aug – okt 2010
#06
Wir müssen reden
FÜR EIN SEIN OHNE HABEN: DIEBSTAHL UND EIGENTUM / PALAIS ROYAL, HOLLYWOOD UND NIKE: INBESITZNAHME FREMDER MACHT / KEMBREW MCLEOD: DAS ENDE DER MEINUNGSFREIHEIT / I HEART MUSIC: OVAL / ALLES FÜR ALLE?! / LITERATUR UND ANEIGNUNG: KLAUS THEWELEITS „ORPHEUS UND EURYDIKE“/ GASPAR NOÉ / CORNELIA SOLLFRANK: KEINE ORIGINALE! !
Vier / 4 Euro 06
Diebstahl 4
191548 304005
LOST FOR LIVE.
The Asteroids Galaxy Tour @ Electronic Beats Recommends Tour 2009 Album available on www.electronicbeats.net/downloads
Just for one evening, forget about the industry hype, the tiresome genre labels and stipulated hairstyles and open your self to a pure and unadulterated experience. It ’s known as live music. Because in this undiluted state music is potent, speaks for itself and is finally allowed to just do its thing. Like spinning you into uncontrollable motion and emotion. We’re talking about the real deal, the thing that originally drew you in, hooked you up and that’s had you coming back for more ever since. Electronic Beats have been putting on live music events for 10 years and know how to make a night of live music a memorable one for the right reasons. The way we do this is simple. With acts, sound and venues of a superior quality we attract the right sort of people. People after the real thing. The same thing you are.
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(Editorial), Analogien
Abb. 1
Spanischer Olivenbaum
Abb. 2
Weltraum Omelett
„Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei!“, schrieb jemand vor vielen Jahren an eine S-Bahn-Brücke in Berlin-Schöneberg. Die großen weißen Buchstaben, des Nachts in einem akrobatischen Akt angebracht, haben bis heute überlebt. (OK)
Paradoxerweise unbeschadet, nicht durchgestrichen oder wenigstens kommentiert. Denn Fragen von Verteilung und Eigentum sind so strittig wie eh und bestimmen nach wie vor über Lebenschancen. Das Cover der vorliegenden Ausgabe thematisiert es offen: Was passiert eigentlich, wenn etwas plötzlich verschwunden ist? Wenn das Eigene entwendet, herausgelöst, kurzerhand gestohlen wurde? Der Philosoph Roger Behrens widmet sich dem Themenkomplex um Eigentum und Diebstahl auf fundamentale Weise und erklärt, wie das Eigentum den Menschen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen grundlegend bestimmt. Andi Schoon zeigt, wie aus Diebstahl die Aneignung fremder Macht und damit eine politische Aktion werden kann; der Professor für Copyrights Kembrew McLeod entwendete der US-amerikanischen Öffentlichkeit das Recht auf freie Meinungsäußerung und produzierte einen (fast) verbotenen Film über die Geschichte des Samplings; ein Rechtsanwalt und ein Konzertagent streiten über „geistiges Eigentum“; Claudia Grist geht auf eine spezielle Form von Inbesitznahme im literarischen Schaffensprozess ein; die Künstlerin Cornelia Sollfrank weigert sich schlicht, Originale zu produzieren. Vor kurzem haben die freundlichen Kolleginnen und Kollegen der linken Wochenzeitung Jungle World uns als Mitbewohner aufgenommen. Man teilt sich Kaffee, alle probieren nach Kräften, das Küchenchaos zu ignorieren. Mit dem Redaktionsbuero hat sich einiges verändert: auch tagsüber begegnen wir nun echten Menschen, schreiben nicht länger nur Emails und hängen am Telefon. Es ist einfach herrlich! Und weil wir schon beim Entzücken sind: Wir freuen uns sehr über all die Unterstützung, die ihr uns in letzter Zeit zukommen lassen habt. Danke für eure Meinungen, eure Kritik und Anregungen! Ach, und übrigens: zwar gibt es OPAK seit dieser Ausgabe am Kiosk, ein Abo bieten wir natürlich trotzdem noch an. Wir sind angewiesen darauf, auf euch, damit es weiter gehen kann. Viel Spaß mit dieser Ausgabe.
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(Inhalt)
POLITIK 8 Diebstahl ist Eigentum (Roger Behrens) 12 Passagen durch das Panopticon (Andi Schoon) 16 Baust du schon oder lebst du noch? (Martin Büsser) MUSIK 18 Der Tag, an dem ich die Meinungsfreiheit tötete (Kembrew McLeod) 22 Dance to the rhythm of telephone wires (Steffen Sauter, Berthold Seliger) 24 I heart music (Nils Quak) 26 Mit Staub, Milchglas und Patina (Rasmus Engler) 27 Same same, but different (Aida Baghernejad) 28 Mit Konzept und ohne Plan (Senta Best) 29 Kaputtnicks (Ulf Ayes) 30 Kunst und Würde (Lucia Newski) MODE 32 Pica Pica Gold Gold (Josephin Thomas) LITERATUR 36 Könige der Unterwelt (Claudia Grist) 42 Warum war ich eigentlich in Bochum gewesen? (Lasse Koch) 46 Ich klaue nie Bücher (Ulrich Holbein)
Diebstahl
FILM 48 Take the money and run! (Christian Ihle et al.) 54 Halluzinationen und Astralvisionen (Jan-Eike Michaelis) DRAUSSEN 58 „This Is Not By Me“ (Jesper Petzke) 61 Nach allen Riegeln der Kunst (Ulf Ayes) REVIEWS 62 Musik, Literatur & Film COMIC 66 Behold (Sascha Hommer)
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(Contributors), (Impressum)
Jana Slaby
Nikolai Potthoff
Christian Ebert
Saskia Otto
Die 22-jährige stolze Friedrichshagenerin Jana Slaby studiert Fotografie an der Ostkreuzschule und besucht derzeit die Fachklasse bei den Professoren Jonas Maron und Thomas Sandberg. Ein einmonatiger Aufenthalt in New York im letzten Jahr hat ihr gezeigt, dass Fotografie genau das ist, was sie will, liebt und weitermachen sollte. Sie liebt Holunderlimonade, in ihrer Freizeit ist sie am liebsten weg, am Müggelsee oder in Finnland. Noch im Aufbau aber bald in voller Blüte zu sehen ist ihre Internetseite www.janaslaby.de. Für unsere Modestrecke hat Jana die Sängerin Ira Atari auf ihrem Raubzug durch den Wald fotografiert.
Schon seinen Vorfahren war bewusst, dass es immer nur ums Abliefern und Eintüten geht. Deshalb ließen sie sich den Clips patentieren, jenes Plastik-Draht-Teil, mit dem noch heute Brottüten verschlossen werden. Im hintersten Zimmer der Clipsfabrik richtete Nikolai sein erstes Aufnahmestudio ein. Ständig mussten neugierige Bands durch den Produktionsbetrieb geführt werden – es war wie die Sendung mit der Maus (nur langweiliger). Apropos Maus: niemand klickt so schnell wie Nikolai, wenn es darum geht, Bands zu produzieren! Außerdem telefoniert niemand so gern und viel wie er, weshalb er seit dieser Ausgabe für das OPAK-Anzeigengeschäft zuständig ist. Erstes Urteil aus der Branche: „Zäher Typ. Hängt einem wie ein Terrier am Bein!“ Ja, wie ein Yorkshire Terrier vielleicht.
Bevor er sich dazu entschied alles hinzuschmeißen, war Christian Ebert ungefähr 30 Jahre lang an zahlreichen mehr oder minder großen Theatern aktiv. Bochum, Hamburg, Basel, Frankfurt, London – mal als Schauspieler, dann wieder als Regisseur von Stücken wie Hölderlins Hyperion oder Lermontows Maskerade. Seit 1999 produziert er unter dem Namen Black Trash Productions zusammen mit Michael Weber (ebenfalls Schauspieler) Theater, Bücher, Texte und Filme. Zuletzt wurde ihr deutscher Western „Cowboy Canoe Coma“ zum Festival des gescheiterten Films eingeladen. „Endlich angekommen“, denkt Christian Ebert sich und führt sein Leben im Off. Für diese Ausgabe hat er probiert, Wolfgang Welt zu interviewen.
Saskia Otto ist Fotografin und noch so einiges anderes, und das hat sie schwarz auf weiß. Sie entstieg eines warmen Sommertages in Berlin-Kreuzberg einem Ufo. Das Ufo war vor langer, langer Zeit in Osnabrück gestartet, doch wo es sich in der Zwischenzeit herumtrieb, darum ranken sich große Mythen. Mythos – wieder so ein Wort, das in naher Zukunft vielleicht vergessen sein wird. Doch mit einem ebenso bezaubernden wie spöttischen Lächeln im Gesicht weiß Saskia Otto deutlich zu machen, dass ein Geheimnis unbedingt ein Geheimnis bleiben muss. Wo es doch so ein Luxusgut geworden ist. Für die Legendenbildung und gegen die Durchleuchtung von fast allem – willkommen an Bord, Frau Otto.
Kontakt OPAK Magazin Oliver Koch (V.i.S.d.P) Gneisenaustraße 33 10961 Berlin redaktion@opak-magazin.de www.opak-magazin.de
Design, Layout & Satz (Print) Adeline Mollard, www.adelinemollard.ch Floyd Schulze, www.wthm.net Verwendete Schriften: Simplon von Emmanuel Rey, www.emmanuelrey.ch Romain BP von Ian Party, www.bpfoundry.com
Jezdinsky, Lasse Koch, Ruth Kofmel, Thomas Lenz, Tobias Levin, Kembrew McLeod, Jan-Eike Michaelis, Nagel, Lucia Newski, Jochen Oppermann, Felix Piatkowski, Maike Persike, Jesper Petzke, Nils Quak, Steffen Sauter, Kristina Schilke, Andi Schoon, Kristof Schreuff, Barbara Schulz, Berthold Seliger
Anzeigen Nikolai Potthoff nikolai.potthoff@opak-magazin.de
Redaktion Senta Best (Musik) Niklas Dommaschk (Literatur) Markus Göres (übergreifend) Lasse Koch (Politik) Oliver Koch (Chefredaktion) Jan-Eike Michaelis (Film) Josephin Thomas (Mode) Max Zerrahn (Bild)
Lektorat / Korrektorat Dörte Kanis, www.doerte-kanis.de Titelbild der Ausgabe Khristian Mendoza Aus der Serie "Transparency", http://cargocollective.com/khristianmendoza Texte dieser Ausgabe Ulf Ayes, Aida Baghernejad, Roger Behrens, Senta Best, Jenna Brinning, Martin Büsser, Christian Ebert, Rasmus Engler, Lukas Foerster, Janina Friedhoff, Kathrin Gemein, Markus Göres, Claudia Grist, Ulrich Holbein, Christian Ihle, Alex
Fotografien & Illustrationen dieser Ausgabe Akay, Lena Böhm, Jenna Brinning, André Gottschalk, Sascha Hommer, Stephanie Lehmann, Michael Mann, Kerstin Schomburg, Jana Slaby, Patrick Strattner, Nadine Targiel, Max Zerrahn, Joachim Zimmermann Danke an Thomas Ebermann, Carsten Hellberg, Christine Pfeifer, Stefan Rudnick, Isabel Teusch, Klaus Theweleit
Druck Druck und Werte GmbH Peterssteinweg 17 04107 Leipzig www.druckundwerte.de Vertrieb carnivora Verlagsservice GmbH & Co. KG Stefan Rudnick Gneisenaustraße 33 10961 Berlin Tel. (030) 747 86 26 40 vertrieb@carnivora-verlagsservice.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge stehen unter der Verantwortlichkeit der VerfasserInnen und geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder des presserechtlich Verantwortlichen wieder.
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Politik — Diebstahl ist Eigentum
Politik — Diebstahl ist Eigentum
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Politik — Diebstahl ist Eigentum
Diebstahl ist Eigentum •
Fotos — M a x Z E R R A H N
Text — R o g e r B E H R E N S , Foto — M i c h a e l M A N N
Wenn von „Abschaffung des Eigentums“ die Rede ist, denken die meisten allerhöchstens an Umverteilung oder Verstaatlichung. Für unseren Autor Roger Behrens wird damit jedoch die herrschende Eigentumsordnung nur bestätigt. Er zeigt, wie das Eigentum den Menschen grundlegend bestimmt. Und weil sich der Mensch erst ohne Eigentum selbst bestimmen könnte, lautet seine Forderung konsequent: Eine Radikalisierung der Eigentumsfrage, die das Eigentum selbst in Frage stellt.
Politik — Diebstahl ist Eigentum
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schenrechtler, die mit der Privatsphäre immer auch Schutz und Legitimität des Eigentums verteidigen. Ja, in einer Gesellschaft, in der die Reste des bürgerlichen Zeitalters ohnehin am Besitzverhältnis hängen und das Besitzverhältnis selbst am seidenen Faden ökonomischer Erfolgsversprechen, verwundert es nicht, dass allein der Gedanke, dass Eigentum Diebstahl, ergo eben nicht Freiheit, sondern Unfreiheit sei und deshalb abgeschafft gehöre, regelrecht als Verrücktheit, als Unsinn, wenigstens als Tabu behandelt wird.
„Schauen Sie doch mal nach links und rechts, nach oben und unten, ob Sie alles eingepackt haben, was Ihnen lieb und teuer ist.“ Ansage in einem Regionalzug
Was ist Eigentum
„E
igentum ist Diebstahl“ lautet ein nicht unbekannter, Pierre-Joseph Proudhon zugeschriebener Sinnspruch, den sich dann die Anarchisten zur Parole gemacht haben. Tatsächlich hat schon Basilius der Große, ein Kirchenvater aus dem vierten Jahrhundert, ähnlich, wenngleich dialektisch gewendet „Diebstahl als den eigentümlichen Erwerb“ bezeichnet – mit durchaus urkommunistisch-libertären Ambitionen und prähumanistisch gegen den Antijudaismus: er verlangte, Juden und Christen gleich zu behandeln, da sie nun mal „dieselben Eingeweide“ hätten, während der Antisemit Proudhon den Juden als „Feind der menschlichen Art“ identifizierte. Dennoch hat Proudhon den Satz berühmt gemacht, provoziert mit ihm gleich zu Beginn seiner Abhandlung „Was ist das Eigentum?“ von 1840 den bürgerlich-aufgeklärten Konsens seiner Zeit. Es ist eine rhetorische Finte, mit der er anhebt: „Wenn ich auf die Frage: ,Was ist die Sklaverei?‘ kurz antwortete: ,Sie ist Mord!‘, so würde man meinen Gedanken sogleich verstehen … Warum also kann ich auf die Frage: ,Was ist das Eigentum?‘ nicht ebenso gut antworten: ,Es ist Diebstahl!‘, ohne allgemein unverstanden zu bleiben? Und doch ist dieser zweite Satz nur die Umschreibung des ersten.“ Es ist dabei geblieben, immer noch erhebt sich bei solchen Behauptungen ein „Sturm der Entrüstung“, den seinerzeit auch Proudhon seiner These entgegenschlagen sah. Auch heute sind es die Liberalen und Men-
Selbstverständlich taucht in der aktuellen Diskussion ums Eigentum (Hypo Real Estate, Opel etc.) die revolutionäre Lösung, nämlich seine Abschaffung, gar nicht auf; und selbst die reformsozialistische Idee, Eigentum in Kollektivbesitz zu überführen, bleibt nur Spinnern überlassen – oder solchen, die man wegen dieser These schlichtweg für Spinner hält. Tatsächlich ist alles, was im gegenwärtigen Diskurs als Eigentum verhandelt wird, Privateigentum; es geht um Rechte und Pflichten (Bankenabgabe, Notfallfonds), und die Debatte erweist sich nur deshalb als politisch, weil wieder einmal der Staat angerufen wird: Der soll helfen, denn dem traut man nicht nur den Schutz des Eigentums zu, sondern auch seine ökonomische Kontrolle. Insofern erweist sich die Forderung nach Verstaatlichung oder wenigstens staatlicher Verregelung bestimmter Besitztümer mitnichten als Kritik der bestehenden Eigentumsordnung, sondern bloß als ihre korporative Bestätigung. Es geht um die Verteidigung des Privateigentums. Und dabei bleibt es nicht immer nur bei einer sozialpartnerschaftlichen Anne-Will-Version, sondern schlägt bisweilen durchaus in einer gefährlichen Mischung aus Panik, Sozialneid und Menschenhass faschistisch um: Das kann die Hausbesetzerin, die Strom und Wasser anzapft, wofür der brave Deutsche natürlich zahlt, genauso treffen wie den Aktienbesitzer, der plötzlich zur raffenden und gierigen Heuschrecke mutiert, die der fleißig-schaffenden Volksgemeinschaft die Ernte wegfresse.
Das Verhältnis des Privateigentums Die Debatte ums Eigentum ist verkürzt: Was in ihr verhandelt wird, ist Eigentum als Privateigentum. Wenn es ums Privateigentum geht, dann um das Privateigentum an Produktionsmitteln. Zudem wird unter Produktionsmitteln ohnehin nicht mehr verstanden als das, was gemeinhin als Wirtschaft bezeichnet wird. Eine kleine etymologische Überraschung ist hier aufschlussreich: Privateigentum ist eine besondere Form des Eigentums, eben eine private – das Wort kommt vom lateinischen „privare“ und heißt bemerkenswerter Weise neben „befreien“ und „sondern“ auch „berauben”“! Also: Eigentum ist Diebstahl, allemal sofern es Privateigentum ist. Damit ist aber über die gesellschaftliche Funktion des Eigentums noch nichts gesagt. Sie zu erhellen erscheint ebenso kompliziert wie das Eigentum in seinen mal sinnlich-greifbaren, dann wieder übersinnlichungreifbaren Schichten selbst. Also: Privateigentum gibt es nur dort, wo der Mensch zum Individuum wird. In der Individualität entdeckt der Mensch seine Freiheit, die er geschützt wissen will durch die Privatsphäre. Tatsächlich findet sich die gesellschaftliche Notwendigkeit, den Menschen als Individuum hervorzubringen, in den materiellen Produkti-
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Politik — Diebstahl ist Eigentum
„Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht … An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens, getreten.“ Karl MARX, 1844
onsverhältnissen, das heißt in der besonderen Form der Arbeit, die mit dem Kapitalismus entsteht. Der Kapitalismus ist eine Tauschökonomie, in der der Mensch gerade deshalb als In=dividuum, also wörtlich Unteilbares, agiert, weil nur so von ihm etwas abgeteilt werden kann: Nicht das Arbeitsprodukt wird verkauft, sondern die Arbeitskraft, gemessen in abstrakten Zeiteinheiten. Und: Was produziert wird, ist nicht das Eigentum des Produzenten, sondern das Eigentum desjenigen, dem der Produzent sein in diesem sozialen Verhältnis einziges Eigentum, nämlich seine Arbeitskraft, verkauft hat. Diese gesellschaftliche Eigenschaft des Menschen, Arbeitskraft zu besitzen, wird zu seiner individuellen Eigenschaft. Umgekehrt verwandeln sich seine individuellen Eigenschaften in gesellschaftliche – aus dem besonderen Charakter des Menschen werden allgemeine Soft Skills. Der Mensch muss seine Eigenschaften, nämlich das, was er ist, als Eigentum behandeln, also als etwas, was er hat. Macht er das nicht und bleibt der Mensch als Individuum in seiner Privatsphäre eingeschlossen, so wird er zum Idioten. Wo es ihm jedoch gelingt, seine aus Eigentum zusammengesetzte Individualität über die Privatsphäre hinaus als scheinbare Einheit individueller Eigenschaften gesellschaftlich, das heißt ökonomisch einzusetzen, erhält er ein besonderes Eigentum: Er hat Persönlichkeit. An jeder Casting-Show ist nachzuvollziehen, dass diese Persönlichkeit umso größer wird, je mehr die Menschen bereit sind, ihre individuellsten Eigenschaften als gesellschaftliches Eigentum nach außen zu kehren. Schließlich resultiert aus diesen Extremen von Idioten und Persönlichkeiten, Kleingärtnern und Supermodels, Hobbybastlern und Sportlern, Puppensammlern und Politikern, Filmfreaks und Fernsehstars et cetera die Normalität, der gesellschaftliche Durchschnitt unseres individuellen Selbstverständnisses: Ich bin, was ich habe.
Haben oder Sein Entscheidend ist, wie sich mit bestimmten Produktionsverhältnissen bestimmte Eigentumsverhältnisse historisch herausbilden, die überhaupt erst eine Gesellschaft von Menschen, die ökonomisch über die Arbeit und politisch über den Besitz definiert sind, hervorbringen. Der Kapitalismus vollzieht den letzten Schritt vom Gemeineigentum zum Privateigentum, so wie er das Gemeininteresse aller zum Privatinteresse des Einzelnen erhebt: Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung, die sukzessive sämtliche den Menschen umgebenden Dinge als Besitz aufteilt, wird allerdings die Eigentumsfrage mehr und mehr auf den Bereich reduziert, wo die Eigentümer gegeneinander stehen und ausgetauscht werden. Anders gesagt: Erst wo die Gesellschaft sich ausschließlich über die Ökonomie bestimmt, wird die Eigentumsfrage zur ausschließlich ökonomischen Frage erklärt. Somit wird das Eigentum zur Angelegenheit gerechter Verteilung verkürzt und einzig dort zum Problem, wo es unmittelbar die Produktionsverhältnisse zum Ausdruck bringt. Die Beschränkung auf die Ökonomie ist aber nur die Kehrseite einer vollständig als soziales Verhältnis ausgedehnten Ökonomie.
Tatsächlich werden die Dinge erst mit ihrer Verwandlung in Gegenstände der Produktionsverhältnisse zu Privateigentum. Doch zugleich werden die Produktionsverhältnisse mit dieser Verwandlung zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen, und es erweitert sich die Produktionssphäre derart, dass immer mehr Dinge in den Produktionskreislauf einbezogen werden können, bis aus Eigenschaften Eigentum wird und der gesellschaftliche Charakter des Menschen sich ebenso umkehrt wie der menschliche Charakter der Gesellschaft: Vom Sein zum Haben, wie es Erich Fromm in seinem Bestseller beschrieben hat. Dabei bleiben laut Fromm Haben und Sein als „Existenzweisen“ den Subjekten ebenso wenig äußerlich wie die zu ihnen ins Verhältnis gesetzten Gegenstände, die Objekte: „Die Existenzweise des Habens leitet sich vom Privateigentum ab. In dieser Existenzweise zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten.“ Die vollendete Manifestation der Habenorientierung findet sich in der Konsumgesellschaft, die jedes Verhältnis in ein Ding verwandelt und jedes Ding in eine Ware. So wird Eigentum endgültig Diebstahl, weil Diebstahl endgültig nach Eigentum trachtet. Eigentum und Diebstahl werden identisch – und Konsum das Synonym. Noch einmal Fromm: „Konsumieren ist eine Form des Habens … Konsumieren ist etwas Zweideutiges. Es vermindert die Angst, weil mir das Konsumierte nicht weggenommen werden kann, aber es zwingt mich auch, immer mehr zu konsumieren, denn das einmal Konsumierte hört bald auf, mich zu befriedigen. Der moderne Konsument könnte sich mit der Formel identifizieren: Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere.“
Animal habens Als Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Eigentumsfrage erstmals als ökonomische Frage aufgeworfen wurde, war die Industrie in einer derartig ungeheuren Entwicklung begriffen, dass es nahe lag, sie ohne Weiteres mit der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse zu identifizieren; die Gewalt der kapitalistischen Eigentumsordnung schien vollständig im Besitz der Produktionsmittel aufzugehen. Gleichzeitig zeigten sich hier bereits die Anfänge einer anderen Dimension der kapitalistischen Warenproduktion, wodurch das, was Eigentum nunmehr rechtlich-sittlich und politisch-ökonomisch bedeutete, sich einerseits (individuell) um eine Psychologie der Bedürfnisse, andererseits (gesellschaftlich) um den Konsum erweiterte. Dies ist die in das kapitalistische Spektakel pervertierte kommunistische Utopie: Also nicht, wie Marx schreibt, die „positive Aufhebung des Privateigentums als die Aneignung des menschlichen Lebens“, sondern die negative, das heißt verdrehte Aufhebung des Privateigentums als die Verwirklichung des lebendigen Menschen in seinem Besitz. Mensch und Eigentum konvergieren im Konsum und Konsumieren ist nichts anderes als die Aneignung der Ware. Eine Identität zwischen Dingen und Menschen wird hergestellt, die auf allen Ebenen des Lebens – psychisch, sprachlich et cetera – verfestigt wird: „Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder“, so Marcuse 1964. Die Kommodifizierung, also das „Zur-Ware-Werden der Welt“, erfasst schließlich den Menschen selbst: Hat die bürgerliche Gesellschaft das freie Subjekt als Eigentümer, als besitzendes Individuum bestimmt, so verspricht die Gesellschaft der vollendeten Warenproduktion den Menschen die Freiheit als Konsumenten. Doch der konsumierende Mensch konsumiert = verzehrt schließlich sich selbst. „Die breiteste Bestimmung des Menschen, diejenige, die die größte Zahl disparatester Züge unter einem einzigen Dachbegriff zusammenfasst, lautet: Er ist das Wesen, das hat. Diese Definition ›animal habens‹ ist ungleich umfassender als das ›animal rationale‹ und deckt Wissen und Erinnerung nicht weniger als Eigentum“, notierte Günther Anders Anfang der sechziger Jahre in seinen „Philosophischen Stenogrammen“: „Nicht: ,Werde, der du bist‘, sollte unsere Maxime heute lauten – wer ,ist‘ man schon? –, sondern: ,Werde, was du hast‘.“ – Dies ist nicht mehr aktuell, der Mensch als „animal habens“ ist längst zum „homo oeconomicus“ mutiert, kein Mängelwesen, sondern ein selbstzufriedenes Mangelwesen,
Politik — Diebstahl ist Eigentum das erfüllt ist von seinen unerfüllten falschen Bedürfnissen; ein infantilisierter Habenmensch, der nichts hat, aber alles haben will – der wie die Möwen bei „Findet Nemo“ mit seinesgleichen herumsitzt und unablässig „Meins – Meins – Meins!“ zwitschert. Seine Maxime lautet: „Sei, was Du haben willst.“ Und als kategorischer Imperativ, der den eigentümlichen Diebstahl zur menschlichsten Eigenschaft erhebt, wird erklärt: „Du sollst haben wollen!“
Die vollendete Manifestation der Habenorientierung findet sich in der Konsumgesellschaft, die jedes Verhältnis in ein Ding verwandelt und jedes Ding in eine Ware. So wird Eigentum endgültig Diebstahl, weil Diebstahl endgültig nach Eigentum trachtet. P.S. Auch das Eigentumsproblem führt durch die Eiswüste der Abstraktion. Dafür guter Proviant: a) Karl Marx’ „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ von 1844 & dazu Herbert Marcuses Aufsatz „Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus“ von 1932; b) Erich Fromms „Haben oder Sein“ von 1976. Und weil zum Thema mehr als passend, sei auf eine aktuelle Studie hingewiesen, die Christian Schmidt 2006 im Campus Verlag unter dem bündigen Titel „Individualität und Eigentum. Zur Rekonstruktion zweier Grundbegriffe der Moderne“ veröffentlicht hat. Indes: Antonio Negris und Michael Hardts neuste Gemeinschaftsarbeit „Common Wealth. Das Ende des Eigentums“, gerade ebenfalls im Campus Verlag erschienen, ist zwar nur eine weitere Folge ihres Revolutionstheaters namens „Multitude“. Weil aber wenigstens der Untertitel die korrekte Parole liefert, wäre es mehr als zu wünschen, dass die beiden diesmal mit ihrem Welterklärungsversuch richtig liegen.
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Politik — Passagen durch das Panopticon
PASSAGEN DURCH DAS PANOPTICON Palais Royal, Hollywood, die Yes Men und Nike — Über Aneignung fremder Macht gegen kollektive Irreführung. Text — A n d i S C H O O N Foto — M a x Z E R R A H N
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m 14. Juli 1789 ruft Camille Desmoulins die Anwesenden zu den Waffen. Vor ihm: das erwachende Bürgertum, das noch am gleichen Tag die Bastille stürmen wird. Hinter ihm: die erste Shopping Mall der Weltgeschichte, das Palais Royal, ein Ort des freien Handels. Wie konnte es geschehen, dass gerade diese Brutstätte des frühen Kapitalismus zum Ausgangspunkt der Französischen Revolution wurde? Der Philosoph Walter Benjamin hat uns die Gründe in seinem Fragment gebliebenen „Passagen-Werk“ (1927-40) erklärt. Das Palais Royal, vis-à-vis vom Louvre gelegen, gehörte im 17. Jahrhundert dem mächtigen Kardinal Richelieu. Er vermachte es dem Königshaus, Ludwig XIV. verbrachte hier seine Kindheit. Als die Bourbonen nach Versailles abwanderten, wurde das Palais zur Spielstätte für Oper und Theater, Molière zog mit seiner Schauspieltruppe ein. Der entscheidende Umbau des Gebäudekomplexes erfolgte in den 1780er Jahren durch einen freiheitlich gesinnten Cousin des Königs, den Herzog von Orleans, genannt „Philippe Egalité“. Er ließ weitläufige Arkadengänge anlegen, unter denen sich alsbald Gastronomie und Einzelhandel breitmachten. Im weit verzweigten Palais eröffneten Clubs und Bordelle, eine bunte Gesellschaft traf sich im Innenhof oder unter dem Glasdach der integrierten Passage. Hier, auf königlichem Privatgrund, hatte kein Gesetzeshüter etwas zu melden. Im Schutz des Monarchen blühten der freie Handel – und die freie Meinungsbildung. Der „Dritte Stand“ konnte sich unbeobachtet auf den Umsturz des Systems vorbereiten, das ihn im Palais Royal beherbergte. Diese Aneignung geschah im Dienste des mündigen Bürgers UND des Kapitals. Eigentlicher Anlass von Walter Benjamins Betrachtung des Palais Royal ist die architektonische Form der Passage, welche hier (als Galeries de Bois) erstmals zum Einsatz kam. Ihrem Wesen nach ist die Passage eine Verbindung zwischen zwei belebten Straßen. Sie besitzt ein Glasdach, stellt also einen Innenraum dar, der jedoch von Außenfassaden mit Schaufenstern des Einzelhandels gesäumt wird. Die Passage ist eine Straße in der Straße, die öffentlichen Raum auf Privatgrund simuliert. Ihre Hochzeit als städtebauliches Element erlebte sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wer schon einmal die Galleria Vittorio Emanuelle II in Mailand gesehen hat, mit einer Kuppel so groß wie die des Petersdoms, oder auch das zaristisch glitzernde GUM am Roten Platz in Moskau, versteht Benjamins zweigeteilten Blick. Er ist fasziniert von der nostalgischen Pracht und den Paradoxien, die in ihnen wohnen: „Passagen sind Häuser oder Gänge, die keine Außenseite haben – wie der Traum.“
Politik — Passagen durch das Panopticon
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Politik — Passagen durch das Panopticon
Geblendet von allerlei Annehmlichkeiten, blind für die tatsächlichen Verhältnisse, befinden wir uns im Klammergriff der zunehmend feineren Tentakel des Kapitalismus. Unmerklichkeit ist die Voraussetzung seines Funktionierens.
Benjamin macht keinen Hehl aus seinem Bedauern über das weitgehende Verschwinden der glasüberdachten Gänge, deren Funktion um 1850 das moderne Warenhaus übernahm. Einerseits. Seine offizielle Agenda ist freilich eine andere. Als Sozialist kritisiert er die kommerzielle Grundausrichtung der Passage als „Tempel des Warenkapitals“. Sie ist eine Phantasmagorie, eine Traumwelt, durch die sich der gerade erst befreite Bürger als bewusstloser Konsument treiben lässt, betäubt vom schönen Schein, als „Passagier“, der das Lenkrad einer gesichtslosen Macht überlässt. Zurück ins Jahr 1789. Während in Paris die Barrikaden brennen, lehnt auf der anderen Seite des Ärmelkanals der englische Philosoph Jeremy Bentham über seinem Zeichentisch, um das Modell des Panopticons zu entwerfen, eine Gefängnisarchitektur zur Sichtbarmachung des einzelnen Inhaftierten. In der Mitte steht ein Turm, ringsumher sind die Zellen derart angeordnet, dass der Turmwächter sie allesamt einsehen kann. Pro Zelle ist nur eine Person untergebracht, für die der Wächter im Gegenlicht verschwindet. Der Inhaftierte kann also nicht erkennen, ob der Turm überhaupt besetzt ist. Aber, Benthams innovative Idee, er wird sich stets so verhalten, als SEI der Turm besetzt. Im Ergebnis überwacht der Gefangene sich selbst. In mehrfacher Hinsicht ist Bentham ein Kind der Aufklärung: Sein Modell ist äußerst rational, es individualisiert den Gefangenen und setzt darauf, ihn wieder fürs Gemeinwohl produktiv zu machen. Wer lernt, sich zu benehmen, wird nach einer gewissen Zeit in die Freiheit und damit sich selbst überlassen. In seinem Buch „Überwachen und Strafen“ nahm Michel Foucault 1975 eine legendäre Deutung des Panopticons vor. Für ihn spiegelt sich darin das Funktionsprinzip der spätkapitalistischen Gesellschaft. Unter dem Vorzeichen persönlicher Freiheit kontrolliert sich das Individuum unablässig selbst: prüft den eigenen Leibesumfang, hinterfragt den persönlichen Lebenswandel, gleicht das erworbene Kompetenzprofil mit den
Politik — Passagen durch das Panopticon Anforderungen des Marktes ab. Die Macht wandert in unsere Körper, sie „kennt kein Außen mehr“. In dieser Formulierung Foucaults blitzt die Grundannahme Benjamins hinsichtlich der Weltwahrnehmung in der Passage auf: Geblendet von allerlei Annehmlichkeiten, blind für die tatsächlichen Verhältnisse, befinden wir uns im Klammergriff der zunehmend feineren Tentakel des Kapitalismus. Unmerklichkeit ist die Voraussetzung seines Funktionierens. Ideologiekritische Diagnosen dieser Art häufen sich in den 1970er Jahren: Für den Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry etwa findet die Verblendung im Dunkel des Kinosaals statt. Den Blick starr in Richtung Leinwand gerichtet, wird der Betrachtende auf ein geschlossenes Weltbild hin konditioniert. Der Kino-Apparat gerät zur „Subjektkonstitutions-Maschine“, die letztlich immer auf die Affirmation des Bestehenden zielt. Auch hier gelingt der Akt der Täuschung nur, solange die Zielgruppe sich ihrer Situation nicht bewusst wird, sprich: bemerkt, dass sie lediglich einer filmischen Darbietung beiwohnt. Um die Täuschung perfekt zu machen, hat das Hollywood-Kino eine ganze Reihe von Regeln erprobt, die in der Filmwissenschaft als continuity-montage zusammengefasst werden. Der inhaltlich motivierte Schnitt und die logisch fortgesetzte Bewegung tragen dazu bei, dass Kinobesucher sich ins Geschehen hineinziehen lassen, sich identifizieren und vermeintliche Zusammenhänge ausmachen – und dabei doch nur die hochgradige Konstruiertheit der Realität verkennen. Diese These mündet bei Jean Baudrillard in den Begriff des Simulacrums, der die Realität als umfassende Simulation beschreibt. Den bis hierhin vorgestellten Positionen versuchsweise folgend, stellt sich die Geschichte der westlichen Kultur seit der Aufklärung als eine Abfolge kollektiver Irreführungen dar, die in enger Verbindung mit den ambivalenten Strategien des Kapitalismus steht. Kern dieser Täuschungen ist die Vertuschung der Tatsache, dass sich Freiheit und Ausbeutung stets gegenseitig bedingen. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass sich subtiler werdenden Formen der Einflussnahme nur schwerlich mit explizitem Widerstand begegnen lässt. Allerdings hat sich über das 20. Jahrhundert auch eine Kulturgeschichte der feineren Gegenwirkung herausgebildet, die verschiedene Arten der Aneignung fremder Macht veranschaulicht. Zu ihren Highlights zählt der lettristische Überfall auf Notre-Dame 1950:
worteten „Gerechtigkeitsgutscheine“ für Unrechtsregime und Nahrungsmittel-Recycling für die Dritte Welt. Ihre Waffe ist die Über-Affirmation und ihr running gag, dass selbst haarsträubende Auftritte für bare Münze genommen werden. 2001 referierten die Yes Men auf einer Textilkonferenz in Finnland, um ein Überwachungssystem für unterbezahlte Arbeitskräfte in Schwellenländern vorzuschlagen, eine Art tragbares Panopticon – sie ernteten Applaus und erhielten ernsthafte Rückfragen zu technischen Details der Apparatur. Die Yes Men schlüpften in weitere Rollen: Als vermeintliche Vertreter von Dow Chemical versprachen sie in einer BBC-Liveschaltung finanzielle Wiedergutmachung für die Chemie-Katastrophe von Bhopal 1984, woraufhin der Aktienkurs des Unternehmens um zwei Milliarden Dollar abrutschte. Im November 2008 produzierten sie in einer angeblichen Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren eine auf den 4. Juli 2009 datierte Sonderausgabe der New York Times, in der u. a. über eine Anklage George W. Bushs auf Hochverrat berichtet wurde. Dies sind punktuelle Aktionen einer Kommunikations- und Medienguerilla, die zurücktäuscht, Begriffe kapert und falsche Tatsachen vorspiegelt. Wenn man so möchte, kehren die Yes Men die foucaultsche Analyse um: Mit subtilen Mitteln dringen sie ins Zentrum der Macht vor, um an dieser verwundbaren Stelle eine Zeit lang unbemerkt mitzureisen. Man könnte auch sagen, sie vergnügen sich in der Höhle des Löwen so, wie es die Pariser Bürger im Palais Royal taten. Die Yes Men seien hier stellvertretend für einen künstlerischen Ansatz genannt, der viele Namen und Gesichter hat und dessen kleinster Nenner sich als eine Frage von Roland Barthes identifizieren lässt: „Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?“ Walter Benjamin deutet schon im „Passagen-Werk“ an, welche Qualitäten es braucht, um den Phantasmagorien nicht auf den Leim zu gehen. Flaneur müsste man sein, kritischer Müßiggänger, der im Geschehen mittreibt und dabei doch genügend Distanz behält, um zu beobachten, zu beschreiben und zu erkennen, dass „Straßen die Wohnungen des Kollektivs“ sind. Was Benjamin noch nicht kannte, wofür aber die Situationisten schon ein Wort hatten (nämlich „Rekuperation“): dass Nike Marketing-Botschaften mit Kreide auf Gehwege schreiben lässt.
Wie jedes Jahr versammelt sich zum Ostergottesdienst in der größten Kathedrale von Paris eine riesige, festlich gestimmte Gemeinde. Sie wartet auf die Worte des Geistlichen, der ungewöhnlich flinken Schrittes den Altarraum betritt. Der junge Dominikanermönch hebt zu einer Grundsatzpredigt an, die sehr bald mit einem erstaunlichen Fazit endet: „Wahrlich, ich sage Euch: Gott ist tot!“ Die Orgel beginnt nervös zu spielen, die Schweizergarde zückt ihre Schwerter, der Dominikaner nimmt seine Beine unter den Arm. Mit knapper Not und der Hilfe dreier junger Männer, Lettristen wie er, gelingt es ihm, sich vor dem wütenden Mob aus der Kirche zu retten – nicht ohne der Gemeinde zuvor noch seinen Segen erteilt zu haben. Etwa so hat Greil Marcus in seinem Buch „Lipstick Traces“ den Zwischenfall beschrieben, der den damals 22-jährigen Michael Mourre um ein Haar das Leben gekostet hätte. Die Lettristen sorgten als ProtoPunk-Bewegung im Paris der frühen 1950er Jahre wiederholt für Aufruhr. Ihnen folgte die Situationistische Internationale um Guy Debord, zu deren Mitteln das détournement zählte, die Zweckentfremdung populärkultureller Zeichen. Filme wurden neu synchronisiert und ComicSprechblasen mit alternativem Text versehen. In dieser Tradition sah sich in den späten 1960er Jahren die englische Aktionsgruppe King Mob, ihres Zeichens Erfinder des falschen Weihnachtsmanns, der in Kaufhäusern unbezahlte Waren an dankbare Kinder verschenkt. An einer ähnlich heiklen Baustelle betätigten sich die Yes Men, als sie 1993 Barbie- und G.I.-Joe-Puppen mit vertauschten Sprachmodi in die Regale von Spielzeugläden stellten. Spätestens mit den Yes Men wird die öffentliche Aktion politisch brisant. Jacques Servin und Igor Vamos sicherten sich 1999 die Webdomain gatt.org, auf der sie eine gefälschte Selbstdarstellung der Welthandelsorganisation (WTO) platzierten. Über die Website nehmen sie seither Einladungen für Interviews und Vorträge auf Konferenzen entgegen. So forderten sie unter WTO-Flagge den Handel mit Wählerstimmen, befür-
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Allerdings hat sich über das 20. Jahrhundert auch eine Kulturgeschichte der feineren Gegenwirkung herausgebildet, die verschiedene Arten der Aneignung fremder Macht veranschaulicht.
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Politik — Baust du schon oder lebst du noch?
BAUST DU SCHON ODER LEBST DU NOCH? Das Eigenheim in der gesellschaftlichen Isolation – über die Idylle in der Sperberstraße, im Bussardweg und Habichtshorst. Text — M a r t i n B Ü S S E R Foto — A K A Y
Akay und Klisterpeters berühmte „Traffic Island“–Installation: Ein schwedisches Miniatur-Dorf zwischen zwei stark befahrenen Autobahnen in Stockholm.
Politik — Baust du schon oder lebst du noch?
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as Dorf, in dem meine Eltern wohnen, ist längst kein Dorf mehr. Zumindest nichts, was ich mir unter einem Dorf vorstelle. Als ich dort in den Siebzigern aufwuchs, gab es einen alten Ortskern und einen Hügel, auf dem sich ein Neubaugebiet bis zu den angrenzenden Weinbergen erstreckte. Dieses Neubaugebiet bestand aus acht bis zehn Straßen, benannt nach Philosophen wie Schopenhauer und Kant. Niemand konnte ahnen, dass es der Beginn einer Expansion war, die das Dorf verschlingen sollte. Die Straße durch den alten Ortskern war wichtige Verkehrsader. Tag und Nacht donnerten LKW in Richtung Autobahn, bis in die Achtziger hinein rollten ab und zu auch Panzer auf dem Weg zum Manöver. Doch trotz des enormen Verkehrs war das Dorf nichts weiter als ein Dorf, ein Ort also, an dem jeder jeden kannte und niemand von Außerhalb anhielt. Alles Lebensnotwendige war vorhanden, aber auch nicht mehr. Ein Bäcker, ein Metzger, eine Apotheke, ein Gemischtwarenladen, ein Zeitschriftenladen, ein Friseur. Als in den Achtzigern eine Videothek hinzukam, war dies eine kleine Sensation. Einige munkelten, dass man jetzt fast schon eine Stadt sei. Als ich zuletzt das Dorf meiner Kindheit nach langer Zeit wieder besuchte, musste ich feststellen, dass es tatsächlich kein Dorf mehr war. Aber auch keine Stadt. Sondern ein amorphes Etwas aus Umgehungsstraßen, Discountern, verkehrsberuhigten Zonen, Wohn- und Gewerbeflächen. Der Verkehrslärm im alten Ortskern ist verschwunden, eine Umgehungsstraße sorgt nun dafür, dass niemand mehr durch diesen Kern geleitet wird. So gesehen ist der Kern auch kein Kern mehr, sondern vergessenes, absterbendes Gelände. Altbauten stehen leer, nur ein paar ältere Menschen überqueren die meist leeren Gassen. Das Leben, wenn man es denn Leben nennen mag, spielt sich an den Rändern ab. An diesen Rändern ist das Dorf, das man kaum mehr Dorf nennen mag, zum sechs- bis achtfachen seiner einstigen Größe expandiert. Dort wuchern Wohngebiete mit Einfamilienhäusern, die wiederum all das mit sich gebracht haben, was solche Wohngebiete benötigen: Mehrere Supermärkte, Getränke- und Baumarkt, Tankstelle und Waschstraße. Das, was aus dem Dorf geworden ist, nennt man in der Amtssprache Kleinzentrum. Dabei handelt es sich um Orte, die der Bevölkerung „die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des häufig wiederkehrenden Grundbedarfs gewährleisten. Sie bieten Standortvoraussetzungen für die Entwicklung von Gewerbe und Wohnungsbau.“ Was in solchen Kleinzentren nicht expandiert, sind Orte der Kommunikation, also Kneipen, Clubs, Kinos, Restaurants. Kleinfamilien wollen nicht kommunizieren, wollen unter sich bleiben. Ihr Eigenheim ist ihre Bastion. Die erste nur für Kleinfamilien konzipierte Straße
im Dorf meiner Eltern entstand Anfang der Achtziger, der Zeit von Nicoles Grand-PrixErfolg. Sie wurde „Friedensstraße“ genannt. Ein passender Name. Wenn nicht gerade Autos zum Einkaufen, zur Arbeit und zurück fuhren, war es totenstill.
Nomaden-Visionen Die bedrückende Stille der Neubaugebiete korrespondiert mit der bedrückenden Last eines Besitzes, der Dauer beansprucht, wo keine Dauer zu haben ist. Mit dem Einfamilienhaus überträgt die Kleinfamilie ihre gesellschaftliche Vorrangstellung ins Materielle. Doch in dem Maße, in dem sich die
Glaubt man dem Soziologen Richard Sennett, so ist die nomadische Vision auf ganz andere Weise in Erfüllung gegangen, nämlich als kapitalistisches Diktat, flexibel zu sein. von Kirche und Staat gepriesene Kleinzelle des Zusammenhalts oft als Schlangengrube erweist, bröckelt das architektonische Modell Einfamilienhaus schon nach wenigen Jahren. Was tun, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Wer will dann noch in einem ausschließlich auf Familien mit Kindern angelegten Viertel wohnen? Verkaufen und wegziehen? – Verkaufen lassen sich diese Dinger allerdings auch nicht so leicht, denn obwohl Einfamilienhäuser oft bis zur Austauschbarkeit gleich sind, besteht der Ehrgeiz doch gerade darin, selbst eines gebaut zu haben. So entsteht seit inzwischen mehr als dreißig Jahren Bauschrott an den Rändern unserer Dörfer, Kleinstädte und Metropolen, gigantische Wohnbatterien ohne sozialen Austausch warten auf Abriss. Dabei gab es mal eine kurze Phase im 20. Jahrhundert, in der die westliche Gesellschaft nicht vom Familiär-Sesshaften als Norm ausgegangen ist. Mobilität, innere wie äußere Bewegung, waren das Ideal der sechziger Jahre. Bücher wie „On The Road“ oder Filme wie „Easy Rider“ und „Zabriskie Point“ stellten gesellschaftliche Utopien der Freiheit dar, innerhalb derer kein Platz war für Eigenheime. Doch nicht nur Künstler und Vertreter der Gegenkulturen glaubten damals an eine mobile Zukunft, auch progressive Architekten stellten sich die Zukunft der Menschen nomadisch vor. Radikalste Vertreter waren die Mitglieder der britischen Gruppe Archigram, die Wohnkapseln konzipierten, also mobile Häuser, die man wie einen Rucksack mit sich tragen konnte. Mithilfe sogenannter Plug-ins sollten diese Kapseln jederzeit an das Strom- und Wassernetz der jeweiligen Umgebung angeschlossen wer-
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den können, in der man sich gerade befand. Archigram-Architekt Rom Herron ging noch ein Stück weiter und plante für die künftige Gesellschaft „Walking Citys“, also eine komplett nomadische Erdoberfläche, auf der es nicht einmal mehr festgesteckte Stadt-Territorien geben sollte. Das mobile Modell von Archigram betrachtete Wohnen nicht mehr als Besitz und Architektur nicht mehr als Statussymbol oder Repräsentationsmodell. Doch das war zu utopisch gedacht. Die Gruppe hatte das Bedürfnis nach Familie und familiärer Abschottung außer Acht gelassen. Interessanterweise kam Familie überhaupt nicht in den mobilen Architekturvisionen der Sechziger vor. Dies dürfte ein Grund für das Scheitern solcher Wohnmodelle sein, ein anderer der kapitalistisch genährte Drang von der Immobilie als Lebensziel (... dieser gerne zitierte Dreiklang: „Kind gezeugt, Haus gebaut, Baum gepflanzt“). Wenn die einst radikalen Architekten heute gefragt werden, was denn von ihren Ideen geblieben sei, erzählen fast alle voller Stolz, dass sich ihre globalen, nomadischen Ideen mit dem Internet verwirklicht haben. – Eine Ausflucht, denn die Menschen, die da kommunizieren, kommunizieren noch immer von Wohnungen und Häusern aus, für die sie Miete zahlen oder die sie besitzen. Glaubt man dem Soziologen Richard Sennett, so ist die nomadische Vision auf ganz andere Weise in Erfüllung gegangen, nämlich als kapitalistisches Diktat, flexibel zu sein. In seinem Buch „Der flexible Mensch“ (1998) beschreibt er, wie der neue „instabile“ Kapitalismus den Menschen permanente Mobilität – zum Beispiel Wechsel von Arbeitsplatz und Wohnort – abverlangt. Doch bei Sennett wird daraus kein Lob auf das Eigenheim, vielmehr fördert dieser neue Kapitalismus seiner Ansicht nach genau das Asoziale, was im Eigenheim als abgeschotteter Zelle schon angelegt ist: Eine zum häufigen Ortswechsel gezwungene Familie bleibt noch mehr unter sich, geht keine langfristigen Bindungen mit der Außenwelt ein. All diese Überlegungen geben noch keine Antwort darauf, wie sich die Zersiedelungen verhindern lassen, denen nicht nur das Dorf meiner Kindheit ausgesetzt ist. Dabei wäre ein Umdenken so einfach. Es bedarf keiner Vision von mobilen Wohnsäcken und Plugin-Städten, sondern einfach eines neuen Verständnisses von Familie und Wohnen, das sich nach außen öffnet. Wer statt in Neubaugebiete in den alten Ortskern ziehen würde, wo so vieles inzwischen leer steht, könnte dort zusammen mit anderen kommunikative Strukturen schaffen, die Wohnen nicht als Abschotten begreifen. Letztlich geht es dabei auch darum, Ressourcen zu schützen und Bausubstanz zu nutzen, die bereits vorhanden ist, anstatt trügerische Denkmäler auf Familien zu bauen, die früher oder später fast alle wieder auseinanderbrechen. Das Einfamilienhaus ist eine infame Ideologie, architektonisch so trist wie die innere Geschlossenheit, die da vorgespielt werden soll.
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Musik — Der Tag, an dem ich die Meinungsfreiheit tötete
Der Tag, an dem ich die Meinungsfreiheit tötete •
Text — K e m b r e w M c L E O D , Fotos — S t i l l s a u s C O P Y R I G H T C R I M I N A L S
Am 16. Oktober 2004 tötete ich die Meinungsfreiheit. Mord war es nicht, eher fahrlässige Tötung, ein durch Nachlässigkeit verursachter Tod.
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Fotos — S t i l l s a u s C O P Y R I G H T C R I M I N A L S
Kembrew McLeod ist unabhängiger Dokumentarfilmer und Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of Iowa. Er ist Autor der Bücher „Freedom of Expression®: Resistance and Repression in the Age of Intellectual Property“ und Co-Produzent der Dokumentation „Copyright Criminals“.
Musik — Der Tag, an dem ich die Meinungsfreiheit tötete
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m eines klarzustellen: Ich meine das definitiv nicht metaphorisch, nach Angaben der Regierung ist die Meinungsfreiheit offiziell tot. Das zumindest behauptet das „US Patent and Trademark Office“, kurz USPTO. Aber was genau hat das USPTO mit Meinungsfreiheit zu tun? Am 6. Januar 1998 übertrug mir diese Regierungsbehörde – zuständig für alle Entscheidungen darüber, was patentiert und markenrechtlich geschützt werden kann – das Eigentum an der Formulierung: „freedom of expression“. Der Marke wurde eine Seriennummer zugeordnet (# 75235164), ihre Genehmigung wurde übrigens im gleichen Jahr erteilt, in dem Rupert Murdoch’s Fox News die Verwaltung eines anderen ikonischen Satzes übernahm: „fair and balanced“ (# 75280027). Heute kündigt der „Live / Dead Indicator“ (was für ein Name!) auf der USPTO-Website an, dass mein Markenzeichen „DEAD“ ist (eindeutig in Großbuchstaben). Wie kann ein Markenzeichen getötet werden? Bevor ich diese Frage beantworte, sollte ich zunächst erklären, warum ich „freedom of expression“ als geistiges Eigentum schützen lassen habe. Es war ein Scherz, eine Posse, wenn auch eine sehr ernste. Ich war im Laufe der Jahre immer wieder zum Zeugen geworden, wie die überhebliche Copyright-Kultur auf heimtückische Weise unnötige Hindernisse für Lehrende, Forscher, Künstler und andere Urheber schuf. Allein deshalb sah ich mich vor mehr als zehn Jahren dazu gezwungen, Freedom of Expression® schützen zu lassen. Die Bewerbung einzureichen war natürlich ein Wagnis. Während ich hoffte, dass „freedom of expression“ nicht privatisiert werden könnte, waren die mit meiner Bewerbung beschäftigten Bürokraten offensichtlich anderer Meinung. Zuerst informierte mich das USPTO noch darüber, dass Teile meiner Bewerbung „unakzeptabel“ waren – allerdings nicht, weil sie der Gedanke beunruhigte, „freedom of expression“ abzuriegeln. Tatsächlich nämlich schien sich niemand im USPTO moralisch, sozial oder politisch an meiner Absicht zu stören. Stattdessen wies mich ein bediensteter Anwalt darauf hin, dass ich meinen Antrag nicht korrekt ausgefüllt hatte: „Die Marke ist nicht ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben“, schrieb er. Natürlich, das USPTO scheint Großschreibung generell zu lieben! Sechs Monate nachdem sämtlicher Papierkram pflichtgemäß erledigt war, erhielt ich via E-Mail ein Zertifikat darüber, dass ich nun also der offizielle Besitzer von FREEDOM OF EXPRESSION war. Zwar bedeutete das nicht, dass ich die Verwendung der Formulierung in allen Kontexten bestimmen konnte – der Markenschutz deckte nur bestimmte Bereiche ab (es fiel in Klasse 16: „Internationale Aufstellung von Waren und Dienstleistungen“, die erfasst, einfach gesagt, Drucksachen). Trotzdem wurde mir ein Monopol über die Wendung in bestimmten Kontexten eingeräumt, was für mich auf eine schwarzhumorige Weise lustig genug war. Wenn beispielsweise die Amerikanische Bürgerrechtsunion (ACLU) sich dazu entscheiden sollte, ein Magazin namens „Freedom of Expression“ zu veröffentlichen, könnte ich mittels gerichtlicher Verfügung gegen den Vertrieb vorgehen. Natürlich habe ich nie jemanden verklagt, ganz sicher auch nicht die ACLU für ihre so schamlose Verwendung von „freedom of expression“ ohne meine Erlaubnis. Aber es gab da ein paar Fälle, in denen ich strategisch einen „Rechtsbrecher“ mit einer Abmahnung ins Visier nahm. Einmal bezahlte ich einen Anwalt, um AT&T Inc. (ehemals größte Telefongesellschaft der Welt, Anm. d. Red.) nachzugehen, weil der Telekommunikations–Riese den Satz OHNE MEINE EINWILLIGUNG! in einer Zeitungsanzeige verwendete. Im Februar 2003, als zuallererst die New York Times von meiner albernen Geschichte berichtete, lautete der Artikeleinstieg: „Meinungsfreiheit, so stellt sich gerade heraus, gilt möglicherweise nicht für jeden.“ Obwohl AT&T Inc. sich weigerte, auf meine Abmahnung zu reagieren, hat-
Sampling im Film: Copyright Criminals reflektiert musikalische Stilprinzipien
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Musik — Der Tag, an dem ich die Meinungsfreiheit tötete
te ich doch auf eine Art gepunktet. Die Medien wurden mein Sprachrohr und die Geschichte hat sich seitdem von selbst verbreitet, besonders im Internet. Wahrscheinlich war die ganze Angelegenheit wegen ihrer krassen, absurden Widersprüchlichkeit so beliebt. Der Satz: „Haben Sie von dem Typen gehört, der die Meinungsfreiheit schützen lassen hat?!“ transportierte meine Kritik an der Privatisierung von Kultur ohne großes Geschwätz. Meine Bedenken habe ich natürlich nicht nur auf scherzhafte Weise geäußert. Darüber, wie geistiges Eigentum die freie Meinungsäußerung beeinträchtigt, habe ich Bücher geschrieben, Artikel veröffentlicht, und – als Versuch, meine Forschung und Erkenntnisse für ein breiteres Publikum aufzubereiten – aufklärende Dokumentationen (co-)produziert. Kürzlich zum Beispiel den Film „Copyright Criminals“, der auf dem US Public Broadcasting Service (PBS) ausgestrahlt wurde. Er beschreibt die Geschichte des digitalen Samplings und der Remix-Kultur und profitiert aus den Recherchen zum gleichnamigen Kapitel meines Buches „Freedom of Expression®: Resistance and Repression in the Age of Intellectual Property“. Indem ich das Kapitel in den Film überführte, wollte ich gewissermaßen die gleiche Geschichte in audiovisueller Form erzählen. Als Musikkritiker habe ich nämlich genügend Erfahrung mit den Schwierigkeiten sammeln können, Sounds mit Worten zu beschreiben; Elvis Costello hat dazu einmal gesagt: „Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen.“ Anstatt also die Entwicklung eines musikalischen Genres mithilfe gedruckter Seiten zu erläutern, ergibt es aus erzählerischer Perspektive mehr Sinn, Musikbeispiele tatsächlich vorzuspielen. Die Devise lautete also: Zeigen, nicht nur erzählen! Aus rechtlicher Sicht allerdings erwies sich unser Ansinnen als heikle Angelegenheit. Denn die Geschichte des Samplings zu dokumentieren sollte uns den gleichen Ansprüchen wegen Copyright-Verletzungen aussetzen, die schon die Protagonisten unseres Films aushalten mussten – was übrigens einer der Gründe ist, wieso „Copyright Criminals’“ neunmalkluges Logo ein Copyright-Symbol ist, das wie eine Zielscheibe aussieht. Warum aber haben wir so viele Clips verwendet? Mein Dokumentarfilm-Partner Benjamin Franzen und ich wollten, dass die Ästhetik des Films seinen Gegenstand widerspiegelt: Collage, HipHop-Sampling und der Aufstieg der Remix-Kultur. „Copyright Criminals“ dokumentiert, wie sich HipHop-Produzenten seit den Ursprüngen des Genres alter Platten bedienen, um eigene musikalische Visionen zu verwirklichen. Weil HipHop viele Jahre lang unterhalb des kommerziellen Radars blieb, stand den Künstlern großer kreativer Spielraum zur Verfügung. Man denke gerade an jene Musik, die in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern aufkam, an die bahnbrechenden, oft dicht verwobenen Collagen. Gruppen wie Public Enemy loteten technologische und kreative Grenzen aus, indem sie einzelne Songs aus Dutzenden von fast unmerklichen auditiven Zitaten collagierten. Bis das sogenannte „Copyright Clearance System“ ins Spiel kam und diese ehemals marginalisierte Subkultur ökonomisch und bürokratisch dabei behinderte, auf gewohnte Weise kreativ zu sein. Das Modell ist einfach. Es basiert auf dem Glauben, dass selbst der geringfügigste Gebrauch lizenziert werden muss. Es steckt also die Annahme dahinter, dass jedes Atom eines bestimmten Werks zum ursprünglichen Urheber oder Inhaber des Copyrights gehört. Und zwar vollkommen unabhängig von der Art und Weise, wie dieses Partikelchen mit Elementen anderer Werke verschmolzen wird. Was auf eine „one-drop rule“ hinausläuft: Egal wie rekontextualisiert oder transfomiert es wird, ein Werk ist sofort rechtlich belastet, wenn es sich eines Fragments anderer Werke bedient. Mag unsere Dokumentation auch nicht so brilliant wie ein klassisches Public-Enemy-Album sein, ein wesentliches Merkmal haben doch beide gemein, denn auch unser Film setzt sich aus Versatzstücken hunderter urheberrechtlich geschützer Quellen zu-
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sammen. Der Versuch, sämtliches verwendete Material vollständig zu lizenzieren, hätte „Copyright Criminals“ finanziell unerschwinglich werden lassen. Mit anderen Worten: Wir haben einen Film produziert, dessen Anliegen in der Aufklärung über die schädlichen Auswirkungen des heutigen „Copyright Clearance System“ besteht – das gleiche System jedoch hätte uns die Möglichkeiten verwehrt zu zeigen, wie verrückt dieser Zustand wirklich ist! Wenn ein Spezialist für geistiges Eigentum Probleme damit hat, eine Dokumentation zu produzieren und zu vertreiben, weil der Gegenstand des Films – das Urheberrecht – im Wege steht, ist doch grundlegend etwas falsch! Aber: Nach einer Menge harter Arbeit haben wir es doch geschafft, unseren Film zu verwirklichen. Also, wie konnte es trotzdem klappen? Zwei Worte: „Fair Use“. Das „Fair-Use-Statut“, eine Bestimmung der US-Copyright-Gesetzgebung, erlaubt dann das Zitieren von urheberrechtlich geschütztem Material auch ohne Genehmigung, wenn es zu Zwecken wie Erziehung, als Pressekommentar, kritische Untersuchung oder zu anderem transformativem Gebrauch verwendet wird. Als Wissenschaftler, der im Rahmen seiner Arbeiten für Printmedien regelmäßig zitiert, war ich nicht darauf erpicht, diese Freiheit aufzugeben, nur weil ich in einem audiovisuellen Medium „schrieb“. Ich wollte mich hinstellen und der Öffentlichkeit zeigen, dass „fair use“ nicht nur ein theoretisches Konstrukt ist, sondern in der Praxis existiert. In den letzten zehn Jahren wurde viel Trara um neue Technologien gemacht, die es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, auf „die Medien“ einzuwirken. Dabei ignorieren diese Freudenfeste meist die Realität des Urheberrechts. Wenn der Umlauf bestimmter Werke eingeschränkt werden kann, wirkt sich das Urheberrecht de facto als eine Art Zensur aus. Während die digitalen Medien also Möglichkeiten demokratischer Teilhabe entwickelten, hat das „Copyright Clearance System“ dem entgegengearbeitet – freie Meinungsäußerung wurde unterdrückt. Sie fragen sich wahrscheinlich, wie genau ich Freedom of Expression® getötet habe. Zur Wahrung eines Markeneintrags schreibt das USPTO vor, dass sein Besitzer im fünften Jahr nochmals Papierkram zu erledigen hat. Es heißt: „Nichteinhaltung der ‚Section 8’-Erklärung resultiert in der Löschung der Eintragung“. Oder, um diesen misstönenden, offiziellen Begriff in Großbuchstaben zu benutzen, die Marke ist: DEAD. Ich habe einfach vergessen, mich darum zu kümmern. Und plötzlich war meine geliebte Marke tot. Um mein Werk abzurunden, hatte ich immer geplant, der Öffentlichkeit die Meinungsfreiheit in einem Akt gespielter Großherzigkeit zurückzugeben. Ich war ja weder davon ausgegangen, dass es unfreiwillig geschehen würde, noch konnte ich mir vorstellen, dass ich die Freigabe so lange nicht bemerken würde. Keine Fanfaren, nicht einmal ein formales Anschreiben: „Sehr geehrter Herr McLeod, wir bedauern ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung hiermit erloschen ist.“ Nun muss ich mit der Tatsache leben, dass ich weder Swiftscher Satiriker noch ein Spaßvogel mit guten Ideen bin. Nein. Vielmehr bin ich ein inkompetenter Trottel, der achtlos die Freiheit der Meinungsäußerung sterben ließ.
Freedom of Expression® R. I. P. January 6, 1998 – October 16, 2004
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Musik — Das Endnutzer-Problem
„Dance to the rhythm of telephone wires …“ (North Of America, 2003) – Zwei Positionen.
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as Internet und die Folgen – im Themenkomplex „Eigentum – Aneignung – Diebstahl“. Alles, was sich in digitalen Daten darstellen lässt, scheint permanent und kostenlos verfügbar. Was aber heißt das? Alles für alle, und zwar für lau? Während Steffen Sauter, Rechtsanwalt für Medienrecht bei der Kanzlei BKP & Partner, Hamburg/Berlin (www.bkpkanzlei.com), Hamburg, den Fokus auf das bestehende Ur-
Das Endnutzer-Problem Text — Steffen SAUTER
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etrachtet man die mit Vehemenz geführte Diskussion zum Thema, so scheint die Sache zumindest für den Netz-Mainstream ohnehin klar: Ob GEMA vs. YouTube oder Majorlabel vs. Filesharer: die „Kreativindustrie“, also alle am Schaffensprozess geistiger (beispielsweise musikalischer) Werke Beteiligten, bemühen sich (in unheiliger Allianz mit dem Überwachungsstaat) nach Kräften, die Netzgemeinde von demokratischer Teilhabe abzuschneiden und ihr den Rund-um-die-Uhr-kostenlos-Spaß zu vermiesen. Sinngemäß argumentieren die selbst verstandenen Don Quixotes der Internet-Foren, sekundiert von Meinungsmachern wie den als ordentliche Hochschulprofessoren lebenslang vollversorgten Herren Hoeren und Hutter, dass die Industrie ohnehin keine kreativen Inhalte, sondern bestenfalls Behälter dazu verkaufe. In einem Akt von atemberaubendem Sophismus erklären sie weiter, dass schon die Rede vom „geistigen Eigentum“ beziehungsweise dem Diebstahl desselben falsch sei. Sowieso gehe es künftig nicht um Fragen der Eigentumszuordnung, sondern um die Frage, wie ein freier Zugang zu allen verfügbaren Netzinhalten gewährt werden könne. Sicher: Ein faires Urheberrecht fällt nicht vom Himmel und das alte Urheberrecht „passt“ an vielen Stellen in seiner Grundkonzeption vielleicht nicht so recht ins digitale Zeitalter. Die Rechteverwerter, insbesondere die großen Plattenfirmen, müssen sich auch fragen lassen, wieso sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten so zögerlich auf absehbare Entwicklungen reagiert beziehungsweise ihr Geld lieber in Künstler und Geschäftsmodelle
von vorgestern und Kokainpartys auf Sylt investiert haben. Grundgesetz und folgerichtig bundesdeutsches bürgerliches Recht betrachten das Recht des Urhebers in kontinentaleuropäischer Tradition allerdings als ein schutzwürdiges Eigentumsrecht, als ein Recht also, welches von seinem Inhaber – in bestimmten Schranken – nach Belieben ausgeübt oder nicht ausgeübt werden kann. Der Inhaber kann Dritten Nutzungsrechte an dem Urheberrecht einräumen, seine Rechtewahrnehmung delegieren und eine „angemessene Vergütung“ verlangen. Ich bin so mutig zu behaupten, dass sich diese Prinzipien (und insbesondere das Recht auf die angemessene Vergütung) bewährt haben. Es wäre ansonsten nicht zu erklären, was selbstverständlich ist: Wieso soll der Komponist im Kaffeehaus für seinen Kaffee zahlen oder in der Kneipe für sein Bier, wenn die anderen Gäste kostenlos in den Genuss seiner Komposition kämen und der Gastronom für die Aufführung nichts zahlen müsste, obwohl er seinen Gästen etwas bietet und damit höhere Erträge erzielen kann? Und vor allem: Wieso soll für die Nutzung im Internet etwas anderes gelten als für jede andere Vervielfältigung eines Musikstücks? So banal dies auf den ersten Blick klingen mag – in der aktuellen Diskussion wird für meinen Geschmack selten genug daran erinnert. Mag eine Idee flüchtig sein wie ein Gas, so soll das Werk dennoch einen Schutz erfahren, auch wenn das Maß an Originalität begrenzt ist, das ist der Grundsatz der „kleinen Münze“.
heberrecht legt, das es im Sinne einer angemessenen Entlohnung des Künstlers – gegen die Oligopole – zu verteidigen gälte, stellt Berthold Seliger (www.bseliger.de), Tourneeveranstalter aus Berlin, das Institut des geistigen Eigentums per se in Frage. Unterm Strich finden sich hier zwei Positionen, die zwar auf entgegengesetzten Prämissen fußen, sich letztlich aber in gutem Sinne komplementär lesen lassen.
Und auch das ist im Grunde gut so: Denn auf diese Weise hängt es nicht vom ästhetischen Urteil eines einzelnen Richters ab, ob eine Komposition – so dümmlich sie sein mag – Schutz erfährt oder nicht. Im Zweifel streitet also das bestehende Recht auch hier für den Urheber. Wenn ich in einem Blog oder Forum wieder einmal einen Beitrag über die nimmersatten Kreativen und ihre durchsichtige Interessenpolitik lesen muss, so denke ich, nachdem der Brechreiz vorüber ist, nicht in erster Linie an VivendiUniversal oder die großen Konzertveranstalter. Ich denke an brillante Songschreiber, die hauptberuflich Pizza ausfahren und Jungproduzenten, deren Geschäftsmodell den Bezug von Arbeitslosengeld II beinhaltet. Ich denke an kleine und mittelgroße, meist inhabergeführte Plattenfirmen, die heute auf eine Zahl schlecht oder nicht vergüteter Streams schauen, die der Zahl der vor einigen Jahren verkauften Tonträger entspricht; an „Lieblinge der Ausgabe“ mit so verschwindend geringen Verkaufszahlen, dass man jedem potenziellen Käufer besser 20 Euro in bar in die Hand gedrückt hätte, als den Aufwand der Produktion zu betreiben. Übersehen wird nämlich gerne, dass die beschriebene Entwicklung den Kleinen mehr schadet als den Großen. Wann immer es darum geht, dass Rechteinhaber an den Einnahmen kommerziell erfolgreicher Internetdienste (wie beispielsweise dem Radiodienst Last.fm) beteiligt werden, erzielen die Oligopolisten (in der Musikbranche also Universal, Sony, Warner, EMI) Umsatz- oder Firmenbeteiligungen. Kleineren, das heißt wirtschaftlich schwächeren Unternehmern oder gar einzelnen Rechteinhabern fehlen sowohl Verhandlungsbasis als auch finanzielle Ressourcen, um ihr formal vorhandenes Recht auf angemessene Vergütung in
Verhandlungen oder Gerichtsverfahren durchzusetzen. Abseits der juristischen Auseinandersetzung geht es im Kern um eine Verteilungsfrage. Und auch hier schlafen die OnlinePiraten den Schlaf der Gerechten oder beschränken sich selbstgefällig darauf, an Symptomen herumzukritisieren. Der scheinbar kostenlose Spaß der Nutzer, soziale Profile bunt zu gestalten, Videos oder Musik einzubinden oder diese Medien zu tauschen, ist bei näherer Betrachtung keinesfalls kostenlos. Denn der Nutzer bezahlt die Deutsche Telekom AG oder einen anderen Accessprovider dafür, dass er „saugen kann, bis die Leitungen glühen“. Er beschert außerdem dem ausschließlich werbefinanzierten Unternehmen Google Inc. (Konzerngewinn 2009: 4,6 Mrd. (!) Euro) beziehungsweise seiner 100prozentigen Tochter YouTube (oder einem anderen kommerziellen Dienst wie Facebook, Yahoo oder Microsoft) einen Anteils- und damit Umsatzzuwachs. Es sind jene Konzerne, die naturgemäß ein hohes Interesse daran haben, dass immer mehr immer datenintensivere Inhalte über das Internet ausgetauscht werden, aber natürlich kein Interesse daran, ein Stück von ihrem Umsatzkuchen an diejenigen abzugeben, die diese Inhalte erst schaffen. Die Auseinandersetzung um Begriffsbestimmungen kann vor diesem Hintergrund getrost als Phantomdebatte bezeichnet werden, die von der real existierenden Verteilungsungerechtigkeit ablenkt. Vielleicht müssen wir uns wieder einmal mit dem Gedanken anfreunden, dass die kostenlose Allverfügbarkeit immaterieller Güter im Internet keine Selbstverständlichkeit sein kann. Mir zumindest liegt das Auskommen meiner kreativen Mitmenschen näher am Herzen als das nächste Geschäftsquartal Schweizer Internetmillionäre.
Musik — Eigentum und Diebstahl – Stichwort Urheberrecht
Eigentum und Diebstahl – Stichwort Urheberrecht Text — Berthold SELIGER
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mmer wieder gern genommen wird von den Verfechtern eines strengen Urheberrechts das banale Argument: Den Kaffee im netten Straßencafé am Eck bezahlt man ja auch, warum soll also Musik frei verfügbar sein? Die moralischen Codices der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts scheinen da intakt zu sein, wer macht schon gern den Zechpreller? Freilich, wie heikel diese moralischen Normen sind, die ja nebenbei gesagt auch ständig neu definiert werden, das zeigt ein anderes Beispiel: Europäische Pharmakonzerne klagen in Indien gegen das dortige Patentgesetz, wonach nur wirklich neue, innovative Medikamente Patentschutz erhalten. Indien stellt weltweit 70 Prozent aller wirkstoffgleichen Kopien von teureren Markenarzneien gegen Aids oder Krebs her und hat damit eine „Apotheke der Armen“ eröffnet. Die Fragen, die sich hier stellen, können nur am Rande gestreift werden, zeigen aber den Kern des Problems: Soll Medizin gegen Aids oder Krebs tatsächlich weiterhin in erster Linie den Profitinteressen der „Ersten Welt“ dienen, sollen die Armen in Afrika oder Asien von den Errungenschaften der medizinischen Forschung ausgeschlossen bleiben? Sollen weiterhin Millionen von Menschen in Afrika an Aids sterben, weil die Medikamente dank internationaler Patentrechte (zu) teuer bleiben? So ziemlich jeder, der es moralisch verwerflich findet, den Kaffee in der Kneipe oder die Schmerztabletten in der Apotheke ums Eck nicht zu bezahlen, wird es für moralisch sinnvoll halten, daß Schwerkranke etwa in Afrika auch mit Medizin versorgt werden, für die die Hersteller nicht die Patentrechte an die Pharmakonzerne der Ersten Welt bezahlt haben. „Moral“ also scheint als ein von einer Gruppe oder Gesellschaft definierter (und veränderbarer) Begriff von Handlungsmustern und von Konventionen wenig hilfreich in der Diskussion um das Urheberrecht. Noch unsinniger ist der von den Claqueuren der Verwertungsindustrie immer wieder gerne verwendete Begriff des „geistigen Diebstahls“. Als ob es ein „geisti-
ges Eigentum“ gebe, und als ob nicht jeder Gedanke eines Menschen auf den Abermillionen Gedanken anderer Menschen vor ihm fußen würde. Schon US-Präsident Thomas Jefferson, der auch maßgeblich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung formulierte, stellte klar: „Wer eine Idee von mir empfängt, mehrt dadurch sein Wissen, ohne meines zu mindern, ebenso wie derjenige, der seine Kerze an meiner entzündet, dadurch Licht empfängt, ohne mich der Dunkelheit auszusetzen.“ Auf das 21. Jahrhundert übertragen, formuliert der Sozialforscher Michael Hutter: „Hat die Schriftstellerin, die zitiert, ohne die Quelle zu nennen, „geklaut“? Ist der Schüler, der einen Film herunterlädt, ein Dieb? Ich schlage vor, mit der Schauermär vom geistigen Diebstahl aufzuhören. Geist wird nicht gestohlen. Geist wird schlimmstenfalls erschlichen – so, wie man in ein Konzertzelt schleicht und mithört, ohne dafür bezahlt zu haben. Der Dieb stiehlt Sachen. Das gestohlene Fahrrad ist weg, es ist nicht mehr an seinem Platz, es fehlt seinem Besitzer. Geistige Inhalte – Geschichten, Lieder, Bilder in allen möglichen Kombinationen – sind nicht weg, wenn sie erschlichen worden sind. (...) Geistige Inhalte sind öffentliche Güter, das heißt, sie können von vielen gleichzeitig genutzt und sie können leicht erschlichen werden.“ (Michael Hutter, „Die erschlichene Zündung – Wenn Inhalte keine Behälter mehr haben: Zur falschen Rede vom geistigen Eigentum“ (SZ v. 26.3.2010)) Dass heutzutage jeder Song, jede Liedzeile bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors urheberrechtlich geschützt und somit zum Besitz deklariert und daher nicht frei verfügbar ist, ist eine geistesgeschichtlich relativ neue Vereinbarung. Was von der Verwertungsindustrie propagiert wird, ist keinesfalls ein Naturgesetz. Ganz im Gegenteil – dieses „romantische Konzept des Autors“ (Woodmansee) entspricht einer Geisteshaltung, die bürgerliche Souveränität stets an Tauschwert und Besitz bindet, und mithin nicht einer Vorstellung einer „fortschreitend gemeinschaftlich-
kollektiven kreativen Produktion“, die sich spätestens seit Roland Barthes’ Essay „Der Tod des Autors“ (1968) nicht nur in der Wissenschaft durchgesetzt hat. Dass die heutige Verwertungsindustrie ausgerechnet für Popmusik das strenge Copyright propagiert, für eine Musik also, die flapsig gesagt harmonisch im 17. Jahrhundert (plus der „blue note“ des frühen 20. Jahrhunderts) und rhythmisch im 18. Jahrhundert (plus einiger aus Afrika oder der Karibik geklauter Neuerungen) stehengeblieben ist, ist fast schon eine ironische Fußnote. Nein, das Urheberrecht in der bestehenden Form ist einzig und alleine dazu da, Rechteverwerter und ihre rückwärtsgewandten Geschäftsmodelle zu schützen. Dies zeigt sich besonders, wenn man das von der Verwertungsindustrie und ihren Vasallen in den Medien immer wieder gehörte Rührstück, Urheberrechte seien für die Künstler, für die Einkünfte der Kreativen da, einer genaueren Betrachtung unterzieht. Seit jeher haben Plattenfirmen und Verlage Künstler um ihren Lohn betrogen. Man beschäftige sich etwa mit den Zigtausenden von schwarzen USBluesmusikern, denen Konzerne der Unterhaltungsindustrie buchstäblich für einen Appel und ein Ei ihre Kompositionen abgeluchst haben, um sich dann Jahrzehnte lang daran zu bereichern. Bis heute ist es so, dass die meisten Verträge, die die großen Player der Verwertungsindustrie abschließen, de facto einem Buyout gleichkommen (Bands – schaut, dass ihr einen guten Vorschuss bekommt!). Das Urheberrecht in der jetzigen Form nützt einigen wenigen Großkünstlern, für die Masse der Bands, für den größten Teil von Komponisten und Textdichtern bleiben Almosen übrig, während die Verwertungsindustrie Riesengewinne schreibt. Das Urheberrecht nützt den Monopolisten und den ihnen verbundenen, monopolgleichen Verwertungsgesellschaften wie der VG Wort oder der GEMA, die etwa 2009 über 841 Millionen Euro eingenommen hat (wovon allein die Verwaltung etwa 120 Millionen Euro verschlingt); der Vorstandschef der GEMA, Harald Heker, erhält ein Jahresgehalt von 380.000 Euro, während laut Künstlersozialkasse das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Künstlers hierzulande 13.288 Euro (und das eines Musikers sogar nur 11.521 Euro!) beträgt. Den Profiteuren, Funktionären und Lobbyisten der Verwertungsindustrie schwimmen
23 die Felle weg, kein Wunder, dass sie Sturm laufen gegen neue Geschäftsmodelle – die aber so oder so kommen werden. „In der Welt der vernetzten Inhalte werden die Verwerter eine geringere Rolle spielen“, weiß Michael Hutter. Die Vergütungen werden direkt zu den Urhebern fließen – neue Techniken haben immer schon neue „Geschäftsmodelle“ kreiert. „Wer heute nicht global denkt, macht einen Riesenfehler.“ Und mal ehrlich: Hat irgendjemand etwas dagegen, wenn die Sklavenverträge der weltweit agierenden Musikmonopolisten in Kürze der Vergangenheit angehören? Wenn monopolistische Kraken wie die GEMA ins Aquarium kommen? Eine direkte Beziehung zwischen Künstler und Käufer ist ein Stück Fairness – und wenn ein Käufer über ein modernes Transfersystem sein Album direkt beim Künstler digital erwirbt, dann ist das gut für alle Beteiligten: Der Käufer kann sich für das gleiche Geld mehr Alben kaufen. Und der Künstler erhält statt derzeit durchschnittlich 0,64 Euro pro verkauftem Album (bei einem angenommenen Preis von 16 Euro) deutlich mehr. Und während die Monopolisten der Musikindustrie bei diesem Modell eigentlich nicht mehr vorkommen (und ja in der Praxis auch längst schon neue Geschäftsmodelle erproben; nur wird davon wenig geredet …), wird die Rolle der engagierten Indie-Musikfirmen nach einer Übergangsphase sogar eher gestärkt – denn dort werden nicht so sehr Backkataloge erworben, die man am Ende an irgendwelche Hedgefonds verkauft (oder weiß irgendjemand, in wessen Besitz sich gerade die Rechte zum Beispiel an den Beatles-Songs befinden?). Diese unabhängigen, kleinen Firmen sind viel mehr faire und gleichberechtigte Berater und Partner der Künstler – dass genau diese Beratung und Serviceleistung „ohne Abzocke“ benötigt wird, zeigt bereits heutzutage, wo wir noch am Anfang der Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen stehen, die Vielzahl neuer Beratungsfirmen, die Umwandlung von unabhängigen „Plattenfirmen“ in „Serviceunternehmen“ ihrer Künstler. „Komm! Ins Offene, Freund!“
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Musik — I heart music
I HEART MUSIC Mehr als zehn Jahre sind seit der letzten OvalVeröffentlichung vergangen. Nun stehen dieses Jahr gleich zwei Releases ins Haus: eine EP und ein 70 Tracks umfassendes Doppelalbum. Text — N i l s Q U A K Foto — M a x Z E R R A H N
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eht es um experimentelle elektronische Musik der Neunzigerjahre, so fällt recht schnell der Name Markus Popp – häufiger noch der Name seines Projekts: Oval. 1991 startete Oval noch als Trio, um recht schnell als Popps Solo-Projekt mit Platten auf dem damals noch jungen, Theoriedurchtränkten Label Mille Plateaux Aufmerksamkeit zu erregen. Als einer der Wegbereiter des Clicks’n’Cuts-Genres galt Ovals Klangentwurf lange Zeit als Blaupause für avancierte elektronische (Laptop-) Musik; so dass sich selbst Giorgio Armani für einen Werbespot eines Ovaltracks bediente – 1997 noch keine Alltäglichkeit. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde es etwas stiller. 2003 tauchte er mit dem Projekt So noch einmal kurz auf. Mittlerweile sind seit Ovals letztem offiziellen Album „Ovalprocess“ gut zehn Jahre vergangen. Zehn schnelle Jahre in Sachen Popkultur und elektronischer Musik. Das, was früher als neuer Klangentwurf, als der Anbruch einer neuen Musik galt – Clicks, Stottern, Glitch –, ist mittlerweile im großen Diskursfeld Popmusik als etabliertes Stilmittel angekommen. Wie reagiert jemand wie Oval, der maßgeblich an der Erforschung dieses Klanghorizonts beteiligt war, auf solche Entwicklungen? Die beiden neuen Oval-Veröffentlichungen „Oh“ und „O“ wollen auf den ersten Blick so gar nicht in den Kosmos passen, in dem man den Mann aus Berlin bislang verortet hat. Von den Clicks der frühen Veröffentlichungen und den Distortion-getriebenen Störgeräuschen späterer Platten keine Spur. Vordergründige Digitalität? Fehlanzeige! Erklärungsansätze finden sich in den Zielvorgaben, die sich Markus Popp während der Produktion gesteckt hat: „Ziel war es, alles anders zu machen, als ich es vorher getan habe. Von den Tools bis hin zur Arbeitsweise, von den Grundlagen bis hin zum klanglichen Ergebnis.“ Diese Verschiebung ist offensichtlich. Am auffälligsten ist sie sicher in der Wahl der Instrumentation und Sounds. Bildeten früher die MikroSounds der stotternden CDs, die Clicks der digitalen Nachbearbeitung den Mittelpunkt des Klangentwurfs, bedienen sich die beiden neuen Veröffentlichungen vollkommen neuer Werkzeuge: Gitarre und Schlagzeug. Aber nicht nur die Wahl der Arbeitsmittel, auch die generelle Ästhetik ist neu: Galt das Augenmerk bislang den Mikro-Ereignissen, den SoundPartikeln an den Rändern des Klangs, so bewegen sich die beiden neuen Arbeiten auf einer deutlich konkreteren Ebene. Wo früher die Clicks und Pops den greifbaren Klang auflösten, zerfallen nun sogar die übergeordneten Elemente der Tracks: Metrum, Takt, Harmonie werden zu flüchtigen Konstanten, die verschiedene Aggregatzustände einnehmen, sich wieder auflösen und neu formieren. An die Stelle des Loops tritt das Riff. Popp erkennt die Ähnlichkeiten zwischen beiden Begriffen, will in Abgrenzung jedoch das Riff als eine lose Einheit verstanden wissen, eine Momentaufnahme, verbunden mit einer „Art Atmosphäre und assoziativer Kraft“. Gleich eines Vexierbildes changieren die Elemente, verschieben sich die Schwerpunkte der einzelnen Tracks. „Mikrodynamik“ nennt Popp das und öffnet den Raum für eine neue Spiel- und Lesart. Erfahrbare, fassbare Musik bildet das Zentrum der neuen Arbeiten. In den Mittelpunkt tritt mit „O(h)“ eine „neue Version meiner Musik, die Menschen neu berührt und beschäftigt, möglicherweise sogar gerade diejenigen, die vorher noch nie von Oval gehört haben.“
Hier klingen vollkommen neue Töne an. „Berühren“? Berühren schien keine Kategorie zu sein, die man direkt mit der Musik und dem Namen Oval verband. Und nun betont Oval, den einfachen, aber flexiblen Ansatz verfolgt zu haben, der die „größtmögliche Emotionalität und eine nachvollziehbare Ästhetik verspricht, die nicht vom musikalischen Statement ablenkt […] Oval ist meine Geschichte. Ich erzähle sie jetzt von beiden Seiten – ab sofort auch von innen. 1994 hieß es ‚Dagegen und dabei fallen in eins: Systemisch‘, heute: ‚I heart Musik‘. In einem Satz: Diese Musik soll jeden, wer auch immer sie hört, lange beschäftigen können.“ Ganz so einfach ist es selbstverständlich nicht. Auch wenn die einzelnen Elemente der Tracks roh und präsent im Raum stehen, das Schlagzeug beinahe leichtfüßig zwischen den Gitarren-Riffs tanzt, die gegeneinander stolpern, sich dehnen und stauchen – mit klassischen Pop-Formeln kommt man diesen Tracks nicht ganz bei. Zu fragmentarisch, zu spröde heben sie sich von der eigenen Pop-Vorlage ab. Zu sehr denkt diese Musik den eigentlichen Diskurs Pop-Musik schon mit und arbeitet sich daran ab. Hier entsteht in der Wiederholung, im Anklingenlassen bestimmter Assoziationsketten etwas, das die eigentliche Idee transzendiert und den Raum für etwas öffnet, das über den ursprünglichen Pop-Entwurf hinausweist – eine „Musik, die man irgendwie schon zu kennen glaubt, aber nicht genau sagen kann, woher.“ So entsteht auf „O(h)“ so etwas wie Meta-Pop; eine Popmusik, die sich selbst schon wieder überwunden und abstrahiert hat. Im Nachhall aber verweist sie auf die gemeinsame Herkunft und erscheint als melancholische Erinnerung an eine Zeit, in der eine Affirmation ohne Bruch, ein sich vollkommen positives Verlieren im Klang noch möglich war. Und die es dennoch historisch so nie gegeben hat, sondern immer nur als mitgedachte Projektion im Pop-Diskurs. Das maximal verdichtete Material offenbart ein spannendes Wechselspiel. Auf der einen Seite finden sich mit Atmosphäre und Emotionalität die anvisierten klassischen Kategorien, auf der anderen verweigert dieser Klangkörper dennoch klare Zuschreibungen und Positionen. In den Zwischenräumen entstehen die Tracks, die immer wieder an längst vergangene Chicago-Postrock-Tage denken lassen und gleichzeitig nie wirklich fassbar werden. Auch wenn Oval mit „Oh“ und „O“ keine vollkommen neuen Klangwelten eröffnet und Sound-Entwürfe postuliert (diese Zeiten scheinen lange vorbei), so besitzen beide Alben doch die enorme Strahlkraft einer Musik, die sich auf wunderbare Weise selber genügt und gerade dadurch so einnehmend ist.
Musik — I heart music
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Musik — Mit Staub, Milchglas und Patina
Die heilsame Melancholie des Freiburger Duos „Kraków Loves Adana“.
alles Tageslicht zuwider ist und die zusammengekrümmt durchs Dasein schleichen – schließlich können sie durchaus auch mal roher werden wie in „Peripety/Catastrophy“, einem skelettierten Blues in Moll mit bösartigem, zerrendem Sekundensolo. Und schließlich sind auch die Texte mehr als selbstreferenzielle Innenansichtsmomentaufnahmen. Genauso wenig versuchen sie aber, prätentiös und verklemmt semilyrische Anhöhen zu erklimmen. Vielmehr geht es zumeist um das Einfrieren von Eindrücken, ohne sie zu denunzieren – so heißt es in „Iron Heart“: „You may have cured your personal curse / but for me / nothing changes anyway.“ Kurzum: „Beauty“ ist ein sehr wunderbares Werk, das niemanden allzu sehr mit Hoffnung belästigt und dennoch nichts ist für Menschen, die sich zum Einschlafen die Pulsadern aufschneiden.
MIT STAUB, MILCHGLAS UND PATINA Text — R a s m u s E N G L E R
„B
eauty“ ist, zugegebenermaßen, kein unbedingt vielversprechender Titel für eine Schallplatte, impliziert das Wort doch einen letztlich abgeschmackten Umgang mit vorgestanzten Begriffen. Haben sich aber die ersten grauen, mit minimaler Anschlagstechnik erzeugten Gitarrenakkorde auf das uralt klingende Klavier des Openers gelegt, dann sollte es unzweifelhaft sein, daß Kraków Loves Adana keinen hohlverkitschten Schönheitsbegriff mit sich herumtragen. Über dem Rauschen einer altehrwürdigen Bandmaschine, das ich möglicherweise nur imaginiere, mit Sicherheit aber zu fühlen vermag, entfalten sich die reduzierten Arrangements des Duos aus Freiburg auf schleichende Art und Weise. Hätten Low mehr Bock auf Pop, hätten sie ein Lied mit derart niederdrückendem Hochgefühl wie „1993“ sicherlich bereits verzapft, doch ist die Stimme und Intonation von Sängerin und Gitarristin Deniz Cicek wesentlich facettenreicher und von größerer Eindringlichkeit als die der Mormonenschlafmützen aus Duluth. „Beauty“ bewahrt sich über die Gesamtlänge des Albums eine enorme Spannung, eine Dynamik, die durch das leise Heranrollen von Sounds, ein stilles Aufbäumen und Anschwellen ohne jede Kraftmeierei, aufrecht erhalten wird. Staubig und verhangen klingen Saiten und Tasten, erzeugen eine milchgläserne Stimmung, lassen sich jedoch niemals auf das Niveau verhallter Ätherschnulzen herab. Das Verhältnis von Stimme und Instrumenten bleibt immer klar und dezidiert, alles steht gleichberechtigt in einem holzwurmstichigen Raum – in einem Licht, das seine Quelle nicht preisgibt. Wo es nötig ist, bleibt das Schlagzeug auch einmal völlig beckenfrei, erzeugen Maschinen, die bereits Patina angesetzt haben, unwirkliche oder -heimliche Geräusche, und das wirkt angenehm unzeitgemäß. Robert Heitmann, der für den meisten Teil der übrigen Instrumentierung verantwortlich ist: „Uns gefällt es immer, wenn gesagt wird, dass die Musik zeitlich nicht einzuordnen ist. Ich hoffe ja, dass man die Songs vor fünfzehn Jahren genauso hätte hören können. Und dass ich sie in fünfzehn auch noch hören und damit zufrieden sein kann.“ Ebenso ist der starke Bezug auf visuelle Ästhetik bemerkenswert – im Zeitalter von Downloads und überhastetem Dauerkonsum fatalerweise zur Seltenheit verkommen: „Ich fotografiere viel, wenn ich aus der Musik gerade nicht so viel herausziehen kann. Ich finde, dass die Verbindung von Musik und Fotografie – und auch Film – sehr passend ist, zumal alles für jeden einzelnen vollkommen anders wirken kann.“ „Beauty“ hingegen ist ein homogenes Werk von überaus wohltuender Düsternis, von jener heilsamen Melancholie durchwoben, die gar Zumutungen wie einen Jahrhundertsommer erträglich machen können. Dennoch sind Kraków Loves Adana keine verhuschten Künstlerseelen, denen
Foto — L e n a B Ö H M
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Musik — Same same, but different
SAME SAME, BUT DIFFERENT Sie heißen nicht nur anders, sie erfinden sich auch neu — die australischen Alkoholiker PVT. Text — A i d a B A G H E R N E J A D , Foto — J o a c h i m Z I M M E R M A N N
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rst wenn wir Dinge benennen, werden sie für uns so richtig greifbar. Stellen wir uns nun vor, da hat jemand seinem Herzensprojekt einen Namen gegeben, sich als Band vielleicht unter diesem einen ebensolchen gemacht und da steht er vor der Tür: Der kleine große Durchbruch. Ganz plötzlich kommt da aber ein Spielverderber und sagt: Ich heiße auch so und du darfst nicht. Genau dies ist der australischen Band Pivot zugestoßen, nun PVT, aber darüber wollen sie eigentlich gar nicht mehr reden: „Es ist einfach passiert und wir sind froh, es hinter uns zu lassen.“ Und darum sprechen wir lieber über das, was gerade aktuell ist: „Church With No Magic“, das neue Album des Bruderpaares Richard und Laurence Pike und deren Kompagnon Dave Miller. Die ersten Arbeiten daran begannen direkt nach der Veröffentlichung des Vorgängers, dann wurde intensiv rund um die Welt getourt und hier und da mal was aufgenommen, teilweise zu Hause, teilweise in einem Studio in London. Aus den doch recht unterschiedlichen Zutaten wurde dann beim Mischen in Sydney ein homogenes Gesamtwerk zusammengeschraubt. Man wollte sich nicht im Studio einschließen, sondern alles über anderthalb Jahre von selbst wachsen und sich formen lassen: „So machen wir das am besten, weil die Songs ihren eigenen eindeutigen Charakter, ihre eigenen Ideen formen.“
Ist das nicht der generische Mist, den jede zweite Band von sich gibt? Klingen nicht gerade diese Platten meistens wie die Kopie einer Kopie einer Kopie des Hypes vom letzten Jahr? Doch nicht „Church With No Magic“ – die wuchtigen Synthies, der träumerische Gesang und die dunklen, schnell wechselnden Rhythmen erinnern an vieles, aber nicht an „schlecht kopiert“. Das Problem, zwischen Beeinflussung und Ideenklau zu unterscheiden, beschäftigt auch Richard: „Häufig samplen Leute andere Künstler direkt. Selbst wenn sie die Erlaubnis dazu haben, ist es fragwürdig, ob es künstlerisch bedeutend ist. Es ist fragwürdig, ob es cool ist, wenn M.I.A. Suicide samplen. Ich finde es nicht besonders cool. Es ist nicht cool, so ein großes Werk zu verunglimpfen.“ Doch auf das Sampling als Kulturtechnik können auch PVT nicht ganz verzichten, auf der Bühne werden bits und pieces obskurer Stücke eingebaut und mit dem ganz eigenen Klangmuster verwoben. Trotzdem oder gerade deswegen, Hitpotenzial hat kein einziger Song auf dem neuen Album, in seiner Gesamtheit wirkt es allerdings wie der perfekte Soundtrack zur Ölkatastrophe im Golf von Mexiko: Düster, lauernd und nicht fassbar. Auch im Vergleich zum Vorgängeralbum geht dies in eine völlig neue Richtung, Richard selbst beschreibt das letzte Album als „cosmic“ und „outside our stratosphere“,
während „Church With No Magic“ rauer sei, erdiger, diesseitiger. Eine bewusste Entscheidung zur Evolution war es allerdings nicht: „Wir sind einfach neugierige Typen und wollen Orte erforschen, an denen wir vorher nicht gewesen sind – es war uns wichtig, etwas Neues zu probieren.“ Dazu gehört auch der neu hinzugekommene Gesang von Richard als fester Bestandteil, mit Texten, denen Beachtung geschenkt werden soll, mit denen man sich positionieren will: Schon der Albumname verweist auf die Themen, um die es hier geht, um das Gefühl der Einsamkeit an sinnstiftenden Orten, das Übermaß an allem und dem damit einhergehenden Mangel an Seele oder Substanz. Nicht gerade Happy-SummerParty-Tunes, aber das würde auch nicht zu einer Band passen, die sich selbst als Nerdhaufen beschreibt, ungern feiern geht, sondern gleich nur beim Trinken bleibt: „Was wir tun, haben wir nie als cool oder trendy verstanden, es ging niemals um Mode oder darum, blöde Klamotten zu tragen, auf Partys zu gehen und ein Foto im Vice-Magazin zu bekommen (...) Hauptsächlich sind wir alle einfach Alkoholiker. Ich nehme an, es kommt daher, dass wir Australier sind.“ Das verspricht zwar kaum den Sommerkracher 2010, aber dafür eine aktuelle Auseinandersetzung mit den kleinen und großen Katastrophen des Modern Life.
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Musik — Mit Konzept und Plan
MIT KONZEPT UND OHNE PLAN Pläne sind oft einfach nur da, um durchkreuzt zu werden. Die Jungs von Mit dürften ihrem verworfenen Plan eigentlich keine einzige Träne nachheulen. Text — S e n t a B E S T , Foto — N a d i n e T A R G I E L
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rsprünglich sah der Plan nämlich folgendermaßen aus: Mit ihrem Bandprojekt wollten Tamer, Edi und Florian in jungen Jahren ein, zwei Songs schreiben, mit ebendiesen ein paar Clubs aufmischen, Dampf ablassen und wieder in der Versenkung verschwinden. Doch etwas machte ihnen einen Strich durch die Rechnung: Ein Etwas namens „Plattenvertrag“. Das alles passierte vor „Coda“, dem ersten Longplayer aus dem Jahr 2008. Mit „NanoNotes“ erscheint nun das zweite Album von Mit. Und noch immer verstehen die drei Urkölner (von denen zwei inzwischen in Berlin wohnen) sich als eine Art Projekt. Eins, das dank Vertrag, der Platte „Coda“, jeder Menge Zuspruch und einer Fanbase im In- und vor allem Ausland auf einmal eine ganze Menge mehr Möglichkeiten hatte. Tamer, hauptsächlich zuständig für die Synthesizer bei Mit: „Plötzlich konnte man viel reisen, viele Konzerte in verschiedenen Ländern spielen und das alles machte das Ganze dann eigentlich zu einem Selbstläufer: Dadurch, dass
wir mehr Konzerte gespielt haben, bekamen wir auch mehr Lust, uns zu überlegen, was wir vielleicht noch machen könnten. Und so gehen wir von Projekt zu Projekt und konzentrieren uns immer mehr auf das Wesentliche, was letztendlich dann ja die Musik ist.“ Glückstreffer Nummer zwei landeten Mit dann vor ein paar Monaten: Ausgerechnet Emil Schult, Ex-Mitglied von Kraftwerk, bekam das Demo mit ein paar neuen Stücken von „NanoNotes“ in die Finger und zeigte sich sofort sehr interessiert. Ein Treffen besiegelte sowohl die Zusammenarbeit (in Form von bandeigenem Ratgeber) als auch die inzwischen gewachsene Freundschaft. Beides spiegelt sich in etlichen Klängen von „NanoNotes“ wider. Für Mit hätte es nicht besser laufen können: „Kraftwerk beziehungsweise die Essenz von elektronischer Musik, wie sie im Pop-Kontext erfunden wurde, hat uns dazu inspiriert, uns für Musik zu interessieren, damit sind wir aufgewachsen – jedenfalls was den elektronischen Bereich angeht. Das
ist auch unsere Hauptmotivation, uns künstlerisch irgendwo zu positionieren und zu wissen: was wurde schon gemacht und wo können wir anknüpfen.“ Das Konzept von Mit bewegt sich also auf dem schmalen Grat zwischen Zitat und Neuerfindung, schon Gewesenem und Topaktuellem. Nicht selten geht ein solcher Plan ganz gehörig in die Hose. Doch in diesem Fall schafft es eine Band, uralte Vorbilder, verschiedene Stilrichtungen und zuletzt sogar sich selbst zu zitieren, das Ganze in einen völlig neuen Kontext zu packen und mit einem fast schon unverschämt jungfräulichen Sound daherzukommen. Schon bei „Coda“ verschmolz der schmale Grat zu einer fünf Meter breiten Brücke, bei „NanoNotes“ geht das Konzept zu 150 Prozent auf. Auch wenn mich beim ersten Hördurchgang – in Erwartung ähnlich gestrickter Songs wie auf „Coda“ – dieser völlig neue Sound zugegebenermaßen erst einmal geschockt hat. „Wir versuchen immer, Musik zu machen, die so modern wie möglich ist, die aber trotzdem nicht ignoriert, was im elektronischen Bereich schon vorhanden ist.“ Dass ein solches Projekt mit deutschen Texten hervorragend funktioniert, war weder Berechnung noch bewusste Entscheidung, sondern ein „ganz natürlicher Vorgang“. „Wir haben nie darüber nachgedacht, ob wir deutsche oder englische Texte singen sollen, sondern es ist einfach deutsch. Die Sprache, in der wir uns wahrscheinlich am besten ausdrücken können. Es wäre ein bisschen verlogen, auf Englisch zu singen.“ Bei all diesen bewussten Entscheidungen und natürlichen Vorgängen bleibt eine Frage offen: Wie passt dieser Bandname ins Konzept, was steckt hinter „Mit“? Spätestens, wenn man als Band den ersten Gig hat, beginnt man, über solche Nebensächlichkeiten nachzudenken. Aber eine Band, die gar nicht als solche geplant war? Als sie mit 15 in Edis Kinderzimmer saßen, machten Tamer, Florian und Edi sich genau diese Gedanken. „... und da ist uns „Mit“ eingefallen. Und irgendwann ist es eben zu spät, den Bandnamen zu wechseln.“ Damit erübrigt sich also auch das nächste Fragezeichen: warum man als Band einen dermaßen suchmaschinenunfreundlichen Namen wählt. Suchmaschine war damals halt noch nicht. Oder zumindest in weiter Ferne. Tja, Konzept ist eben nicht alles!
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Musik — Kaputtniks, J.B,
KAPUTTNICKS Wavves sind eh die Band der Stunde. Text — U l f A Y Y E S , Foto — Stephanie LEHMANN
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ow. Die sind so, wie die vom Vice-Magazin gern wären! Mutmaßlich ein Leben führend zwischen Pizzakartons, Fernsehern, Videospielen, Skateboards, saufisaufi, Horrorfilmen, trashigen Tätowierungen et cetera. Ist ja auch viel langweilig, da in San Diego. Kann man auch mal Cali-Punk-Songs machen, die „So Bored“ oder „Post Acid“ heißen. Ganz ehrlich, verglichen mit den durchprofessionalisierten Muckern da draußen fristen die Wavves ein ungleich anstrengenderes, aufregenderes Dasein. Federn lassen für die Kunst! Alle zur Verfügung stehenden Mittel aufbringen, um sich der ernsthaften, verantwortlichen, angestrengten, kurz biederen Kunstproduktion entgegen zu stemmen! Mit diesem GarageSound, der inzwischen nur noch live wirklich als Lo-Fi zu bezeichnen ist. Dem Shitgaze vergangener Tage haben sie nämlich den Rücken zugekehrt. Aber sie wahren den Schein der rotzigen Geste, der Nachlässig– und Bocklosigkeit ästhetisch so perfekt, dass nur von Virtuosität die Rede sein kann!
/J. B, Jenna Brinning
„I still hate my music, it’s all the same. […] I guess I’m just fucked up or too insane” Take on the World
Man sollte sich dieser Band einfach bedingungslos hingeben. Keine Fragen stellen. Nicht wissen wollen, ob sie nun die Pixies der 10er Jahre sind. Keine Überlegungen darüber anstellen, ob sich schon bald die traurige Gelegenheit bieten wird, Sänger Nathan Williams beim Verglühen zuzusehen. Sich nicht fragen, ob den ewig gleichen Akkordfolgen etwas Konservatives anlastet – man sollte im vollsten Bewusstsein des Hypes sich für geraume Zeit mitnehmen lassen. Nichts könnte wertvoller sein.
SEX UND HAUSHALT
Über das mitunter flatterhafte Wesen der Liebe
Mein Kumpel Marek hat Liebeskummer. Das gibt er nicht explizit zu, doch als er mit seinem Schwärmen ins Schweigen geriet und begann, die Feierabende mit seinem Vierbeiner und einem Sixpack zu verbringen, war es klar: Das Spiel ist aus. Und im Gegensatz zur Nationalelf hatte er es noch nicht mal ins Halbfinale geschafft. Dabei fing alles so verheißungsvoll an. Die beiden verstanden sich prächtig und schon das erste Date nahm einen recht spektakulären Verlauf als es in einen Besuch ins Unfallkrankenhaus mündete. Nach einem nicht ganz rekonstruierbaren Sexunfall war Mareks Eckzahn nämlich rausgeflogen. Im Kino führen solche Vorfälle unweigerlich zum Happy-End. Als sein Zahn wieder in den Kiefer gesetzt war, die Dame ihn nach Hause gebracht hatte und ohne Rücksicht auf seine Schmerzen dort weitermachte, wo sie aufgehört hatten, schwebte Marek auch tatsächlich im siebten Himmel. Oder vielleicht war es nur das Gefühl der Restnarkose. Das zweite Treffen war jedenfalls nicht minder leidenschaftlich, fiel doch sein Bett mittendrin auseinander. Mareks Sehnsucht nach der Dame – derweil unter wenigen eingeweihten Freunden als „Brutala“ bekannt – wuchs und er wollte sie öfter sehen. Ihr Verhalten dagegen wies nur auf Hinhalte-
taktik hin: Sie wollte sich nie so richtig im Voraus verabreden oder mit ihm feiern. Sie stellte ihn keinen Freunden vor und selbst nach sechs Wochen war er kein einziges Mal bei ihr zu Hause gewesen. Entweder hatte sich die Dame eine ausgesprochen männliche Unverbindlichkeit im Umgang mit der Liebe angeeignet, oder aber sie lebte insgeheim mit einem LufthansaFlugbegleiter zusammen. Marek war ziemlich fertig, weil er immer noch keine feste Nahrung kauen konnte und die Dame keine Beziehung mit ihm wollte. Er kaufte sich ein neues Bett und zog sich schließlich zurück. Zwei Wochen lang starrte er auf die Decke bevor er sich ins Nachtleben stürzte. Dort findet er jetzt Ablenkung und knutscht manchmal mit ganz jungen Mädchen. Es ist aber nicht dasselbe wie damals mit Brutala.
Jennas Haushaltstipp: Das Nachziehen der Schrauben am quietschenden Bettrahmen kann Abstürze verhindern. Knarrt das Bett immer noch, hilft ein zwischen den Quer- und Längsstellen geklemmter Fahrradschlauch.
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Musik — Kunst und Würde
KUNST UND WÜRDE Nils Koppruch zwischen Grenzgang und Traditionsbewusstsein. Text — L u c i a N E W S K I
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igentlich sei es mit dem Tun Ferdinand Chevals vergleichbar. Von 1879 bis 1912 sammelte der französische Briefträger auf seinem täglichen 32-Kilometer-Fußweg Steinbrocken und Splitter am Wegesrand an, um sie nach Dienstschluss mit einer Karre neben sein Haus zu transportieren. Allein mit Mörtel und Kelle verbaute er das Material zu seinem „Palais Idéal“ – einer ebenso fantasievollen wie bizarr anmutenden Tempelanlage zwischen Schloss, Geisterbahn und Kleckerburg. Cheval galt als Spinner. Zunächst. Bis schließlich ein Begriff sein Schaffen würdigte: „Art Brut“ sollte fortan jene Kunst heißen, deren Protagonisten, Autodidakten und Dilettanten, sich nicht als Künstler betrachten. Der Hamburger Nils Koppruch sieht sich in ihrer Tradition. Unter dem Pseudonym SAM. ist er bildnerisch tätig und arbeitet aus Überzeugung neben dem etablierten Kunstmarkt. „So muss ich mich nicht mit Sammlerarschgeigen zum Abendessen treffen“, scherzt Koppruch und beschreibt seine Technik trocken: „Zuerst schmiere ich die Leinwand voll, nehme einiges wieder weg und lasse mich vom Feedback der Wand leiten.“ Ausstellungen organisiert der überaus höfliche Dandy oftmals selbst. Um jeglichen Anflug elitären Gehabes zu unterbinden, wird bei Vernissagen besonderer Wert auf die Nichtanwesenheit von Tramezzini und anderen eingebildeten Schnittchen gelegt – es gibt Bier. Man weiß, wie das zu halten ist. Koppruch ist immer beschäftigt. Aber er ist zu lakonisch, um ein zeitgemäßer Selbstunternehmer und –darsteller zu sein. Dem Bild des Tagediebs und Caféhängers entspricht er allerdings ebenso wenig, er definiert sich als Arbeiter. Im Sinne eines Nick Cave vielleicht, dessen kreativer Tagesablauf unromantisch festen Strukturen folgt. „Die Zeit ist immer knapp, es gibt viel zu tun“; zum Beispiel an der Straßenecke flüchtige Melodien oder Textfragmente mit dem Diktiergerät sichern, um sie später dann im Studio vollkommen auf sich allein gestellt umzusetzen. Seit Auflösung seiner Band Fink Anfang 2007 trifft Koppruch alle musikalischen Entscheidungen selbst. Ohne direktes Feedback weiterer Bandmitglieder zu arbeiten, mag Unsicherheiten provozieren. Koppruch aber geht souverän durch ein Leben, dessen Möglichkeit auf einem vergangenen emanzipatorischen Akt gründet: Bürgerliche Existenz? Nein, danke. Dann schon lieber Selbstverwirklichung! Ein traumhaftes Ansinnen, nur führt dieser Koppruch eben ein Leben, das so traumhaft manchmal doch nicht ist. In „Caruso“, dem Titelstück des neuen Albums, lässt er inhaltlich die vergangenen 15 Jahre seines Daseins als Musiker Revue passieren: „Das Essen ist komplett gestrichen / der Mischer ist nicht da zum Mischen / die Poster liegen in der Ecke / und Neonlicht kommt von der Decke / der Clubchef hat deinen Namen vergessen / und will ihn wohl auch gar nicht wissen / im Mantel sitz ich da und denk’ / Caruso hätt’ sich aufgehängt.“ Ja, es geht um Würdelosigkeit. Und ihren bösen Zwilling, das Inkaufnehmenmüssen der ewig gleichen Widrigkeiten, die sich überall in den Vordergrund drängen, wo Menschen versuchen, etwas anders zu machen. Dass Kreativität mit Neuerungen genauso im Bunde steht, wie mit Bezugsketten und Traditionen, ist Koppruch bewusst. Insbesondere die Kultur des nordamerikanischen Folk fasziniert ihn so sehr, dass er sie musikalisch einarbeitet, interpretiert oder besser noch: verlängert zu dem, was schon als „Folk-noir“ bezeichnet wurde. Glücklicherweise! Denn wir wissen, dass manche Dinge erst an Größe gewinnen, wenn sie einen Namen bekommen. Nebenbei: „Caruso“ ist Koppruchs schönstes Album.
Foto — K e r s t i n S C H O M B U R G
Musik — T.L,/K.S,
/T. L, /K. S, Tobias Levin, Kristof Schreuf
ICH KANN BEIM BESTEN WILLEN KEINEN SYNTHESIZER ENTDECKEN Roter Traktor Wenn Du mich wieder sehen willst Darfst Du nicht alle Zeit vergehen lassen Du kannst gehen und reden Und Du bist nicht wie die anderen In Steinen vergraben Von Wassern verschluckt Oder von mir vertrieben Die Reisen auf Pferden Bringen Dich zu jedem Ort aller Erden Alles weitere ist nicht geplant Aber kann auch noch werden Dunkelheit halbieren Etwas mehr vom Gesicht Hälfte für Dich, Hälfte für mich Es ist nicht schwer, die Welt Von den professionellen Aktivitäten In den Kellern zu trennen Die Arbeit kann sinnlos sein Oder schwer zu schlucken Sie kann endlos dauern oder Minuten Und ist doch immer weit davon entfernt Dich wirklich zu jucken Kleine Schräge abwärts Kleiner Grüner Kaktus Los geht´s Kleine Schräge aufwärts Kleiner Roter Traktor Los geht´s
Tobias Levin und Kristof Schreuf komponieren Musik. Von nun an ein Vorabdruck ihrer Texte. An dieser Stelle.
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Mode — Pica Pica Gold Gold
Pica Pica Gold Gold •
Foto — J a n a S l a b y , Model — I r a A t a r i
Zwischen Lady Gaga, Pink und Missy Elliott – Ira Atari, die Future-Pop-Elster aus dem Hause Audiolith
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Produktion — J o s e p h i n T h o m a s , Assistenz — M a g d a l e n a K o h l e r
Foto — x x x X X X X
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Mode — Pica Pica Gold Gold
A
uch wenn sie in einigen Regionen der Erde einen guten Ruf genießt und als Glücksbotin verehrt wird: Hierzulande gilt die schöne Elster in erster Linie als diebisch – Grund genug, ihr ein paar Seiten in dieser Ausgabe zu widmen. Unter der schwarzen Maske verbirgt sich die Künstlerin Ira Atari*, die in einigen ihrer Songs das Gold, das Geld und die Gier nach mehr besingt und sich für uns dem Bann des glänzend Glitzernden hingegeben hat.
*Kürzlich hat Ira Atari zusammen mit Rampue ihre erste EP herausgebracht. Der Titel: "Ira Atari & Rampue / Just
Kleid: Nina / Vilde Svaner Tasche: Pli / Mikenke Schuhe: Vilde Snaver
Fu**in Dance It" (Audiolith Records 2010). Derzeit arbeitet sie unter anderem
Linke Seite
mit Robot Koch (Jahcoozi) und Ja!kob
Top: Jean / format favourites Hose: Pioniernachmittag / workaholic
(Frittenbude/Audiolith) an ihrem Debut Album, welches Anfang nächsten Jahres erscheinen wird.
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Mode — Pica Pica Gold Gold
Kette: Cislaweng / Mikenke Overall: Jogger / Vilde Snaner
Mode — Pica Pica Gold Gold
Handtasche: drop case / KSIA Kleid: mono.gramm Schuhe: Mexico Midrunner Suede / Onitsuka Tiger
INTERNETADRESSEN: www.iraatari.de / www.fayalice.com / www.format-favourites.com / www.ksia-berlin.de / www.mikenke.com / www.mono-gramm.com / www.onitsukatiger.com / www.vildesvaner.com / www.workaholicfashion.net / www.berlin-friedrichshain.com/volkspark.htm
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Literatur — Könige der Unterwelt
Könige der Unterwelt •
Text — C l a u d i a G R I S T , Mitarbeit / Übersetzung — C h r i s t i a n E B E R T
Nur eine tote Frau ist eine gute Frau. Ob Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder Franz Kafka — er bekennt sie alle für schuldig. Kulturtheoretiker Klaus Theweleit spürt in seinem „Buch der Könige“ der mörderischsten Form literarischer Aneignung nach.
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Illustration — A n d r e G O T T S C H A L K
„You do not know what wars are going on down there where the spirit meets the bone“ Miller Williams
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Literatur — Könige der Unterwelt
D „(...) aber der Leichnam ist dort unten auf ewig, völlig unter Kontrolle, Deep Throat aus dem Watergate der Unterwelt. ”
„Indem
Theweleit die
Reisen dieser Orpheusfiguren für uns opulent und bis ins kleinste Detail kartografiert, macht er uns zu Zeugen der psychischen Verbrechen, die im Namen von Kunst und Liebe begangen werden (...)”
er Leichnam einer schönen Frau ist der ultimative Kick des literarischen Mannes – die männlichen Ruhmeshallen der Kunst sind mit Mordopfern gepflastert. Manchmal erledigt der Künstler das schmutzige Geschäft selbst, doch meistens geschieht alles wie von selbst. In seinem „Buch der Könige“ behauptet Klaus Theweleit allerdings, dass es keineswegs „einfach so“ geschieht – die innere Logik der musischen Beziehung sorgt dafür, daß die Muse weiß, wo sie hingehört. Und wo sie hingehört, das ist da unten, in die Unterwelt („Hadesconnections“), wohin Orpheus Eurydike mit einem letzten Blick verbannt – The Look of Love. Ist da was dran? Hätte er sie nicht leben lassen können – eine Leiche taugt kaum als Sexobjekt, zumindest nicht nach einer gewissen Zeit…? Zum Glück findet der Künstler immer ein anderes, oft mit exzellenten Schreibmaschinenkenntnissen, wie gerufen für die Fortführung des eigenen Werkes; aber der Leichnam ist dort unten auf ewig, völlig unter Kontrolle, ›Deep Throat‹ aus dem Watergate der Unterwelt. Und diese Kehle singt und singt, der Künstler ist der einzige, der sie hören, die kodierte Botschaft übersetzen und ihren bezaubernden Gesang der Welt übermitteln kann – und als seinen eigenen verkaufen. „Das Leuchten der Frau bewundernd zu besingen, geht am besten, wenn die Frau ein Stern ist (…), zu dem der Mann als Kunststern in Beziehung tritt.“ Im „Buch der Könige“ folgt Theweleit verschiedenen Orpheusfiguren in die Unterwelt und wieder zurück und fragt, ob Orpheus sich umblickte, weil er Eurydike so liebte – „So ist mir die Vermutung gekommen, es ist nicht aus reiner Liebe, sondern aus einer anderen Leidenschaft, dass Orpheus sich umwendet auf der Treppe, um in die Augen seines Weibs zu blicken. Möglicherweise tut er es, um sie dort unten zu halten in einer Funktion, die für den Secret Service eine Figur wie ›Unser Mann in Havanna‹ hätte… ein wichtiger Pol im JenseitsSpeicher …“ – the Inspiration Corp(se)! Indem Theweleit die Reisen dieser Orpheusfiguren für uns opulent und bis ins kleinste Detail kartografiert, macht er uns zu Zeugen der psychischen Verbrechen, die im Namen von Kunst und Liebe begangen werden, oft mit den besten Absichten und scheinbar unter voller Zusammenarbeit des Opfers. Doch reicht die Beweislast nie aus, um irgendjemand zu überführen, was auch ausdrücklich nicht Theweleits Absicht ist. Er will herausfinden, was genau geschah, ein Philipp Marlowe der Psycho-Kunstgeschichte; denn „unsere Blicke auf das Kunstwerk werden dadurch [die vampirischen Blicke der Dichter] legiert“. Oder, wie Edgar Allan Poe es so treffend ausdrückt: „Der Tod einer schönen Frau ist ohne Frage das poetischste Thema der Welt.“ (The Philosophy of Composition) Der König ist es, der auf den Leichen derer steht, die er „überlebte“, der die Historie – „his story“ – erzählt. So der König der Kunst: Seine mythische Aura gedeiht auf den Gräbern derer, die er übermannte, seine Wurzeln nähren sich vom Leichenmaterial da unten, oft dem seiner „Nächsten und Liebsten“, der Frauen, die einst sein Werk da oben wachsen ließen. Ist die Dame einmal eine Leiche, spricht ihr Körper durch den König, und der König schreibt die Gesänge SEINER Leiden in ihren Leichnam ein, so tragisch wie verführerisch. – Nach Roland Barthes verwandelt der Mythos Bedeutung in einen sprechenden Leichnam, den „weiblichen Körper-als-Text“. In ihrem Buch „Nur über ihre Leiche“ stellt Elisabeth Bronfen diese These wieder auf den Kopf: Der sprechende Leichnam produziert mythische Bedeutung. Bronfen führt Freud höchstselbst an, den „ÜberKönig“ und Mythenmacher, wie er den Tod seiner Tochter Sophie im Alter von 26 Jahren ausschließlich in Bezug auf die „narzisstische Kränkung“ beschreibt, mit der er aufgrund ihres Todes zu kämpfen hat. Diese wiederum wird zum Antrieb, den nächsten Abschnitt seines Werks über den Todestrieb in Angriff zu nehmen – wessen Tod, wessen Trieb? Und geradezu überdeutlich wird die Angelegenheit, wenn wir die wahre Geschichte lesen, wie der Maler und Dichter Dante Gabriel Rosetti den Leichnam von Ehefrau, Modell und Muse in Personalunion, Elisabeth Siddall, sieben Jahre nach ihrem Tod exhumieren ließ,
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um an einen Band Gedichte zu kommen, die er für sie geschrieben und mit ihr begraben hatte, „zwischen ihrem Haar und ihrer Wange“. Man stelle sich die grausige Szene vor: Der Künstler entreißt den Text im Wortsinn einer Leiche. Wahrhaft erbaulich! Wie also erschaffen die Könige der Kunst ihre königsmachenden Leichname? Zwei Könige der deutschen Literatur und ihre mitarbeitenden Geliebten ragen besonders hervor aus Theweleits umfassender Erzählung: Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Januar 1945: Gottfried Benn, Zeit seines Lebens mit einer „girlandenartigen“ Kette unterstützender Musen behängt, überlebt gerade das Dritte Reich als Angehöriger der Wehrmacht, als Schriftsteller jedoch per Schreibverbot zum Schweigen gebracht. Er schreibt „wie verrückt“ unter tätiger Mithilfe eines Publikums, bestehend aus Ehefrau Herta und Freund Friedrich Oelze, und versucht nun verzweifelt zum anderen, richtigen, westlichen Ufer des Styx (der Elbe) zu gelangen. Einmal in Berlin, fürchten die Benns, Herta könne von plündernden Russen vergewaltigt werden, und Gottfried entscheidet, seine Frau auf einem Lastwagen zu dem Dörfchen Neuhaus an der Elbe zu schicken, das voraussichtlich der amerikanischen Zone zugeteilt werden soll. Herta nimmt ihren Teil der tödlichen Dosis Morphium – ›Sister Morphine‹ – mit auf den Weg, von Gottfried aufbewahrt für den Fall des plötzlichen Erscheinens der „Roten Reiter“. „Benn sagt später, ohne sein Wissen (was nicht sehr wahrscheinlich ist).“ Benn folgt ihr nicht nach Neuhaus, es ist nicht bekannt, warum nicht. Schließlich wird Berlin von der Roten Armee besetzt, und Neuhaus, ursprünglich Teil des amerikanischen Sektors, kommt doch in russische Hand. Herta Benn, allein, krank, frierend und hungernd, seit zwei Monaten nichts von Benn gehört, obwohl der Krieg seit zwei Monaten beendet ist – injiziert sich das Morphium und stirbt im Juli 1945. Ein paar Monate nach dem Tod seiner Frau schreibt Benn: „Sehr mutig u. lebensvoll war sie schon lange nicht mehr.“ Vier Jahre später, in Bezug auf, unter anderen, das Gedicht „Orpheus’ Tod“: „Merkwürdig übrigens, wie ich mit einer Art innerem Sinn meine verstorbene Frau immer so sah, dass ich sie verlieren würde.“ Zu der Zeit, als Herta und Gottfried noch eine Wohnung in Berlin teilten, schreibt er an den Freund Oelze, dass, da Hertas Arthritis eine schnelle Flucht in den Luftschutzkeller behindert, er manchmal sich allein dorthin begibt. Manchmal geht er gar nicht, da kurze Zeit zuvor 145 Menschen in einem Bunker umkamen. Theweleit hingegen beschreibt die Szene so: „Jedenfalls schien es zwischen ihnen möglich, sie in der Wohnung allein zu lassen. Ein Gefühl ihrer [Hertas] größeren Nähe zum Tod muß zwischen ihnen gewesen sein. Das sagt nicht nur sein merkwürdiger Hinweis auf ihren verschwundenen Lebensmut.“ Zieht man die bewundernde Wertschätzung in Betracht, die Benn, der König der Wörter, von seiten seiner Frauen genoss, kann man sich durchaus vorstellen, daß Herta den König darin ermutigte, sein Überleben wichtiger zu nehmen als ihres. Auch würden entrüstete Schuldzuweisungen nur den Blick auf das Folgeereignis trüben: die Ausschlachtung des Leichnams durch das Dichterhirn. In einem neuen Deutschland, sobald das Schreibverbot – diesmal durch die Alliierten – aufgehoben ist, plant Benn, das deutsche Volk durch Dichtung zu erheben. Er „macht die Reise über den Styx“, wie er es selber nennt, um Hertas Grab aufzusuchen, und kurz darauf ist „Orpheus’ Tod“ geboren:
An Totes zu denken ist süß, so Entfernte, man hört die Stimme reiner, fühlt die Küsse.
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„Der König ist es, der auf den Leichen derer steht, die er „überlebte“, der die Historie – „his story“ – erzählt. ”
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Vor und nach dieser gab’s noch mehr Eurydike-Leichen, die Benns Dichter-VampirHerz nährten. Eine davon, Else Lasker-Schüler, sang ihr eigenes Lied, als Benn sie verließ: Und in deines Kinnes Grube Bau ich mir ein Raubnest Bis – du mich aufgefressen hast. Find dann einmal morgens Nur noch meine Knie, Zwei gelbe Skarabäen für eines Kaisers Ring.
Dies übrigens Teil eines Gedichtes mit dem Titel: „Dem Barbaren“ … Benns Geschichte ist freilich nur eine unter vielen, darunter die von Bertolt Brecht und Margarete Steffin. Flucht auch hier, diesmal vor den Nazis, auch hier ein König der Wörter, bewundert und umgeben von vielen Frauen, hier das Zurücklassen – statt Verschickung – einer kranken Frau, einer Frau, die Geliebte und Mitarbeiter war. Theweleit macht sich ans Eingemachte des Gedichtes, das Brecht nach ihrem Tod schrieb, „Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.“ Er seziert den Pulsschlag des obszönen Gedichtkörpers, das den geliebten Leichnam verschlang: Warum, fragt er, verortet das Gedicht Steffin in Moskau (überflüssigerweise „Rote Stadt“ genannt), verschweigt aber Brechts Aufenthaltsort USA? Warum nennt ein Gedicht, das die großen Fragen von Kunst und Krieg aufwirft und die Geliebte hoch ins Firmament über dem Garten erhebt, sie „Meine Kleine“? Warum? – Und hier verliert Theweleit denn doch die Fassung: „Die Behauptung, jemand sei, indem man sie/ihn beansprucht habe, ›leichter gestorben‹, habe ich immer für einen Satz gehalten, so unberührbar, daß höchstens der Arsch von Priester darauf käme, ihn in den Mund zu nehmen.“ Süßer ist’s, für einen Dichter zu sterben, denn für das Vaterland! Lang genug auf Leichen gestarrt! Geben wir Eurydike selbst das Wort, hier in der Person von Ezra Pounds langmütig leidender und dennoch resoluter Ehefrau: So hast du mich zurückgekehrt, Ich, die gegangen wäre mit den lebenden Seelen, über der Erde […] für deine Überhebung aus deiner Gnadenlosigkeit finde ich mich zurückgefegt […] was hast du gesehen in meinem Gesicht? das Licht deines eigenen Gesichts, das Feuer der eigenen Präsenz?
Oder, wie Jean-Luc Godard es in einem Interview formuliert, mit dem Theweleit den ersten Band des Buchs der Könige beendet: „Der Film ist für mich, Eurydike. Eurydike sagt zu Orpheus: ,Wende dich nicht um.‘ Und Orpheus wendet sich um. Orpheus ist die Literatur, die Eurydike dem Tod weiht. Und sein restliches Leben lang macht er Kohle mit dem Buch über den Tod Eurydikes, das er veröffentlichte. […] Für mich sind die Bilder das Leben und das Geschriebene der Tod. Es muß beides geben: Ich bin nicht gegen den Tod. Aber ich bin nicht für den Tod des Lebens in diesem Ausmaß, vor allem nicht in der Zeitspanne, in der das Leben gelebt werden sollte.“
„Er seziert den Pulsschlag des obszönen Gedichtkörpers, das den geliebten Leichnam verschlang (...) ”
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Literatur — Warum war ich eigentlich in Bochum gewesen?
WARUM WAR ICH EIGENTLICH IN BOCHUM GEWESEN? Über ein Interview, das mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat. Mit dem Bochumer Schriftsteller Wolfgang Welt auf einem Wahnsinnstrip. Interview — C h r i s t i a n E B E R T , L a s s e K O C H , Text — L a s s e K O C H
Foto — A n d r e a s B Ö T T C H E R ( ↑ ) , L a s s e K O C H ( ↘ ↘ )
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Literatur — Warum war ich eigentlich in Bochum gewesen?
Wo war Lou? Seine eigenwilligen Artikel – allen voran ein äußerst amüsanter Totalverriss: „Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“ – haben Wolfgang Welt Anfang der 1980er Jahre über die Grenzen des Ruhrgebietes hinaus als Musikjournalist bekannt gemacht. Ein Vierteljahrhundert später bezeichnet der Journalist Johannes Erasmus diese frühen Texte, die u.a. im Bochumer Stadtmagazin „Marabo“, im „Musikexpress“ und in „Sounds“ veröffentlicht wurden, als „Meilensteile des Pop-Journalismus“.1 Welt selbst hingegen spricht lapidar von „Fingerübungen“ auf seinem Weg zum Schriftsteller. Tatsächlich nehmen einige der journalistischen Arbeiten Welts das wohl zentrale Charakteristikum seiner Prosa vorweg (seit Mitte der 1980er Jahre entstanden vier Romane). Besonders bildhaft lässt sich dieses dann auch anhand des Artikels „Auf der Suche nach dem verlorenen Lou Reed“ (1982) darstellen: Welt ist nach Amsterdam gereist, um ein Interview mit Lou Reed zu führen. Er sitzt an einer Hotelbar, trinkt ein paar Bier und wartet, doch der Sänger lässt sich nicht blicken. Welt erkundigt sich an der Rezeption und erfährt: „no guest listed under this name“. Das Interview hätte einen Tag zuvor stattfinden sollen, Lou Reed ist bereits abgereist. Dennoch schreibt Welt seinen Artikel, in dem der eigentliche – aber eben abwesende – Star nur noch der Pointe dient. Lou Reed („Interviews mag er sowieso nicht“) wird so zur Randfigur eines Textes, in dessen Zentrum die unmittelbaren Erfahrungen und Erlebnisse des Autors selbst rücken. Und die erscheinen vordergründig so weltbewegend, wie Gespräche an einem totgeschlagenen Nachmittag in einer Amsterdamer Hotelbar nun einmal sein können. „Warum war ich eigentlich in Amsterdam gewesen? Ach ja, wegen Lou Reed.“
Stattdessen würde ich meinen Lebtag Lithium schlucken müssen Seine persönlichen Erlebnisse bilden den Inhalt, Welt selbst wird sein eigener Protagonist – mit einem Blick auf die ihn umgebenden Personen und Dinge, der Banales und Besonderes verschwimmen lässt, an dem alles seltsam beiläufig vorüberzuziehen scheint. Als „vollkommen distanzlos geschriebene Suada aus unmittelbaren Selbstbetrachtungen“, wie der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck Welts Romane zutreffend charakterisiert,2 können die frühen Texte allerdings noch nicht bezeichnet werden. Noch fehlt ihnen der hastige, atemlose Stil, noch wirken die Sätze nicht so, als habe sie ein Getriebener binnen kürzester Zeit heruntergeschrieben. 1983 wird Welt in die Psychiatrie eingeliefert. Er hatte sich u.a. für J. R. Ewing gehalten, die letzte Folge der Serie „Dallas“ an die Redaktion der „Zeit“ telexen wollen und in einer TchiboFiliale randaliert. Nach mehreren Monaten darf Welt die Klinik verlassen; in seinem Roman „Der Tunnel am Ende des Lichts“ schreibt er: „Die Ärztin sagte nichts von geheilt, stattdessen würde ich meinen Lebtag Lithium schlucken müssen.“ Damit ist Welts kurze Karriere als Musikjournalist beendet. Fortan bestreitet er seinen Lebensunterhalt allein durch Jobs als Wachmann: u.a. am Bochumer Rathaus, seit 1991 sitzt er fünf Tage die Woche von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens in der Portiersloge des Schauspielhaus Bochum. Nebenbei beginnt Welt, etwa ein Jahr nach der Entlassung aus der Psychiatrie, sein Leben aufzuschreiben, und zwar – wie es scheint – ausnahmslos alles, was ihm im Gedächtnis geblieben ist. Skurrile Anekdoten aus seiner Zeit als Musikjournalist oder aus den Tiefen des Bochumer Amateurfußballs, aber auch Eintöniges, etwa vom Onanieren auf der Mansarde. „Er erzählt mir, ob ich's wissen will oder nicht, alles, was […] er in seinem Ruhrgebietsleben […] erlebt hat", schreibt Diedrich Diedrichsen 1986 in der „Spex” anlässlich der Veröffentlichung von Welts Debutroman „Peggy Sue“. Dass er die-
sen allerdings als das Resultat eines „Geständniszwang[s]” eines eher uninteressanten Menschen verreißt, verwundert zumindest aus heutiger Sicht dann doch. Denn gerade ihr Bekenntnischarakter, der den Leser einerseits in die Position eines Voyeurs versetzt, sorgt doch andererseits dafür, dass die strikt chronologisch aufeinander aufbauenden Romane Welts das Portrait eines gesellschaftlichen Außenseiters entstehen lassen, das eigentümlicher kaum sein könnte – und zwar ausdrücklich deshalb, weil sich eben auch zu einem banalen Leben bekannt wird. Eines Außenseiters, der die Bezeichnung „Universaldilettant“ unter seinem Namen im örtlichen Telefonbuch eintragen lässt und dessen früher Wunsch, Schriftsteller zu werden, in seinem ursprünglichen Umfeld (Welt wuchs in der Bergarbeitersiedlung Wilhelmshöhe auf) ebenso deplatziert erscheint wie sein proletarischer Stolz, den er später als Musikjournalist den hochtrabendsten Künstlern entgegenhält. Vor allem aber sind Welts Romane ein „literarische[s] Protokoll einer Reise in den Wahn“ (Erasmus), das in der modernen deutschsprachigen Literatur seinesgleichen suchen dürfte. „Welt hat die postmoderne Version von Georg Büchners ‚Lenz’ verfasst und wird damit in die Literaturgeschichte eingehen, früher oder später” (Süselbeck). So sehr der Wahnsinn Welts Leben verändert hat, so sehr ist er strukturell wie inhaltlich in seine Prosa eingeschrieben – wie auch der Versuch, seiner Herr zu werden, der durch eine unglaubliche Selbstironie gekennzeichnet ist. „Und ich sagte den beiden Mädchen, nun macht mir mal den ‚Baal’. Mecky fing an, die Handlung zu erzählen. Die andere ergänzte, während ich in die Tasten haute und dachte, ich sei der Erfinder der atonalen Musik. Kurt Weill. Das war natürlich Quatsch” („Der Tunnel am Ende des Lichts”). Wie in diesem Widerstreit von Reflexion und Wahn beide Ebenen mitunter jedoch kaum zu trennen sind, verdeutlichen Welts während des Interviews getätigte Aussagen zum Titel seines bis dato letzten Romans: „Ich lauf an der Uni rum, schon von Sinnen, und da seh ich auf einmal das Graffiti ‚Doris hilft’. Eigentlich heißt sie ja Conny, ‚Conny hilft’ müsste es heißen, ich habe das geändert in ‚Doris hilft’. Und anstatt jetzt Conny anzurufen habe ich dann nichts gemacht. Die hätte mir geholfen. Dann wäre ich wahrscheinlich nicht in der Psychiatrie gelandet, oder wahrscheinlich nicht so schnell. Ich weiß nur nicht, wer das hingesprüht hat. Aber das war Tatsache, das Graffiti war echt. Denn ich bin eine Woche später, mittlerweile bin ich ja verhaftet worden, wieder an derselben Stelle gewesen, da war das mit einem Grauton überspritzt worden. Nur das ‚i’ von dem ‚hilft’ war noch da. Und das hat mir immer zu denken gegeben.“
1 Das von Johannes Erasmus verfasste – sehr lesenswerte – Portrait Wolfgang Welts erschien unter dem Titel „Eine Reise an die Grenzen des Lichts“ in „Spiegel Special“ (7/2006).
2 Jan Süselbeck: „Lenz, postmodern“, literaturkritik.de Nr. 2,
Es lebe der Autor — „Warum hast du mit dem Schreiben angefangen?” „In erster Linie wollte ich natürlich Geld verdienen und berühmt werden. Weder noch ist mir gelungen.” (Welt lacht) — „Aber mit der Suhrkamp-Veröffentlichung ‚Doris hilft’ wirst du doch sicher Geld verdient haben?” „Das, was ich mit ‚Doris hilft’ verdient habe, ist minimal. Vor zehn Jahren habe ich bei Heyne zwei Taschenbücher herausgebracht und habe jeweils 20.000 Mark bekommen. Die sind mir flöten gegangen durch eine Bürgschaft, die ich für meine Schwester übernommen habe.”
Februar 2007
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Literatur — Warum war ich eigentlich in Bochum gewesen? — „Wofür hast du gebürgt?” „Die hat eine Kneipe aufgemacht und ist dann pleite gegangen.” — „In deinen Romanen klingt immer wieder an, dass du versucht hast, durch das Schreiben Frauen zu beindrucken. Hast du mittlerweile jemanden gefunden?”
Wolfgang Welt auf dem Balkon von Christian Eberts Wohnung in Bochum
„Ich habe zwischendurch eine Frau gefunden. Mit der war ich schon früher einmal zusammen. Ihr habe ich 2006 das Buch ‚Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe’ gewidmet. Sie hat das gelesen und mir dann nach 22 Jahren geschrieben.” — „Also hat es funktioniert.” „Dann hat es funktioniert. Das habe ich ja extra so gemacht. Mittlerweile haben wir uns doch wieder getrennt, aber das war ein schönes halbes Jahr. Das nächste Mal ist jemand anderes dran. Beim nächsten Mal wird Ute mit ihrem richtigen Namen genannt.”
Das Interview, das diesem Text zugrunde liegt, ist gescheitert. Allerdings nicht aufgrund eines abwesenden Interviewpartners wie seinerzeit im Fall Lou Reed – Welt war da, an einem Sonntagnachmittag in Bochum, in der Wohnung des Schauspielers und Theaterregisseurs Christian Ebert, der während seiner Zeit am Schauspielhaus – quasi im Vorübergehen – dessen Nachtwächter kennengelernt hatte. Natürlich war von vornherein klar, dass Welts Romane jegliche literaturwissenschaftliche Debatte, inwieweit die Autobiographie des Autors zur Interpretation seines Werkes herangezogen werden darf, ad absurdum führen. Auch die auf der Hand liegende Annahme, dass die ansonsten zurecht geforderte strikte Trennung des Protagonisten von seinem Verfasser in diesem speziellen Fall wenig Sinn machen dürfte, erwies sich als richtig und wurde von Welt noch einmal auf den Punkt gebracht: „Nichts ist Fiktion. 99 Prozent ist so passiert.” — „Aber warum steht dann die Bezeichnung ‚Roman’ auf deinen Büchern?” „Wer liest schon die Autobiographie eines Nachtwächters.”
Das, was Welt erlebt hat, steht in seinen Büchern. Wenn er über diese Erlebnisse spricht, dann stimmt das Gesagte teilweise bis in den Wortlaut mit dem Geschriebenen überein. Und Welt sagt eigentlich nichts, was er nicht auch geschrieben hat, es sei denn es betrifft die Zeitspanne von 1991 bis heute, die Welt gerade unter dem Arbeitstitel „Fischsuppe” verarbeitet. Die eigentliche Überraschung des Interviews lieferte allerdings die sich in dessen Verlauf einstellende Erkenntnis, dass Welts Prosa eben nicht nur sein Leben abbildet, sondern dass seine ultralakonischen Sätze gleichzeitig auch die vollständige Reflexion dieses in ihnen abgebildeten Lebens mitliefern. Oder anders gesagt: Das Interview mit Wolfgang Welt ist gescheitert in der Intention, etwas Grundsätzliches in Erfahrung zu bringen, was eben nicht schon längst durch
die Lektüre bekannt gewesen wäre, über die Ursache der intimen Bekenntnisse etwa, über seine Motivation zu schreiben. Und so liegt diese dann eben allein in dem Wunsch begründet, berühmt zu werden, Geld zu verdienen und möglichst viele Frauen rumzukriegen. Es ist so. Welt hat es geschrieben, er hat es im Interview gesagt und er hat dem Ganzen auch nicht viel hinzufügen wollen: „Es mag Schriftsteller geben, die das heere Ziel haben, die Welt zu verbessern. Mir ist das scheißegal.” Welt bleibt der Schriftsteller, der Nachtwächter ist – der Wahnsinnige, der über seine Krankheit schreiben kann, als wäre er längst geheilt – der selbsternannte Loser, der von sich sagt: „Ich habe die Musikszene voll beherrscht, den Kunze auch” – der Ehrliche, dessen Bekenntnisse so banal und gleichzeitig so selbstironisch gefärbt sind, dass sie beinahe schon wieder grotesk wirken, dessen Authentizität rein gar nichts mit dem zu tun hat, was der Buchmarkt meint, unter diesem Label anpreisen zu müssen. Welts Prosa ist nur in der hier angedeuteten Widersprüchlichkeit zu verstehen. Lässt man sich darauf ein, dann kann einem die Lektüre noch lange nachhängen, genauso wie die Begegnung mit ihrem Verfasser. Das Interview ist gelungen, weil es gescheitert ist.
„Mein Lektor ist unzufrieden mit den neuen Sachen, die ich für ‚Fischsuppe’ geschrieben habe.” — „Setzt ‚Fischsuppe’ nach ‚Doris hilft’ an?” „Genau da. 1991. Das geht dann bis heute. In ‚Fischsuppe’ sterben meine Eltern. Dann kommt noch das Schauspielhaus. Da bin ich ja seit dem 1. April 1991. Aber das breite ich nicht mehr so aus. Den Leander Haußmann [war Intendant von 1995 bis 2000] lasse ich noch ein bisschen saufen…” — „Warum ist der Lektor mit ‚Fischsuppe’ unzufrieden?” „Das geht nicht richtig los, meint er. Das Problem ist, dass bei mir in den letzten 20 Jahren nicht viel passiert ist, auch unter dem Eindruck der verschiedenen Medikamente.” — „Aber innerlich ist doch sicherlich viel passiert.” „Ja, aber das musst du erstmal ausdrücken können.”
Literatur — N.+,
/N. +, Nagel
VIELEN DANK FÜR DIE BLÜMERANZ
Nagel über suburban burglary.
Foto — J o a c h i m Z I M M E R M A N N „Da müsste ich mal Ihren Personalausweis sehen!“, sagte der schnauzbärtige Paketbote, als er mir das flache Amazon-Päckchen überreichte. „Personalausweis?“, sagte ich. „Personalausweis!“, brüllte er durch den Hausflur. In Zeitlupentempo tippte er die Personalausweisnummer in sein DHL-Päckchen-Vorbeibringer-Gerät, das aussieht wie eine Mischung aus Tischtennisschläger und Steinzeit-Handy. Hat es nicht auf die Polizeischule geschafft und macht jetzt extra langsam, dachte ich, genießt Kontrolle und Machtgefühl, wer weiß, wann sich in seinem Scheißjob das nächste Mal so eine Gelegenheit ergibt. Als die schöne Französin aus dem dritten oder vierten Stock mit einer Mülltüte die Treppen runterkam, sagte er völlig unvermittelt: „Muss wohl etwas nicht Jugendfreies sein!“ Es sollte wie vor sich hingemurmelt klingen, allerdings schrie er jetzt fast und fing außerdem ein wenig zu speicheln an. Dazu fiel mir nichts mehr ein, also sagte ich, ebenso laut: „Ja, das glaube ich auch“, und weil er darauf nicht reagierte, fügte ich hinzu: „Pornos wahrscheinlich!“ Angriff ist die beste Verteidigung, dachte ich, und es ging mir dabei weniger um den Möchtegernbullen vor mir, sondern um die hübsche Nachbarin – vor der wollte ich doch lieber wie ein stolzer Sex-Addict wirken als wie ein verklemmter Erotisches-in-diskreter-Verpackung-Besteller. Aber vielleicht hörte sie uns gar nicht mehr, wahrscheinlich kann sie nicht mal Deutsch. Andererseits, „Personalausweis“ und „Porno“, sind das nicht international verständliche Reizworte, dazu dieser Kasernenhofton – ist das alles nicht an sich schon verdächtig, im Treppenhaus eines ganz normalen Neuköllner Mietshauses am Dienstagvormittag? Genau wie die Tatsache, überhaupt bei amazon. de zu bestellen. Das war doch etwas für Kleinstadt- und Dorfbewohner, nicht aber für coole Großstadtbohemiens wie mich, die den ganzen Tag nur in winzigen Kneipen ohne Namen und elitären Buch-, Platten- und Klamottenläden rumhingen, weit weg von profanem Massengeschmack und Internetkonsumtempeln. Ich öffnete das Päckchen. Tatsächlich: „Abgabe ab 18 Jahren“ verkündete ein runder Aufkleber auf der „Suburbia“-DVD. Leider ist dieser frühe Klassiker der Punkfilmkunst mit sehr schlechten deutschen Untertiteln unterlegt, die sich zudem „aus lizenzrechtlichen Gründen“ nicht ausstellen lassen.
„What’s this guy doing?“ wird zu „Was macht dieser Heuler da?“ „I’d like to fuck your brains out“ wird mit „Ich möchte ihn dir reinstecken“ übersetzt. Das um Authentizität bemühte Szenesprech berufsjugendlicher Erwachsener versaut den ganzen Film, also versuchte ich, mich auf die Bilder zu konzentrieren. Am besten gefielen mir die Szenen, in denen die jungen Outlaws vor irgendwelchen kalifornischen Vorstadthäusern parken, seelenruhig in die Garage laufen und Essbares aus der Vorratskammer stibitzen. Als Heranwachsender fand ich Diebstahl auch immer toll. Es war frech, respektlos und gefährlich, also genauso, wie ich jeden Tag meines Kleinstadtlebens verbringen wollte. In den meisten Fällen tat es niemandem wirklich weh, und wenn, dann hatten sie es sowieso verdient. Ich als AnarchoRebell konnte mir keine Empathie für die Mittelschicht erlauben. Na gut, ich hatte schon so eine Ahnung, dass meine Helden Bakunin oder Proudhon in ihren Umverteilungsschriften von etwas anderem redeten, als betrunken in der Nachttanke Lifestyle-Magazine und Apfelkorn mitgehen zu lassen. Aber egal. Shell to Hell! Und sowieso! Französische Untertitel gibt es bei der „Suburbia“-DVD übrigens nicht. Das bringt mich auf eine Idee.
OPAK präsentiert Nagel auf Lesetour: 09.10.2010 Köln, Gebäude 9 11.10.2010 Hamburg, Uebel & Gefährlich 12.10.2010 Berlin, Volksbühne/Roter Salon 20.10.2010 München, Muffat Cafe 21.10.2010 Stuttgart, Zwölfzehn 22.10.2010 Frankfurt, Das Bett 23.10.2010 Künzelsau, Kokolores 24.10.2010 Trier, Chat Noir 26.10.2010 Oberhausen, Druckluft 27.10.2010 Münster, Sputnikhalle 28.10.2010 Flensburg, Volksbad 29.10.2010 Bremen, Schnürschuhtheater 30.10.2010 Kiel, Luna Club 01.11.2010 Potsdam, Waschhaus 02.11.2010 Jena, Rosenkeller 03.11.2010 Dresden, Scheune 04.11.2010 Leipzig, Conne Island 05.11.2010 Hannover, Bei Chez Heinz 06.11.2010 Osnabrück, Lagerhalle-Spitzboden
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Literatur — Ich klaue nie Bücher
ICH KLAUE NIE BÜCHER Text — U l r i c h H O L B E I N Foto — M a r i o L A A T S C H & U l r i c h H O L B E I N
rinzipiell nie klau ich Bücher. Allenfalls geb ich geborgte Bücher nur auf Aufforderung zurück. Eine einmalige Mahnung genügt, wie Herr Dr. Weiss bezeugen kann, dem nach über einem Jahr einfiel, daß ich noch „Das Ende der Rolltreppe“ von Nicholson Baker von ihm hatte. Auch sortiere ich geborgte Bücher nicht nahtlos in meine Sammlungen ein, sondern setze sie auf ein eigenes Regal, zu jederzeitigem Abruf. Hier hat sich dies und das angesammelt: P. C. Jersild „Stielauge“ und „Odile“ von Raymond Queneau – wieso fordert das Willi Meyer nie zurück? Ich lese es nicht und er vermißt es nicht. Seit zwölf Jahren steht auch Christine Nöstlingers „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ bei mir herum: Das Kind, dem das genaugenommen immer noch gehört, wird längst erwachsen sein und vergessen haben, wie es damals seine Mutter rief, nach der ich telefonisch fragte: „Mama, für dich! Ein Rudi Rotwein!“ Sogar liegen noch zwei Bastei-Romane bei mir herum: „Die Tochter des Wildhüters. Eine afrikanische Romanze“ von Susan Widdicombe sowie: „Warum liebt ihr euch nicht mehr? Ein Mutter- und Kindschicksal unserer Tage“ von Daniela Beck. Wem kann das mal gehört haben? Leider kann ich an dieser Stelle nur Titel nennen, die ich zur Not entbehren könnte. Meine größte Schandtat auf diesem Gebiet: Daß ich mir von vergesslichen Leuten Bücher leihe, in der Hoffnung, nein: Voraussicht, sie langfristig behalten zu dürfen. Im Lauf der Jahre hat sich natürlich auch manch Kavaliersdelikt in meinem LZG angesammelt. Doch darf ich jedem um seine Existenz kämpfenden Buchhändler versichern, auch ich kämpfte um die meine, und die Episode, die ich nun berichten werde, verjährte längst. Falls ein bundesdeutscher Buchhändler sich an das Vorkommnis erinnern mag, erkläre ich alles für dichterische Übertreibung und Zufallsparallele. So oder so hüllen Schleier alles in verfälschende Erinnerung. Leider viel zu sensibel bin ich für fachgerechten Ladendiebstahl. Allenfalls wird man im Nachlaß eines guten Freundes namens Ewald Rumpf einen Brief von 1980 finden – hier ein intimer Auszug: „Doch muß ich nun, in schwarzer Farbe, eine Art Beichte ablegen. In einer beliebigen Buchhandlung (pst!) hatte ich ein schwarzes Taschenbuch ins Auge gefaßt: Materialien zu Adornos Ästhetischer Theorie, herausgegeben von Lindner/ Lüdke. ‚Was? Ein lumpiges TB kostet 18,– DM?‘, quoll studentischer Protest in mir hoch. ‚Ist das gerechtfertigt?‘ Ich verglich Hefte derselben Reihe, da stand mal 14,–, mal 12,–, mal – nanu! Dreist hatte man den aufgedruckten Preis mit Preisschildchen, Marke Hausmacher, überklebt: 10,– DM. Was hatte das Heftchen vorher gekostet? Ich schob meinen Zeigefingernagel zwischen Schildchen und Buchrückseite und löste es ab wie einen kurz vor der Reife stehenden Schorf.
Aha! 8,– DM! Die Buchhandlung wollte mich also aktiv betrügen! Einen für den alten Preis eingekauften Ladenhüter wollte man für den neuen losschlagen und den Differenzbetrag einsacken! Wer mich betrügen will, muß damit rechnen, daß auch ich, aus Notwehr und im Gefühl einer gewissen Gerechtigkeit, in feste Ladenpreise eingreife. Ich klebte das 10-DM-Schildchen des 8-DM-Buchs auf das 18-DM-Buch. Es haftete so gut, als habe es dort hingehört. Trotzdem schlug mir mein Frevel mit Macht ans Bewußtsein; errötend stellte ich Adorno an seinen Platz und stolperte verwirrt aus dem Laden. – Drinnen standen nun zwei stark herabgesetzte Bücher, für zusammen 18,– DM statt 28,–. Was nun? Was hättest Du nun, lieber Ewald, getan? Sollte ich wieder hineingehn und pochenden Herzens zur Verkäuferin sagen: ‚Ich hätte gern dieses hier‘, oder aber: ‚Zeigen Sie mich bitte an! Ich hätte Sie beinahe betrogen.‘ Oder hätte ich das fatale Schildchen still zurückpraktizieren sollen? Hätte es überhaupt noch geklebt? Und wenn mir plötzlich die Chefin des Ladens über die Schulter geguckt hätte: ‚Darf ich fragen: Was tun Sie dort? Tauschen Sie etwa die Preise aus?‘ Ach, war ich hilflos. Oder sollte ich der Sache den Rücken kehren, nie mehr zum Tatort zurückkehren? Dann aber hätte irgendein wohlhabender Student 8,– DM gespart, und ein Dozent 2,– DM weniger von der Steuer abgesetzt. Ungelesen hätte das von mir ersehnte Buch bei fremden Leuten herumgedämmert; für das gesparte Geld hätte man bloß Benzin gekauft, und für das gesparte Benzingeld LPs und Pökelfleisch. Hätte ich das Buch abholen lassen sollen, durch neutrale Mittelspersonen? Sollte ich mich selber nächstentags, nein: übermorgen, in Abgebrühtheit üben, das Ding kaltschnäuzig abholen, auf die Frage ‚Brauchen Sie eine Quittung?‘ freundlich antworten: ‚Danke, das ist nicht nötig‘ etc.? Den Fortgang muß ich erstmal im Zwielicht lassen – bitte diesen Brief nicht der Polizei übergeben. Bisher hab ich das fragliche Buch nicht abgeholt. Soviel hierzu. Ich habe eine weiße Weste und kaum Dreck am Stecken. Und Lesen veredelt.“ Soweit der reumütige Briefauszug. Wie angedeutet handelt es sich bei diesem Bagatelldelikt um reine Fiktion. Keiner wird behaupten können, daß diese Jugendsünde noch lange nicht verjährt sei. Kein Buchhändler mußte je wegen mir auf sein Pökelfleisch verzichten. Von Ulrich Holbein ist kürzlich erschienen: „Bitte umblättern!
Einhundertelf Appetithäppchen“,
Elfenbein. Lesen Sie die ganze Beichte ab September auf www.opak-magazin.de
Keins dieser Holbeinbücher wurde das Opfer unrechtmässiger Zueignung
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Film — Take the money and run!
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Take the money and run! •
Text — C h r i s t i a n I H L E , K a t h r i n G E M E I N , A l e x J E Z D I N S K Y, T h o m a s L E N Z
Im Western waren es Postkutschen und Züge, später dann Banken und Tresorräume. Diebe waren sie allesamt! Oder doch nur Robin Hoods? Vier Autoren über das, was sich seit dem Kino der 50er „Heist-Movie“ nennt.
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Foto — M a x Z E R R A H N
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Film — Take the money and run!
Die Klarheit, das Exemplarische in der Anordnung von „The Killing“ ist auch dafür verantwortlich, dass (…) sich immer wieder Filme an Kubricks Heist-Movie-Blaupause bedienten.
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entrales Element aller Heist-Movies ist der minutiös geplante, straff ausgeführte Raub, der keine Abzweigungen oder unnötiges Beiwerk zulässt, will er sein Gelingen nicht gefährden. In diesem Sinn ist Stanley Kubricks „The Killing“ (1956) wohl das Meisterwerk des Genres, entspricht die Struktur des Films doch selbst der Struktur des perfekten Raubzugs. Kennt man nur ausufernde Kubrick-Werke wie „2001“ (1968) oder „Barry Lyndon“ (1975), mag es schwerfallen, zu glauben, dass die größte Stärke des jungen Kubrick gerade die Prägnanz und Verdichtung auf das absolut Notwendigste war. Jede Einzelheit, ob in der Charakterzeichnung oder in der Darstellung, ist einem Zweck unterworfen. Wie der im Mittelpunkt stehende Raub bei einer Pferderennbahn ausgefeilt geplant ist und minutiös abläuft, so ist es auch der eigentliche Film. Sterling Hayden als Bandenboss Johnny Clay kommt dabei die Rolle des Auteur/Regisseurs zu: Er schreibt das Drehbuch, nach dem der Raub ablaufen soll, er besetzt seine Mannschaft, der er verschiedene Rollen zuweist, und leitet als Strippenzieher das gesamte Projekt bis zu seinem scheinbar glücklichen Ende – ja, selbst der dicke Produzent, der außer Geld nichts für das Gelingen des Projekts beiträgt, findet in der Rolle des Marvin Unger seine Entsprechung! Die Klarheit, das Exemplarische in der Anordnung von „The Killing“ ist auch dafür verantwortlich, dass von „Reservoir Dogs“ (1992) bis zur Schlussszene von „Panic Room“ (2002) sich Jahrzehnte später immer wieder Filme an Kubricks Heist-Movie-Blaupause bedienten. Ist „The Killing“ ein Heist-Movie ohne jedes Beiwerk, so ist „Hudson Hawk“ (1991) das Gegenteil, nur Beiwerk. Eine krude Kinderfantasie, in der alles, was denkbar scheint, auch umgesetzt wird und so die Idee des perfekten Raubzugs, die allen Heist-Filmen zugrunde liegt, überzeichnet gezeigt wird als das, was sie ist: ein einziger Wahnsinn. Geht Hudson Hawk nun auf Diebestour, so stimmt er mit seinem Partner die zur Verfügung stehende Zeit nicht etwa per Uhr ab, sondern indem ein Lied in bestimmter Länge als Duett gesungen wird. Warum? Weil es denkbar ist und Bruce Willis als Hudson Hawk eben gerne singen möchte. Wenn Hawk nun im Vatikan einen seiner absurden Raubzüge vollführt, dann ist das keinesfalls weiter hergeholt als Tom Hanks’ Detektivspiel in „Sakrileg“ – nur „Hudson Hawk“ weiß darum. Im Grunde war das Projekt selbst ein einziger Raubzug durch Kinowelt und Filmgeschichte! Bruce Willis, nach den beiden ersten „Stirb Langsam“-Teilen das heißeste Ding in Hollywood, bekam carte blanche, um einen Film ganz nach seinen Wünschen zu verwirklichen. Und Willis ließ sich nicht zweimal bitten: Sein eigenes Drehbuch eines durchgeknallten Meisterdieb-Films ließ er für sage und schreibe 65 Millionen Dollar verfilmen – dem letztendlich ein US-Einspiel von 17 Millionen gegenüberstand und letzter Sargnagel für das produzierende Studio wurde. „Hudson Hawk“ ist eine Kinderfantasie, ein Raubzug durch die Filmgeschichte, ein Meta-Filmdieb-Film. Wo „The Killing“ Vorlage für viele andere wurde, nahm sich „Hudson Hawk“, was immer die Filmgeschichte zu bieten hatte. Christian IHLE
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Wie wird eine Alarmanlage, die auf den kleinsten Erschütterungsherd reagiert, außer Gefecht gesetzt? Wie der Lärm eines Bohrers auf Metall gestillt? Und wie fertigt man einen Dietrich für ein fremdes Schlüsselloch an?
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in Einbruch in ein Juwelier-Geschäft dauert mindestens 32 Minuten. Und bedarf jeder Menge Vorbereitung. Wie wird eine Alarmanlage, die auf den kleinsten Erschütterungsherd reagiert, außer Gefecht gesetzt? Wie der Lärm eines Bohrers auf Metall gestillt? Und wie fertigt man einen Dietrich für ein fremdes Schlüsselloch an? In dem französischen SchwarzWeiß-Film „Rififi“ (1955) des Regisseurs Jules Dassin werden alle diese Fragen beantwortet. Und zwar so detailliert, dass er auch als Schulfernsehen für Einbrecher durchgehen könnte so sahen es zumindest die damaligen Medien. Denn etwa ein Viertel des Films besteht aus der ausführlich dargestellten Einbruchsszene – ohne, dass Dialoge fallen oder Musik eingespielt wird. Und jeder Handgriff, der bei den vier Gangstern perfekt sitzt, quasi mitgeschrieben werden könnte. Seit Veröffentlichung werden jegliche spektakulär geplanten Einbrüche mit dem Attribut „Rififi“ versehen. Dieser Film-Noir-Klassiker ist darüber hinaus eine Art Blaupause für das Heist-Movie-Genre. Doch: Egal, wie perfekt der Überfall geplant ist und die Technik stimmt die Hölle, das sind die anderen. In diesem Fall eine verfeindete Gangster-Bande. Weshalb trotz penibelst inszeniertem Coup am Ende fast alle Protagonisten ums Leben kommen. Und dem Überlebenden am Ende die Beute wieder weggenommen wird. „Oh, die Verbrecher sind gar nicht so verschieden von uns. Verbrechertum ist nur eine besondere Form des Lebenskampfes.“ Alonzo Emmerich erklärt seiner Ehefrau vermeintlich die andere Seite der Gesellschaft. Und bezieht damit eigentlich viel mehr ein, als standardisierte Kampflinien implizieren würden. Der angesehene Anwalt macht sich zwar seine Finger
nicht selber dreckig, finanziert aber im Hintergrund einen großen Coup des berühmten Juwelierdiebes Doc Esterhazy. Dieser wurde trotz seines kriminellen Ausnahme-Rufs wegen guter Führung vorzeitig aus dem Knast entlassen – und glänzt durch gentleman-artiges Auftreten. Während der Anwalt den Juwelierdieb übers Ohr hauen möchte, reagiert dieser mit einem fairen und ehrenhaften Lösungsvorschlag. In dem Film „Asphalt Jungle“ (1950) von Regisseur John Huston wird eines ganz klar: Unabhängig von systemimmanenten Handlungssträngen gibt es keine verlässliche Seite der Moral. Außerdem tragen Gangster einfach die besseren Anzüge und haben die lässigsten Sprüche auf Lager. Und während alle offensichtlichen Verbrecher bis zum bitteren Ende einen Kampf ausfechten, erschießt sich Emmerich, nachdem seine Mittäterschaft bekannt wird. Am Schluss sind zwar alle tot oder verhaftet – doch in Stilfragen haben die eindeutig zu bestimmenden Kriminellen auf allen Ebenen haushoch gepunktet. Kathrin GEMEIN
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teve McQueen ist in der „Thomas Crown Affäre“ (1968) gefangen in seiner selbstgewählten Isolation, ein verspieltes großes Kind, unwillig oder unfähig zu einer wirklichen Bindung, grandios umrahmt vom Titeldesign des Altmeisters Pablo Ferro (u. a. „A Clockwork Orange“). Der erschafft mit seinen Split-Screens die einzigartige Coolness und den jazzigen Style, welcher wahrscheinlich Generationen von selbsternannten Mods wie Chorknaben aussehen lässt. McQueen und Faye Dunaway sehen in jeder Szene aus wie griechische Statuen. Frisuren,
Ausstattung, Kostüme, alles atmet den Hauch der Perfektion. Frage: Gibt es solche Menschen eigentlich noch? Der vielleicht aus Langeweile inszenierte Bankraub bekommt erst dann seinen Sinn, als Faye Dunaway sich als Versicherungsagentin Vicki Anderson an die Fersen von Thomas Crown heftet. Ein Katz- und Mausspiel beginnt, in dem beide nur für kurze Momente aus ihren in Schönheit erstarrten und unendlich leeren Rollen schlüpfen können. Immerhin der bis dato längste Kuss der Filmgeschichte (55 Sekunden!) und das vielleicht erotischste Schachspiel der Leinwand sind ihnen gegönnt. Und vielleicht, weil sich die plötzliche Nähe für beide zu unsicher anfühlt, muss am Ende noch mal ein Bankraub ihr Schicksal besiegeln und damit das materielle Interesse über die Begegnung dieser beiden traurig-schönen Menschen siegen. Wieder McQueen. In „The Getaway“ (1972) macht Sam Peckinpah wie immer keine Gefangenen. Selber von schwerer Alkoholsucht geplagt, lässt er seine beiden Hauptfiguren McQueen und Ali McGraw – nach den Dreharbeiten für mehrere Jahre ein Paar – erst nach einer atemlosen Hetzjagd zusammenfinden, verfolgt von allerlei Finsterlingen, die so auch bestens in einem von David Lynch ersonnenen Albtraum auftauchen könnten. Auch hier ist der geplante und dann schlampig ausgeführte Bankraub nicht der Selbstzweck. Durch ihn befreit sich McQueen aus dem Gefängnis, er ermöglicht sich und seiner Partnerin eine gemeinsame Zukunft. Vorher aber muss sie sich verleugnen und erniedrigen, bis die beiden schließlich auf einer Mülldeponie, abgeladen im Nirgendwo, erneut zusammenfinden. Erst am Endpunkt der Zivilisation angekommen, kann sich das Gangsterpaar von seinen Dämonen befreien und zu
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Der Zuschauer ist ein verlässlicher Komplize. Man muss ihm nur die passenden Motive liefern, und schon macht er praktisch jede Sauerei mit. […] Vor diesem Hintergrund darf sich das in aller Regel hochgradig ausgebuffte Einbrecherkonsortium ruhig die Taschen voll machen. Liebenden werden. Wenn am Ende des Films, nach grandiosem Shoot-out, auch noch Westernlegende Slim Pickens den wie Neugeborenen unverhofft eine neue Zukunft ermöglicht, haben wir die Grenzen eines Films über einen Banküberfall längst gesprengt und bewegen uns zu ganz neuen Ufern: Der Frage nach der Möglichkeit der Liebe.
Will man das Genre nicht überfordern, sollte man die beiden Identifikationsmuster bestenfalls fein säuberlich voneinander trennen. Diesem Schema folgen auf ihre Weise z. B. Jules Dassins eher sonnige Ambler-Verfilmung „Topkapi“ (1965) und Roger Donaldsons von Überwachungsstaatlichkeit und Korruption umschatteter „Bank Job“ (2008). Weiter könnten die Pole des Heist-Genres kaum auseinanderliegen.
Alex JEZDINSKY
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er Zuschauer ist ein verlässlicher Komplize. Man muss ihm nur die passenden Motive liefern, und schon macht er praktisch jede Sauerei mit. Wenn der moralische Schwellenwert dabei besonders gering ausfällt, wird die Sache bestenfalls gar zum diebischen Vergnügen. In Heist-Movies trifft das bekanntlich im Wortsinn zu. Voraussetzung: Die Beraubten nehmen keinen ernsthaften Schaden (weil sie ohnehin über alle Maßen gut betucht oder genauer: kriminell reich sind) und haben sich den Dämpfer zudem rechtmäßig verdient. Vor diesem Hintergrund darf sich das in aller Regel hochgradig ausgebuffte Einbrecherkonsortium ruhig die Taschen voll machen. Der Zuschauer erteilt bereitwillig seinen Segen. Doch wie so vieles fußt auch redlich-unredliches Gönnertum auf einem Stufenmodell: Reiche, die andere Reiche beklauen, werden eher unter sportlichen Gesichtspunkten beurteilt und können allenfalls mit Sympathiewerten punkten. Aber Underdogs, die eigentlich gute Kerle sind und nur aus der Not heraus kriminell werden, die dürfen auch gerne mal die Grenze zum tragischen Helden streifen.
Als raffinierte Melange aus realen Ereignissen und klugen Spekulationen folgt Letzterer einem nie wirklich aufgeklärten Bankraub von 1971, dessen Umstände so heikel waren, dass
der MI5 gar eine Nachrichtensperre verhängte. Umso engmaschiger ist das Netz gestrickt, in dem sich die Protagonisten auf fatale Weise verfangen. Allesamt sind sie harmlose Kleinkriminelle mit einem Traum von besseren Zeiten. Will der Zuschauer da sehen, wie diese netten Jungs am Ende mit reicher Beute und heiler Haut davonkommen? Selbstredend. Ganz anders gelagert sind die Verhältnisse in „Topkapi“. Habenwollen und sportlicher Ehrgeiz sind hier die treibenden Motive: Die Protagonistin ist reich genug, um die Finger von dem Objekt ihrer Begierde lassen zu können, und doch macht sie sich mit brillanter Planung und einem Team aus ahnungslosen Amateuren an die Arbeit. Tiefgang bleibt hier ein Fremdwort. Nicht umsonst ist die zentrale Sequenz des Films (ein echter Drahtseilakt) nicht mehr als eine ebenso atemberaubende wie oberflächliche Zirkusnummer. „Topkapi“ funktioniert als Kirmesattraktion ohne nennenswerten Identifikationsgrad. Schlimmer noch: Die Hauptfiguren erweisen sich bei genauerem Hinsehen als dekadente Darwinisten, die keinen Gedanken daran verschwenden, was es heißt, die Allgemeinheit zu berauben (Tatort ist ein Museum) und andere rücksichtslos für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Scheint es da nicht angemessen, dass am Ende in Form stilloser Häftlingskleidung wenigstens ein bisschen Strafe übrig bleibt? Natürlich. Denn Gerechtigkeit ist im Kino jederzeit eine durchweg subjektive Angelegenheit. Thomas LENZ
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Gonzales: Ivory Tower. Wagram
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Film — Halluzinationen und Astralvisionen
Film — Halluzinationen und Astralvisionen
HALLUZINATIONEN UND ASTRALVISIONEN Text — J a n - E i k e M I C H A E L I S
Der Filmemacher Gaspar Noé sorgte international vor allem durch „Menschenfeind“ und „Irreversibel“ für Verstörung. Das Telefon klingelt in Buenos Aires und Noé hebt ab, um über sein neuestes Werk „Enter the Void“ zu sprechen — Herr Noé, in Ihrem neuen Film „Enter the Void“ geht es um den Trip einer Seele, die aus dem toten Körper Oscars fährt und deren rauschhafte Reise wir als Zuschauer gute zwei Stunden verfolgen. Wie sind Sie zu diesem außergewöhnlichen Konzept des Films gekommen? Ich fing vor fast zwanzig Jahren an, über das Projekt nachzudenken. Im Alter zwischen 17 und 19 Jahren ging ich zur Filmschule und sah den Film „Altered State“ (1980) von Ken Russel. Und wahrscheinlich hat der Film mich zu dieser Zeit dazu gebracht, mir Pilze zu besorgen und sie auszuprobieren. Ich dachte, dass es eine großartige Idee wäre, einen Film zu haben, der wie ein Trip auf Pilzen ist. Zu der gleichen Zeit war ich auf eine Art besessen von Astralprojektionen und außerkörperlichen Erfahrungen. Ich versuchte wirklich sehr, eine außerkörperliche Erfahrung zu machen, doch hatte ich nie Halluzinationen, bei denen ich aus meinem Körper trat. Es passierte nie! — Wie ging es weiter? Nach dem Dreh von „Menschenfeind“ (1998) war ich für „Enter the Void“ zwei Wochen auf Motivsuche. Damals noch in New York. Allerdings wurde die Vorproduktion dann abgebrochen und dieser improvisierte Film namens „Irreversibel“ (2002) nahm sehr schnell seinen Lauf. Viele der künstlerischen Entscheidungen, die eigentlich für „Enter the Void“ gedacht waren, nahm ich mit zu „Irreversibel“. Diese ganzen Szenen ohne Schnitte und die Handkamera, die irgendwann anfängt zu fliegen, waren eigentlich für „Enter the Void“ geplant. Ich hatte sehr viel Glück, dass „Irreversibel“ solch ein kommerzieller Erfolg war. Das war nicht geplant. Wäre es nicht so gekommen, hätte ich „Enter the Void“ mit Sicherheit noch nicht beendet. — Warum drehten Sie schließlich in Japan? Für die Geschichte selbst spielt es doch eigentlich keine große Rolle, oder? Als ich das Drehbuch geschrieben habe, dachte ich tatsächlich nicht an eine bestimmte Stadt. Ich war bereit, von New York nach Brasilien, nach Tokio oder nach Hongkong zu gehen. Aber in Japan wirken die Namen der Charaktere auf gewisse Weise exotisch. Zum Beispiel hat man diesen japanischen Typen namens Mario und eine Frau namens Linda. Das ist auf eine spezielle Art abstrakt. Der Film ist selbst nicht mit der japanischen Kultur verknüpft, er handelt eher von der Liebe einiger Westler in Tokio. Ich habe in Japan viele Freunde, und ich mag das Gefühl, in Japan zu sein, sehr. Ich bin ein großer Fan von japanischem Kino generell und wollte gerne erfahren, wie es ist, mit einer japanischen Crew zu arbeiten. Ich denke, ich habe in der Zukunft möglicherweise ein Problem, da sie mit so viel Hingabe bei der Sache waren, dass es für mich schwierig werden könnte, wieder in Frankreich oder den USA zu drehen.
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Film — Halluzinationen und Astralvisionen
— Wenn Sie „Enter the Void“ so lange mit sich herumtrugen, wie viel ist eigentlich von Ihnen selbst in dem Film gelandet? Der Film ist nicht wirklich biografisch, aber ich habe sehr viele Elemente meiner eigenen Persönlichkeit in den Charakter von Oscar gelegt. Wenn man einen Blutpakt mit seiner Schwester oder jemand anderem schließt, versucht man daran festzuhalten. Denn dadurch verbindet man sich wie durch ein Sprachrohr mit seiner Kindheit. Du weißt als Betrachter nicht, ob Oscars Geist wirklich seinen Körper verlässt oder ob er nicht einfach nur stirbt. Im letzteren Fall träumt und halluziniert er nur, dass er die Erde wegen seine Schwester nicht verlassen kann. Aber ob es nun real ist oder irreal oder nur mental: Es ist eine Geschichte über einen Typen, der nur eine starke Verbindung zum Leben hat und das Einzige, woran er denken kann, während er stirbt, ist, dass er sein Versprechen halten will. Denn wer seine Versprechen hält, will eine Verbindung zu der eigenen Vergangenheit schaffen und erreichen, dass alles zu einer einzigen Erfahrung wird. — Das bringt uns zu den spirituellen Motiven. In „Irreversibel“ gibt es diese Geschichte über präkognitive Träume und in „Enter the Void“ geht es um Reinkarnation. Dient es Ihnen nur als erzählerische Hülle oder hat das eine tiefere Bedeutung für Sie? Ich denke, der Film handelt eher davon, wie man sehr plötzlich etwas verlieren kann. Von einem ähnlichen Thema handelt auch „Irreversibel“. Ich glaube nicht, dass wir viel nach dem Tod zu erwarten haben. Du hast das Leben und dann hast du nichts. Das Leben ist hier und jetzt. Wenn du so etwas wie einen Film machst, musst du die Dinge manchmal etwas dramatisieren. Es ist ein Spiel, es ist kein Porträt der Wirklichkeit. Ich dachte: ‚Spielberg machte einen Film über fliegende Untertassen und ich mache einen Film über außerkörperliche Erfah-
rungen und Reinkarnation.‘ Allgemeiner gesagt handelt der Film von der grundsätzlichen Obsession, dass Menschen glauben möchten, die Seele könnte aus dem Körper herauskommen. So gesehen ist es ein kollektiver Traum, den ich auf die Leinwand bringen wollte, obwohl ich nicht wirklich glaube, dass es passieren kann. — Und zum Ende verlässt der Film ja auch immer mehr die Perspektive von Oscars Seele, dann … … dann ist es eher wie ein visueller Trip, der in einzelnen Momenten aussieht wie ein Drogentrip. Für Menschen, die vielleicht selber keine Erfahrungen mit Drogen machen möchten. Am Ende des Films geht es weniger um eine Seele, die versucht, wieder aufzuerstehen, sondern eher um jemanden, der davon träumt, wie der Trip einer Seele sein würde, die versucht, wieder aufzuerstehen. — Sie erwähnten ja bereits diese sehr komplizierten Kamerabewegungen, die Sie im Film benutzen. Arbeiten Sie eigentlich mit Storyboards? Nein, ich benutze für meine Filme niemals Storyboards. Ich mag es, einfach ans Set zu gehen. Alles, was du wissen musst, ist, wie du eine Szene anfangen willst und wie du sie beendest. Hinzu kam, dass fast alle Szenen Plansequenzen sind. Das Problem war also nicht, wie ich die jeweilige Szene schneiden würde, weil es innerhalb von ihnen keine Schnitte gab. Viel wichtiger war, dass man das Gefühl bekommt, einen endlosen Strom zu sehen, der von einem Bild zum nächsten übergeht. Dazu musste ich mir überlegen, wie die Kamera in der nächsten Szene in den Raum hineingelangt, um zu wissen, wie ich in der aktuellen Szene aus dem Raum hinausgehen sollte. Und da ich auch der ausführende Kameramann war, konnten viele Entscheidungen im letzten Moment am Set getroffen werden.
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Film — Halluzinationen und Astralvisionen
BIO:
— Zu der ungewöhnlichen Filmsprache, die Sie in „Enter the Void“ benutzen, zählt ja auch der Einsatz von Flicker-Effekten. Das macht das filmische Erlebnis im Kino äußerst physisch … Der Flicker erzeugt ein traumartiges Gefühl, er bringt dich in einen sehr speziellen Bewusstseinszustand. Fast während meines ganzen Films flackert das Licht, an manchen Stellen stärker. Es gibt dir das Gefühl, als würdest du die Kontrolle darüber verlieren, was auf der Leinwand passiert. — Wichtig für die Wirkung dieser Flicker-Effekte sind ja auch die Sounds von Thomas Bangalter. Wie lief die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden ab? Er machte auch die Musik für „Irreversibel“, hatte aber in diesem Fall wegen Daft Punk keine Zeit, die Musik direkt auf den ganzen Film zu komponieren. Also hat er sehr viele Sounds kreiert, ungefähr sechs Stunden verrückte Klänge. Er sagte: ‚Du kannst sie verschmelzen, du kannst sie mischen, du kannst mit ihnen machen, was du willst.‘ Während des Sound-Editings entschieden wir, dass der Soundtrack sehr chaotisch sein sollte und nun hört man meistens mindestens drei unterschiedliche Drones gleichzeitig. Es ist wie ein einziges Magma aus völlig verschiedenen Quellen, aber wenn man jeden einzelnen Sound hört, sind sie alle großartig. — Was war der Auslöser für diese ungewöhnlichen filmischen Strategien? Ich habe versucht, zu einer Filmsprache zurückzugehen, die dem Träumen näher ist. Es gibt einige andere Filme, die dem sehr nahe kommen. Zum Beispiel „Ein andalusischer Hund“ (1929) oder der österreichische Kurzfilm „Outer Space“ (1999). Wenn man träumt oder halluziniert wie
Gaspar Noé ist
Daneben drehte er zahlreiche
1963 in Argentinien geboren
Kurzfilme (u. a. „Carne“ von
und Sohn des argentinischen
1991), Werbespots und Musik-
Malers Luis Felipe Noé. Der
clips. „Carne“ und „Menschen-
in Frankreich lebende Fil-
feind“ wurden u. a. bei den
memacher (meistens ist er
Filmfestspielen in Cannes
Regisseur, Drehbuchautor und
ausgezeichnet. „Irreversibel“
Kameramann in Personalunion)
löste während seiner Premiere
ist am bekanntesten für seine
dort einen Skandal aus. Gaspar
drei Langfilme „Menschenfeind“
Noé ist mit der Filmemacherin
(1998), „Irreversibel“ (2002)
Lucile Hadzihalilovic verhei-
und „Enter the Void“ (2009).
ratet.
bei einem Trip auf Pilzen, dann nimmt man nicht in Schnitten war, sondern man sieht, wie aus einem Bild ein weiteres Bild und ein weiteres Bild entsteht, die ineinander morphen. Man sieht keine Nahaufnahmen, keine Schuss-Gegenschuss-Montage, die ja in den meisten Filmen perfekt passt. Aber dies trifft in keiner Weise die Sprache der Träume oder Halluzinationen. Wenn ich mich selbst in einem Traum sehe oder ich mir meine eigene Vergangenheit vergegenwärtige, dann sehe ich mich immer von hinten. Darum drehte ich auf diese Weise auch alle Flashbacks immer mit dem Rücken der Hauptfigur im Bild und wir sehen alles, was er sieht. Die Sprache des Kinos ist sehr viel weiter, als sie von den meisten Regisseuren genutzt wird und einige der ambitionierteren finden keinen guten Weg, sie mit den Sinnen des Kinos zu verknüpfen. Viele dieser Regisseure versuchen, das Kino neu zu erfinden. Ich versuche das nicht. Ich versuche, damit Spaß zu haben. Lesen Sie das komplette Interview auf www.opak-magazin.de OPAK präsentiert eine exklusive Preview von „Enter the Void” in Hamburg. Am 23.8. um 22.30 Uhr im Zeise Kino. Wir zeigen die englische Originalversion.
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Draußen — „This Is Not By Me“
„This Is Not By Me“ •
Text — J e s p e r P E T Z K E
Cornelia Sollfrank stellt mit ihren Arbeiten Originalität, Autorschaft und individuellen Ausdruck in Frage. Ein Künstlerinterview. •• anonymous-warhol_flowers@Feb_28_11.42.50_2006
Draußen — „This Is Not By Me“
59 generiert. Grundsätzlich kommen in diesem Arbeitsbereich künstlerische Verfahren wie Wiederholung, Aneignung und Reproduktion zur Anwendung, die die Frage nach dem Original obsolet werden lassen. In einem weiteren Arbeitsbereich geht es mir darum, der Kunst neue Formen und Wirkungsbereiche zu erschließen. Unter dem Motto „The mode is the message | the code is the collective“ können das zum Beispiel Formen der Organisierung sein, die ich dann als ästhetische Form auffasse. Ein Beispiel dafür ist die Aktion „TammTamm – Künstler informieren Politiker“, bei der 121 Hamburger KünstlerInnen jeweils einen Abgeordneten der Bürgerschaft adoptiert haben, um mit ihm/r über das umstrittene Maritime Museum im Rahmen einer persönlichen Begegnung zu diskutieren. Bei dieser Art von Projekten mache ich einige Setzungen, aber der Raum, der dadurch eröffnet wird, entwickelt seinen Sinn erst durch die anderen Mitwirkenden. — Ihre Aktionen erscheinen oft wie Hacks und haben auch sonst bemerkenswert viele Querverbindungen zur Computerwelt. Warum eine Vermengung gerade dieser beiden Systeme? Das ist keine wirkliche Vermengung, sondern es ist die gleiche Methode, die einfach in unterschiedlichen Zusammenhängen zur Anwendung kommt. Grundlage ist das Denken in Systemen. Es ist eine Art, die Welt zu ordnen, Erkenntnis zu gewinnen. Und womöglich steckt die Annahme dahinter, dass das autonome Subjekt gar nicht so autonom ist, sondern Teil einer größeren Ordnung. Nur wenn ich diese Ordnung begreife, habe ich die Möglichkeit, ihr – bewusst – zu entrinnen oder ihr etwas entgegenzusetzen! Außerdem ist es immer eine Herausforderung, die Schwachstelle eines Systems zu finden, den Punkt, an dem man eindringen kann – was das System als solches erst sichtbar werden lässt. — In den letzten Jahren kreist Ihre Arbeit zunehmend um den Begriff des geistigen Eigentums.
TroubleShooting, aus der Reihe "Revisiting Feminist Art" © Tranquillium, 2008
— Frau Sollfrank, Sie sind sowohl Künstlerin, Kunstwissenschaftlerin als auch Aktivistin. In welcher dieser Funktionen möchten Sie zu dem Thema Aneignung befragt werden? Cornelia Sollfrank: Ich kann diese „Funktionen“
nicht voneinander trennen; zu meinem Kunstbegriff gehört politisches Engagement ebenso wie theoretische Verortung, insofern habe ich kein Problem damit, mich (ausschließlich) als Künstlerin zu bezeichnen. — Wie beschreiben Sie selbst Ihre künstlerische Praxis?
Ich sehe mich als denkende und forschende Künstlerin und habe den Anspruch, mit meiner Arbeit die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern – dazu gehört es, die Kunst zu verändern. Ein Teil meiner Arbeit, die innerhalb des Kunstbetriebs stattfindet, ist deshalb institutionskritisch und sucht nach künstlerischen Formen, die Institution Kunst auszuloten und aufzuzeigen, wie sie funktioniert und wo ihre Grenzen liegen. Beispiel dafür ist „Female Extension“ (www.artwarez.org/46.0.html) oder der „net.art generator“ (http://nag.iap.de), ein sehr leicht zu bedienendes Computerprogramm, das nach der Eingabe eines Titels online ein neues Kunstwerk
Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Urheberrecht, was eine besondere Form des geistigen Eigentums ist – wenn man diesen irreführenden Begriff überhaupt benutzen will. Eigentlich geht es um Rechte an immateriellen Gütern, die mit „Eigentum“ nichts zu tun haben. — Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen? Durch eine Zensurerfahrung. 2004 wurde mir in der Schweiz von den Veranstaltern eine lange geplante Einzelausstellung abgesagt mit der Begründung, dass die Werke, die ich zeigen wollte, gegen das Urheberrecht verstoßen würden. — Wie sieht Ihre Beschäftigung mit dem UrhG konkret aus und wie hat sich Ihr Interesse daran über die Zeit gewandelt?
60 Ich betreibe künstlerische Forschung – mit Anbindung an eine Universität –, die sowohl theoretische Studien als auch künstlerische Experimente umfasst. Ein Beispiel dafür ist die Werkreihe „This is not by me“, in der ich die berühmten Warhol-Flowers für eine Fallstudie benutze, in der ich künstlerische und juristische Logik miteinander konfrontiere. Nach der Bearbeitung meiner ersten Fragestellung, nämlich, ob das UrhG tatsächlich künstlerische Produktion stimuliert oder diese nicht vielmehr behindert – wie in meinem Fall –, wurde mir deutlich, dass die Einschränkungen, die die Kunst erfährt, einen Kollateralschaden darstellen. Das UrhG steht zusammen mit dem Marken- und Patentrecht im Zentrum der Knowledge Economy. Der Zweck dieser Rechte ist es, sicherzustellen, dass immaterielle Güter als Waren global vermarktet werden können. Gleichzeitig erlauben digitale Distributionstechnologien das massenweise Kopieren von Dateien ohne Berücksichtigung des Urheberschutzes, das heißt das Urheberrecht unterliegt einem Durchsetzungs- und Kontrolldefizit wie nie zuvor. Und hier kommen die Künstler ins Spiel, denn sie müssen herhalten, um eine Verschärfung der Gesetze und deren striktere Handhabung zu rechtfertigen. Dabei ist es mehr als deutlich, dass es hierbei nicht um ihre Interessen geht, sondern um die der Verwerter, der Film- und Musikindustrie, der Softwareunternehmen und Verlage. KünstlerInnen werden in diesem Diskurs benutzt und missbraucht. — In Ihrer Promotion über UrhG und ästhetische Theorie beschreiben Sie das UrhG als zentrale Säule der Institution Kunst. Inwiefern haben die beiden Konzepte sich gegenseitig beeinflusst und die Institution Kunst, wie wir sie heute kennen, herausgebildet? Das UrhG, wie wir es heute kennen, hat seinen Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert, der Zeit, in der auch die ästhetische Autonomie, also die – noch immer verbreiteten – Vorstellungen von Autorschaft und originalem Werk geprägt wurden. Die beiden Systeme entwickelten sich in gegenseitiger Abhängigkeit. Erste Konflikte tauchten auf, als sich die Kunst im 20. Jahrhundert erweiterte und Verfahren der Aneignung wie Collage, Cut-up, Appropriation Art oder auch Konzeptkunst et cetera einen Kunststatus beanspruchten, ohne in das enge Raster von Original und Autorschaft zu passen. Jetzt, im 21. Jahrhundert, hat sich das UrhG weiterentwickelt und eine andere Funktion bekommen: Es regelt und schützt nicht mehr künstlerische Produktion, sondern einen globalen Markt und wird zunehmend eine Bedrohung für die Freiheit der Kunst. — Verfolgen Sie eine konkrete Zielsetzung? Zugegebenermaßen faszinieren mich die zunehmend paradoxen Situationen, die aus dem Wechselverhältnis von UrhG und Kunst entstehen. Wenn ein Recht, das künstlerische Arbeit fördern soll, diese eigentlich mehr behindert,
Draußen — „This Is Not By Me“
Screenshot aus dem Video "I DON'T KNOW", Gespräch zwischen Cornelia Sollfrank und Andy Warhol (1968/2006) Originalmaterial aus einem Interview mit Andy Warhol, gefilmt von Gideo Bachmann, 1968
tun sich viele Fragen auf, die weit über die Kunst hinausgehen. Aber es gibt auch Anlass zu fragen, welche Rolle spielen wir, die KünstlerInnen, in diesen aktuellen Entwicklungen? Die Diskussion um das UrhG wird weitgehend von Juristen und Politikern dominiert; was fehlt, sind aufgeklärte, emanzipatorische, künstlerisch-experimentelle Beiträge zu dem Diskurs – wenn wir nicht nur dumme Schafe sein wollen, über die nach Belieben verfügt wird. — Was glauben Sie, wie wird das UrhG sich in Zukunft entwickeln? Aufgrund des Drucks, das UrhG international anzupassen, wird es zu einem Bruch kommen mit der kontinental-europäischen Tradition, das heißt die Stellung des Künstlers wird geschwächt werden. Das UrhG wird wieder das ökonomische Regulativ, das es in seiner Anfangsphase im 16. und 17. Jahrhundert war. Damals hatten nicht die Künstler Rechte an ihren Werken, sondern die Drucker, die die Werke vervielfältigten. Während ich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit Urheberrecht noch davon ausgegangen bin, dass es die KünstlerInnen sind, die das UrhG kritisieren und abschaffen wollen, halte ich es nun für wahrscheinlicher, dass das UrhG die KünstlerInnen abschaffen wird. — Wie reagiert die Institution Kunst, deren Kunstmarkt ja vom Geniebegriff lebt, auf Ihre Arbeit? Ist es vermessen, Ihre Hinwendung zur Theorie als künstlerische Strategie zu beschreiben, um den Mechanismen des Kunstmarkts zu entgehen? Der Kunstmarkt hat wenig Interesse an mir, weil ich mich weigere, Originale zu produzieren und das ist – auch noch in Zeiten unbegrenzter Reproduzierbarkeit – die Grundkondition des Kunstmarktes. Andersherum habe ich wenig Interesse am Kunstmarkt. Er misst Kunst einen Wert in Zahlen bei, der auch die allgemeine Wertschätzung von Werken beeinflusst. Da die meisten innovativen und wirklich interessanten Arbeiten aber nicht der Marktlogik entsprechen, geraten sie dadurch in einen Status des Außerhalb und geringerer
Wertschätzung, während zum Beispiel auf den Messen viel langweilige und irrelevante Kunst teuer angeboten und verkauft wird. So lange der Kunstmarkt von konservativen Kräften für ihre Kunstpolitik benutzt wird, das heißt dazu dient, einen antiquierten Kunstbegriff aufrechtzuerhalten, wird er für die KünstlerInnen, die mit zeitgenössischen Medien und Inhalten an einer Erweiterung des Kunstbegriffs arbeiten, eher hinderlich als nützlich sein. Trotzdem gibt es im Kunstbetrieb ausreichend Akteure – vor allem in kleineren Institutionen – die nicht nur an Warentausch, Objekten und Prestige interessiert sind, sondern auch Experimenten, Konzepten, Ideen et cetera so viel Platz geben, dass die Entwicklung weitergehen kann. Das sind die, mit denen ich gut und gerne zusammenarbeite. Mein zweites Standbein an der Universität ist mir auch wichtig, weil ich da gelernt habe, wissenschaftlich zu arbeiten, und Kunst und Wissenschaft sich so optimal ergänzen können. — Ich habe Sie einleitend gefragt, in welcher Funktion Sie befragt werden möchten. Wenn wir mit unserem Gespräch im Hinterkopf das Künstlerinterview als Repräsentant des Geniebegriffs sehen: Wie haben Sie versucht, diesem Dilemma zu entgehen? Haben Sie es überhaupt versucht? Ein Künstler-Interview kann informativ sein und versuchen, einen Zugang herzustellen zur Arbeit, Hintergründe und Motivation erhellen, es kann aber auch von der Künstlerin dazu benutzt werden, sich selbst zu stilisieren oder zu verweigern … Außerdem ist immer Vorsicht geboten: Erstens wissen KünstlerInnen auch nicht alles über ihr Werk und wenn, benutzen sie sehr gern Interviews, um Falschinformationen zu verbreiten. http://artwarez.org
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Draußen — Nach allen Riegeln der Kunst
NACH ALLEN RIEGELN DER KUNST Berlin, Kastanienallee 85, Treffpunkt der Lockpicker Text — U l f A Y E S
ler Instrumente. Das Standardrepertoire, bestehend aus „Hook“, „Snake“ und „Diamond“, wird in der Regel durch gekaufte oder selbst gefertigte Werkzeuge ergänzt. Als einer der Anwesenden von einem alten, herumliegenden Tresor berichtet, bricht es aus einem Vereinsmitglied hervor: „Das ist ja der Hammer!“ Und sogleich wird freudig erregt und fast liebevoll von Tresoren und ihrer Funktion im Alltag erzählt: „Meine Wohnung ist voller Tresore. Auf einem steht der Fernseher, aus dem anderen ist mein Schreibtisch geworden!“ Auch Autoschlösser spielen eine Rolle, allerdings sei der Aufwand, Autotüren auf dem Schlossplatz auszubauen und zu transportieren, ziemlich groß. „Nebenbei betreiben wir Schlüsselbundanalyse. Kann ich deinen mal haben?“ Nicht ohne Skepsis reiche ich ihm meine Schlüssel, das Ergebnis: „Zu 95 Prozent pickbar!“ Stolz wird im Gegenzug ein Bund voll eigenartiger Gebilde präsentiert: „Diesen Schlüssel habe ich selber gemacht, das hier ist ein Dietrich, der hier ist für Handschellen …“ Handschellen? Alles klar. Ob er schon einmal den Schlüsseldienst gerufen habe? „Darüber spricht ein Lockpicker nicht!“
Fotos — P a t r i c k S T R A T T N E R
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ntschuldigung, wir knacken nicht – wir ÖFFNEN!“, korrigiert Ulrich Schütter, Leitung der Berliner Sportgruppe des SSDeV, gleich zu Beginn. SSDeV, das steht für „Sportfreunde der Sperrtechnik Deutschland e.V.“, einem Verein sogenannter „Lockpicker“, die sich regelmäßig unter anderem im Erdgeschoss eines Berliner Hausprojektes treffen. Kastanienallee 85, das Haus war früher mal besetzt. „Es ist ein Männersport. Da Männer einfach gestrickt sind, ist es ein einfacher Sport“, erklärt Schütter und erntet bei allen Anwesenden Zustimmung. Doch welches Ziel verfolgt das Lockpicking genau? Anders als dem Schlüsseldienst geht es dem Lockpicker primär darum, Schlösser vollkommen zerstörungsfrei zu öffnen. Das Prozedere im Training: entriegeln, freuen, verriegeln, entriegeln usw. – wahrscheinlich halten das wirklich nur Männer durch. Seit der Vereinsgründung 1997 sind dem Verein deutschlandweit 750 Mitglieder beigetreten, jährlich werden Meisterschaften im Schlossöffnen veranstaltet. Bis 2005 fanden die im Rahmen des Chaos Communication Congresses, einer Veranstaltung des Chaos Computer Clubs, statt. Die Parallelen zwischen Computernerds und Lockpickern sind offenkundig: es geht um Geduld, Präzision und Erfahrung im Umgehen von Sicherheitsvorkehrungen. Das „analoge Hacken“, wie das Lockpicking auch bezeichnet wird, bedient sich speziel-
it „Pianist Envy“ verĂśffentlichte der Berufsironiker und unablässige BrusthaarentblĂśĂ&#x;er Gonzales Anfang 2010 ein Mixtape, das mit einem polternden Statement erĂśffnete: „(‌) then i made solo piano, and they were like: oh, we are so happy, now we can take you seriously. Well: fuck them! Because credibility and seriousness – this is the problem! Entertainment isn’t killing music, it’s music that is killing entertainment!“ Wir kennen ihn. Und Gonzales’ Inszenierung wird auch durch „Ivory Tower“ nicht komplexer, wesentlich Neues fĂźgt er ihr nicht hinzu, weshalb Musikkritiker bereits abkanzelnd von einer „verzichtbaren
Platte“ schrieben. Verzichtbar wahrscheinlich aus zwei GrĂźnden: Zum Einen, weil Neuigkeiten Ăźber Gonzales sich seit den Anfangstagen des „hardest working man in music “ als im Kern ausnahmslos wĂźrdigende Kommentare zeigten und es keinen Grund gibt, der Kritik eine Kurskorrektur zu unterziehen. Zum Anderen war Gonzos Selbstentwurf zwar immer offen und vielfach gebrochen. Seine Figuren blieben dennoch identifizierbar, vor allem jedoch entsprangen sie einem Repertoire, das undurchsichtig war und blieb. Mit anderen Worten: Was sich da als Chilly Gonzo immer wieder frisch konstituierte, wunderte irgendwann wirklich niemanden mehr.
„Was sich da als Chilly Gonzales immer wieder frisch konstituierte, wunderte irgendwann wirklich niemanden mehr. Man hatte sich daran gewÜhnt.ˎ
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ls offiziell deklarierte Freunde der Flora und Fauna wählte die FĂźnfMann-zu-einer-Frau-Band den Namen Annuals, der tragischerweise auch ein Gewächs betitelt, das nicht länger als ein Jahr das Licht der Welt in sich aufsaugt. Das Album „Count the Rings“, eine Auswahl aus liebsten Liedern und B-Seiten älterer Werke, kommt aber vielmehr daher wie ein reifer Apfel, der vom Baum fällt und vor hungrige FĂźĂ&#x;e rollt: GenieĂ&#x;en heiĂ&#x;t das Stichwort, und zwar einen fast tropischen Sound mit auĂ&#x;ergewĂśhnlichem Indie-Pop-Kern. Zum ersten Mal erreicht diese Musik also nichtamerikanische Ohren, ein Schmaus, fĂźr den man ihnen Ăźber ihre Ponyfrisuren streicheln mĂśchte. Ihre Demonstration durchdachten Songwritings und bunter Lebendigkeit kĂśnnte gerne jährlich neu erscheinen.
Count the Rings
tand Warp drauf, waren Beats drin. Heute gibt es da auch Synth-Pop, wie den von diesem Duo aus Brooklyn. Die zwei haben sich schwer den achtziger Jahren verschrieben und spielen diesen Sound gekonnt. Allerdings sind nicht alle StĂźcke gleich aufregend; oft bleiben sie zu nahe bei ihren Inspirationsquellen. In ein paar Songs verlässt das Duo aber die ausgetrampelten Pfade und entdeckt da Berauschendes. „Dressed in Dresden“ ist absolut gelungen. Da trifft Disco den Punk, beide legen sich zusammen auf einen wild wabernden Bass. Auch schĂśn: das sehr reduzierte „The Beach“. Stimme, ein Minimum an programmierten Drums und etwas Orgel, in einen 6/8-Takt verpackt, rollen vor sich hin, bevor gegen Schluss ein opulenter Soundteppich dazukommt, um danach ins Off gesaugt zu werden. ZeitgemäĂ&#x;er und gut produzierter Pop.
Annuals
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Man hatte sich daran gewĂśhnt. An einen Typen, der keinen Wert darauf legte, Platten frontal zu produzieren, sie vorzustellen, sich von Album zu Album zu hangeln. Der neue Tonträger war in Gonzos Koordinatensystem immer nur ein flĂźchtiger Einblick, man lieĂ&#x; sich gern von ihm auf dem Laufenden halten. Mit „Ivory Tower“, Ăźbrigens produziert von Boys Noize, ist es nicht anders. Gonzales gibt dankenswerter Weise einen Wasserstand durch, ist so interessant wie eh und je und schraubt wahrscheinlich in diesem Augenblick weiter an seinem groĂ&#x;en Gonzo-Entwurf, der Platten eher als Mittel der Dokumentation begreift. Damit man sich Ăźberhaupt erinnern kann. Und ihm danken, dafĂźr, den SpaĂ&#x; so ernst zu nehmen.
WISSEN WAS DIE WELT VERKAUFT
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Gonzales — Ivory Tower
62 Musik — Album der Ausgabe, Highlights
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nterpol waren immer etwas anders als das Gros jener Post-Punk/New-Wave-Bands, die seit den frĂźhen 2000er Jahren im Rahmen des weltumspannenden 80ies-Backlashs an die Ă–ffentlichkeit rĂźckten. Schwärzer waren sie, verlorener; als sei ihnen der Groove zu Eis erstarrt, die New Yorker, die sich wie kaum eine andere Band als legitime Erben der eigentlich doch britischen New Wave of New Wave empfahlen. So sahen das auch genĂźgend andere Leute da drauĂ&#x;en und Interpol wurden Ăźber Nacht zu Stars. Ihr neues Album schlieĂ&#x;t hier nahtlos an, radikalisiert aber alles, was die Band zuvor bereits ausgemacht hatte: Glauben Sie mir, auch wenn es dem ersten Anschein nach nicht so klingen mag, ihre aktuelle Single „Barricade“ ist ihr neues „Slow Hand“ – poppiger wird es nicht. Sägende Darkwave-Gitarren allerorten, sich zu Mantren steigernde Textfragmente, ins kalte Weltall hinausschieĂ&#x;ende, psychedelisierende Synthesizer, die David Bowie, Brian Eno, Peter Murphy und, ja, John Lennon auf Heroin nicht besser hätten erdenken kĂśnnen, Flächen, Strukturen, verhallte Pianos, ein Schlagzeug wie Trockeneis, und immer wieder diese sägenden Gitarren – das sind die Elemente, die Interpol im Jahr 2010 durchdeklinieren. GroĂ&#x;, Unbill verkĂźndend und – bei aller Dunkelheit – funkelnd. Die Selbstbetitelung ihres aktuellen Albums deutet es an, Interpol sind mehr als je zuvor die Essenz ihres eigenen Schaffens.
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982 wird der Schauspieler Abe Vigoda vom amerikanischen „People Magazine“ fĂźr tot erklärt. Abe dementierte das Ganze in lässiger Pose in einem Sarg sitzend, die Ausgabe des Magazins in der Hand haltend und kreierte damit einen Running Gag, der bis heute die USMedien fest im Griff hat. FĂźr das Quartett aus Los Angeles, welches sich rund um den Smell Club und dessen Szene formierte, diente der Schauspieler nicht nur als Namensgeber, sondern sie dĂźrfen sich in der Art-Punk-Szene spätestens seit dem Release ihrer LP „Skeleton“ ebenfalls mit Kultstatus brĂźsten. Die roten Fäden, die sich durch die zehn Songs der VerĂśffentlichung ziehen, sind sicherlich das stets treibende Drumming sowie die Gitarrengewitter, welche immer wieder einbrechen und eine unerschĂźtterliche Klangwand aufbauen. Alle Effekte werden hier bis zum Maximum ausgereizt, und Chorus und Delay prasseln auf den HĂśrer nieder, ohne jedoch die Struktur komplett verschwinden zu lassen. Lediglich der Opener „Sequins“ und die beiden FolgestĂźcke präsentieren sich noch im gewohnten Lo-Fi-Gewand. Spätestens bei „November“ werden Gas- und Effektpedal noch einmal kräftig durchgedrĂźckt und eine gewisse Indie-Komponente findet Einzug. Kopf und Sänger der Band Michael Vidal platziert seinen trägen und pathosschwangeren Gesang gekonnt und lässt ungehemmt die Affinität zu Bands der Smell-Szene durchklingen. Ein bisschen weniger arty, ein wenig mehr Struktur, nach diesem Erfolgsrezept wurde hier gekocht und das Ergebnis mundet.
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Interpol — s/t
Abe Vigoda — Crash
„I am Europe,“ Ivory Tower
I am a dog shit ash tray I am a shrugging moustache wearing a speedo tuxedo I am a movie with no plot written in the backseat of a piss-powered taxi I am an imperial armpit, sweating chianti I am a toilet with no seat, flushing tradition down [‌] I am Europe ‌ 
Chilly GONZALES —
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as vierte Stella Album „Fukui“ ist wohl das elektronischste Werk der Hamburger Band. Aber nicht nur das – es ist wohl auch ihr kryptischstes Album, denn alle Texte wurden durchweg auf Japanisch eingesungen. Es bedarf durchaus einiger Anläufe um sich ganz auf die Musik einzulassen. Hat man aber diese erste HĂźrde Ăźberwunden, erwartet den ZuhĂśrer ein sehr sachliches, träumerisches und unglaublich komplexes Album, welches bei jedem HĂśren spannender wird. Auf „Fukui“ hĂśrt man pumpende Beats, die mit vereinzelten Klavier-Akkorden gepaart sind. Die lieblich gespielte Gitarre geht eine herrliche Symbiose mit dem japanischen Gesang Langes ein, dazu ist leichtes Meeresrauschen zu hĂśren. Der Klang der Sprache verbindet sich hier aufs SchĂśnste mit der Musik. Die Band Stella hat in ihrer fĂźnfzehnjährigen Karriere nie so gut geklungen wie auf diesem Album. Die zehn Songs auf „Fukui“ schenken dem ZuhĂśrer ein wahres Kopfkino-Erlebnis, und das ist es doch, was progressive Musik heutzutage ausmacht.
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Stella — Fukui
Musik — Highlights
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an stelle sich folgende unangenehme Situation vor: Eigentlich ist es ein Tag der stinknormale Sorte, man ahnt nichts BĂśses und erwartet auch nichts Besonderes. Man sitzt geduldig in den eigenen vier Wänden und hĂźtet selbige, in Erwartung auf die heiĂ&#x;geliebte Frau, die bald von getaner Arbeit heimkehren sollte. PlĂśtzlich Ăśffnet sich die TĂźr. Herein kommt eine Frau. Die sieht zwar aus, wie die, auf die man wartet, geht und riecht auch so, sie ist es aber nicht. Das jedenfalls sagt das eigene GefĂźhl. Und ich Trottel glaube diesem GefĂźhl sogar, auch wenn es jemand anderem gehĂśrt. Der GefĂźhlsbesitzer ist Leo Liebenstein und spielt die Hauptfigur in Rivka Galchens DebĂźtroman „Atmosphärische StĂśrungen“. Seine Frau heiĂ&#x;t Rema, ist ein paar Jahre jĂźnger als er und hat – das jedenfalls denkt Leo - keinen Grund, sich von einem Double vertreten zu lassen. Also kann Leo ja eigentlich nur in eine VerschwĂśrung verwickelt sein. „Was sonst?“ So denkt einer, der VerschwĂśrungstheorien nur aus den KĂśpfen seiner Patienten kennt; nämlich eben jener Leo Liebenstein, der – wenn er nicht gerade falsche Frauen vorgesetzt bekommt – als Psychiater tätig ist und häufig mit eben solchen VerschwĂśrungsgedankenFällen zu tun hat. Die falsche Frau behauptet indes immer noch frech, die richtige zu sein. Noch dazu trägt sie ein rotbraunes, ebenfalls unbekanntes Hundewelpen auf dem Arm. Rema mag keine Hunde. Das Simulacrum, wie Leo die Doppelgängerin in seiner Verzweiflung nennt, spielt seine Rolle trotz des Welpen ziemlich perfekt. Der Psychiater ist fast ein bisschen beeindruckt und irgendwie gefällt ihm diese fremde Frau. Doch lieber er will seine Rema wieder. Also macht er sich auf die Suche nach der richtigen Frau, die - wie er vermutet entfĂźhrt wurde. Steckt etwa sein verschwundener und an Wahnvorstellungen
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Doch wer zum Geier strickt bloĂ&#x; alles an diesem Netz? „Atmosphärische StĂśrungen“ ist ein Buch Ăźber die wahre Liebe, den blanken Wahnsinn und die oft unerklärbare Psychologie des Menschen. Ein Buch, welches ebenso verwirrend und seltsam ist, genau wie der Name der Autorin. Wer in Rivka Galchens bezauberndem DebĂźt letztendlich an atmosphärischen StĂśrungen leidet - Leo, Rema, das Simula-
leidender Patient Harvey dahinter? Oder Tzvi Gal-Chen, der als Wissenschaftler bei der kĂśniglichen Wetterakademie tätig ist? Seltsam, dass sich rausstellt, dass dieser schon seit Jahren tot ist. Noch bedenklicher wird die Angelegenheit, als Leo seltsame Mails von dem angeblich Toten bekommt. Was will der Wissenschaftler ihm bloĂ&#x; mitteilen? Auf seiner Reise in Remas Vergangenheit verstrickt Leo sich immer mehr in ein Netz voller LĂźgen, Vermutungen, Hoffnungen und Enttäuschungen.
„Steckt etwa sein verschwundener und an Wahnvorstellungen leidender Patient Harvey dahinter? Oder Tzvi Gal-Chen, der als Wissenschaftler bei der kÜniglichen Wetterakademie tätig ist?ˎ
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crum, Remas Mutter, die Autorin, einfach alle oder eigentlich nur man selbst - ich jedenfalls habe keine Ahnung. Und hoffe einfach mal, dass mein Freund nicht heute Abend mit einem Kätzchen auf dem Arm nach Hause kommt.
Rivka GALCHEN — Atmosphärische StÜrungen
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n ihrer 2005 erschienenen Geschichtensammlung „BĂźchsenlicht“ skizzierte die norddeutsche Wahlberlinerin Svenja Leiber gekonnt die Schrecken des nĂśrdlichen Landlebens. Ihr erster Roman „Schipino“ nun spielt in Russland. Schipino steht dabei fĂźr einen (fiktiven) Ort mit vier Datschen, in denen die Bewohner unter härtesten Bedingungen leben. Neben Kochhaus und ollem Klavier gibt’s nur Sumpf und Wasser und einen schlecht sortierten Laden, der „Scharfes fĂźr die GroĂ&#x;en und SĂźĂ&#x;es fĂźr die Kleinen“ bietet. Hauptfigur ist der Deutsche Jan Riba, der sein altes Leben zurĂźcklässt und nach Moskau zu seinem Freund Viktor reist. Der mĂśchte Riba den schĂśnen russischen Sommer zeigen, und zwar in Schipino. Dort angekommen, lernt Riba sehr spezielle Menschen kennen: den schĂśnen Wassili, den langen Pawel, die dĂźnne Anna, den dicken Tolik, Darja, die aus Kummer immerzu Kleider näht, und Lilja, die ihn nicht nur durch ihre WidersprĂźchlichkeit fasziniert. Als Riba schlieĂ&#x;lich von der traurigen Mascha hĂśrt, auf die alle zu warten scheinen, beschlieĂ&#x;t er zu bleiben ... Svenja Leiber formuliert „Schipino“ sehr kraftvoll, nicht karg, sondern Ăźppig, ohne blumig zu sein. Sie ist nah an ihren Figuren, ohne empathisch zu werden. Stimmige Details und Ăźberraschende Wendungen verleihen dem Buch einen merkwĂźrdigen Sog, dem man sich nicht entziehen kann – und will.
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Svenja LEIBER — Schipino
s geht um die Liebe. Wie schätzungsweise fĂźnfzig Prozent der Weltliteratur handelt auch der Roman des Kolumbianers TomĂĄs GonzĂĄlez von der Liebe. Aber auch von der Gemeinheit des Alterns, der Schräg- oder Direktheit jahrzehntelang gespeicherter Erinnerungen und der Romantik eines brachialen Kolumbiens. GonzĂĄlez’ 1987 erstmals in BogotĂĄ erschienener Roman „Die versandete Zeit“ ist dementsprechend folgendes: Die Erzählung einer längst vergangenen, „heiligen“ Liebe auf zwei Zeitebenen, zwei Ortsebenen, die das Erzählen selbst thematisieren. Josefina und Alfonso waren Liebende, das war Anfang des 20. Jahrhunderts, in den 1970er Jahren ist Josefina eine altersgefleckte Frau, deren Geschichte von LĂŠon recherchiert und aufgeschrieben wird. Das alles wird zumeist in Episoden im Wechsel erzählt und in einer wallenden Sprache, die eher an die Bewegungen eines TĂźllrocks beim Gehen der Frau erinnert als an Konventionen: „Weinend blieb sie zurĂźck, als sie durch die leeren Gassen hinauszogen, ihr Sohn, das Pferd und der Maulesel. Klapp, klapp, klapp. Der Maulesel lahmte leicht, er wĂźrde ihn bei der ersten Gelegenheit anschauen lassen, dachte Alfonso. Ăœber den dunklen Bergen erschien tastend die MorgenrĂśte. – Werde ich dich je wiedersehen, mein liebes altes Dorf?“ Und wenn das einen nun schnell an die Prosa von Isabel Allende oder Gabriel GarcĂa Marquez erinnert, dann ist das kein gänzlich falsches Urteil. Wenn man schon einen groĂ&#x;en Teil der lateinamerikanischen Literatur mit der Marke „magischer Realismus“ umschreibt, so trifft das auch auf GonzĂĄlez’ „Die versandete Zeit“ zu: Das kann bezaubernd gut gefallen, aber auch hartnäckig oft an der Grenze zum Kitsch stehen. r / , !%* +'
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Die versandete Zeit
Tomås GONZà LEZ —
64 Literatur — Buch der Ausgabe, Highlights
ie Credits stehen am Anfang und sind schon Teil des Exzesses, der „Enter the Void� ist. Die Schriftzßge flackern nervÜs und wechseln sich pulsierend ab. Der „Flicker-Effekt� beruht darauf, dass nichtkontinuierliche Einzelbilder rhythmisch hintereinander montiert werden. Diese vielleicht aggressivste Technik des experimentellen Kinos verwandelt nicht nur die Titelsequenz in eine Attacke auf den Zuschauer, Gaspar NoÊ greift auch später im Film immer wieder auf den Flicker und seine vibrierende, zumindest in der unmittelbaren Wahrnehmung die Grenzen der Leinwand sprengende Bildlichkeit zurßck. Trotz des Geflackers erkennt man einige japanische Schriftzeichen. NoÊ, spätestens seit „Irreversible� (2002) das enfant terrible des franzÜsischen Kinos, hat seinen dritten Film zu weiten Teilen in Japan gedreht. Aber um japanische Popkultur geht es kaum. Und erst recht nicht um Japan als empirischen Ort. Japan, das ist fßr NoÊ Chiffre fßr eine post-humanistische Gesellschaft. Fßr eine Welt, in der die Naturbeherrschung so weit fortgeschritten ist, dass das Neon-, Glasund Betonmeer Tokios nicht mehr als Folge eben dieser erkennbar, sondern zur neuen Quasi-Natur geworden ist. Die Geschwister Oscar und Linda sind
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im alten, grßnen Europa aufgewachsen, jetzt leben sie in Tokio, diesem synthetischen Ort fßr synthetische Kicks. Oscar ist Dealer und stirbt frßh im Film auf der versifften Toilette eines Szeneclubs, Linda ist Stripperin, hat eine Affäre mit ihrem Boss und kommt mit dem Verlust ihres Bruders nicht klar. Viel mehr passiert nicht. In „Enter the Void� geht es weniger ums Erzählen als um die Fantasie einer Welt, die der Kamera keinerlei Widerstand mehr leistet. Einer Kamera, die nicht nur Raum und Zeit modelliert, sondern die auch die Grenzen des Bewusstseins, des Traums, des KÜrpers mßhelos ßberwindet. Alles kann unmittelbar Bild (und Ton) werden: Drogenrausch, Todeserfahrung, Sex. Wenn Paz de la Huerta (in der Rolle der Linda) während des Liebesspiels stÜhnt: „Come inside me!�, dann nimmt der Film sie in beiden mÜglichen Hinsichten beim Wort. Alles ist verfßgbar und muss direkt auf die Sinne des
Gaspar NOÉ — Enter the Void
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Zuschauers ausgerichtet werden, orchestriert fĂźr den maximalen Impact. Das Tolle ist aber, wie schon in „Irreversibleâ€?, dass sich solch schamlose Wirkungsästhetik bei NoĂŠ immer an einer grundlegend antihumanistischen Perspektive reibt, die einer unproblematischen Verschaltung von Film und ZuschauerkĂśrper nachhaltig im Wege steht. „Enter the Voidâ€? hat diesbezĂźglich ein dreistufiges Modell. Zunächst Ăźbernimmt der Film radikal den point of view Oscars, inklusive selbst noch des Augenblinzelns. Nachdem der Tod diesem Ansatz ein logisches Ende bereitet hat, springt der Film in der Zeit zurĂźck und in die dritte Person: Oscars Hinterkopf geistert bereits recht distanziert durch die eigene Biografie, bis diese abermals in einer PfĂźtze aus Blut, Pisse und Pillen endet. Dann befreit sich der Film vĂśllig von allen gängigen Wahrnehmungskoordinaten. Was folgt, ist ein rein filmisches System aus Flicker und atemberaubenden Kamerafahrten, ein Blick auf die Welt, der das Menschliche negiert. In Cannes ist NoĂŠ mit all dem nicht gut angekommen. In der Tat ist „Enter the Voidâ€? ein Film, den man gegen seinen eigenen Inhalt verteidigen muss. Schaut man nur auf Handlung und Motivik, findet man biologistischen und gleichzeitig esoterischen, gelegentlich auch mindestens latent homophoben Unsinn der schlimmsten Sorte. Aber die groĂ&#x;artige antihumanistische Form macht diesen Unsinn nicht einfach nur im rauschhaften Erleben vergessen. Sie widerlegt ihn direkt und nachhaltig.
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wischen Dreamworks und Disney/Pixar gibt es dieser Tage wenig Platz fĂźr andersartige Animationsfilme im Kinosaal. Wenn sich dann eine der mutigen Produktionen behaupten kann, sorgt sie in der Regel fĂźr BegeisterungsstĂźrme, wie in den letzten Jahren etwa „Waltz with Bashir“ (2008) oder „Persepolis“ (2007). Eine der wenigen Ausnahmen ist auch die australische Knetcollage Mary & Max von Adam Elliot Ăźber die Brieffreundschaft eines weltinteressierten australischen Mädchens, das an starken Minderwertigkeitskomplexen leidet, und einem New Yorker Autisten, der ihr diese Welt, die er selbst nicht richtig versteht, in Briefform beschreibt. Der Film ist ein StĂźck gekneteter Humanismus der schĂśnsten Form. Er ist ein bitter-dĂźsteres Porträt zweier AuĂ&#x;enseiter und begleitet sie durch drei Jahrzehnte, auch, um ihre Entwicklung und Stagnation gebĂźhrend zu erfassen. Es geht um Abgrenzung, Verlust, Einsamkeit, Elternlosigkeit – und in entscheidenden Teilen auch um Suizid. In diese zuweilen tiefpessimistische Niedergeschlagenheit bettet Elliot allerdings eine einnehmende und liebenswĂźrdige Parabel Ăźber Freundschaft ein. Denn alles, was die beiden verschrobenen Figuren am Ende haben und hatten, ist eben diese selbst gewählte Bindung zueinander, welche sie durch ihr Leben begleitete und ihnen Mut machte. Mary & Max ist in seiner Einfachheit Ăźberwältigend und bietet doch Ideenvielfalt und visuelle Mannigfaltigkeit, fĂźr welche der Film wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als nur die lobende Erwähnung der Jury in einer Nebensektion der Berlinale 2009, als Elliot in die Schiene fĂźr Kinderfilme abgeschoben wurde. Der Kinostart ist ein schĂśner Schritt zu mehr Beachtung.
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Adam ELLIOT — Mary & Max
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ine ältere Frau steht mit ernstem, gequältem Blick in einem Kornfeld. Als Musik einsetzt, beginnt sie zu tanzen. Mit dieser unwirklichen Szene erĂśffnet „Mother“, der vierte Spielfilm von Bong Joon-ho. Nach seinem begeistert aufgenommen CreatureFeature „The Host“ (2006) kehrt der Erfolgsregisseur zu seinen filmischen Wurzeln zurĂźck: Wie in seinem grandiosen Film „Memories of Murder“ (2003) ist eine Kleinstadt SĂźdkoreas Dreh- und Angelpunkt fĂźr einen mit Dramatik und Ironie gespickten Thriller. Die titelgebende Mutter, ein Name wird nicht genannt, lebt mit ihrem Sohn Do-joon in einfachen Verhältnissen. Der 28-Jährige leidet an einer leichten geistigen Behinderung, die sich in kindlichem Verhalten und einem sehr lĂźckenhaftem Gedächtnis äuĂ&#x;ert. Als der Mord an einem Schulmädchen die Kleinstadt erschĂźttert, ist fĂźr die Polizei der Schuldige schnell gefunden. Die mĂźtterliche FĂźrsorge erreicht nun ein neues Level: Ăœberzeugt von der Unschuld ihres Sohnes nimmt die Mutter die Ermittlungen in die eigenen Hände. Falsche Fährten, Täuschungen und labyrinthartige Verzweigungen – die unvorhersehbaren Geschehnisse entwickeln einen Sog, dem sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Im Mittelpunkt der dĂźsteren Atmosphäre steht immer Kim Hye-ja. FĂźr ihre facettenreiche Darstellung einer verzweifelten, Grenzen Ăźberschreitenden Mutter wurde sie im asiatischen Raum bereits mit Preisen ausgezeichnet. Die meisterhafte Inszenierung gibt ihr stets genĂźgend Raum und weiĂ&#x; in perfekten Bildkompositionen gnadenlos die Spannungsschraube anzuziehen. Aufopferung, Schuld und Vergebung – es entstehen ambivalente Momente von bedrĂźckender Intensität. Ist Mutti wirklich die Beste?
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Bong JOON-HO — Mother
Film — Film der Ausgabe, Highlights
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Comic – Sascha Hommer (http://saschahommer.blogspot.com)
LOST FOR LIVE.
The Asteroids Galaxy Tour @ Electronic Beats Recommends Tour 2009 Album available on www.electronicbeats.net/downloads
Just for one evening, forget about the industry hype, the tiresome genre labels and stipulated hairstyles and open your self to a pure and unadulterated experience. It ’s known as live music. Because in this undiluted state music is potent, speaks for itself and is finally allowed to just do its thing. Like spinning you into uncontrollable motion and emotion. We’re talking about the real deal, the thing that originally drew you in, hooked you up and that’s had you coming back for more ever since. Electronic Beats have been putting on live music events for 10 years and know how to make a night of live music a memorable one for the right reasons. The way we do this is simple. With acts, sound and venues of a superior quality we attract the right sort of people. People after the real thing. The same thing you are.
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aug – okt 2010
#06
Wir müssen reden
FÜR EIN SEIN OHNE HABEN: DIEBSTAHL UND EIGENTUM / PALAIS ROYAL, HOLLYWOOD UND NIKE: INBESITZNAHME FREMDER MACHT / KEMBREW MCLEOD: DAS ENDE DER MEINUNGSFREIHEIT / I HEART MUSIC: OVAL / ALLES FÜR ALLE?! / LITERATUR UND ANEIGNUNG: KLAUS THEWELEITS „ORPHEUS UND EURYDIKE“/ GASPAR NOÉ / CORNELIA SOLLFRANK: KEINE ORIGINALE! !
Vier / 4 Euro 06
Diebstahl 4
191548 304005