Das bedeutet vielleicht mehr als der Rest: Wir haben uns kaum berührt. Wir sind so unbeholfen, als stünden wir zum ers­ ten Mal auf Kufen. Nur der Schluss war gut: eine lange Um­ armung. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, schrieb

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ich eine Nachricht: Hey Andrew, das hat Spass gemacht heute. Es passiert selten, dass ich Leute treffe, mit denen ich mich so gut verstehe. So unwahrscheinlich es ist, dass du einmal gelangweilt in deiner Stube sitzt – lass es mich wis­ sen, und wir können etwas unternehmen.» Zwei Tage später wieder eine Mail: «Die einzige Hürde ist die Zeit. Ich warte gern noch eine Weile, vielleicht noch eine Woche, höchstens zwei. Er sollte meine Absichten jetzt kennen, denn subtil bin ich nicht. Er sollte sich entschieden haben. Und er sollte wissen, dass solche Treffer selten sind. Ich grüsse dich mit eisernem Willen und geballter Faust.» Paolo kauft zwei Tickets für die «Lethargy» in der «Roten Fabrik», eine Nebenveranstaltung der Street Parade. Er richtet Andrew aus, dass er sich einfach melden solle, wenn er vor dem Eingang stehe. Alle fünf Minuten schaut er aufs Handy, alle fünf Minuten checkt er die Zeit und die Nach­ richten, die Mails und den Facebook­Account: nichts. Später sagt Andrew, er habe verschlafen. Paolo rast vor Wut. Zwei Wochen später trifft er ihn trotzdem wieder und kocht die alten Hoffnungen hoch. Als sie auf dem Heimweg sind, fragt Paolo, was nun aus ihnen werde. Andrew sagt mit einem Schulterzucken, dass er über seinen Ex nicht hinweg sei und ihn bald besuchen werde. Das war’s. September. Paolo trifft den Zwerg mit dem Lederhut und wacht neben einer Wodkaflasche auf. Er quält sich aus dem

Die arabische Welt in der Feuerprobe. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTGwMAMAzGN3tg8AAAA=</wm>

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ich liebe dich – wo bist du?

ner passen hinein. Paolo ist der Jüngste. Er fürchtet, dass er ausflippt vor Freude. Das Essen beginnt, bevor er den Zwölfgänger bestellt und ein Kellner die Vorspeisenorgie auftischt. Der erste Happen steht bereits vor ihnen: der Blu­ mentopf. Die Blüten schmecken köstlich, gefüllt mit Bir­ nenpüree und Schnecken. Ein Glas voller Eiswürfel, darin winzige Garnelen, die noch leben, eine für jeden. Ein Stück Rentiermoos aus Schweden, zusammen mit Crème fraîche. Ein einziges Caramel, das aber nicht mit Butter gemacht wurde, sondern mit geräuchertem Knochenmark. Eine ein­ zige Karotte, garniert mit Trüffeln aus Gotland, der schwe­ dischen Insel, wo die Götter gelebt haben sollen. Paolo schreibt, er habe den Trip geliebt und den ganzen Schmarren schon fast vergessen. «Die Reise erinnerte mich daran, was für ein unglaubliches Glück ich habe. Ich lebe in Europa, mit all seinen tollen Städten. Ich habe die Zeit, um einfach nach Dänemark zu fliegen, mitten im Semester. Ich habe das Geld, um im besten Restaurant der Welt einzu­ kehren. Und ich habe Freunde, die nach Kopenhagen kom­ men, um mit mir etwas zu essen. Was will ich mehr? Auch in Kopenhagen hatten wir Glück: Diese Woche im Oktober – sie war die wärmste des Jahres.»

Bett und sieht eine Nachricht von ihm auf dem Handy: «War sehr intresant gestern. Wann sehen wir uns wider?!» Er schaltet das Notebook an und löscht seine Profile. Er geht laufen, aber nur eine Runde. Es ist Sonntag, und er fährt zur Arbeit. Er kommt gerade gut voran, drei Langzeit­ projekte gleichzeitig. Wenn sie gut enden, wird er sich dank seiner Dissertation nie mehr Sorgen machen müssen. Paolo sitzt vor dem «Daniel H.», es könnte der letzte war­ me Abend des Jahres sein. Er wirkt sorglos und sieht gut aus. Manchmal, sagt er, machen ihn Enttäuschungen auf seltsame Weise fröhlich. Alles mal wieder den Bach runter, alles wie gehabt. Wie im Film «Alexis Sorbas», in dem am Ende die ganze Konstruktion zusammenbricht. Aber bevor der Abspann kommt, tanzt Sorbas trotzdem am Strand her­ um. «Ich habe mich verausgabt in den letzten Monaten, mir die Finger krummgeschrieben, mich auf alle möglichen Typen eingelassen. Meine Hoffnung ging hoch und runter wie die Kurve eines Kardiogramms. Jetzt ist erst mal gut. Ich entspanne mich einfach und warte und lerne.» Oktober. Am 4. Oktober, genau drei Jahre nach seiner An­ kunft in Zürich, isst Paolo mit Freunden im «Noma», das als bestes Restaurant der Welt gilt. Sie essen und trinken vier Stunden lang, überfressen und betrunken fühlen sie sich nie. Das «Noma» liegt in Kopenhagen, 45 Gäste und 43 Kell­

Florian Leu ist Volontär beim NZZ Folio. Das Bild entstand mit freundlicher Unterstützung der Bar Daniel H, Zürich.

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Rendez­vous mit Romy CH­Frau, 68, 163cm, NR, jung geblieben, attraktiv, schlank, sucht humorvollen Mann (63–73) mit Niveau. Von Barbara Schmutz

Die «Glückspost» ist ihr Lieblingsheft. Sie hat sie abonniert, für 164 Franken im Jahr. Das kommt sie 17 Prozent günsti­ ger als im Einzelverkauf, und das Fernsehprogramm ist auch gleich dabei. Jeden Donnerstag holt sie die neuste Nummer aus dem Briefkasten, trägt sie in ihre Wohnung im ersten Stock, legt sie auf den Esstisch. Als erstes schlägt sie das Leserangebot auf. Vielleicht wird wieder eine Musikrei­ se angekündigt, vielleicht eine Fahrt ins Österreichische, vier Übernachtungen und ein Konzert mit Hansi Hinter­ seer. Dann liest sie die Rendez­vous­Spalte. Sie hat schon oft auf Inserate geantwortet, die in der «Glückspost» er­ schienen sind, eine Antwort bekommen hat sie noch nicht. Einmal hat sie selber inseriert. In einem Brief, den sie be­ kam, schrieb einer, er suche eine Tiefseetaucherin. Etwa hundert Franken haben Romy die Zeilen damals gekostet, einen Bruchteil dessen, was sie für die Suche nach dem Mann fürs Leben bisher ausgegeben hat: 10 000 Fran­ ken. Warum sie noch keinen gefunden hat, weiss sie beim besten Willen nicht. Im August feierte sie ihren 69. Geburts­ tag. Das aber gibt ihr keiner, sie sieht ja zum Glück deutlich jünger aus. In ihrem Gesicht haben sich keine Furchen ein­ gegraben, ihre Figur ist mehr als passabel, und ihr Outfit, dünkt sie, hat nichts gemein mit dem «Müeti»­Stil, den Gleichaltrige sonst spazierenführen. Das dunkle Mauve, das auf ihren sorgfältig manikürten Nägeln schimmert, harmoniert mit ihrem Rollkragenpulli, und die Haare sind so schwarz wie die Jeans, die sie trägt. Sie sind gefärbt. Graue Haare kommen nicht in Frage. Die machen alt. Seit sie pensioniert ist und seit ein langjähriger guter Be­ kannter sich vor zwei Jahren nochmals verliebt hat und aus ihrem Leben verschwunden ist, nagt die Einsamkeit an ihr. Weihnachten 2010 verbrachte sie, wie die Jahre zuvor, al­ lein. Sie kochte sich ein Gulasch mit Kartoffelstock und Ge­ müse. Sie machte eine Flasche vom australischen Rotwein auf, den sie fünf Jahre vorher an der Züspa gekauft hatte. Ein süffiger Tropfen, genau richtig für spezielle Anlässe. Neben dem Teller, in einem hohen, schlanken Ständer, brannte eine Kerze. Sie ass früh. Sie wollte parat sein, wenn um 20 Uhr 10 im Schweizer Fernsehen «Weihnachten auf Gut Aiderbichl» beginnt, moderiert von Francine Jordi und Marc Pircher, dem österreichischen Volksmusikstar. Spä­ ter, im salzburgischen Henndorf waren die Scheinwerfer schon lange erloschen, zappte sie durch die Kanäle und schaute Filme bis in alle Nacht. Sie mag die Festtage nicht besonders. Dann ist es noch anstrengender, dafür zu sorgen, dass einem nicht das Dach auf den Kopf fällt. Als die Tochter noch lebte, feierte sie Weihnachten mit ihr. Im Januar 2003 starb sie, erst 34 Jahre alt, ihr einziges Kind.

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Der Anteil der Menschen, die sich im Alter einsam fühlten, sei stark gesunken, sagt François Höpflinger, Soziologie­ professor in Zürich und Experte in Altersfragen. Der Rück­ gang hat mit dem Netzwerk zu tun, das sich weiter ver­ zweigt als früher. An die Stelle der Verwandtschaft, die man früher vor allem pflegte, sind selbstgewählte Freundschaf­ ten getreten. Wie auch Gruppen oder Vereine, die Wan­ derungen anbieten, Internetkurse, Jassnachmittage, Ge­ sprächsrunden, Ausflüge ins Ausland. Trotz wachsendem Angebot hat jeder zehnte Pensionär und jede zehnte Pensionärin niemanden zum Reden, wie die Gesundheitsbefragung 2007 gezeigt hat. Weil eine Scheidung oder der Tod des Partners sie einsam gemacht hat, weil im Alter die Freunde wegsterben oder mit der Pen­ sionierung der Freundeskreis weggebrochen ist, auf den man in den vergangenen Jahrzehnten vor allem gesetzt hat, die Arbeitskollegen. «Vor allem Frauen, die im Beruf stark engagiert waren, merken meist erst im Ruhestand, dass sie keine Zeit in Freundschaften steckten, die mit der Arbeit nichts zu tun hatten», sagt der Professor. Da haben es die Männer besser. Jene, die sich ohne Kol­ legen verloren fühlen, gleichen ihre Einsamkeit über ihre Frau aus, die nicht nur eigene Kontakte pflegt, sondern für den Gatten gleich welche mitknüpft. Und jene ohne Part­ nerin sorgen dafür, dass sie bald wieder eine haben. «Ältere Männer finden in der Regel ziemlich mühelos wieder eine Partnerin», sagt die Psychologin Julia Onken. «Selbst dann, wenn sie kein Geld haben. Erfahrung und Kompetenz sind Werte, mit denen man Frauen, vor allem jüngere, nach wie vor beeindrucken kann.» Ältere Frauen hingegen haben es schwer. Attraktivität, Schönheit, Erotik: Die Möglichkeiten, die Weiblichkeit zu bewirtschaften, nehmen mit dem Alter ab. Kein Grund zur Sorge, meint der Berner Paartherapeut Klaus Heer. Wenn die Vorzüge des Körpers schwinden, muss die Ausstrah­ lung zu leuchten beginnen. Statt Falten und Polster zu be­ kämpfen, heisst es nun eine anziehende Lebensfreude zu entwickeln. «Ältere Frauen, die offen, dem Leben zuge­ wandt und mit sich selbst zufrieden sind, finden sehr wohl noch einen Mann», sagt Heer. Er kenne zahllose Beispiele. Als Romy noch arbeitete, hat ihr das Alleinsein nie zu schaf­ fen gemacht. Tagsüber war sie beschäftigt, abends erledigte sie den Haushalt, und während Jahren hatte sie am Wo­ chenende jeweils die Tochter bei sich, die ein Internat be­ suchte. Nun aber kommt sie nicht mehr so einfach unter die Leute. Manchmal denkt sie, sie beginne zu versauern. Anfang 2011, als sie nach Zürich zum Lädele fährt, wie immer mit der S 12 und im hintersten Wagen, blättert sie in

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romy, 69: «ich will keinen draufgänger.»

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einer Gratiszeitung und entdeckt ein winziges Inserat: Sin­ gletreff in Winterthur, dazu eine Handynummer. Sie ruft an, wenige Tage später sitzt sie im Bahnhofbuffet Winter­ thur. Fünf andere sind auch gekommen, meist deutlich jünger als sie. Sie sitzen an einem Tisch mit schweren Ei­ senfüssen, der viel zu gross ist, als dass man daran seine Lebensgeschichte erzählen wollte. Wenn sich die Türe öff­ net, strömt ihr eisige Luft um die Füsse. So geht das nicht. Aber aufgeben kommt nicht in Frage. Nicht jetzt, wo sie sich einmal mehr aufgerappelt hat, neue Leute kennenzu­ lernen. Im Frühling bucht sie die Volksmusikreise «Rot sind die Rosen am schönen Rhein». Zerzuben Touristik fährt sie im Extrabus nach Darmstadt, Heidelberg, Rüdesheim. In Heidelberg ruckelt sie mit der Zahnradbahn zur Schloss­ ruine, in Rüdesheim bewundert sie die Fachwerkhäuser und setzt sich in einen Weingarten. Am Abend geht’s mit dem Car nach Mainz, wo sie die «Nautilus» besteigt, ein lichtergeschmücktes Flussschiff. Schön war’s, der einzige Dämpfer: Semino Rossi, der argentinische Superstar, konn­ te nicht auftreten, lag im Spital. Doch die Organisatoren hatten für valablen Ersatz gesorgt. Einen Mann hat sie kei­ nen kennengelernt, dafür ein Ehepaar aus dem Sanktgalli­ schen. Nette Leute, sie könnte sie mal besuchen gehen. In den siebziger Jahren kontaktierte Romy drei Partner­ schaftsvermittlungen, in den neunziger Jahren gab sie ihr erstes Inserat auf, im Herbst 2010 und im Sommer 2011 zwei weitere. Mittlerweile fällt ihr die Suche nach jeman­ dem, der zu ihr passt, unendlich schwer. Natürlich hat sie in all den Jahren Männer kennenge­ lernt. Solche, die an der letzten Partnerin keinen guten Fa­ den liessen. Die einfach verschwanden, als sie erfuhren, dass sie ein Kind hat. Die zehn Meter gegen den Wind ro­ chen. Einen Heiratsschwindler, der mit ihr drei Monate lang nach Amerika reisen wollte und sie mit Fragen nach ihrem Kontostand löcherte. Dann die, die nur das eine wollten. Die haben sich auch auf die letzten Inserate wieder gemeldet, obwohl sie gehofft hatte, dass die hormonelle Beunruhigung im Alter etwas nachlasse. Und wenn, wie vor einem Jahr, einer mit einer Flasche Weisswein vor der Tür steht und schon nach der Vorspeise sagt: «Lass uns mal aufs Bett kuscheln gehen», dann löscht es ihr ab. «Adieu», sagte sie, «ich will keinen Draufgänger.» Der Paartherapeut Heer sagt: «Solange einer eine Erektion hinbekommt, hat er gewöhnlich wenig mehr als Sex im Kopf.» Und weil man heute mit Viagra nachhelfen kann, dauert es länger, bis auch der Mann Ruhe gibt. Nicht zur Freude der Frauen, die sich im Alter nach liebevoller Kör­ perlichkeit sehnen. Schneller Sex, furchtbar. Dabei könn­ ten auch die Männer eine Sexualität geniessen, die auf Sinnlichkeit setzt. Statt zu glauben, Sex im Alter sei eine Endmoräne der Ausschweifungen, die sie mit 18 auslebten. «Es geht nicht mehr im selben Stil weiter», sagt Heer. Wer das nicht begreife, bringe sich um eine wundervolle Erfah­ rung. Heers Credo: «Guten Sex gibt es wohl erst ab 55. Vor­

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her ist man zu eigennützig, zu unerfahren.» Nicht was se­ xuelle Praktiken betrifft, es geht um mehr. Heer meint, dass gute Sexualität ein Wissen um die Zerbrechlichkeit des Lebens brauche, ein Wissen um die Abgründe von Bio­ graphien. Sex ist schön, aber wichtiger ist Romy die Neugier eines Mannes. Der Mann, in den sich Romy verlieben möchte, muss schlank sein, ein kleiner Bauch ist erlaubt, eine Glatze liegt auch drin. Sie wünscht sich jemanden, der sich pflegt. Der Schalk hat. Dem sie zuhören kann, wenn er von seinem Tag erzählt. Sie möchte mit ihm Badeferien machen und Musik hören, Schlager, Ländler, Rock’n’Roll. Vier Beziehungen hatte sie bisher, keine dauerte länger als zwei Jahre. Mit keinem Mann bezog sie eine Wohnung, mit keinem teilte sie den Alltag. Es gab gute Zeiten und

Wenn sie mit Freundinnen ausging, rief ihr Vater: «Um zehn bist du daheim, sonst gibt’s auf den Ranzen.» schlechte. Viele Enttäuschungen. Die grösste bescherte ihr der Vater ihrer Tochter, ein österreichischer Musiker, zwanzig Jahre älter als sie, mit dem sie in den sechziger Jahren eine Affäre hatte. Sie endete, als sie sagte: «Ich bin schwanger.» Und er sagte: «Ich bin verheiratet.» Alle machen mit der Liebe Erfahrungen, die so wehtun, dass man sich wünscht, der andere möge vom Blitz erschla­ gen werden. «Trotzdem glauben wir noch immer, Zwei­ samkeit sei das Alleinseligmachende», sagt Klaus Heer. Eine fixe Idee, dringend renovationsbedürftig, nicht nur im Alter. Das Glück nur in der Partnerschaft finden zu wollen kommt einem Kunststück gleich; als wollte man mit sieben Bällen eine schöne Figur jonglieren. Was einfach klingt, lie­ ben und geliebt werden, ist deshalb so schwierig, weil man so viel erwartet, so viel erhofft. Zum Beispiel einen Men­ schen zu finden, der zu einem passt, ohne dass man sich fragt, ob man selber passt. Glaubt man Heer, ist das Glück in Paarbeziehungen allein nicht gut aufgehoben. «Es gibt weniger anstrengende Möglichkeiten, sich auszutauschen, es gut zu haben miteinander, als in einer Paarbeziehung.» Man kann zum Beispiel tanzen gehen. In den Jahren bevor sie Mutter wurde, fuhr Romy jedes Wochenende nach Zürich, an Livekonzerte oder Singleparties. Sie tanzte fürs Leben gern, und ja, sie hoffte, die Liebe zu finden. Ei­ nen Mann, mit dem sie eine Familie gründen könnte, die anders wäre als die, in der sie aufwuchs. Ihr fehlte die Ge­ borgenheit, ihre Eltern hatten wegen ihr heiraten müssen, der Vater sagte es immer wieder. Wenn sie das Haus ver­ liess, um mit Freundinnen auszugehen, rief er: «Um zehn bist du daheim, sonst gibt’s auf den Ranzen.» Wollte sie abends oder am Wochenende eine Freundin einladen, hiess es, kommt nicht in Frage. Männerbesuch? Unmög­

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Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte Kind Erlachstrasse 14, Postfach 8262, 3001 Bern, Telefon 031 308 15 15, Postkonto 80-48-4, www.cerebral.ch

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lich. Auf der Tanzfläche konnte sie die Lieblosigkeit ein paar Stunden vergessen, sich drehen im Takt der Musik, oft allein. Die Männer, die ihr gefielen, baten andere zum Tanz. Was will man der Vergangenheit nachtrauern. Was sich lohnt: die guten Gefühle, die einem die Vergangenheit be­ schert hat, wiederaufleben zu lassen. Romy will wieder tan­ zen. An einem Sommernachmittag fährt sie nach Oerlikon in die «Dance Academy», dort bittet die Pro Senectute zum Thé dansant. Romy kommt extravagant daher. Zu Leggings, die mit einer Schleife unter dem Knie abschliessen, trägt sie eine Tunika mit schwarzem Spitzenbesatz am Décolleté. Auf den Sandalen schimmert ein Krokoprint. Vor dem Tanzsaal, einem nüchternen Raum, an dessen Stirnseite eine Bühne aufgebaut ist, das Podest für Ginos Happyband, trifft sie auf eine muntere Gruppe. Elegant ge­ kleidete Mittsiebzigerinnen, Senioren in Anzügen und sorgfältig gewichsten Schuhen. Eine trägt einen Traum in Königsblau, eine andere kommt in edlem Schwarz, die Hose aus fliessendem Stoff, das Top paillettenbesetzt. Der Mann, der vor ihr an der Kasse steht, hat zum weissen Hemd und der grauen Hose Hosenträger kombiniert und das Haar zu einer rassigen Tolle frisiert. Romy ist nervös. Es ist Jahre her, dass sie getanzt hat, vor allem mit einem Partner. Was soll sie warten, bis einer sie zum Tanz bittet. Wenn die Musik spielt, genügt sie sich selbst. Die Figuren, die sie dann aufs Parkett legt, folgen keiner einstudierten Choreographie. Sie tanzt einfach, wie es grad kommt. Dann steigt Gino aufs Podest, setzt sich ans Keyboard, und bevor er in die Tasten greift, ruft er in den Saal: «Ciao amici! Schön, seid ihr alle da!» Samira, seine Partnerin, singt «Que sera, sera», und alle strömen aufs Parkett. Romy kann sich nicht sattsehen an einem alten Paar, beide in den Achtzigern, das mit weichem Schritt durch den ganzen Raum gleitet, eine elegante Drehung nach der anderen, un­ aufhörlich. Er hält sie so behutsam in den Armen, als wäre sie eine Vase. Ganz anders derjenige, der im Seitenflügel mit seiner Partnerin am Werk ist. Immer wieder übt er mit ihr dieselben Schritte. Ohne Pardon, ohne Lächeln. «Darf ich bitten?» fragt ihr Nachbar. Er will mit ihr einen Slowfox tanzen, den König der Standardtänze. Zögernd folgt ihm Romy auf die Tanzfläche. Resolut legt er den Arm um sie, gibt die Schritte vor. Sie stolpert, sperrt sich. «Lang­ sam, kurz, kurz», raunt er ihr zu und schiebt sie wie einen Pflug vor sich her. Als er sie zurückbringt, zieht sie zwischen seinem und ihrem Tisch den Vorhang. Ginos Happyband spielt Rumba, Jive, English Waltz, Cha­Cha­Cha. Schon wieder steht einer vor ihr und deutet eine Verbeugung an. Eddie ist Turniertänzer und von den Organisatoren enga­ giert worden, damit er die Frauen auf die Tanzfläche gelei­ tet, die ohne Partner gekommen sind. Er ist es gewohnt, zu führen, legt Romy behutsam die Hand auf den Rücken, zieht sie sanft zu sich heran, aber nur so nah, dass noch ge­ nug Abstand bleibt. Das gefällt ihr, in seinen Armen kann sie

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«FÜR MEINEN ITALIENISCHEN NACHBARN, DER GRUNDSÄTZLICH NUR PASTA VON SEINER MAMMA ISST.» Ivo Adam, Spitzenkoch.

Für besondere Momente.


Wetterpropheten sagen: Der Schweizer Winter wird ausgezeichnet.

Klingenstock, Region Luzern-Vierwaldstättersee

MySwitzerland.com Der Muotathaler Wetterprophet Martin Horat hat für uns den kommenden Winter vorausgesagt. Und siehe da: Er prog­ nostiziert eine lange Wintersaison voller Schnee und mit sehr viel Sonne. Also einen idealen Winter für Skiferien, Schlit­ telausflüge, Schneeschuh­Wanderungen und vieles mehr in der Schweiz. Sie sehen: Wir tun alles, damit Sie am richtigen Ort Winterferien machen. Für Infos, Buchungen und Horats Prognose besuchen Sie MySwitzerland.com/winter.

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ich liebe dich – wo bist du?

Tunis bestieg und nach Hamamet in die Ferien flog. Eine Woche Mittelmeer. Lang genug, wenn man allein verreist und im Hotel die einzige Singlefrau ist. Als sie am Pool lag und die Paare beobachtete, die mit­ einander kuschelten und zusammen lachten, dachte sie, es wäre schön, einen Mann zu haben. Der sie nimmt, wie sie ist, ihr Komplimente macht, in ihrem Leben der ruhende Pol ist und sie versteht, wenn sie sagt: «Du, zusammenwoh­ nen, das will ich nicht.» Ein Jahr lang wird sie jeden Monat ein Profil mit Foto eines Singles im Briefkasten finden. Das hat ihr die Angestellte der Partnerschaftsvermittlung ver­ sprochen, die sie besuchte und die ihr riet, das Haar heller zu färben. Schwarz, sagte sie, lasse im Alter das Gesicht härter erscheinen. Vor wenigen Wochen war Romy beim Coiffeur, sie liess sich die Haare schneiden, schulterlang, die schwarze Farbe abziehen und einen Braunton auftragen mit einem rötli­ chen Schimmer. Drei Stunden sass sie auf dem Coiffeur­ stuhl. Als sie nach Hause kam und sich vor den Spiegel stellte, gefiel ihr, was sie sah.

sich der Musik hingeben. Fast fühlt sie sich wie 1967 in den Ferien in Wien, als einer sie zum Walzer bat und sie eine Viertelstunde lang zu schweben schien. Am Abend sagt sie sich, sie könnte ja eigentlich einen Tanzkurs buchen. Ende Juni erscheint im «Tages­Anzeiger» ihr Inserat. «CH­Frau, 68, 163 cm, NR, jung geblieben, attraktiv,

Die Sehnsucht nach einem Partner ist noch grösser geworden, als sie nach Tunesien in die Ferien flog. schlank, möchte einen jung gebliebenen, humorvollen, schlanken Mann (63–73) mit Niveau kennenlernen.» Sie bekommt neun Zuschriften. Mit dreien trifft sie sich. Mit dem «Kosmopoliten», der gerne klassische Musik hört und sich in der Natur entspannt, Yoga praktiziert und me­ ditiert. Er ist es nicht, zu wenig Gemeinsamkeiten. Mit dem «passionierten Wanderer», der ihr erklärt, es müsse gleich bei der ersten Begegnung funken. Mit dem «Selbstbewuss­ ten», der Ski fährt, Tennis spielt, sie in eine Landbeiz zu ei­ nem Drink einlädt und hofft, dass keiner da ist, der ihn kennt. Und der ihr erklärt, welche Bedingungen eine Frau erfüllen muss, damit er sich verliebt. Sexy müsse sie sein, eine gute Ausstrahlung haben, exquisit kochen, charmant kommunizieren, die perfekte Gastgeberin spielen. Sie denkt: Geht’s noch, einen Chef brauche ich nicht. Sie sagt ihm: «Ich möchte wieder nach Hause.» Im Herbst hat sich Romy wieder bei einer Partner­ schaftsvermittlung angemeldet. Mag sein, dass das unver­ nünftig ist. Aber sie vermisst die heitere Betriebsamkeit des Sommers, die Gelegenheiten für einen Schwatz da und dort. Die Sehnsucht nach einem Partner ist im August noch grösser geworden, als sie in Zürich ein Flugzeug der Air

barbara Schmutz ist freie Journalistin; sie lebt in Steinhausen ZG.

Nachfolgende Doppelseite:

in Partnerschaft mit dem Kulturmagazin Nr. 823

Auszug aus

Zürich/Schweiz Erscheinungsdatum: 25.01.2012

GLUTMUT

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von

und der Kulturzeitschrift Nr. 95 Berlin/Deutschland

Carlo A. Crameri

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Erscheinungsdatum: 08.12.2011

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GLUTMUT‘S ERZÄHLUNG ER SPRACH ÜBER GEISTIGE ENERGIEN, SEIN NAME WAR GLUTMUT; RAUMRUND WAR ANWESEND IM LEICHTMUT VON GOLDGRUND IM RAUMSCHIFF FREIKLAR. DA DIE MÖGLICHKEIT VON GLUTMUT IN DEM MOMENT, WO RAUMRUND’S MOMENTANBEWUSSTSEINDICHTENDER INHALT PARAMATERIELLEN URSPRUNGS, DES VORHERIGEN EXPERIMENTELLEN INHALTS ÜBERSINNLICHER EINDRÜCKE ERKENNTNISTHEORETISCHER REDUKTION UND DEREN KRAFT DER FELDER, DEREN ENERGIE DEM RAUMSCHIFF UND SEINEM IN SICH VERÄNDERTEN GLEICHGEWICHT VON ZEIT DIE MÖGLICHKEIT BOT, WAHRGENOMMEN UND NACH VORNE VERSCHIEBEND TELEPORTIEREND ERSCHEINEND, IN DENJENIGEN WELTEN DES SEINS, DER EXISTENZREALEN ERFAHRBARKEIT MATHEMATISCHLOGISCHER TRANSZENDENZ, DEM DAZUGEHÖRENDEN MERKMAL DER SEINSART IN DER ENTSCHLOSSENHEITSIDENTISCHEN FUNKTION SEINES URSPRUNGS UND SOMIT DEM VERSTÄNDNIS ÜBER DAS MATERIELL-ENERGETISCHE VERHÄLTNIS DES AN SICH HALTENDEN ENTHALTENDEN GLEICHGEWICHTS KAUSALMECHANISCHER VERFÜGBARKEIT UND DEREN GEGENSATZ, DER ANTRIEBSROTIERENDEN METHODE URENERGETISCHER GEGENEINANDERHALTENDER EXISTENZZIELE, DER GEGENSATZ DER GLEICHGEWICHTE NICHTMATERIELLER MUSTER UND DEREN TELEPORTATIVEN ANFANGS- ODER AGENZCHARAKTER. GLUTMUT’SVORSORGLICHEDENKWEISEUNDRAUMRUND’SKONTEMPLATIVE BEWUSSTSEINSKONZENTRATION, ERMÖGLICHTEN DEM SCHIFF UND DER GESAMTEN DORT BEFINDLICHEN DASEINSFORM VON NUN AN ALLES ZU DURCHDRINGEN UND PARALLEL DER ENTSPRECHENDEN WIRKLICHKEIT ZU REISEN. RAUMSCHIFF FREIKLAR ERKLÄRTE SICH ALS DIE MÖGLICHKEIT EINER WIRKLICHKEIT, DIE DER WAHRSCHEINLICHKEIT IN SEINER NATUR DER ANGELEGENHEIT GUT TAT. DIE ANGELEGENHEIT AN SICH WAR EIGENTLICH VORHANDEN, NUR DIE MÖGLICHKEIT WAR IN SICH VON SELBST, IN ENTSPRECHUNG ODER WAHRSCHEINLICHKEITEN DER VERSPRECHENDEN GEWISSHEIT, IN ANBETRACHT DER NATUR VON ZEIT RUNDUM GEKLÄRT MIT DEM BEWUSSTSEIN DES ATOMS UND DESSEN RAUMINHALT, IN NEUESTER VERGANGENHEIT DER ZUKUNFT GLEICH DER GEGENWART, IN SEINER ERHABENSTEN GANZHEIT DER ATOMCHTHONENDICHTE UND DEREN ANTIPODENCHARAKTER, DEREN FEINSTOFFLICHFLUIDEN ANTIATOMCHTHONENKÖRPER SPIRITUELLER ART, DER ERDE UND DER MATERIENZONENDICHTENDEN, ZUSAMMENHALTENDEN FEIN- ODER ÜBERELEKTRISCHEN WIRKLICHKEIT.

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GLUTMUT‘S ERZÄHLUNG RAUMSCHIFF FREIKLAR PRÜFTE LIEBEVOLL DIESE ÜBERELEKTROMAGNETISCHEN FEINSTOFFWELLEN UND BEDIENTE SICH IHRER METAMORPHIEREND VON EINEM DURCH DAS ANDERE FLIESSENDE DEKONTAMINIERENDE PRINZIP, IM ZUSAMMENHANG DES NEUEN KURSES SEINER FLUGSCHIFFSICHERNDEN ENERGIEVERSORGENDEN DAUERMÖGLICHKEIT UND ERHÖHTE VON NUN AN STETIG SEINE ENERGIE, DER GOLDENEN MIT DIAMANTEN VERSTÄRKTEN ZENTRALKRAFTQUELLE SEINES ANTRIEBS DURCH DIE WIRKLICHKEIT. RAUMSCHIFF FREIKLAR HIESS VON JETZT AN KLAR, DEN WELLEN GLEICH FLOG RAUMSCHIFF KLAR VON NUN IM GEIST UNENDLICH FREI, SO LEICHT FLOG RAUMSCHIFF KLAR DURCH RAUM UND ZEIT DURCH ZEIT UND ZEIT, VERÄNDERT AUCH DEN AUGENBLICK VON RAUM UND ZEIT, IN DEM ES FLOG, VON ORT ZU ORT IM ORT DER WAHL DER EIGNEN ART IM ORT VON DA VON DORT - UM SICH DAS FELD - IM FELD, VOM RAUMSCHIFF KLAR IM ALL ERKANNT, SO FLOG DAS SCHIFF IM RING DER KRAFT DEM LEBEN GLEICH, SO LEISE SEHEND LEICHT WAR RAUMSCHIFF KLAR DER ERDE GLEICH. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTIwMgIAgxCebg8AAAA=</wm>

DEM LEBEN NAH VON DORT WIE DA FLOG RAUMSCHIFF KLAR DURCH RAUM UND ZEIT GEÄNDERT AUCH DEN AUGENBLICK - ERKANNT IM ALL DER GANZEN WELT. VOM ORT IM DREIECKSEITENFELD VOM RAUMSCHIFF KLAR DER ORT DER WAHL, IN EINEM FORT VON ORT ZU ORT DEN WELLEN GLEICH FLOG RAUMSCHIFF KLAR IM GEIST UNENDLICH LEICHT, VON ORT ZU ORT IM ORT, SO KLAR FLOG RAUMSCHIFF KLAR VON ORT ZU ORT. MAN SPRACH ÜBER ZWEISICHT - SCHIFFSICHT - ZEITHEIT - WELTHALL WELTFREI - ORTWORT - FUNDGRUND - GOLDWUND - GLEICHMUT - LICHTGUT NICHTGUT - FESTGUT - FESTFLUT - WELTHALL - HALLALL - KLANGTAL - ZEITREIN REINTEIL - LICHTSICHT - SCHIFFSICHT - WELTFLUT. GLUTMUT WUSSTE ALS ER ÜBER GLEICHSEITIGE ENERGIEN ZU RAUMRUND IM LEICHTMUT VON GOLDGRUND SPRACH, DASS RAUMRUND IN SICH SCHON KLAR WAR ÜBER GLUTMUT‘S FRAGE VON GLEICHGEWICHTSENERGIEN UND IM LEICHTMUT VON GOLDGRUND ZULIEBE, GRUNDWUND UND WUNDGRUND NICHT AUSEINANDERZUHALTEN VERMOCHTE. GLUTMUT BERÜHRTE DIE FRAGE NUR INSOFERN, DAMIT RAUMRUND IM LEICHTMUT VON GOLDGRUND IN DIE SCHWINGUNG KAM, DEM TRADIERTEN BEWUSSTSEINSGRUND VON RAUMRUND DEN FESTGEHALTENEN BEWUSSTSEINSFUND IM RAUMRUND, DARUM AUCH IM LEICHTMUT VON GOLDGRUND GEHALTEN, SOLANGE DIE DENKEINSTELLUNG VON RAUMRUND DIESELBE WAR.


daS e x pe rim e nt

Die Topfkollekte der Eitelkeiten Die meisten Leute halten das Spenden für einen selbstlosen Akt. Doch zwei Experimente in einer Kirche und einer Galerie entlarven den Spender als eitlen Geck. Wenn Sie dieser Tage die Topfkollekte der Heilsarmee passieren, haben Sie eine ziemliche Strapaze vor sich. Selbst wenn Sie nichts geben, muss Ihr Gehirn diesen Entschluss aus einer Fülle von Fakten de­ stillieren. Und falls Sie spenden, gibt es noch mehr Arbeit: Jetzt stellt Ihr Gehirn komplizierte Berechnungen an, um den angemessenen Betrag zu ermessen. Die­ ser Kraftakt bleibt Ihnen jedoch verbor­ gen, da er meist unbewusst abläuft. Wohltätigkeitsorganisationen und an­ dere Spendensammler wollten schon im­ mer wissen, wie man einen Kopf dazu bringt, die Hand in Richtung Brieftasche zu steuern. An Konferenzen diskutieren Fundraising­Experten, wie man aus Zau­ derern glühende Spender macht, wie man «die Haltbarkeit der Geber» erhöht und bei Kollekten das Maximum aus Pas­ santen herauspresst – ohne dass diese etwas davon mitbekommen, natürlich. Die Heilsarmee könnte sich folgende Frage stellen: Würde ein anderes Gefäss nicht mehr einbringen, als der metallene Topf mit dem roten Schlitz? Dabei geht es weniger um das Design (Dreibein und Kessel), das an eine Pfadikochstelle erin­ nert, sondern um die Tatsache, dass der Topf der Heilsarmee verschlossen ist, also niemand sieht, wie gütig – oder gei­ zig – ein Spender ist. Was, wenn man stattdessen einen offenen Behälter be­ nutzte, so dass sichtbar wäre, wie tief die anderen in die Tasche gegriffen haben?

Spenden mit Zuschauern Am 3. März 2002 bemerkten aufmerksa­ me Gottesdienstbesucher in dreissig hol­ ländischen Baptistenkirchen, dass zum Einsammeln der Kollekte manchmal ein Körbchen durch die Bänke gereicht wur­ de statt der übliche Beutel. Verantwort­ lich dafür war der Ökonom Adriaan R. Soetevent von der Amsterdam School of Economics. An 29 Sonntagen ersetzte er den Beutel nach einem zufälligen Muster durch das Körbchen. Im ersten Moment schien das Resultat verworren. Das Problem war, dass der Spendenzweck bei den 1625 beobachte­ ten Kollekten immer ein anderer war und die Höhe der Spenden beeinflusste; aber

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in welchem topf landen mehr Spenden: in einem offenen oder in einem geschlossenen?

letztlich zeigte sich, dass das Körbchen eine erstaunliche Zunahme der Spenden­ freudigkeit bewirkt hatte. Bis zu zehn Pro­ zent mehr Geld lagen im Körbchen als im Beutel. Gegen Ende des Experiments ver­ schwand dieser Unterschied zwar, aber im Gegensatz zum Beutel, in dem Soete­ vent viele kleine Münzen fand, waren die Beträge im Körbchen grösser gestückelt. Anstatt vier 50­Cent­Münzen spendeten die Besucher ein 2­Euro­Stück: Wenn es schon nicht mehr war, so sollte es wenigs­ tens nach mehr aussehen. Dass der Akt des Spendens auch von Eitelkeit und Geltungsdrang getrieben ist, zeigten John Randell von der Victoria University in Neuseeland und Richard Martin von der University of Regina in Kanada. Für ihr Experiment manipulier­ ten sie 2005 und 2006 über mehrere Wo­ chen die Sammelbox aus Plexiglas in ei­ ner Kunstgalerie in Wellington. Anders als beim Topf der Heilsarmee mussten die Besucher hier damit rechnen, dass andere mitbekamen, wie viel Geld sie einwarfen. Zudem konnten sie aus dem Inhalt der Box auf das Spendenverhalten der Besucher vor ihnen schliessen. In langen Versuchsreihen testete Ran­ dell mehrere Konfigurationen. Je nach Vorgabe änderte sich die Zusammenset­ zung der Spenden: Viele kleine Münzen in der Box hatten viele kleine Spenden zur Folge, wenige Münzen und Noten mit hö­

herem Wert führten zu weniger, dafür grösseren Spenden. Auf den Gesamtbe­ trag wirkte sich das nicht aus: Die beiden Effekte hoben sich praktisch auf. Aber warum kommt diese Verteilung zustande? Randell und Martin vermuten, dass sich im Kopf der Galeriebesucher Folgendes abspielt: «Da liegen viele klei­ ne Münzen. Die durchschnittliche Spen­ de beträgt etwa 50 Rappen. Mit 2 Franken kann ich mir das Ansehen erkaufen, vier­ mal grosszügiger zu sein als die anderen. Das ist billig, das mache ich.» Oder: «Da liegen schon Zehner­ und Zwanziger­ noten. Wenn ich jetzt zwei Franken ein­ werfe, wirkt das total billig. Mehr als zwei Franken möchte ich aber nicht geben. Dann gebe ich besser gar nichts.» Wer vor einer Kollekte eine transpa­ rente Sammelbüchse präpariert, sollte also nicht zu hohe Geldbeträge vorgeben, sonst werden die Kosten, um im Ver­ gleich mit den vorherigen Spendern gut dazustehen, für einen potentiellen neuen Spender zu hoch. Und die Büchse darf natürlich nicht leer sein, aber das weiss ja jeder Strassenmusikant. Dass Spenden oft mit Angeben zu tun hat, zeigt auch, dass nur gerade 15 Pro­ zent der Spenden getätigt wurden, als ein Besucher allein in der Galerie war. Ohne Zuschauer macht Spenden offenbar kei­ nen Spass. reto U. Schneider

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SChL aG LiCht

Vor 20 Jahren starb die Sowjetunion Mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) läutete Michail Gorbatschew das Ende des Ostblocks ein. In Russland dankt ihm das keiner mehr. Zwanzig Jahre ist es her, dass Michail Gorbatschew zurückgetreten und die UdSSR zerfallen ist – ein Imperium, vor dem die halbe Welt gezittert hatte; ein Mensch, der vom amerikanischen Nach­ richtenmagazin «Time» erst zum Mann des Jahres, 1989 aber auch noch zum Mann des Jahrzehnts ausgerufen worden war, als einziger in der Geschichte. Heute ist Gorbatschew in Russland halb verach­ tet, halb vergessen; im Westen warb er 2007 für Louis Vuitton.

Gorbatschew kommt Zuerst hatte Gorbatschew 1984 Aufsehen erregt; und zwar in London: ein Mitglied des Politbüros, das lächeln konnte und zwei Stufen auf einmal nahm! Er besuch­ te Margaret Thatcher, und das Grab von Marx besuchte er nicht. Und dieser Mann wurde 1985, gerade 54 Jahre alt, von den versteinerten Mitgliedern des Politbüros zum Generalsekretär der KPdSU berufen – zum Herrn also über eine Viertelmilliar­ de Sowjetbürger, 20 000 Atomraketen und das grösste Reich auf Erden; und bin­ nen sechs Jahren würde es zerfallen sein. Bald verblüffte er die Völker und die Zeitungsleser in aller Welt: «Glasnost» rief er aus, Transparenz (eine vorsichtige Annäherung an westliche Meinungs­ freiheit), später sogar «Perestroika», die Umgestaltung von Staat, Partei und Wirt­ schaft! Letztere fand er als Trümmerhau­ fen vor. Und da Präsident Ronald Reagan zu gleicher Zeit sein Projekt eines welt­ raumgestützten Raketenabwehrsystems vorantrieb (SDI, «Krieg der Sterne»), sah Gorbatschew ein: Den Rüstungswettlauf mit den USA konnte die Sowjetunion nur verlieren. So setzte er auf Entspannung und gab den Kalten Krieg preis. Gorbatschew kämpft Zu Hause aber wagte er es, dem Mons­ trum KPdSU die Stirn zu bieten und die in siebzig Jahren entstandenen Privilegien der Apparatschiks zu beschneiden, und teilweise schaffte er das auch. Doch mit Glasnost und Perestroika zerbrach die ganze Statik des Systems; den Gewinn von Freiheit bezahlten die Sowjetbürger mit noch mehr Armut und noch mehr

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Korruption, und Rufe nach dem guten al­ ten Stalin wurden laut. Doch der Westen jubelte. 1987 einig­ ten sich Gorbatschew und Reagan auf die Verschrottung von 2700 Mittelstrecken­ raketen – ein wenn auch kleiner Schritt in Richtung Abrüstung, wie nach 1945 noch keiner getan worden war. 1988 begann die Sowjetunion mit ihrem Rückzug aus Afghanistan. Vor der Uno kündigte Gor­ batschew eine einseitige Abrüstung um 500 000 Mann an und schlug vor, alle Grossmächte sollten sich zum absoluten Gewaltverzicht verpflichten. Und vor allem dies: Gorbatschew gab das Signal, dass Osteuropas Vasallen­ staaten die Freiheit hätten, ihre Ketten abzuwerfen! In aller Form widerrief er die Breschnew­Doktrin von 1968, mit der die sowjetische Invasion in der Tschechoslo­ wakei gerechtfertigt worden war. Mann des Jahrzehnts! Als in der DDR die Mauer bröckelte, liess er die 365 000 Sowjetsol­ daten auf deutschem Boden in den Ka­ sernen. Im Juli 1990 gab er im Kaukasus gegenüber Helmut Kohl den Weg zur Wiedervereinigung frei. Im Oktober be­ kam er, unter dem Naserümpfen seiner Generäle, den Friedensnobelpreis.

Gorbatschew geht Schon im März 1990 aber hatte die So­ wjetrepublik Litauen sich für unabhängig erklärt und damit den Zerfall des Riesen­ reiches eingeläutet. 1991, am 8. Dezem­

ber, trafen sich die Präsidenten der So­ wjetrepubliken Russland, Weissrussland und Ukraine in Minsk und beschlossen: Wir gründen eine Gemeinschaft unab­ hängiger Staaten – die Sowjetunion hatte aufgehört zu existieren. Als sich am 12. Dezember insgesamt elf der fünfzehn Sowjetrepubliken für den Austritt ent­ schieden, war die UdSSR begraben. Michail Gorbatschew, ihr letzter Präsi­ dent, verabschiedete sich am 25. Dezem­ ber im Fernsehen von der Weltgeschich­ te, und nur wenige hörten ihm noch zu. Am 31. Dezember wurde die rote Fahne, die seit 1918 auf dem Kreml geweht hatte, eingeholt für immer. Der Westen hat nicht vergessen, dass Gorbatschew einer der grossen Beweger und Befreier des 20. Jahrhunderts, viel­ leicht sogar der Retter der Welt vor dem Atomkrieg war. Die Russen sehen das an­ ders: Bei der Präsidentenwahl von 1996 brachte er es auf 0,5 Prozent der Stim­ men, und offenbar hatte er nicht einmal geahnt, dass er derart gedemütigt werden würde. Nun spricht er hier und wirbt er dort. Das ist ihm zu gönnen, nach solchem Lebenswerk. Nur der Nachruhm! Mit dem verhält es sich so, dass er sich ans Drama heftet, wie bei Cäsar und Napo­ leon – ans Verdämmern nicht. Wolf Schneider Illustration: Angelo Boog

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mehr hangar als Wohnhaus. die Sitzecke mit weichen Sesseln auf Strassenboden.

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We r Woh nt da?

Gut gefüllter Speicher Ein solider Galerist? Ein lesehungriger Lebenskünstler? Wen eine Psychologin und ein Innenarchitekt anhand der Bilder in diesen Räumen vermuten. Die Psychologin Hier wohnt eine souveräne Persönlich­ keit! Bett, Bad und Bücher zeigt er her, offen und geräumig wirkt das Ganze, Lee­ re und Fülle ergänzen sich auf stimmige Weise. Die Bücherregale ragen hoch hinaus wie üppig gefüllte Speicher, das Bett ist bodennah, hier schläft kein Abgehobe­ ner, sondern ein Solider, er versorgt sich gut mit dem, was ihm guttut. Die neckische Hutgalerie gehört ei­ nem nicht ganz uneitlen Mann, davon zeugt auch seine üppige Fläschchen­ sammlung im Bad. Bestimmt gibt es in diesem schön renovierten Dachstock auch eine Küche, aber Bücher scheinen ihm sein wichtigstes Lebenselixier zu sein; er hat diverse gemütliche Stühle zum Lesen, selbst im Bett ist ihm Zei­ tungslektüre nicht unbequem. Die Wohnung wirkt warm und belebt trotz der Höhe, dem Steinboden und den weissen Kacheln im Bad, das viele Holz­ gebälk verbreitet keinen Chalet­Heime­ lig­Touch (nur der hölzerne WC­Deckel wäre wirklich nicht nötig gewesen!). Der Bewohner mag seine Bleibe und scheint sich hier wohl zu fühlen; er pflegt eine Art reichhaltige Genügsamkeit, ver­ mutlich hat er auch ein reiches Leben,

macht das, was ihn interessiert, und muss nicht gefallen oder auffallen. In diesem offenen Raum weht ein Flair von Kunst, aber für einen Künstler ist es zu geordnet und aufgeräumt. Vielleicht hat er beruf­ lich mit dieser Gilde zu tun, vertritt Künst­ ler, führt oder führte eine Galerie? Neben dem Bett hat er sich eine Art Privatausstellung eingerichtet, vermut­ lich mit Objekten aus persönlichen Be­ ziehungen. So viel Patina wie der Leder­ sessel hat er noch nicht, aber genügend Lebenserfahrung zum Geniessen – viel­ leicht ist er ja ein Lebenskünstler! ingrid Feigl

Der Innenarchitekt Es gibt ein Büchergestell und ein Hutge­ stell, wobei die inszenierten Hüte auf ei­ nen männlichen Bewohner schliessen lassen. Vielleicht wohnt er alleine, nicht seit immer, aber jetzt gerade. Er ist wohl einer, der das Geschäftsleben kaum vom Privatleben trennt. Ordner und Bücher, Bildbände und Korrespondenz stehen auf den gleichen Tablaren. Vielleicht gehört ihm eine Galerie. Oder gar ein Antiquitätengeschäft. Be­ stimmt handelt er mit Dingen, die nicht lebensnotwendig sind. Es scheint um in­ haltliche Tiefe zu gehen.

der innenarchitekt: «pirelliboden als Statement.»

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Die an die Wand gelehnte Leiter dien­ te früher dem Kirschenpflücken. Die Kirschbäume mag es noch geben – ums Haus herum. Sind wir hier in der Ost­ schweiz oder im Fricktal? Vielleicht ge­ hören die Räume zu einem Landwirt­ schaftsgebäude oder einer anderen Art von Fabrikationskomplex. Die Materia­ lien in diesen Räumen sind sorgfältig aus­ gewählt. Alles, was hier steht, wirkt au­ thentisch. Doch Schönheit allein macht nicht glücklich, ein bisschen Komfort muss sein, die Stühle sind gepolstert. Der Wohnzimmerboden gleicht einem gepflasterten Strassenstück. Im Bad glän­ zen die Punkte in schwarzem Kunststoff. Pflasterstein und Pirelliboden sind State­ ments: Der eine steht für Mittelalter, der andere für Moderne. Hier wohnt ein freier Geist, der sich am ehesten über den Wind­ verband charakterisieren lässt. So nennt man das Brett, das im Schlafzimmer und im Bad quer durch den Raum verläuft und vor starken Windkräften schützt. Seine Wirkung entfaltet es nur über die Diago­ nale. So wird auch dieser Bewohner sein – nicht geradlinig im Strom schwimmend, Jörg boner eher ein Querflieger.

Auflösung auf der nächsten Seite

die psychologin: «eine art privatausstellung.»

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Urs bär, 56, und brigitte moser, 66: «harmonisch ist etwas anderes.» Auflösung von der vorigen Seite

Brigitte Moser, Goldschmiedin, und Urs Bär, Landschaftsgärtner «Eigenartig, dass die Experten nur einen Mann hier wohnen sehen, dabei bin ich die Innenministerin, Eddie der Aussen­ minister. Eddie, das soll Sie bitte nicht verwirren, ist Urs’ Kosename. Im Winter ist der hintere Bereich un­ seres Hauses eine grüne Hölle. Eddie holt von seinen Kunden die Pflanzen zum Überwintern hierher: Bananenbäume, Palmen und Oleander. Wenn es draussen schneit und er zwischen den Bäumen und Sträuchern in seiner Werkstatt arbei­ tet, ist das chaotisch und romantisch. Jesses, jetzt begattet die Schildkröte gerade den Schuh. Der Schuh gehörte mal Eddie, wir haben verschiedene Schu­ he für sie herumstehen. Sie ist schnell wie eine Rennschildkröte und begleitet uns jeweils zur Tür wie ein Hund. Schildkröte, so heisst sie, stammt von unserem Vor­ gänger, dem das Haus gehörte, von ihm haben wir sie und den hölzernen Toilet­ tendeckel. Beides halten wir in Ehren. Eddie kannte das Haus vom Pflanzen­ giessen. Sollte er sich je ein Haus kaufen,

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dachte er damals, dann dieses. Zehn Jah­ re später suchten wir etwas für uns, damit wir im Alter ein Plätzchen haben, aus dem wir nicht vertrieben werden kön­ nen. Durch viele Zufälle wurden wir eines Abends hier zum Essen eingeladen. Nach den Spaghetti sagte der Besitzer überra­ schend, wir könnten das Haus kaufen. Knall auf Fall, einfach so. Da wünscht man sich etwas und kann es plötzlich ha­ ben – das überforderte uns total. Da ich nicht hölzern bin und am liebs­ ten in Beton wohnen würde, durfte ich mich einen Tag lang ins Haus setzen und es auf mich wirken lassen. Am Ende des Tages glaubte ich mich im Gerippe eines Dinosauriers. So im Kopf zurechtgebo­ gen passte es mir. Eigentlich ist es kein Wohnhaus, son­ dern ein Hangar für handwerklich arbei­ tende Leute. Es liegt im Industriequartier in Hünenberg bei Zug, Nachbarn sucht man vergeblich, dafür kommen täglich 3000 Menschen hierher zur Arbeit. Ei­ gentlich ein guter Standort für eine Sup­ penküche. Fünf verschiedene Suppen, frisch zubereitet, dazu ein Brötchen. Wir haben ständig Ideen, die wir dann nicht umsetzen. Was wir allerdings machen, sind Salons, es wird musiziert oder gele­

sen. Eddie kocht, den Wein bringen die Gäste mit. Am liebsten wäre Eddie ko­ chender Hausmeister. Eddie steht morgens um fünf Uhr auf, kommt aber auch um fünf Uhr nachmit­ tags heim, macht sich frisch und bereitet das Essen zu. Wenn ich um sieben von der Arbeit komme, kann ich mich – meis­ tens – an den gedeckten Tisch setzen. Ed­ die liebt es, zu essen, und kocht auch sehr fein, am liebsten Frisches vom Markt. Wir bestreiten gemeinsam das Leben mit allen Stürmen. Harmonisch ist etwas anderes. Wenn wir beide einen strengen Tag hatten, Kunden dumm tun oder Rechnungen nicht bezahlen, dann neh­ men wir die Probleme mit nach Hause, da nützt dann die beste Pasta nichts. Bevor wir vor sechs Jahren hierher zu­ sammenzogen, hatte jeder seine Woh­ nung. Ich bin Eddie, aufgrund meines Alters, immer zehn Lebensjahre voraus. Ich war 13 Jahre verheiratet, 20 Jahre leb­ te ich alleine oder mit Männern, die Angst vor mir hatten. Ich habe alles gemacht, was man als Frau damals nicht machte: einen Männerberuf, ich wollte selbstän­ dig sein, aber nicht konventionell. Mir war immer klar, ich bin für mich verant­ wortlich, ich muss schauen, dass ich an­ ständig und ehrlich durchs Leben gehe, was andere von mir denken, ist mir egal. Eddie hatte nach seiner Ehe immer jün­ gere Frauen, das war Stress. Mit 43 muss­ te er schon den Bauch einziehen. Jahrelang teilten wir eine 1 Meter 20 breite Matratze. Weil wir dringend eine neue brauchten, kauften wir erst kürzlich diese. Sie ist für meine Begriffe viel zu gross, 1 Meter 40. Wir sind eher Querschläger, vor allem ich. In früheren Jahrhunderten wäre ich bestimmt als Hexe verbrannt worden. Ich mische gerne auf, das finden die Leute aus Baar, woher ich stamme und wo ich heute noch arbeite, nicht so toll. Aber na­ türlich sage ich, wenn mir etwas nicht passt. Eddie, das haben die Experten gut er­ kannt, ist eitel, tagsüber steckt er zwar im Übergwändli, aber wenn wir weggehen, dann trägt er immer Hemd und Anzug. Unser Zuhause ist unsere Höhle. Im Winter muss man näher zusammenrü­ cken, da nur ein Raum richtig zu behei­ zen ist. Für uns, die eine Matratze von 1 Meter 40 zu zweit als sehr gross empfin­ den, ist das kein Problem.» aufgezeichnet von Gudrun Sachse Fotos: Heinz Unger

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Vom FaCh

a m h e rd

Unter uns

Vielfalt im Eintopf

Neulich unter Folio-Rätsel-Alumni. Was reden die da?

Was dem Berner die Berner Platte, ist dem Tessiner die Cazzöla: ein menschenverbindendes Kulturgut.

«Lösungen werden nicht verraten!» «Wir Rätselnasen wollen die Lösung zwar herausfinden ...» «... aber Lösungen zu verraten verstösst gegen den Ehrencodex der Memacs. Das machen nur Newbies. Wir geben nur ver­ schlüsselte Tips.» «Der Tip: Auch eine Art Rätsel!» «Genau, und wenn die Frage nicht cussig genug ist, schöpfen wir Verdacht.» «Oder wenn der Verify fehlt.» «Und manchmal tüten selbst die Besten nicht ein, wie bei What else, George! Dann geht auch die GL daneben: Silenen statt Andermatt.» «Aber Youtube war schon einfacher als der Dupont.» «Das schon, aber ich konnte sie bisher alle drei knacken. Mit rückwärts lösen.» «Nun, diesmal ist es eine Stufe heftiger.» «Stimmt. Hat schon längst begonnen, und keiner hat’s gemerkt.» «Echt cussig. Kommt mir vor wie bei der Jesusfrage oder der Cevic im RR.» «Schade ist nur: der Running Gag fehlt.» «Bist du sicher?» rätselnase: Rätsel-Aficionado. memacs: Mitglieder eines deutschen Onlineforums für Rätselnasen. newbie: Neuling im Rätselforum. Verify: Detail in einer Aufgabe, das die Lösung eindeutig bestätigt; wird oft erst nach Lösung der Aufgabe herausgefunden. cussig: Eigenschaft einer schwierigen Aufgabe, abgeleitet von CUS, dem Rätselautor. eintüten: lösen. What else, George: Frage 24 im Folio-Rätsel 2010. Antwort: Red Bull, nicht Nespresso. GL: Gesamtlösung. Youtube: www.youtube.com/nzzfolioraetsel. dupont: Privatdetektiv Dupont aus dem Folio-Rätsel-Comics Mr. X, 2008. alle drei: FolioRätsel 2007, 2008, 2010. rückwärts lösen: die Lösung einzelner Aufgaben erst herausfinden, nachdem man die GL geknackt hat. Jesusfrage: Frage ohne Lösung. Etwa die Frage nach dem Jahr, in dem Jesus geboren wurde. Die Frage spielt für die GL auch keine Rolle. Cevic: Name des Schiffs auf der Packung von Fisherman’s Friend – die einzige Frage, die im RR nie gelöst wurde. rr: Das grosse Rätselrennen von CUS war das schwierigste Rätsel Deutschlands; es erschien im Magazin der «Süddeutschen Zeitung» von 1990 bis 2007. running Gag: in den grossen CUS-Rätseln: die James-BondFrage. benno maggi

Haben Sie Lust, ein «Vom Fach» zu schreiben? Dann schicken Sie Ihren Vorschlag, wir prüfen ihn gern: folioredaktion@nzz.ch. Eine Liste der Dialoge gibt es online: bit.ly/ehtmPu

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Es gibt im Tessin charmantere Orte als das Bahn­ und Strassentunneldorf Airo­ lo. Trotzdem lohnt sich ein Zwischenhalt alleweil – vor allem aus kulinarischen Gründen. Der Caseificio del Gottardo lockt mit Bergkäse, Formaggella und Sa­ lumi. Gut und preisgünstig wird man in der Pizzeria Borelli verpflegt, und wenn der HC Ambri­Piotta gerade ein Heim­ spiel bestreitet, dann lässt sich hier haut­ nah erleben, welche Begeisterung dieser Verein in der Gotthardregion zu entfa­ chen vermag. Wer hingegen in Ruhe eine moderne Tessiner Küche geniessen möchte, ist im Ristorante Forni bestens aufgehoben. Das «Forni» liegt gleich gegenüber dem Bahnhof und wird seit zwei Genera­ tionen von der gleichnamigen Familie geführt. Die Ambiance im Speisesaal ist nüchtern, Spotlämpchen über den weiss aufgedeckten Tischen, Stühle aus hellem Holz, auf dem Boden ein grauer Spann­ teppich. Das «Forni» ist kein Grotto. Hier sorgen nicht Boccalino, Granit und Kas­ tanienholz für Lokalkolorit, umso zahl­ reicher sind dafür die einheimischen Gäste, die mit ihrem leicht nasalen, mit ö und ü gewürzten Dialekt für Stimmung sorgen. Eindeutig lokal geprägt ist auch die Speisekarte mit hausgemachten Pas­ ta (auch aus Kastanienmehl), Gnocchi, Polenta und Risotti. Bis vor drei Jahren stand im «Forni» ein Bretone am Herd, der der Küche ei­ nen leicht französischen Einschlag ver­ passte und ausserdem den Weinkeller mit zahllosen berühmten Flaschen aus seiner Heimat füllte. Heute ist ein einsti­

ger Lehrling der Chef: Simone Ciaranfi, ein gebürtiger Florentiner, der mit seinen Eltern vor zehn Jahren in die Schweiz kam. Der Italiener setzt verstärkt auf lo­ kale Produkte und versucht die traditio­ nellen Gerichte auf seine Art zu interpre­ tieren. «Ich koche einfach, variiere aber auch gerne Bekanntes, um meine Gäste zu überraschen», sagt der 39jährige. Unser besonderes Interesse weckt eine Spezialität von der Monatskarte, die Cazzöla. Nicht nur, weil das Wort so lustig klingt und so gut zum Dialekt der Tisch­ nachbarn passt. Wir hatten dieses Ge­ richt bereits einmal in der Lombardei ge­ gessen – es hiess dort allerdings Cassuola –, und es blieb uns in bester Erinnerung als deftiger Eintopf mit Rippchen, Schweinswurst, Wirz, Karotten und Kar­ toffeln. Im «Forni» gibt es die Cazzöla in einer edleren Variante, mit Hirschfleisch und Hirschwurst. Nach traditioneller Art wird sie auch hier in einer Cocotte oder in einer Cassolette serviert. Von der feuer­ festen Form stammt wohl auch der Name dieser Spezialität, die in der kalten Jah­ reszeit auf der Alpensüdseite auf den Ti­ schen dampft. Die Cazzöla, sagt Ciaranfi, ist ein typi­ sches Bauerngericht. Im Tessin wie in Norditalien wird es in der Regel aus Schweinefleisch gekocht, meist aus den minderen Teilen, die nach der Mazza, der Metzgete, übrigbleiben, also Rippchen, Füsschen, Schwarte und Bauch. Heute werden auch bessere Stücke wie die Schulter verwendet, und der Mailänder Spitzenkoch Gualtiero Marchesi ersetzte das Schwein auch schon einmal durch Geflügel. Mit der Cazzöla del cacciatore zeigt Ciaranfi, dass sich auch der Hirsch vor­ züglich eignet. Selbst die Wurst, die bei diesem Eintopf fast schon obligatorisch dazugehört, ist zum grössten Teil aus Hirschfleisch gefertigt. Mit ihrem würzi­ gen, leicht süsslichen Geschmack setzt sie der Cazzöla del cacciatore die Krone auf. andreas heller Illustration: Serge Nyfeler Rezept online unter www.nzzfolio.ch

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Le S e r b ri e Fe

Fad und enttäuschend DerAnsatzwargut–herausgekommenist ein beliebiges Sammelsurium von Mei­ nungen: Von «Viele reden gern von Ver­ antwortung, solange sie sie anderen zu­ schieben können» bis zur Rechtfertigung institutionalisierter Verantwortungslo­ sigkeit, wenn es um den Schweizer Bun­ desrat geht. Fades und enttäuschendes Hans Gerber, Bern Folio.

der Staat überall ein, unter gütiger Mithilfe unserer Politiker, welcher Couleur auch immer. Natürlich ist alles gut gemeint. Wenn dann doch etwas schiefläuft, wer­ den Sündenböcke gesucht: Zur Auswahl stehen die Banken, die Arbeitgeber, die Gesellschaft,dieAusländer–nurwirselber oder die Politiker sind es nie. Ich wünsche mir weniger Bevormundung und wieder mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Ursula Feitknecht, Beckenried NW

Anregend und frisch

Grossartig

«Blick in den Spiegel», Verantwortung 11/11

«Schwerwiegende Entscheide», Verantwortung 11/11

Verantwortung 11/11

Verantwortung hat verschiedene Gesich­ ter. Ist sie erdrückende Last, «schwarzer Peter», profitables Label oder eine Form der Selbstbegegnung, der aus dem Weg zu gehen es viele und gute Gründe gäbe? Der Philosoph begegnet dem Begriff Ver­ antwortung mit grossem Respekt. Unwill­ kürlich fühlt man sich an «Das Prinzip Verantwortung» von Hans Jonas erinnert. Auch ohne diese Reverenz leistet das Folio jedoch einen wertvollen Beitrag: anregend frisch, facettenreich und poin­ tiert, bereichert durch treffsichere Kari­ Heinz Nehrwein, Zürich katuren.

Wertvoll «Blick in den Spiegel», Verantwortung 11/11

Ein wertvolles Heft, vor allem den «Blick in den Spiegel» sollten wir uns zu Herzen nehmen. Doch mit seiner wichtigen Bot­ schaft, dass wir weltweit Verantwortung übernehmen sollen, nur nicht für uns sel­ ber,wirdKonradPaulLiessmanneinRufer in der Wüste bleiben. Mehr Staat ist heute die Parole – mit bösen Folgen wie der Schuldenkrise. Der ehemalige FDP­Slo­ gan: «Mehr Eigenverantwortung, weniger Staat» ist abgeschafft. Heute mischt sich

Wohl jeder Mensch fällt einmal auf die Nase, aber nur wenige wollen dann davon reden. Wie Herr Honegger sich offen dazu äussert und wie er daraus sogar positive Schlüssezieht,istgrossartig.Jederkannauf die Nase fallen, aber entscheidend ist, dass Urs Lanz, St. Gallen er wieder aufsteht.

Lieber karnivor «Show des Scheiterns», Verantwortung 11/11

Was wird wohl aus all den alt gewordenen Kühen, die Florian Leus tägliche Milchra­ tion garantieren? Beefburger! Und was aus all den Kälbern, die diese regelmässig werfen müssen, um die Milchproduktion aufrechtzuerhalten? Zürigschnätzlets! Der Journalist kann sich also mit gutem Gewissen wieder Fleisch gönnen. Elias Welti, Zürich

sondern der durchschnittliche Jahresver­ brauch pro Einwohner in der Schweiz. Anton Walser, Wallisellen ZH (Herr Walser hat selbstverständlich recht. Die Redaktion) interna

Am 25. November erhält der stellvertre­ tendeFolio­Chefredaktor,RetoU.Schnei­ der, in Zürich den Prix Média 2011 im Bereich technische Wissenschaften. Sein Artikel «Der Ketzer mit der Wärmepum­ pe», (Atomkraft, Folio 4/11) wird ausge­ zeichnet für «gelungene Wissensvermitt­ lung» und als Beitrag «gegen ideologisch gefärbte Diskussionen».

aU FLÖS U nG

Binders Vexierbild, S. 15 Dreht man das Bild um 180 Grad, erkennt man im rechten Kragen des Mannes die gesuchte Jane Birkin. Das Vexierbild zeigt den Chansonnier Serge Gainsbourg (1928–1991), der 1969 einen Skandal pro­ vozierte, als er das im Duett mit Jane Bir­ kin aufgenommene Lied «Je t’aime … moi non plus» veröffentlichte. Zerlegt, S. 13

Jährlich statt täglich «Show des Scheiterns», Verantwortung 11/11

NichtnurFlorianLeu,auchmichpacktda die Gänsehaut. Was soll ich mit solchen Zahlen anfangen? 8000 kWh Stromver­ brauch? Übertreibungsfaktor 365, denn die 8000 kWh sind kein Tagesverbrauch,

Ganz: Weste von Scotch & Soda.

Stille Nacht, heilige Nacht. hochparterre viel Freude macht.

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hochparterre. verlag Für architektur uNd deSigN

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FOLIO FOLIE S

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VorSCh aU

Agglo

i m pre S S U m redaktion Daniel Weber (Leitung), Reto U. Schneider (Stv.), Andreas Heller, Anja Jardine, Gudrun Sachse, Barbara Klingbacher, Florian Leu (Volontär), Katja Abderhalden (Sekretariat) Gestaltung und produktion Partner & Partner / Benno Maggi (Art Direction und Bildredaktion), Ernst Jaeger die autoren der rubriken Frerk Froböse, Forscher, Lissabon Luca Turin, Duftforscher MIT, Boston (USA) Jeroen van Rooijen, Mode- und Stilkritiker der NZZ Hannes Binder, Illustrator, Zürich (Vexierbild) Wolf Schneider, Schriftsteller, Starnberg (D) Gerhard Glück, Cartoonist, Kassel (Folio Folies) Korrektorat Alexandra Bernoulli, Urs Remund, Zürich titelblatt Max Grüter und Patrick Rohner, Zürich Übersetzung Robin Cackett, Berlin (Seitenblick) bildnachweise S. 16: Witte / Hollandse Hoogte / laif; S. 74: The Granger Collection / ullstein bild. adresse redaktion Redaktion NZZ Folio, Falkenstrasse 11 Postfach, CH-8021 Zürich Tel. +41 44 258 12 40, Fax +41 44 258 12 59 E-Mail: folioredaktion@nzz.ch Internet: www.nzzfolio.ch Newsletter: E-Mail mit Informationen zur jeweils nächsten Ausgabe: www.nzzfolio.ch/mailing Verlag Andreas Häuptli (Leiter Product Management) Milena Andretta

das nächste Folio erscheint am dienstag, 3. Januar 2012.

anzeigenverkauf Publicitas AG, NZZ Media, Seehofstr. 16, 8021 Zürich Telefon 044 258 16 98, Fax 044 258 13 70 E-Mail anzeigen@nzzmedia.ch, www.nzzwerbung.ch Deutschschweiz: Gabriela Graf (Product Management) Tel. +41 44 258 13 57 Westschweiz: Yves Gumy, Tel +41 21 317 88 08 Leser- und aboservice Tel. +41 44 258 15 30, Fax +41 44 258 18 39 leserservice-schweiz@nzz.ch

Sie wird verschrien als Häuschenschweiz, Familien­ ghetto, Langweilertreff, als Ort ohne Seele. Die Mehrheit lebt hier, und doch wissen wir nur wenig über sie, die Agglomeration. Sie ist das grosse Da­ zwischen, weder Stadt noch Land. Das NZZ Folio vom Januar ist ein Reiseheft der anderen Art: Wir sind zu den Wohnblöcken gefahren, um Verkehrs­ kreisel gewandert, an Vorgärten vorbeispaziert und vor Doppelhaushälften stehengeblieben. Dabei ha­ ben wir das Glück gesucht, und manchmal haben wir es auch gefunden. In der Aargauer Agglomera­ tion haben wir ein Zimmer gemietet und immer wieder die Leute besucht, die seit fünfzig Jahren vormachen, wie man auf engstem Raum lebt: Sie sind die wahren Experten in Sachen Verdichtung. In Archiven haben wir den Agglo­Visionen der Raumplaner von vorgestern nachgespürt und sie mit denen für übermorgen verglichen. In Festzelten, Mehrzweckhallen und Kleintieranlagen versuchten wir, den Erfolg der SVP in der Agglo zu verstehen. Wir berichten aber auch von einem Streit in der Ost­ schweiz, bei dem die eine Gemeinde mehr als ein Dorf sein wollte, die Nachbargemeinde nichts als das. Und wir zeigen Bilder von einer Tour durch die Vorstädte: Stehtischchen im Tankstellenbistro, Nagelstudios im Irgendwo, Morgenstimmung auf dem S­Bahnhof.

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abonnements NZZ Folio wird am ersten Montag des Monats der Inlandauflage der «Neuen Zürcher Zeitung», der «Neuen Zuger Zeitung» sowie Teilauflagen des «St. Galler Tagblatts» und der «Neuen Luzerner Zeitung» beigelegt. Den Auslandabonnenten der NZZ wird es separat zugestellt. Separatabonnements Inland CHF 94 inkl. MWSt, Ausland CHF 105 / € 68 pro Jahr. NZZ Folio erscheint monatlich. einzelheftbestellung Tel. +41 44 258 13 78, Fax +41 44 258 12 68 Einzelnummern CHF 12 / € 12 adresse Verlag Verlag NZZ Folio, Falkenstrasse 11 Postfach, CH-8021 Zürich Tel. +41 44 258 12 60, Fax +41 44 258 12 68 E-Mail: folioverlag@nzz.ch druck und Litho Swissprinters St. Gallen AG, Fürstenlandstrasse 122, 9001 St. Gallen nZZ-mediengruppe Albert P. Stäheli (CEO) Geschäftsbereich nZZ Markus Spillmann, Marius Hagger, Felix E. Müller, Peter Hogenkamp

© Verlag NZZ Folio, 2011 (ISSN 1420-5262). Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwendung der redaktionellen Texte (besonders ihre Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung und Bearbeitung) bedarf der schriftlichen Zustimmung durch die Redaktion. Ferner ist diese berechtigt, veröffentlichte Beiträge in eigenen gedruckten und elektronischen Produkten zu verwenden oder eine Nutzung Dritten zu gestatten.

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