OPAK #05

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(Editorial), Analogien

Abb. 1

Ein Vogel kreist über dem

Abb. 2

Sommergewürz

Loch des Teufels

„Hier drauf!“, sagte der junge Mann und hielt seinen ausgelatschten Schuh hin. Der Sänger zog einen Edding, unterschrieb wortlos, und wurde dabei mit dem Handy fotografiert. Dann gingen beide auseinander. Nach-dem-Konzert-Situation, man wusste, was zu tun war. (OK)

Stars, Prominente, Idole – allesamt eigentümliche Begriffe für ein soziales Verhältnis, die nur eine Seite der Medaille beschreiben. Schließlich liegt die Bedingung ihrer Existenz in ihrem vermeintlichen Gegenteil, der Bewunderung durch andere. Das war beim Wagenrennen der römischen Antike oder mittelalterlichen Ritterturnieren nicht anders als bei den Medienpersönlichkeiten des 21. Jahrhunderts. Grund genug, sich die Perspektive der Bewundernden – nicht der Bewunderten – näher anzuschauen. Natürlich haben sich die Formen der Bewunderung gewandelt. Nicht selten werden die Bedingungen der Verehrung vorproduziert, ein Rahmen kultischer Anbetung geschaffen, dessen Wirkungsmacht sich leidlich zwischen Fan-, Szene- oder Milieustrukturen differenzieren lässt. Kurz: Stars und Starkulte, sowie Identifikation und Projektion scheinen unumgänglich. Trotzdem kein Anlass zum Fatalismus. Auch wenn Fansein sich häufig genug kaum vom Fanatismus unterscheiden lässt, der Verehrung autoritärer Strukturen Vorschub leisten mag, bleibt doch die Frage, ob Idole oder Vorbilder nicht ebenso Möglichkeiten der Selbstermächtigung bieten können. Georg Seeßlen hat sich auf bezugreiche und grundlegende Weise mit Stars und ihrer Bewunderung auseinandergesetzt, um abschließend zu einem nüchternen Fazit zu gelangen. Sonja Eismann behauptet „Fan-werden heißt Frau-werden“, Thomas Meinecke und Klaus Walter sind trotz aller Reflexion Fans in allem, was sie tun. Über den Zusammenhang zwischen Medienpersönlichkeit und dem Dandy des 19. Jahrhunderts klärt die Literaturwissenschaftlerin Rhonda K. Garelick auf, Marcus Stiglegger widmet sich speziell der Ikonisierung von Filmschauspielern. Und Linus Volkmann sagt „Bewunderung ist Hass“ – vollkommen zurecht natürlich. Liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle ein ergänzender Hinweis in eigener Sache: Erich Mühsam, begnadeter Schüttelreimer, Münchner Räterevolutionär, Bohemien und Anarchist, wird von uns in Kooperation mit jungle world und amSTARt auf die Bühne gebracht. Es lesen, tanzen und singen Harry Rowohlt, Thomas Ebermann, Knarf Rellöm, Frank Spilker und Manuel Schwiers am 21.5. in Berlin und am 22.5. Wiesbaden. Wir sind Fans und bringen unsere Eddings garantiert mit – Ihr auch? Viel Spaß mit dieser Ausgabe.


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(Inhalt)

POLITIK 06 Das nicht mehr ganz so große Andere (Georg Seeßlen) 1 1 Fan werden heißt Frau werden (Sonja Eismann) 14 Umsturz in Kirgistan (Thomas Ebermann) 15 Bist du ein Star? (Knarf Rellöm) MUSIK 16 Bewundern? Muss man immer das Andere (T. Meinecke, K. Walter) 21 We Have Band (Jan Schimmang) 22 Die Anti-Anti-These der Bewunderung (Matthias Rauch) 24 Der Weg der Dinge (Kristof Künssler) 26 Die Stimmen von ODDSAC (Derick Rhodes) 27 Zurück nach Elfenland (Nina Lorenz) 28 Es ist wieder Musik (Aydo Abay) Neunanfang der Dritte (Julian Stetter) 29 Experiment, Ergebnis, Tagebuch (Ulf Schütte) 30 Die feinen Unterschiede (Ulf Ayes) MODE 36 Bumm Tschack Bumm Bumm Tusch LITERATUR 40 Tagedieb und Superstar (Lucia Newski) 44 Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer (Ulrich Holbein) 48 Nach Stalin (Martin Büsser) 50 Eins mit Kunst und Bunnys (Waldemar Kesler) 51 (Gastexperten) Malen mit Qualen FILM 54 Die Göttlichen (Marcus Stiglegger) 60 Bewunderung ist Hass (Linus Volkmann) DRAUSSEN 64 Figuren des Übergangs (Andi Schoon) COMIC 66 The last emperor (Sascha Hommer)

Be wund erung


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(Contributors), (Impressum)

FRANZISKA DERICK TAFFELT RHODES

SONJA EISMANN

KNARF RELLÖM

Die 27–jährige Berlinerin Franziska Taffelt studiert Fotografie an der Ostkreuzschule, besucht derzeit die Abschlussklasse bei Professorin Ute Mahler und hängt noch diesen Herbst ihre Abschlussarbeit. Die Fotografin beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit ihrem unmittelbaren Lebensraum. Immer dem Leitsatz folgend „Das Unsichtbare sichtbar machen“ erzählt sie poetisch-realistische Geschichten, die sie aus der letzten Nacht in ihrer Lieblingsbar „Fleischmöbel“, von der letzten Reise oder vom letzten Shooting mitbringt. Seit Neuestem hat auch sie sich den unendlichen Weiten der virtuellen Welt hingegeben und gestaltet einen Fotoblog: www.evewithoutadam.net/franziska-taffelt. Für OPAK hat Franziska dieses Mal die Modestrecke fotografiert.

Derick Rhodes lebt in Brooklyn, NYC und ist Musiker, Integrator und bekennender Fan von gut gemachten Dingen. Seine Leidenschaften umfassen Telepathie, den Spaß teilen, womit „sharing in the fun“ nur notdürftig übersetzt ist, Vergebung u.a.. Highlights seiner Zeit in Deutschland beinhalten einen Auftritt bei „Na sowas!“ mit Thomas Gottschalk, eine kurze Karriere als Sänger der Indierockband SOLARSCAPE, sowie eine noch kürzere Solo-Karriere als LADYBOY. Für OPAK betreibt er den blog „Fairy Tales Of New York“ (Arbeitstitel) auf unserer Website. Das hat er zumindest vor. In dieser Ausgabe berichtet er über ODDSAC.

Sonja Eismann wurde 1973 in Heidelberg geboren, wuchs gerne in einem Vorort namens Eppelheim auf und erinnert sich heute eher ungern daran (träumt aber noch sehr häufig davon). Nach dem Umzug der Eltern in die Steiermark tauschte sie nach ihrer Matura in Graz den überdimensionierten Wiener Prunk langfristig gegen westdeutsche Fußgängerzonen und studierte dort wie auch im Ausland ausgiebig, ohne allerdings allzu viel zu kapieren. Glücklicherweise lernte sie in Wien coole Feministinnen kennen, die’s ihr beibringen konnten. Beschäftigte sich danach lange und beruflich mit Feminismus, Popkultur und DIY und macht heute auch nicht viel anderes: und zwar im Rahmen der Zeitschrift Missy Magazine, Artikeln anderswo, Vorträgen, Lehrveranstaltungen und was sonst noch (kein) Geld bringt.

Knarf Rellöm ist außerirdischer Musiker, Wohnort zur Zeit Hamburg, derzeitige Band: Knarf Rellöm Trinity, demnächst umbenannt in Knarf Rellöm Arkestra, beratende Funktion in der Außerplanetarischen Opposition, Mitbegründer der Sexualdemokratischen Partei Deutschlands, Erfinder der Musikstile "Message Dancefloor" und "Hamburgedelic". Für OPAK hat er mit Patex gesprochen und einige Gedanken angestellt.

Kontakt OPAK Magazin Oliver Koch (V.i.S.d.P.) Gneisenaustraße 33 10961 Berlin (redaktion@opak-magazin.de) www.opak-magazin.de

Design, Layout & Satz (Print) Floyd Schulze (www.wthm.net) Adeline Mollard (www.adelinemollard.ch) Unterstützung: Jolanda Todt Verwendete Schriften: Simplon von Emmanuel Rey (www.emmanuelrey.ch) Romain BP von Ian Party (www.bpfoundry.com)

Ulrich Holbein, Christian Ihle, Waldemar Kesler, Jörg Kleemann, Bettina Koller, Kristof Künssler, Regina Lechner, Tobias Levin, Nina Lorenz, Thomas Meinecke, Felix Müller, Lucia Newski, Lina Paulsen, Felix Piatkowski, Nagel, Nils Quak, Matthias Rauch, Knarf Rellöm, Maximilian Römer, Jan Schimmang, Kristof Schreuf, Ulf Schütte, Georg Seeßlen, Julian Stetter, Andi Schoon, Marcus Stiglegger, Lennart Thiem, Ulf Ayes, Linus Volkmann, Klaus Walter, Johannes v. Weizsäcker

Redaktion Senta Best (Musik) Niklas Dommaschk (Literatur) Markus Göres (Übergreifend) Lasse Koch (Politik) Oliver Koch (Chefredaktion) Jan-Eike Michaelis (Film) Josephin Thomas (Mode) Max Zerrahn (Bild)

Lektorat / Korrektorat Dörte Kanis (www.doerte-kanis.de) Titelbild der Ausgabe Max Zerrahn Model: Pierre Türkowsky (www.mitvergnuegen.com) Texte dieser Ausgabe Aida Baghernejad, Aydo Abay, Roger Behrens, Senta Best, Jenna Brinning, Thomas Ebermann, Sonja Eismann, Janina Friedhoff, Kathrin Gemein, Markus Göres,

Fotografien & Illustrationen dieser Ausgabe Candice Breitz, Jenna Brinning, Johannes Büttner, Christina Gransow, Sascha Hommer, Stefan Jandl, Rachel de Joode, Nikolai Potthoff, Stephanie Lehmann, Lisa Roze, Erik Weiss, Ofer Wohlberger, Max Zerrahn, Joachim Zimmermann

Danke an Andreas Böttcher, Martin Diebel, Melissa Hostetler, Oliver Laric, Benne Ochs, Kathleen Reinhardt, Andreas Schlegel, Ragnar Schmuck, See You Berlin, Patrick Strattner Anzeigen Oliver Koch +49 (0)30 29362634 anzeigen@opak-magazin.de Druck Druck und Werte GmbH Peterssteinweg 17 04107 Leipzig www.druckundwerte.de


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Politik — Das nicht mehr ganz so große Andere

Politik

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Das nicht mehr ganz so große Andere Von Vorbildern, Idolen und Fans

Text — G E O R G S E E S S L E N

Foto — S T E F A N J A N D L


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Politik — Das nicht mehr ganz so große Andere

1 Kein Ich kann der Welt allein begegnen, jedenfalls nicht dass wir wüssten. Daher bedarf man der anderen (von denen wir nur zu genau wissen, dass sie andrerseits die Hölle sind): Unseresgleichen, aber auch in der Geschichte jene, die vor uns waren und jene, die nach uns kommen sollen. Ursprünglich waren die Götter nichts anderes als jene, die vor uns waren, die Ahnen. Was dann kam, war ein Prozess der Verdichtung und der Ikonisierung. Am Ende blieb ein großes Alles und Nichts. Kommen andere nach, so ist selbst der Bürger ein kleiner Gott. Vielleicht bedeutet kulturelle Entwicklung den schweren Prozess, von den Ahnen zu den Nachkommen umzudenken. Zurzeit sind wir vermutlich gerade in der Mitte, in einem großgeschriebenen, unsympathischen ICH. Aber beides geht verloren: die Verpflichtung der Ahnen und die Hoffnung der Nachkommen. Das Ich, wir wissen nicht, ob es das will oder ob es nur der Weg des Marktes zur Macht so will, breitet sich endlos aus (am Ende kann es nur ewige Jugend und ewiges Leben wollen, oder doch wenigstens jede Menge Dinge, belebt und unbelebt, welche die untote Sphäre des Postbürgers bewachen soll). Weil nämlich das Ich sich selber nie genug sein kann, bedarf es der Spiegelungen; es bedarf des Anderen. Und so wie jedes Bild sich bezieht zugleich auf „das Abgebildete“ und das „Vor-Bild“, so ist, was sich Mensch nennt, zugleich Darstellung und Dargestelltes, Maske und Spiegel.

Nur Zombies haben keine Vorbilder. Sie wollen nicht wie jemand anders sein (…), sie wollen nur ›überhaupt‹ sein, das heißt, sie wollen das so wenig wie sie es müssen. Sie ›sind‹ einfach.

Vorbild ›nacheifern‹; das Vorbild ist der Vater jenseits des Vaters und die Mutter jenseits der Mutter, aber auch ein anderer Vater und eine andere Mutter (weshalb das Vorbild auch ein fantastischer Ausweg ist und gelegentlich seine pädagogischen Absichten verfehlt). Es ist im Übrigen nur einerseits Vor-Bild, denn das Vor-Bild kann auch nur wieder Blick sein; man muss sich im Blick des Vorbilds wähnen, um ihm nahe zu sein. (Ansonsten wird aus dem Nacheifern und der profaneren Art des Nachahmens ein bloßes Rollenspiel der hierarchischen Ordnung.) Vorbilder sind so notwendig wie gefährlich in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind so viel, vom imaginary friend bis zur Instanz der Ich-Bildung; der mythische Keim von Gewissen bis zur Ein-Bildung von Ideologie, Versprechen und Strafe. Die Beziehung von Mensch und Vorbild ist zwar kulturell geregelt (vermutlich ist ein Großteil der Kultur überhaupt zu nichts anderem vorhanden als zur Erzeugung und Kontrolle von Vorbildern), aber diese Kontrolle ist so kompliziert, dass der ganze Prozess immer mal wieder aus dem Ruder läuft: Es wird das falsche Vorbild gewählt, es wird das Vorbild falsch gewählt (zu total oder zu unscharf), es wird zu lange oder zu früh benutzt, es wird in falschen Konkurrenzen benutzt (das Vorbild schlägt die Eltern aus dem Spiel um die Seele), man wird es zu spät los, es erweist sich als Trugbild usw. Zwischen einem Menschen und seinem Vorbild kann eine Menge schiefgehen.

2 Nur Zombies haben keine Vorbilder. Sie wollen nicht wie jemand anderes sein (wie es noch Kaspar Hauser dann wollte), sie wollen nur ›überhaupt‹ sein, das heißt, sie wollen das so wenig wie sie es müssen. Sie ›sind‹ einfach. Ohne Ahnen und ohne Kinder, ohne Götter und ohne Geschichte. Sogar ohne Fernsehen. Deshalb sind, merkwürdig genug, Zombies wiederum unsere Vorbilder; wer wollte derzeit nicht „Zombie-Fan“ sein? (Unsterblich, beinahe, im Auseinanderfallen.)

3 Die Hohe Kultur (die Kultur der Herrschenden und die Kultur der Bürger) arbeitete an den Vorbildern. Der Wert, um dessen Weitergabe es ging, war zugleich vollkommener Text und vollkommenes Bild. Subjekt, Gesellschaft, Religion und Geschichte sollten im Einen zusammenkommen. Der Mensch, vor allem jener, den man als „noch nicht fertig“ ansah, sollte dem

4 Vorbilder werden produziert, und sie werden in der Produktionsweise produziert, die einer Gesellschaft oder einer Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Vorbilder also werden in der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft zu „role models“, die sich einerseits auf einem Markt präsentieren (man braucht also, um ein gewisses Role-Model zu adaptieren, einen


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Politik — Das nicht mehr ganz so große Andere

speziellen Status und einen speziellen Geschmack, den man sich beispielsweise durch Fernsehen oder BILD-Zeitung aneignet), die andrerseits aber auch „frei“ wählbar sind und selber Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit geben. So wird das Vorbild in der demokratischkapitalistischen Gesellschaft vor allem einer oder eine, der oder die „es geschafft“ hat, das Role-Model als neues Vorbild ist also weniger eine Instanz von Wert und Moral als schlicht ein Erfolgsmodell. Und in diesem Erfolgsmodell als Vorbild kommen die widersprüchlichen Elemente von Regierung und Kapital zu einer mythischen Einheit. (So beginnen wir bereits das Kinderzimmer mit Role-Models auszustaffieren – Barbie ist anders als ihre Vorgängerin keine Kategorie mehr, Mensch/Kind/Mutter etc., sondern ein komplettes Rollen- und Erfolgsmodell –, so dass es kein Wunder ist, dass wir auf dem Mode- und Popmarkt ständigen Wiedergeburten von Barbie und Ken begegnen.)

5 Das Vorbild ist nicht nur in die Phase seiner demokratischen und kapitalistischen Offenheit getreten (es ist, sieht man es genauer an, immer noch Ausdruck von Positionen im Klassenkampf und Ausdruck im Kampf um die kulturelle Hegemonie), es ist auch in die Phase seiner soziologischen Supervision getreten. Der junge Mensch, zum Beispiel, wird sehr scharf daraufhin beobachtet, ob er Vorbilder hat und welche. Die entsprechenden Studien zur Zeit scheinen zu belegen, dass etwa sechzig Prozent der Jugendlichen in Deutschland sich dazu bekennen, ein Vorbild zu haben. Diese Vorbilder werden freilich sehr häufig durch „Mutter“ und „Vater“ besetzt, erst dann kommen die üblichen Prominenten aus den Bereichen Pop, Schauspiel und Sport; bei der Angabe von politischen Vorbildern begeben wir uns bereits in den Bereich der eingeübten Macht-Strategien. Man kann auch Lügen dazu sagen. Denn mit nichts kann man einander so betrügen wie mit Vor-Bildern und mit Vorbildern.

6 Das Idol ist eine Ableitung des Vorbilds, das sich gerne präsentiert als reiner „Text“ und reines „Bild“: Jederzeit zum Diskurs befähigt (es tendiert daher, haben wir das schon erwähnt, zu einer gewissen Langweiligkeit, und übrigens auch zur Heuchelei: Wir trauen keinem Menschen, der sein „großes Vorbild“ öffentlich oder halböffentlich verkündet). Das Idol dagegen ist weitgehend mit Irrationalität aufgeladen; es bedarf des Kollektivs und es erzeugt das Kollektiv. „Wir haben ein Idol, und das ist Helmut Kohl“, skandieren Mitglieder der Jungen Union. Das hat natürlich etwas umwerfend Komisches an sich (viel mehr, als es die Aussage eines einzelnen der Nachwuchs-Machtmenschen wäre, Helmut Kohl sei sein „Vorbild“). Wie das Vorbild ehrfürchtige Distanz signalisiert, so signalisiert das Idol wonnige Verschmelzung.

7 In einem Medium muss das frei gewählte Vorbild (und sei’s eine Figur in einer Soap-Opera oder einer Zeichentrickserie – wie wäre es mit: „Mein Vorbild ist Bart Simpson“) zum Leitbild werden (im Sinne eines Bildes, das Leitfunktion hat ebenso wie im Sinne eines Bildes, das die Leitung über andere Bilder übernimmt). Natürlich vernichtet das Leitbild auch wieder das Vorbild: Leitbilder des Neoliberalismus sind nicht einmal mit sehr viel gutem Gewissen als Vorbilder zu verkaufen. Nur zum Beispiel.

8 Eben die Auflösung des Vorbildes (das eine eindeutige Gestalt zu haben schien, wenn wir uns recht erinnern, aber wer erinnert sich schon genau an seinen Umgang mit Vorbildern?) führt zu mehreren Elementarteilen dieses Vorbildes, das doch so sinnfällig eben nur als Ganzes erschien: Das Wunschbild, das Schreckbild, das Traumbild, das Sinnbild und so weiter. Alles in allem: Die Spiegelung von Ich als Anderes. In der Gesellschaft kann das zerbrochene Vorbild nur durch die Konstruktion des „Idols“ wieder zusammengefügt werden (puzzlehaft genug): Eine Form des bildhaften Anderen, die zugleich in tiefe Vergangenheit und in die Zukunft weist. Marktrational erzeugte Magie. Das Idol ist jenes Ding-Wesen, das wir „abgöttisch“ lieben, also jenseits des religiösen und moralischen Dogmas (aber nicht zwangsläufig in Opposition dazu). Dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes eine kleine Figur bezeichnete (vermutlich etwas, was wir heute als „Maskottchen“ benutzen und was vor allem den Absatz von Waren und die Akzeptanz von Sportvereinen im Kinder-Block fördert), ergibt daher Sinn: es ist dies eine bewegliche Gottheit. Im Idol wird also „vergöttert“, was schon grammatisch auf eine eigene Beziehung zwischen Subjekt und diesem Bild des Anderen hinweist. Das Idol ist ein Subjektgott.

9 Nicht nur aus der Vernetzung von Idolen entsteht Idolatrie, also eine Form der Bilderverehrung: Das Bild wird verehrt, nicht was in ihm sich abbildet. So entstehen heilige Bilder nicht nur als Ableitungen, sondern auch als Ersetzung des Bilds des Heiligen. In kleiner Münze mag man nun „Kult“ als Form der Idolatrie bezeichnen. Bilder mit einer gewissen Autonomie wie der Star: Skandal ist nicht, wenn das Bild nicht dem Menschen entspricht, Skandal ist, wenn der Mensch dem Bild nicht entspricht. Was wir bis jetzt kennengelernt haben, sind Techniken, Bilder auf eine Weise zu erzeugen, die eine Kontrolle unseres Lebens ermöglichen und gleichzeitig von unserem Leben kontrolliert werden. Es fragt sich nur, wen wir in dieses System der wechselseitigen Kontrolle zwischen dem Ich und dem Anderen hereinlassen (den Staat? Die Gesellschaft? Den Kommerz? Den Stil? Den Pop? Die Gruppe?).

Im Gegensatz zum Vorbild, zum Idol und zum Fetisch ist der Star, der Fans hat, seiner Fiktionalität gewahr. Er ist, genauer gesagt, ein Instrument der Fiktionalisierung.


Politik — Das nicht mehr ganz so große Andere

Becker Hecht, 2005. S T E F A N J A N D L , Z Ü R I C H

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Politik — Das nicht Politik mehr ganz – so große Andere

10 Ein notwendiges Nebenprodukt ist der Fetisch, den wir uns in drei Formen vorstellen können: Erstens als ein Ding, in dem sowohl die positiven wie die negativen Aspekte des „großen Anderen“ gespeichert und gebannt sind. Zweitens als ein Zeichen, in dem das Verbot und das Begehren einander neutralisieren, also ist Fetisch das, was wir nicht sehen dürfen und doch unbedingt sehen wollen (wir können also, nur zum Beispiel, den Horrorfilm als fetischistische Darstellung des Körperinneren ansehen) oder den Star als unscharfe Darstellung sexueller Ambivalenz. Drittens als die rituelle Praxis, in der das Subjektgöttliche und das Objektgöttliche (Kult und Religion meinethalben, Geschmack und Politik auch) zusammenkommen.

11 Unnütz zu sagen, dass der Fetisch nicht nur in seiner Warenform das heilige Ding des demokratischen Kapitalismus ist: So wird die Ware zum Fetisch, vor allem aber auch der Fetisch wird zur Ware (denken wir uns, neben dem Automobil, darin das Maskottchen aus dem 1-Euro-Laden). Es wird vielmehr auch fetischhaft gedacht (und gesehen). Und natürlich müssen sich auch Vorbild, Leitbild und Idol fetischistisch infizieren. Sie wirken in immer begrenzteren Räumen und Zeiten, in diesen aber umso totaler (oder hysterischer). Diese Infektion führt dazu, dass aus der Warenform das Prinzip der Wiederholung wird, und aus dem Text wird die Serie. Wie das Idol, so ist auch der Fetisch in seinem Gebrauch zu beeinflussen (man kann ihn ebenso verbergen wie man den Fetisch auch betrügen kann); so wenig das Idol, wie der zornende und strafende Gott, alles sieht, so wenig ist der Fetisch die Vereinigung von Bedeuten und Sein im Sakrament („Dies ist mein Leib ...“). Der Fetisch ist das Subjekt-Objekt: Ein Ding, an dem das Ich sich infizierte so wie sich das Ich an dem Ding infizierte.

12 Menschen, die ›Fans‹ sind schließlich, haben für „das Andere“ ausgesprochen unscharfe und mehrdeutige Bilder gewählt. Es ist klar, dass die „Unterwerfung“ unter das Andere nun temporär ist, und zwar einerseits temporär in der Biografie (damals waren wir „Arcade Fire“-Fans) und andrerseits in der Architektur des Alltags (Fan bin ich, zumindest im offenen Ritus, in der Freizeit), das heißt im Gegensatz zum Vorbild (das nur verblassen kann) und zum Idol (das in aller Regel „fallen“ muss) und zum Fetisch (der sich wieder in Gebrauchsund Tauschwert teilt) ist der Star, der Fans hat, seiner Fiktionalität gewahr. Er ist, genauer gesagt, ein Instrument der Fiktionalisierung. Objekt der Fan-Beziehung ist nicht das Angestrebte, sondern ein Ersehntes (und eben weitgehend Fiktionales), das auf einer Totalität nicht beharrt. Im Objekt des Fantums kommt das Begehren zu sich; noch mehr als ein So-sein-wollen ein So-begehren-wollen (Macht, Reichtum und Sexualität, viel mehr

haben wir leider nicht auf der Agenda, sehen wir von den Mitteln dazu ab: Stil, Können, Kraft und Geschmack).

13 Zunächst geht es um die Wahl und um die Bestimmung. Bin ich es, der wählt, wird mir Vorbild oder Rollenmodell angetragen, und welche Kräfte üben darin Zwang aus? Ist es nun, nach dem Elternhaus und der Schule, das Fernsehen oder das Internet, was diesbezügliche Vorschläge macht oder auch Verbote ausspricht? So musste es kommen: Zu alledem eine „ödipale“ Beziehung, Überwindung, Einverleibung, Ausscheidung. Auf den ersten Blick also scheint da ein durch Marktwirtschaft und Demokratie bestimmter Vorgang der Säkularisierung stattgefunden zu haben: Wie drastisch man noch am großen Vorbild scheitern konnte (wenn mich Winnetou jetzt sehen würde!), so unverbindlich bleibt die Beziehung des Fans zum Objekt seines, nun ja, „Fanatismus“. Es kommt selten vor, dass ein Fußballverein von seinen Fans enttäuscht wird, sehr häufig dagegen, dass ein Fußballverein seine Fans enttäuscht. Es scheint uns gelungen, die Mitte des Kultes zu besetzen (daher müssen wir gelegentlich die Bühne oder das Stadion „stürmen“). Aber zugleich erahnen wir eine Künstlichkeit, Ich und das Andere, beides Projektionen eines größeren Anderen?

14 Das Vorbild muss lesbar sein, das Idol vor allem mächtig bildhaft. Das Objekt der Fans ist dagegen vor allem narrativ (nach der Wahl des Diskurses und des Bildes betrifft es nun die Wahl der Erzählung). Zwischen alledem bewegt sich der Held (auch in seinen Formen als Volksheld, Kulturheld oder Working-Class-Hero); der Held verweigert sich der Übertragung dieser Funktionen, er ist weder Vorbild noch Role-Model, weder Idol noch Erfolgsmodell. (Deshalb dürfen Heldinnen und Helden scheitern, oder sie müssen es vielleicht sogar.) Deswegen helfen nur Helden, wo Vorbilder, Idole, Fetische und Stars herrschen. Nur von Helden können wir erwarten, dass sie nach getaner Erlösungsarbeit wieder ihrer Wege ziehen und uns unserer Wege ziehen lassen.

15 Aber Heldinnen und Helden sind natürlich anstrengend.

Objekt der FanBeziehung ist nicht das Angestrebte, sondern ein Ersehntes (und eben weitgehend Fiktionales), das auf einer Totalität nicht beharrt. Im Objekt des Fantums kommt das Begehren zu sich; noch mehr als ein So-sein-wollen ein So-begehrenwollen…


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Politik — Fan-werden heißt Frau-werden

Romantische Schwärmerei gegen cooles Checkertum. Wie Sexismen die Differenzierung in „weibliche“ und „männliche“ Fans dominieren. Text — S O N J A E I S M A N N

yeaababee: „Nothing Else Matters“,Metallica

Foto — I N T E R N E T

iseeboys: „Unfaithful“, Rihanna

shavNsimmo: „Wicked Game“, Chris Isaak

FAN-WERDEN HEISST FRAU-WERDEN A

ch, eine ganz schön alte Geschichte, diese hier vom Dreieck Pop–Fans–Gender. Aber immer noch auf dem Tisch, in den Heften und den Konzertsälen. Fangen wir mit einem Paradox an: Der Fan ist per se weiblich, der Connaisseur per se männlich. Oder stimmt’s gar nicht? Denken wir an die Legionen männlicher Fußballfans, an die eifrig Devotionalien ihrer Lieblingsband hortenden Jungs, an die sich begeistert untereinander austauschenden Liebhaber eines abseitigen Nischenthemas: alles Männer. In allen Altersstufen. Hochgepitcht in der Kurve, geeky im Plattenladen, von sich eingenommen in der Diskussionsrunde. Also: irgendwie emotional aufgepeitscht, parteiisch, irrational, „fanatic“ eben. Aber auch: alles Auskenner, Experten, Besserwisser. Nachdenkend, reflektierend, sachbezogen und Informationen hortend. Connaisseure eben. Denken wir dagegen an den weiblichen Fan: fast immer ein Teenager, zumindest „mental“ – erwachsenen Frauen wird, im Gegensatz zu Männern, meist nicht zugestanden, sich im fortgeschrittenen Alter noch für Insubstanzielles wie Pop zu interessieren, sie haben schließlich Wichtigeres zu tun, Familie umsorgen, Kinder pflegen –, fast immer hysterisch (klassische Bebilderung zu dieser Annahme: Fotos von kreischend zusammenbrechenden weiblichen Beatles-Fans) und vor allem eins: aus sexuellem Interesse am Thema dran. Oder aus irgendeinem anderen trivialen Grund, wie dem einer Vorbild-Funktion. Weibliches FanInteresse wird so prinzipiell lächerlich gemacht, da die angenommene romantische Schwärmerei für das männliche Idol als weltfremd und unreif und vor allem als Absenz genuinen „Fachinteresses“ gebrandmarkt wird. „Wenn du in der westlichen Zivilisation zum Fan wirst, dann musst du auch ‚zur Frau’ werden. BravoPopRocky etc. führen vor, dass Fans in erster Linie auf Jungs stehen. Musik spielt eine untergeordnete Rolle“, wusste Kerstin Grether bereits vor über 10 Jahren im Sammelband „Lips Tits Hits Power“, in dem sie eigentlich schon alles über „Fans (feminin)“ sagte und das Thema bis heute doch nicht obsolet machte. Lächerlich auch, weil die Begeisterung für weibliche Stars wie Hannah Montana, Britney Spears oder irgendeine

beliebige aktuelle All-Girl-Band nicht als Sehnsucht nach bzw. Bekundung von weiblicher Solidarität in einer immer noch männlich dominierten Welt wahrgenommen wird, in der die Alltagsrealität von Mädchen meist höchst marginalisiert widergespiegelt wird, sondern als peinliches Interesse für peinliche Stars. Oder umgekehrt: Wer so viele weibliche Fans im Teenie- und Twen-Alter hat, kann kein authentisches Role-Model und vor allem keine interessante KünstlerInnenpersönlichkeit sein. Nichts ist schließlich der„Glaubwürdigkeit“ einer Band abträglicher, als wenn sie hauptsächlich junge Mädchen als Fans hat. Siehe Tokio Hotel, die wegen dieser Gefolgschaft immer wieder ridikulisiert werden, aber siehe auch „toughe“ Rapper wie Sido oder Bushido, denen ihre hölzernen, sexistischen und homophoben Lyrics gerne aus begeistertem Jungmädchenmund zurückgesungen werden. Wer bei Musikzeitschriften arbeitet, muss gerne mal Sätze wie „Wenn die Platte nichts taugt, schenk sie doch deiner Schwester“ oder „Wer will denn schon, dass deine kleine Schwester und deine Mutter die Melodien deiner neuen Platte auswendig pfeifen“ rausredigieren – oder drin lassen, je nach ideologischer Großwetterlage. Weibliche Begeisterung wird als Negativmerkmal wahrgenommen, als Makel, den es vom Produkt möglichst fernzuhalten gilt, weil sie als unqualifiziert und emotional-romantisch vernebelt charakterisiert wird, obwohl natürlich mit genau dieser Hingabe maximaler Reibach zu machen gehofft wird. Geschlecht – und in einem gewissen Ausmaß auch Alter, entweder zu jung oder zu alt – ist hier der Abwertungsfaktor, der maßgeblich über die Aufnahme in den bzw. den Verstoß aus dem Coolness-Kanon entscheidet. Erreicht das Produkt die (junge) Schwester oder die (alte) Mutter, hat es sich aus dem eifersüchtig gehüteten, stets begrenzten Raum des „coolen Wissens“ heraus verdünnisiert bzw. vermeintlich zum „Mainstream“ maximiert und verliert somit den für den (männlichen) Fan-Nerd wichtigen Distinktions-Charakter. Wenn nicht Mutter, Schwester oder die eigene Ische als Negativfolie des Gefallens herhalten muss, wird auch gerne der „Proll von der Straße“, „die Sekretärin“ oder „die Friseuse“ bemüht, so dass das


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Politik — Fan-werden heißt Frau-werden Distinktionsgebaren auch noch um eine weitere hässliche Komponente des Klassismus erweitert wird. Auf der US-amerikanischen Website io9.com äußerte sich im Juli letzten Jahres Annalee Newitz, Mitbegründerin des linken Berkeleyer Online-Journals „Bad Subjects“, zu geschlechtsspezifischen Klischees, die sich in der Berichterstattung rund um die Comic-Con, eine große Unterhaltungsmesse in San Diego, aufgetan hatten. Das Interesse an den Themen der Convention, so die mediale Konstruktion, läge selbstverständlich und wie natürlich bei den männlichen Besuchern, Besucherinnen müssten mit dem Versprechen „heißer Jungs“ erst hingelockt werden. „Because of course, women don’t like movies. Or comics. Or TV. Or videogames. They just like cute boys“, schreibt Newitz (http://io9.com/5312056/female-fans-prepare-to-tramplemen-at-comic+con) spürbar entnervt, um gleich auf die sich daraus ergebende neue Angst von männlichen ComicCon-Fans einzugehen: „Now, at least among Comic-Con attendees, that tune is changing. It seems now that the biggest threat to Comic-Con are all the women who will be coming.“ (ibd.) Damit bezieht sie sich auf Posts des FilmBloggers Peter Sciretta, der befürchtet hatte, die (natürlich weiblichen) Fans des Vampir-Blockbusters „Twilight“ würden all die „normal people“ verdrängen, die das direkt nach der Twilight-Präsentation angesetzte Panel zu „Avatar“ sehen wollten. Tausende von „movie fanatics“ würden so durch die lästigen „Twilight fans“ davon abgehalten, die Previews zu Avatar und anderen Filmen zu sehen. So trocken wie scharfsichtig merkt Annalee Newitz zu dieser konstruierten Opposition an: „He worries that these Twilight girls will take ALL THE SEATS that should be saved for ‚movie fanatics‘ – because, apparently, people who like the Twilight movie don’t count as movie fans. Nobody who likes that silly vampire movie New Moon, full of sparkly otherworldly creatures, would ever be sophisticated enough to like the silly space movie Avatar, full of sparkly otherworldly creatures. Imagine if this New Moon panel were replaced by a panel devoted to a new Star Wars movie. Would people be screaming about all those ,fanatical‘ Star Wars fans who would undoubtedly line up all night long just to get a glimpse of George Lucas and pals?“ (ibd.) Hier wird wieder deutlich: was einem als männlich stereotypisierter Geschmack entgegenkommt, wie zum Beispiel Star Wars oder Avatar, wird als von allgemeingültigem Interesse für die „normal people“, als geschlechterneutral wahrgenommen. Die Kategorie „Mann“ ist nach wie vor die universell gesetzte Norm, „Frau“ hingegen immer nur deren Abweichung und Anderes. Wo hingegen die Rezeption gegendered scheint, also wo mehr auf vermeintlich weibliche Sensibilitäten hin operiert wird, und sei es auch in einem so reaktionären Rahmen wie einem Abstinenz-bejahenden Vampirfilm, wird ein ungesunder Exzess von Fanverhalten, eine Anormalität vermutet. Darüber hinaus ist interessant, dass die Vorstellung einer wild entschlossenen Horde sexualisierter Frauen, die doch eigentlich einen Porno-konformen Fetischcharakter haben müsste, durch die Fixierung auf ein quasi irreales Objekt der Begierde gerade nicht erotisch in einem traditionellen heterosexuellen Framework erscheint, sondern durchaus bedrohlich und unsteuerbar. Dabei tut sich hier wieder eines der vielen Paradoxe auf, die weibliche Existenz in einem angeblich post-emanzipativen Zeitalter charakterisieren: So, wie Frauen, die ihre

kleinen Kinder außer Haus betreuen lassen, nach wie vor hinter vorgehaltener Hand „Rabenmütter“ geheißen werden, sobald sie aber als Nur-Hausfrau zu Hause bleiben, als uninteressante Faulenzerinnen abgewertet werden (siehe Elisabeth Badinter, „Le conflit“, 2010); so, wie jungen Mädchen vorgeführt wird, sie müssten möglichst und in erster Linie attraktiv und sexy sein, um zu reüssieren (siehe Klums Germany’s Next Top Model et al), sie aber als Schlampe oder Dummkopf gedisst werden, sobald sie sich zu offenherzig präsentieren; genau so werden junge Mädchen auch dazu angehalten, in soziale Beziehungen bzw. einen Boyfriend statt in elaborierte Hobbys zu investieren, nur um sie als beschränkte Schwärmerinnen ohne eigene Interessen abzuqualifizieren, falls sie es wirklich tun. „Compared to boys, teenage women lack money, time, space, transport and access to equipment. They are pressurised (by commercial teen culture and their schoolfriends) to get a boyfriend. The search for romance can devour their time, better preparing them for the role of fan than for that of musician, and, even in this role, young women behave differently from young men. Male fans identify with their guitar-heroes and seek to emulate them by learning to play themselves. In contrast, female fans fantasise about sex, love, marriage and babies with their idols (Vermorel and Vemorel, 1985). Male fans buy a guitar; female fans buy a poster“, schrieb Mavis Bayton im musikologischen Sammelband „Sexing the Groove“, der 1997 von der englischen Popmusikprofessorin Sheila Whiteley herausgegeben wurde. Natürlich gibt es auch männliche Fans, die eher dem Typus des hier skizzierten weiblichen Fans entsprechen, doch die Begeisterung eines männlichen Fans für Britney Spears verhält sich meistens zur Begeisterung des weiblichen Britney-Fans so wie die der Chippendales-Zuseherin zu der eines „regulären“ Hetero-Strip-Club-Besuchers. Wenn sich Dietmar Dath schon 2003 als Buffyologe geoutet hat und so die – für ihn freilich sowieso nicht existenten – Barrieren zwischen trivial und cool eingerissen hat, so nähert sich seine Begeisterung der des geschmähten TeenageGirls an: „Ein paar enge Freunde von mir würden sich nicht schämen, wenn man über sie sagte, dass sie Buffy lieben. Ich selber wäre auch sehr einverstanden, wenn das jemand über mich sagen würde.“ (Dath, 2003). Weiter heißt es dann aber: „Wer aber ein Kunstwerk liebt, der will als Intellektueller auch Argumente dafür, warum es wert sei, geliebt zu werden.“ Genau das aber will das geschmähte Teenage-Girl nicht, und es hat auch keinerlei Bedarf dafür. Die Hingabe an den Star, oft genug als hündisch lächerlich gemacht, braucht keine Erklärung. Natürlich ist das hierarchische Element von Starverehrung wie auch ihr Produktcharakter (nicht nur) aus feministischer Sicht mehr als kritikwürdig. In der bereits zitierten Anthologie „Lips Tits Hits Power“ erklärt (Ex-)Riot Grrrl Kathleen Hanna, selbst zum Star wider Willen avanciert, sie glaube, „ein zentraler Aspekt des Konzepts ‚Star’ zielt darauf ab, Menschen auseinanderzudividieren. Stars sind Übermenschen. Alle sollen dem folgen, was sie tun“, weswegen sie selbst ganz bewusst versucht habe, das „Autogrammritual zu durchbrechen“. Auch der Kulturalismus der 1990er Jahre, der euphorisch davon ausging, Fans würden als kritische KonsumentInnen durch ihre Begeisterung zu eigenen kreativen oder kollektiven Hochleistungen beflügelt, wird heute meist nur noch müde belächelt. Gekauft. Aber darum geht es – hier zumindest – eben nicht wirklich. Sondern schlicht darum, die immer noch intakten strategischen Sexismen in der doppelzüngigen Bewertung von weiblichem und männlichem Fantum bloßzulegen – und sie als das zu zeigen, was sie sind.


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Politik — Fan-werden heißt Frau-werden

TheAminaTube: „Baby“, Justin Bieber feat. Ludacris

ExtraChapstick: „If I were a Boy“, Beyoncé

amysings14: „She’s the One“, Robbie Williams

mledawn14: „Until the End of Time“, Justin Timberlake

petateuh: „Two Hearts“, Kylie Minogue

bri3jet: „Until the End of Time“, Justin Timberlake

LeyleFelfel: „I believe I can fly“, R. Kelly

hitmanbreakeroftheye: „Bad Romance“, Lady Gaga

missOMGlikeDuh: „Boulevard of broken Dreams“, Green Day

PauloSousaYT: „Poker Face“, Lady Gaga

amycolalella: „Mockingbird“, Eminem

MusiCMaNKameleoN: „Womanizer“, Britney Spears

bradleyvoorheesjams: „Take a Bow“, Rhianna

weezerhottie36: „The KKK took my Baby away“, Ramones

Christian0826MiT: „Did it again“, Shakira

mcguff87: „Toxic“, Britney Spears

swinglefinger: „She‘s not me“, Madonna

Tajooo14: „T.N.T.“, AC⁄DC


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Politik — Umsturz in Kirgistan

Foto — M A X Z E R R A H N

UMSTURZ IN KIRGISTAN Was keiner der Experten wusste: Den Kirgisen wurde ein Floh ins Ohr gesetzt. Die einzig wahre Theorie über das Land vieler Namen. Text — T H O M A S E B E R M A N N

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m Auswärtigen Amt werden Beamte, die sich in langen Dienstjahren verschlissen haben, vor die Alternative gestellt, sich frühverrenten zu lassen oder einfach nur aus dem Fenster zu gucken, oder an einer Expertise über Kirgistan zu arbeiten. Redakteure, die von der nächsten Verschlankung ihres Ladens garantiert betroffen sein werden, müssen sich Zeilen zum Umsturz in Kirgistan abringen, die sie von sogenannten Denkfabriken abkupfern, an deren Rändern verzweifelte Menschen sich abmühen, der drohenden Akademiker-Arbeitslosigkeit zu entgehen. Eine Studie zum Beispiel hat Eva Niepagenkemper für das BICC, das Bonn International

Center for Conversion, verfasst; sie „arbeitet als studentische Hilfskraft von Dr. Andreas Heinemann-Grüder im Rahmen des Projekts …“. Studentische Hilfskraft, so viel zum Stellenwert Kirgistans in der Weltpolitik. Ermittelt wird meist, das System sei korrupt, die Menschenrechte missachtet, der Staatschef „autokratisch“ – und die Energiepreise wurden kürzlich erhöht, was das Volk erzürnte. Allgemein ist die Sorge, die frühe Anerkennung der neuen Machthaber von Kirgistan durch Russland lasse auf dessen Einmischung schließen, aber beruhigend wird hinzugefügt, die große Militärbasis der USA stehe nicht zur Disposition, weil Kirgistan auf diese Mieteinnahme, die kürzlich drastisch erhöht wurde, gar nicht verzichten kann. Schon wegen der Armut, die das Land auf dem beschissenen Rang 110 des „Human Development Index“ einsortiert. Wahrscheinlich stände es eine Nuance besser in dieser Tabelle, wenn die Gelder, die auf den Drogenschmuggel-Pfaden verdient werden, ins Bruttosozialprodukt eingerechnet werden würden, aber das geht selbstverständlich nicht. Sonst weiß man noch von allerlei schwelenden Konflikten, dem immer noch strittigen Grenzverlauf zu Usbekistan und – natürlich! – den vielen Ethnien, die bekanntlich schlummernder Sprengstoff sind: Kirgisen, Usbeken, Russen, Dunganen, Uiguren, Ukrainer, Tadschiken, Tartaren, Kasachen und viele andere mit ganz eigenen Volkstänzen, Sitten, Trachten und Gebräuchen. Nur die „Kirgisistandeutschen“, einstmals 100 000, sind jetzt fast alle nicht mehr dort, sondern hier.

Während die Ethnien gut erforscht sind, besteht in Deutschland Uneinigkeit, wie der Staat, den sie bevölkern, heißt. Die meisten Zeitungen präferieren Kirgistan, gut im Rennen ist Kirgisistan, die „taz“ und andere Außenseiter halten verbissen an Kirgisien fest. Zu erläutern, warum das so ist, schenke ich mir. Ich will ja meine ganz eigene Theorie, warum es zu den blutigen Unruhen kam, kommt und immer wieder kommen muss, erläutern: Den Kirgisen ist ein Floh ins Ohr gesetzt worden! Ein Anspruchsdenken! Eine Begehrlichkeit! Das geschah im Januar 1998, als der Präsident, der von jenem gestürzt wurde, welcher jetzt gerade gestürzt wurde, der „Welt“ ein Interview gab. Er sagte: „Es stimmt, dass die Schweiz und Kirgistan Ähnlichkeiten haben. Beide liegen in der Tiefe des Kontinents, sind von geringer Fläche und mit hohen Bergen bedeckt, haben kaum Bodenschätze und nur wenige Einwohner. Allerdings sind die Unterschiede nicht zu übersehen, aber so zu werden wie die Schweiz, ist unser großer nationaler Traum. (…) Wir bauen auf die junge, gut ausgebildete Generation, die fähig ist, moderne Technologien zu beherrschen und Wohlstand zu schaffen.“ Das hat sich natürlich in Kirgistan schnell rumgesprochen, wie ein Lauffeuer: Der Präsident hat versprochen, wir werden wie die Schweiz! Und wenn das nicht kommt, dann eben blutige Unruhen. Gut, kann man einwenden, unrealistische Erwartungen sind kein kirgisisches Unikat. Im Hamburger Schanzenviertel zum Beispiel liefen vor ein paar Jahren, als die New Economy zu


Politik — Umsturz in Kirgistan, „Bist Du ein Star?“ boomen schien, Hunderte von Computerfachleuten rum, die Bill Gates den Rang ablaufen wollten. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls, seit die Kirgisen glauben, es ginge ihnen bald wie den Schweizern – souverän missachtend, dass bei Mangel an Bodenschätzen schon Industrie, Produktivität, Infrastruktur, Maschinenlaufzeit, Lohnstückkosten stimmen müssen, wenn man in der Weltmarktkonkurrenz keine Null sein will –, werden dort Regierungen gestürzt. Selbstredend nur, wenn Volkes Zorn sich zeitgleich artikuliert mit Überlegungen in Führungen von Militär und Polizei, man müsse mal eine andere Clique die Staatsgeschäfte führen und die nächsten Wahlen fälschen lassen. Als Besonderheit sei noch erwähnt, dass die Kirgisen nur eine höchst ungefähre Vorstellung von der Schweiz haben. Das bewiesen sie, als sie vor fünf Jahren ihren damaligen Umsturz „Tulpenrevolution“ nannten. Tulpen!

Das ist doch Amsterdam und nicht Zürich. Aber Holland liegt gar nicht in der Tiefe Europas, sondern am Rand – und hat auch keine hohen Berge. Pauschal sei festgestellt, und das ist historisch bewiesen: Alle Staaten, die wie die Schweiz sein wollen, werden nicht glücklich. Uruguay wollte mal die Schweiz Lateinamerikas sein. Der Libanon galt als die Schweiz des Nahen Ostens. Man weiß ja, was da jetzt los ist. Einigermaßen geht es nur der „Holsteinischen Schweiz“, das ist die Gegend um Plön, Eutin und Malente. Aber wohnen möchte man da auch nicht. Damals, als die Kirgisen noch in einer ziemlich lausigen Provinz der Sowjetunion lebten – lausig, aber besser als heute – und ich nicht wusste, dass es sie gibt, fehlte ihnen, sagt man, etwas: Die Unabhängigkeit, die Nation, der Stolz. Geschenkt; sei ihnen gegönnt. Sie mögen stolz sein auf die Taten ihres mytho-

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logischen Helden Manas, der im 10. Jahrhundert im Kampf gegen die Uiguren die kirgisische Freiheit bewahrte. Meinetwegen auch stolz auf die drei olympischen Medaillen, die sie seit der Unabhängigkeit errangen (einmal Silber – Ringen, zweimal Bronze – Ringen und Judo). Aber, um das ein letztes Mal klarzustellen: Drei Medaillen, da hat der Schweizer Skispringer Simon Ammann alleine mehr – und zwar goldene. amSTARt, Jungle World, OPAK veranstalten: Erich Mühsam – Lesung und Konzert. Mit: Harry Rowohlt, Thomas Ebermann, Frank Spilker, Knarf Rellöm, Manuel Schwiers. 21.05.2010 Berlin / Festsaal Kreuzberg 22.05.2010 Wiesbaden / Schlachthof (präsentiert von taz und INTRO)

„BIST DU EIN STAR?“ Gedanken von Knarf Rellöm Text — K N A R F R E L L Ö M KNARF: Hallo Patex! Du hast mit deiner Gruppe School of Zuversicht gerade eine Platte bei Pingipung veröffentlicht. Du gehst auf Tournee, spielst in vielen Städten. Bist du ein Star? PATEX: Nein. Das Wort wäre für meine Person vermessen. Ich bin eine Musikerin. KNARF: Ich weiß von z.B. Tocotronic und Fettes Brot, dass die sich auch niemals als Stars bezeichnen würden. Wenn selbst die, auf die es zutrifft, sich nicht so bezeichnen, brauchen wir den Begriff dann überhaupt noch? Sollten wir ihn nicht einfach abschaffen? PATEX: Wir brauchen den Begriff „Star“, um Phänomene wie DSDS zu beschreiben: Da gibt es etwas, auf das scheinen alle anderen zu gucken und deswegen will man es auch sehen, will dabeisein, zuerst als Fan und dann eventuell auch selber als Star. Es geht um den Gewinn von Distinktion, indem man zeigt, informiert zu sein, indem man sich für „seinen“ Star entscheidet und einsetzt, gegen die anderen. — Die Vorgänger der Stars sind die Genies des 19. Jahrhunderts, die Schriftsteller, Musiker und Maler, die ihr Metier beherrschen, die Auserwählten, die von den Göttern geküssten. Im 20. Jahrhundert wird das Genie langsam abgelöst

Foto —

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von den ersten Stars, die sich in den neuen Medien tummeln: Stummfilm, Film, Platte, Radio, frühes Fernsehen, Jazz, Chanson. Allerdings befinden sich diese Stars noch in der Genietradition. Marlene Dietrich und auch später Jimi Hendrix und die Beatles müssen noch etwas können, oder besser: Ein Produkt abliefern. Dann kommen Andy Warhol und Punk und stellen einerseits Genie und andererseits Handwerk in Frage. Letztlich hat Andy Warhol DSDS vorausgesagt: „In the future everyone will be world-famous for 15 minutes.“ Früher war der Gedanke: Du kannst ökonomisch erfolgreich sein, Kapitalist sein, wenn du dich anstrengst. Aber um Star zu sein, brauchte man ein Talent.

Heute ist der Gedanke: Du musst nur hart an dir arbeiten, dann schaffst du’s auch zum Star. Die harte Arbeit ist, du selbst zu sein. Ein Paradox. Die Persönlichkeit ist ein Steinbruch in den du bis zum Kern vordringen musst, alles aus dir herausholen, authentisch sein. Gleichzeitig ist diese Arbeit zutiefst inhaltsleer, unpolitisch, unsozial. Wer will da schon Star sein? Bernadette La Hengst, GUZ und Knarf Rellöm sind Die Zukunft: Ihr Debütalbum „Sisters & Brothers” erscheint am 30. April 2010 bei Trikont/Indigo School of Zuversicht: „Randnotizen from Idiot Town” ist bereits bei Pingipung/ Kompakt erschienen


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M

Musik — Bewundern? Muss man immer das Andere

Thomas Meinecke, geb. 1955 in Hamburg, lebt seit 1994 in einem oberbayerischen Dorf. Er ist Schriftsteller, Musiker (FSK) und DJ. Zuletzt erschienen die Romane „Musik“ und „Jungfrau“ bei Suhrkamp.

Musik

Klaus Walter, geb. 1955 in Frankfurt, lebt dortselbst. Er schreibt zu Popkultur, Sport und Politik. Von 1984 bis 2008 DJ der Sendung „Der Ball ist rund“ im HR. Seit 2008 Mitarbeiter des Internetradios ByteFM, das den Grimme Online Award 2009 erhielt.

Text — T H O M A S M E I N E C K E , K L A U S W A L T E R

Bewundern?

Muss man immer das Andere Thomas Meinecke und Klaus Walter diggen (nicht) im Ungefähren


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Musik — Bewundern? Muss man immer das Andere

Foto — C A N D I C E B R E I T Z


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Musik — Bewundern? Muss man immer das Andere

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s ist nicht leicht mit der Bewunderung. Wie entsteht sie? Was hält sie am Leben? Was macht sie aus? Was läge näher, als Thomas Meinecke und Klaus Walter zu befragen. Kritiker, Autoren, DJs, vor allem aber eines: Fans bei allem, was sie tun. Wort ab. Klaus Walter: Meine Vorlage wäre ein Nachdenken über kindliche Formen der Bewunderung. Ein Foto des verschwitzten Paul McCartney, das mich als 9-Jähriger, wie ich heute weiß, auch sexuell angeregt hat. Die große Bewunderung für den Fußballer Stan Libuda, die mit seinem unmännlich-melodischen Nachnamen zu tun hat, aber vor allem mit seinen Dribblings.

Vorige Seite: Stills from Queen (A Portrait of Madonna), 2005 Shot at Jungle Sound Studio, Milan, Italy, July 2005 30-Channel Installation: 30 Hard Drives Duration: 73 minutes, 30 seconds Ed. 6 + A.P.

Dribblings, die bejubelt wurden, wenn sie gelangen. Die aber als brotlose Kunst eines unreif-verspielten Kindes verurteilt wurden, wenn nicht. Beide Bewunderungsszenen spielten im Grenzbereich zwischen homosozial und homosexuell – natürlich, ohne das zu wissen beziehungsweise Worte dafür zu haben. Die Frage wäre: Wie wirken diese Urszenen der kindlichen Bewunderung bis heute nach? Verläuft Bewunderung bis heute nach solchen Mustern, ist das die Matrix der Bewunderung? Dessen, was wir später Fan-Sein nennen, weshalb wir bis heute Fan-Sein verteidigen gegen Nicht-mehr-Fansein-wollen/können, weil sich das mit dem Erwachsenwerden erledigt. So etwa. Thomas Meinecke: Ich hab ja den Sprung vom Homosozialen zum Homosexuellen nie vollzogen. Daher wahrscheinlich meine heutige größte Bewunderung kultureller Errungenschaften aus dem sexuell andersdenkenden, sprich: schwulen Untergrund. Obwohl: ,sexuell andersdenkend‘ würde ich für mich auch reklamieren, das kommt aber über die Schule der Frauen, Feminismus sozusagen, mit dem ich meine eher emotionale Affinität für Camp untermauern konnte. Wie auch immer, ich erinnere mich in erster Linie an Schallplattenhüllen, wenn ich an frühe Momente der Bewunderung denke. Singles-Hüllen von den Grabbeltischen(!), weil ich mir von meinem Taschengeld nur von Anderen missachtete Ausschussware für 1 Mark leisten konnte. Das waren dann teilweise Popsängerinnen im fortgeschrittenen Alter von - sagen wir mal - 30 Jahren, die mich auch irritierten, wie sie da mit einem Telefon auf einer sogenannten Tagesdecke lagen. Bewundert im eigentlichen Sinn habe ich diese weiblichen Figuren sowieso nie, eher begehrt. Bewundert dann wahrscheinlich doch eher infrage kommende Role-Models, also Männer. Da ich bis mitten in die Pubertät in der Regel für ein Mädchen gehalten wurde, was ich bedrohlich fand, bewunderte ich so HippieGestalten mit Rauschebärten, virile Kapitänsgesichter wie in The Band. So wollte ich mal werden. Und meine Eltern hatten mich deswegen auch in einen Ruderclub gesteckt. Aber als 10- bis 14-Jährigem hatten mir auch effeminierte Carnaby-Street-Stereotypen als Vorbild gedient. Heute haben ja auch Vollbärte eine irgendwie feminine Qualität. KW: Kann man als kleiner Junge überhaupt Frauen bewundern? Vor der Pubertät? In meiner Kindheit war das glaube ich nicht möglich. Ich habe durchweg Männer bewundert, die eindeutig andere Männer waren als mein Vater. Uneindeutige Männer. Ich erinnere mich sehr genau, wie mich die virilen Kapitänsgesichter von The Band irritiert haben, auf dem Cover mit den Brauntönen, als kämen sie direkt aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Männer

mit dem Staub der Etappe in den Klamotten, bärtig nicht aus Hippiemotiven, Seemänner, Bauern, Krieger. In diesen Männern sah ich keine Hippies, keine Bundesgenossen, sondern Gesandte aus einer mir unbekannten Welt, dem weird old America von Greil Marcus: zu viele old folks, zu viel down home, ein old down home, das ich zu sehr mit dem home meiner Vorstadtheimat in Verbindung brachte, um es als attraktive Option zu begreifen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich The Band kapieren konnte – und ein wenig bewundern. Die Eine-Mark-Singles gab’s bei mir auch, allerdings ohne Cover in einem Elektrogeschäft. Meine wichtigste Quelle war aber das Radio. Und die Bravo. Meistens las ich von neuer Musik in der Bravo, bevor ich sie im Radio hörte, d. h., meist sah ich Fotos von neuen Bands/Acts in der Bravo, bevor ich sie hörte. Es war gar nicht mehr so wichtig, die Musik tatsächlich zu hören. Mein Urteil stand schon fest, die Kombination aus Wort und Bild in der Bravo genügte, um mich ins Schwärmen zu bringen, ich hörte die Bilder, hörte, was ich hören wollte. Das Schwärmen wollte ich mir von den musikalischen Fakten nicht verderben lassen. Kindlicher Widerstand gegen die normative Kraft des Faktischen, väterlich Faktischen. Fluchtpunkt Pop. Zwischen circa 9 und circa 14 führte ich eine Art Poptagebuch. Da schrieb ich jeden neuen Song, der im Radio lief, rein und gab ihm Noten, mal Schulnoten, mal Punkte von eins bis zehn. Dann schrieb ich Charts mit, Radiohitparaden oder die amerikanischen Top 10, wie sie im AFN präsentiert wurden. American Forces Network gilt mein ewiger Dank, kurzgeschorene Soldaten in Uniform, die antimilitaristische Langhaarigenmusik in mein Kinderzimmer senden. Der Modus der Bewunderung ist der Modus des fanhaften Schwärmens, des Imaginierens. Um mal aus der Kindheit rauszukommen: Wie viel von diesem Modus hat sich bis heute gehalten? Wie viel konservieren wir – ich meine jetzt tatsächlich du und ich in unseren konkreten Praxen – wie viel Schwärmen konservieren wir taktisch, um uns von den frühvergreisten Actyour-age-Nichtschwärmern abzugrenzen? Alterslose ever changing dudes – ist das ein tragbares Modell? Kann ich meinem Schwärmen für Burial trauen? Oder ist das strategische Bewunderung? Dubstep allein zu Haus, geht das? Wie valid und sozialisierbar ist die Bewunderung für Burial? Und wie geht das: Bewunderung für Burial? Anonyme Bewunderung, Bewunderung des Anonymen?

„Kerar“ Still from King (A Portrait of Michael Jackson), 2005 Shot at UFO Sound Studios, Berlin, Germany, July 2005 16-Channel Installation: 16 Hard Drives Duration: 42 minutes, 20 seconds Ed. 6 + A.P.

TM: Klar, Frauen bewundern ist ganz schön komplex. Eigentlich ahmte ich aber bereits diverse Züge meiner großen Jugendliebe nach (den Kapitänsbart zu erlangen, habe ich nie wirklich probiert). Seit fünfzehn Jahren bewundere ich glamouröse Wissenschaftlerinnen wie Silvia Bovenschen, Judith Butler, Barbara Vinken. Auch Elfriede Jelinek zu bewundern, fällt mir leicht. Wahrscheinlich habe ich auch als Jugendlicher schon sogenannte komplizierte Frauen wie Anaïs Nin (über die ich bei Miller las, dessen enigmatische Frau June in meinem Jugendzimmer neben dem Poster Bix Beiderbeckes hing) bewundert. Als männliche Vorbilder hätten da wahrscheinlich nur schwule Hysteriker zur Verfügung gestanden. Vor diese Wahl gestellt, entschied ich mich eher für das Vorbild heterosexuelle Frau (anstatt homosexueller Mann): Mann, ist das kompliziert! British Sector, Hamburg: Die Mods am Mönckebergbrunnen waren für mich Role-Models (und zwar beiderlei Geschlechts). Die Hippies nicht mehr. Erst wieder Poser wie Bryan Ferry, James Osterberg, James Chance. Dann fallen mir konkrete männliche Vorbilder aus den letzten Schuljahren ein: Poeten, Schriftsteller, Filmemacher, RAF-Chauffeure, Drogenhändler aus einem subkul-


Musik — Bewundern? Muss man immer das Andere

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Noch heute ist das Fan-Sein das Größte am Genuss von Pop. Ich bin Fan von Jens Friebe und Scott Matthew. Ich kaufe mir in der Drogerie jede neue CD von Shakira und Mariah Carey, weil ich jedes Mal etwas Großes, Unerhörtes, eine Überraschung erwarte. Von Kode 9, Georgia Anne Muldrow oder Flying Lotus natürlich auch. Von Timmy Regisford, selbst von Jerome Sydenham wird jede 12-Inch gecheckt. Von Timbaland nicht mehr, hat aber viel Spaß gemacht, die fortgeschrittenste Baustelle des Pop inmitten der Hitparaden entdecken zu können. Ich war erleichtert, als mir die CD von Delphic gefiel. Ich sehe es oft als eigenes Versagen an, wenn mir etwas nicht liegt. Wenn das mal weg sein sollte, kann ich mich gleich der Zeitlosigkeit, dem bekannten Rückzug auf die sogenannte Avantgarde, der zurzeit forcierten angeblichen Fusion von Klassik und Club widmen (wer hat die eigentlich heraufbeschworen?).

Die Lektüre kluger Texte über Ayler und Mingus bringt mich regelmäßig dazu, es noch mal mit der Musik zu versuchen. An der ich regelmäßig scheitere. Ich beschließe, Ayler und Mingus und all die anderen weiterhin zu bewundern, ohne ihre Musik zu verstehen. Also verstehen, wie ich einen Popsong der Box Tops seit vierzig Jahren verstehe. Da brauche ich keine Selbsttäuschung, das klappt sofort. Allerdings ist da weniger Bewunderung im Spiel, im Sinne von: zu jemandem aufschauen. Da kommt, lieber Thomas, wieder die Klassenfrage ins Spiel. Wenn ich sage, dass ich Jazz nicht verstehe, ist das – unter anderem – auch ein Kokettieren mit der nicht vorhandenen kulturellen Frühausbildung im kleinbürgerlich-proletarischen Elternhaus. Da gab’s keine Musik, außer aus dem Radio. Bix Beiderbecke ist mir nicht begegnet. Ravel und Mussorgsky ebenso wenig. Bis heute nur in Gestalt der Craig/von Oswald-Rekonstruktionen im Deutschen Grammophon-Paket, ein Eckpunkt der ClubKlassik-Fusion, die du ansprichst. Wenn ich den hohen Ton höre/lese, mit der diese Fusion wie auf Kommando von allen Seiten gepriesen wird, dann kann ich auf der Stelle zum trotzigen Früh-Teenager werden, der sein Leben lang Box Tops hört. Und Blue-Eyed-BubblegumSoul vom amerikanischen Fließband. Gehört im amerikanischen Soldatenradio. Wenig später kommt aus dem selben Radio weniger fließbandhafte Musik mit anderen Texten aus Amerika, die den Jugendlichen lehrt, das Fließband mitsamt dem Kapitalismus, für das es rollt und den Waren, die es produziert, abzulehnen. Amerikanische Popware macht den 12Jährigen zum Antiamerikaner, weil es ja irgendwie eindeutig sein muss. Dem Jungen wird eine Dichotomie implementiert, die - als Struktur – für Jahrzehnte Bestand haben wird: kommerziell vs. progressiv. Kommerziell ist Bubblegum, Country, Bacharach und vor allem: Soul, Motown insbesondere. Progressiv ist: Doors, Steppenwolf, Iron Butterfly, Buffalo Springfield. Beide Strömungen koexistieren im Top-40-Radio von AFN. Weshalb ich jeden Hit der Supremes, Four Tops, Temptations, Stevie Wonders und Marvin Gayes aus 1965-69 wirklich in- und auswendig kenne, ebenso jedes „Walk on by Raindrops keep falling I´ll never fall in love again“, und hasse, kommerzielle Scheiße, amerika-unkritisch. So, und jetzt zurück zur Bewunderung und zum Ende des jugendlichen Antiamerikanismus. Soul und Bacharach sind via AFN implementiert, eingebrannt lebenslang, aber negativ besetzt. Es brauchte eine Bewunderungs/Fan-Struktur, um mir meine Liebe zu dieser Musik zu gestatten. Über Punk, Modpunk, The Jam und Costello, fange ich wieder an, diese Musik zu hören. Die beziehen sich positiv auf Stax, Motown usw. und geben mir die Erlaubnis, das gut zu finden. Komisch, dass auch der junge Erwachsene Idole braucht, um das Verdrängte und Geächtete zuzulassen. Autoritäre Struktur. Just my imagination.

KW: Du schreibst: „Ich sehe es oft als eigenes Versagen an, wenn mir etwas nicht liegt.“ – Resultiert daraus nicht auch die Bereitschaft zur Selbsttäuschung? Dass man sich dazu überredet, etwas gut zu finden, damit bloß nicht die Fähigkeit zur Bewunderung verschwindet und mit ihr eine Daseinsberechtigung im Universum Pop? Ich sehe es bis heute als Versagen an, dass ich Jazz nicht verstehe.

TM: Gar nicht so einfach zu beantworten, die sogenannte Klassenfrage. Meine Eltern hatten noch kein Auto, waren eher ein Studentenhaushalt, eine WG eigentlich, und arbeiteten zum Beispiel nachts in Fabriken, als sie meinem kleinkindlichen Gemüt Cool Jazz einflößten – was mich wahrscheinlich für die Signale von Mingus und Ayler, die ich mir beide erst viel später erarbeiten musste, empfäng-

„Andrew“ Still from King (A Portrait of Michael Jackson), 2005 Shot at UFO Sound Studios, Berlin, Germany, July 2005 16-Channel Installation: 16 Hard Drives Duration: 42 minutes, 20 seconds Ed. 6 + A.P.

turellen Café („Kaffeestube“). Ich saß dort, las Rimbaud und Stirner, beäugte diese rund zehn Jahre älteren Heroen, die eine Zeitschrift namens „Boa Vista“ herausgaben. Später, als ich mein eigenes Magazin und meine eigene Band hatte, sah ich sie in Hilka Nordhausens „Buchhandlung Welt“ wieder. Waren also schon die Richtigen gewesen. Bix war ja schon 1931 gestorben. Darüber wirst du wieder schmunzeln, Klaus, dass ich einen scheuen Kornettisten des frühen (Modern) Jazz an meiner Wand hängen hatte. Dann lernte ich einen kennen, der mal bei Zadek in Bochum eine Nebenrolle hatte spielen dürfen. Grenzenlose Bewunderung.

Mein Urteil stand schon fest, die Kombination aus Wort und Bild in der Bravo genügte, um mich ins Schwärmen zu bringen, ich hörte die Bilder, hörte, was ich hören wollte. Das Schwärmen wollte ich mir von den musikalischen Fakten nicht verderben lassen. Kindlicher Widerstand gegen die normative Kraft des Faktischen, väterlich Faktischen.


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Musik — Bewundern? Muss man immer das Andere

lich machte. Jazz zu verstehen, ist ja ein komplexer, aber eben gar nicht bürgerlicher Bildung, sondern eher einem non-verbalen, nicht-akademischen Verstehen (to dig!) verpflichteter Prozess. Als ich mein erstes Radiointerview in den frühen 1980er Jahren ausgerechnet mit Sun Ra führte, hätte mir allenfalls die postkoloniale Sonic Fiction, wie sie Jahrzehnte später bei Kodwo Eshun beschrieben war, helfen können, aber ich verstand (diggte) auch so auf Anhieb, dass dieser Mann auf dem Saturn geboren war.

„Rico“ Still from King (A Portrait of Michael Jackson), 2005 Shot at UFO Sound Studios, Berlin, Germany, July 2005 16-Channel Installation: 16 Hard Drives Duration: 42 minutes, 20 seconds Ed. 6 + A.P.

Ich denke auch nicht, dass in dem, was ich als Versagen vor dem Neuen anzudeuten versuchte, eine Art Angst vor dem Alter(n) zu sehen ist, denn solche Lernprozesse begleiten mich, seit ich circa 15 Jahre alt war. Darüber konnte ich mich vor ein paar Jahren sogar in einem Gespräch mit dem viel jüngeren Stuckrad-Barre einigen: In was für eine helle innere Aufregung einen die Begegnung mit dem Neuen, noch nicht Verstandenen, versetzen kann. Und wie auch später die Begeisterung für das nun Verstandene von einer Art Trauer um den dann verlorenen Moment, wo einen der entsprechende Lärm zum ersten Mal getroffen hatte, umflort wird. Die splitternde, non-musician-eske Gitarre bei den Velvets, Sun Ra am Moog-Synthesizer, die tausend Plateaus in frühen Roxy Music-Aufnahmen, Washing Machine von Larry Heard, die frühen Beats der Neptunes. KW: Die sogenannte Klassenfrage ist keine sogenannte, das sagen nur diejenigen, die die Existenz einer Klassengesellschaft leugnen.

dem Himmel, der Sonne – Streckendes, eine prästabilierte Harmonie der Bewunderung, aus der nie Kontroverse resultierte, immer nur raunende Zustimmung. Diggen im Ungefähren. Das muss man genauso kritisieren wie die Kritik am Fan-Sein von Leuten, die für sich in Anspruch nehmen, aus dem Fan-Alter raus zu sein und mit einer habituellen Äquidistanz zu allem und jedem durch die Welt zu laufen. Und das für erwachsen halten. The dialektik, stupid. Bewundern? Muss man immer das Andere.

Diggen. Schöner Begriff. Aber braucht es zum Diggenkönnen nicht ein entsprechendes Selbstbewusstsein (Klassenbewusstsein?), das einem die Angst nimmt, das Falsche zu diggen? Sun Ra diggen? „… aber ich verstand (diggte) auch so auf Anhieb, dass dieser Mann auf dem Saturn geboren war“, schreibst Du. Da wäre ich wieder skeptisch. Ist da nicht ein Konformismus des Diggens, des Bewunderns, im Spiel, einer, nach dem man sich darauf einigt, dass Sun Ra so toll ist, weil er vom Saturn kommt. Und wo du Eshun erwähnst. Die allgemeine Bewunderung für sein Buch war mir auch suspekt, obwohl ich ihn immer gegen Faktizisten- und Down-toEarth-Spießer verteidigt habe. Die Eshun-Verehrung hatte etwas Religiöses und dabei sich ehrgeizig nach der Decke –

/J. B, Jenna Brinning

Redaktionell gekürzte Version. Mehr über Eshun, Dylan, Badu, Metal, Jugendlieben als extended version im Netz auf wwww.opak-magazin.de

TM: Diggen im Ungefähren: mein Ding! Und natürlich ist der Klassenunterschied ein sogenannter, - sonst gelangte man ja nie zur politischen Praxis! Eine Frage, die mir beim Überfliegen unseres Wortwechsels noch kam: Bewundern (emulieren) Drag Kings eigentlich sogenannte Männlichkeit? (Aber ich muss jetzt schließen, nämlich abreisen, und danach ist die Opak-Deadline bereits überschritten. – Wir könnten ja in der nächsten Nummer weitermachen.)

SEX UND HAUSHALT

Über ein dermatologisches Refugium

Meiner alten Freundin Leonie lief ich neulich über den Weg. Ihre äußere Erscheinung hatte ich schon immer bewundert, aber jetzt glich ihr Teint eher einem Blatt grobkörnigen Schleifpapiers. Pummelig war sie auch geworden. Passend zum Motto der Generationen X, Golf, Boomerang und Umhängetasche – Mitte dreißig ist die neue Pubertät – hatte sie einen schweren Fall post-adoleszenter Akne entwickelt und wurde auf die Pille gesetzt. Als Single mit Gesichtsausschlag kommt es dann auch nicht mehr auf die inneren Werte an. Mit 97 Pickeln mitten in der Fresse bist du ein Outcast. Die Nachbarn halten ihre Kinder von dir wegen Pockenansteckung fern und niemand will dir beim Essen gegenübersitzen, geschweige denn mit dir knutschen. Sogar deine Skype-Kontakte gehen offline, wenn du auftauchst. Acne vulgaris geht eben meist mit Isolation und einem Dasein im Zölibat einher. Umso erstaunlicher dann, dass Leonie trotzdem um die fortlaufende Pflege ihrer vielen Affären bemüht war, wenn auch ausschließlich nur noch nach Sonnenuntergang und mit entsprechendem Abdeckstift zugespachtelt. Naja, bis sie mit den Hormonen gemästet wurde. Seitdem hat sie zwar einen Superbusen bekommen, aber sie interessiert sich nur

noch für die – vornehmlich kakaohaltige – Nahrungsaufnahme. Während Germany sein next Topmodel sucht, recherchiert Leonie allabendlich nach dem nächsten Toprezept für Schokoladenfondue. „Ich habe die ganzen Typen eh ständig durcheinandergebracht und brauche jetzt Zeit für mich“, sagte sie zur Verteidigung ihres Libidoverlustes und wachsenden Enthusiasmus für Fernsehkochsendungen. „ONS sind okay, aber ich bin wohl nicht der Typ für Affären“, fuhr sie fort. „Ich kann nicht wiederholt mit jemandem schlafen, den ich nicht bewundere.“ Ich nickte ihr zu. Es ist leicht, sich für eine Stunde, eine Nacht oder eine Woche zu verlieben. Die Bewunderung ist meist eine kurzlebige Leidenschaft. Wird sie nicht fortlaufend mit neuen, positiven Entdeckungen genährt, verfault sie schneller als eine frische Tube Benzoylperoxid. Wird sie es aber doch, so hat man die Basis für den besten Schokoersatz überhaupt: eine feste Partnerschaft.

Jennas Haushaltstipp: Putzfrau anheuern und spazieren gehen. Frische Luft tut Haut und Hormonen gut.


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Musik — We Have Band

WE HAVE BAND

Text — J A N S C H I M M A N G

Das bisschen besser

rei Freunde, eine Ehe, unzählige Live-Shows und das Debütalbum: We Have Band aus London referenzieren wie so viele den Pop-Appeal der cleanen Achtziger – und klingen trotzdem angenehm anders. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Dede, Thomas und Darren soweit waren, dass sie ihr erstes Album veröffentlichen wollten. „Wir hatten es fertig geschrieben, aber wir haben uns entschieden, erst ausgiebig zu touren, bevor wir es final einspielen. Im Gegensatz zu anderen Bands, die ihr Album raushauen, bevor sie es live gespielt haben. Während des Tourens haben sich die Songs weiter entwickelt“, erzählt Thomas. Normalerweise müsste man erklären, welchen Part er bei We Have Band übernimmt. Doch die drei funktionieren als Personalunion, jeder macht scheinbar alles, vom Gesang bis zur Percussion. „Ich denke, dass es wichtig ist, dass dich die Leute von der Bühne kennen, bevor du etwas veröffentlichst. Klar, sie könnten dich aus Magazinen kennen, auch okay. Aber wenn sie dich live gesehen haben, ist das eine echte Erfahrung“, analysiert Darren. Schon vor zwei Jahren gab es einige ihrer Songs als Free-Download im Netz, sie begeisterten Blogs und warfen eine Frage auf: Woher nimmt diese Band ihre beeindruckende Akribie? Jede Note sitzt, jedes Visual ist stimmig, jede Bewegung passt. We Have Band verstehen ihre künstlerische Ästhetik als Gesamtkonzept, fast schon im Sinne einer Corporate Identity, vom Artwork bis zum Video-Clip. „Man könnte behaupten, dass dies der Tatsache geschuldet ist, dass wir nie viel Geld hatten“, erklärt Darren. „Den Grafiker Sam Ashby lernten wir über Tom Ellis kennen, der unser erstes Video „Oh“ gedreht hat. Wir arbeiten nicht gerade mit den bekanntesten und teuersten Künstlern zusammen. Aber mit denen, deren Ideen wir vertrauen“, resümiert Thomas. „Unsere Musik hat Leute angesprochen, die ähnliche kreative Visionen haben“, ergänzt Dede.

Stilistisch wagen We Have Band kein Experiment, auch sie verweisen ziemlich en vogue im Wesentlichen auf den Synthie-Sound der 80s-Disco. „Natürlich mögen wir Human League oder Talking Heads. Aber diese Bands sind für uns nicht wichtiger als zum Beispiel The Rapture oder Radiohead“, betont Thomas. Dabei liegt ihren Tracks immer der Ansatz des klassischen Songwritings zugrunde, das ihren Stücken eine erstaunliche Tiefe verleiht – eine Catchyness, die sie von jedem Revival und Hype absetzt. Abgesehen davon ist allein die personelle Konstellation bei We Have Band besonders. Dede und Thomas sind ein Ehepaar, alle drei waren schon befreundet, bevor sie Musik machten. „Bei vielen Bands ist es genau umgekehrt. Und manchmal stellen sie später fest, dass sie sich gar nicht mögen“, lacht Darren, der wie Thomas schon zuvor in anderen Gruppen spielte. „Aber Dede war für die Bühne eine echte Jungfrau“, weiß ihr Ehemann, der ihre Beziehung innerhalb des Trios als unkompliziert beschreibt. „Schwieriger wäre es für mich, mit jemandem verheiratet We Have Band – WHB zu sein, der nicht mit mir in einer (Naïve/Indigo, Band spielt. Das muss wirklich bereits veröffenteine Herausforderung sein, man licht) ist ja als Musiker nie zu Hause.“ Gelebter Pragmatismus, der sich auch auf ihrem Debüt widerspiegelt: Alles ist dem Streben nach dem großen Hit unterworfen – und selten wurde dieser Grundsatz des Pop so galant perfektioniert.

Foto — S T E P A H N I E L E H M A N N

D


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Musik — Die Anti-Anti-These der Bewunderung

Text — M A T T H I A S R A U C H

DIE ANTI-ANTITHESE DER BEWUNDERUNG Hype, Hybris oder die beste Band der Welt? Bonaparte polarisieren. Matthias Rauch traf die Band kurz vor Veröffentlichung ihres zweiten Albums und sprach mit Mastermind Tobias Jundt über Bewunderung, Britney, DSDS und Hingabe.

B

onaparte sind dieser Tage schwer beschäftigt. Schon nächste Woche ist die endgültige Deadline für den Mix der neuen Platte und es wird in jeder freien Minute an den letzten beiden Songs geschraubt. Dennoch hat sich Tobias Jundt, Chefdompteur des Zirkus Bonaparte, für das erste Interview anlässlich des neuen Albums „My Horse Likes You“ (staatsakt./RTD) ausgiebig Zeit genommen. Unser Thema im weitesten Sinne, ganz dem Metathema dieses Heftes verpflichtet, lautet: Bewunderung. Ein Thema, das im Gespräch mit Bonaparte von Anfang an einen Widerspruch in sich zu tragen scheint. Wird das Konzept von Bewunderung, die fixe Trennung von Star und Fan, durch die Posen, die Maskierung und die verschiedenen Rollen, die die Band nicht nur bei ihren vor Energie nur so strotzenden Konzerten einnimmt, nicht ad absurdum geführt? Verschwimmen nicht die Grenzen zwischen Band und Publikum in einem Meer aus Schweiß, Blut und konsequentem Jetztbezug? Bonaparte wollen Extreme ausloten, arbeiten an Verdichtung, mit Ironie und Zitat. Wo bleibt hier der Raum für Bewunderung? „Am Anfang habe ich das auch gedacht, aber mittlerweile glaube ich das nicht mehr,“ sagt Tobias, „Ich habe immer das Gefühl, dass es eine gute Bonaparte-Show ist, wenn ich merke, dass es gerade um diesen Moment im Hier und Jetzt geht und nicht um irgendeine Götzenanbetung. Vielen Leuten geht es am Ende aber doch mehr darum, Fan und dabei sein zu können. Das ist wohl einfach menschlich und auch nicht falsch.“ Doch was heißt schon Bewunderung? Ist Bewunderung im eigentlichen Sinne nicht sowieso etwas, das mit einem überkommenen Starbild zusammenhängt, das vielleicht mit Michael Jackson gestorben ist? Und wird diese althergebrachte Vorstellung des Stars nicht ständig von irgendwelchen Casting-Shows unterlaufen, die penetrant suggerieren, dass jeder ein Star sein könne und damit den Mythos des Stars konsequent unterlaufen? „Nein, das glaube ich nicht“, widerspricht Tobias. „Eine gewisse Art von Star ist vielleicht gestorben, aber das wandelt sich kontinuierlich. Es gibt zu jeder Zeit eine Art des Ausdrucks und eine Art des Künstlers, mit dem sich viele Menschen identifizieren können. Ich denke, da hat sich gar nicht so viel geän-

dert. Die Leute, die dem nachgehen, was ihre künstlerische Eigenheit ausmacht, werden immer Anerkennung finden. Und bei so etwas wie DSDS ist ja jedem klar, dass es sich hier um sehr kurze Zeitfenster des ,Starseins‘ handelt.“ Musik als Resonanzraum eines Künstlergenies, der vor allem mit den vermeintlich authentischen Befindlichkeiten des Künstlers gefüllt wird? Glücklicherweise läuft Tobias Jundt nicht Gefahr, sich und seine Kunst allzu ernst zu nehmen und schätzt sie ebenso in der Funktionalen, selbst als Hintergrund: „Musik ist da, um etwas zu bewirken“, erklärt er. „Je nachdem, was ich tue, höre ich eine andere Art von Musik, und je nachdem, welche Musik ich höre, benehme ich mich auch anders. Musik ist Mittel zum Zweck. Musik hat eine Aufgabe und deshalb wird sie auch Hintergrund, aber sie ist ein wichtiger Bestandteil dessen, was gerade passiert.“ Die Musik von Bonaparte will natürlich nicht auf eine bloße Untermalung des Alltags reduziert werden. Die eigentliche Funktionalität der Musik entfaltet sich bei Bonaparte erst live“, erläutert Tobias: „Unsere Musik soll dahingehend funktional sein, dass sie einen Raum eröffnet, in dem sich Menschen fallen lassen können. Wenn die Leute jetzt nur daumendrehend zuhören würden und es interessant fänden, wär das nichts für mich. Es geht um Sinnlichkeit.“ Wer schon einmal eine Bonaparte-Show miterlebt hat, wird schnell zustimmen, dass es hier in der Tat um Sinnlichkeit geht. In Anlehnung an die Tage der Freakshow und des Vaudeville verwandelt sich das oftmals bis auf 12 Köpfe anwachsende Kollektiv mit verschiedenen Kostümen und Masken in ein wild zuckendes Fleischknäuel. Musik alleine war gestern. Bonaparte versuchen sich an einer grell schillernden Überwältigungsästhetik, die fast alle Sinne gleichzeitig in Besitz nimmt. „Es ist immer eine Suche nach dem Extrem“, stimmt mir Tobias zu. „Wenn es nicht das Maximum dessen ist, was man rausholen kann, warum sollte man es dann tun? Es geht schon um Überwältigung, in dem Sinne dass man einen Moment schafft, in dem etwas passiert. Das habe ich auch, wenn ich spiele. Ich weiß nicht, was sich da im Hirn


Musik — Die Anti-Anti-These der Bewunderung löst, aber dann bin ich fast überwältigt von mir selbst.“ Da erscheint es nur konsequent, dass die überholte Dichotomie von Kunst und Unterhaltung für Bonaparte schon lange keinen Bestand mehr hat, denn beides gehört untrennbar zusammen. „Ich finde schon, dass Kunst unterhalten sollte. Das muss ja nicht immer nur Quatsch und Spaß sein“, sagt er nachdenklich. „Wenn es dich berührt oder du etwas hinterfragst, dann unterhält es dich auch. Was ich jetzt sage, ist wahrscheinlich falsch, aber etwas unterhält doch gerade deshalb, weil man es schön findet, weil es dich an- oder aufregt. Aber nicht alles, was unterhält, ist Kunst. Gestern habe ich Karl Valentin im Bus vorgelesen, wo er sagt, dass Kunst von Können kommt und nicht von Wollen, sonst müsse es ja Wunst heißen. Damit pinkelt er natürlich den Leuten ans Bein, die denken, dass man studiert haben muss, um zu verstehen, was der Künstler meint. Wenn es nur noch darum geht, dann ist es für mich keine Kunst mehr sondern akademisches Gewichse.“ „Bei Bonaparte ist eh alles viel weniger geplant, als alle denken“, sagt Tobias. „Ich wusste am Anfang gar nicht, dass ich jetzt ein Zirkuskostüm anhabe, sondern dachte, dass es eine ungarische Militäruniform, eine Husarenuniform ist. Und das ist gut so. Wenn ich von Anfang an geplant hätte, dass es eine Zirkusshow werden soll, dann wäre so was wie Britney Spears dabei herausgekommen.“ Und auch hier schließt sich der Kreis wieder, denn was Tobias Jundt am Zirkus fasziniert, ist weniger dessen Ästhetik, sondern die Hingabe, mit der Menschen im Zirkus ihre Arbeit machen: „Dass die Leute mit Haut und Haaren sich der Sache hingeben und im Planwagen um die Welt ziehen. So will ich auch sein. Wenn ich nicht mehr mit Haut und Haaren dabei bin, dann sollte ich aufhören. Das verlange ich übrigens auch von meinen Leuten. Da bin ich sehr streng. Unsere Welt wäre eine andere, wenn nicht 80 Prozent der Menschen einen Job hätten, bei dem sie nicht enthusiastisch dabei sind, sondern einfach nur reagieren.“ Die schier grenzenlose Energie Bonapartes spiegelt sich auch auf dem neuen Album „My Horse Likes You“ wider, wobei das Album deutlich vielschichtiger und weniger hysterisch daherkommt als noch der Erstling. Nicht nur Rhythmus und Aufgedrehtheit haben es auf das Album geschafft, sondern auch deutlich differenziertere Melodien und Harmonien. Man muss keine Angst haben, dass dem Zirkus Bonaparte so schnell die Luft ausgeht. So viel ist sicher.

Foto — M A X Z E R R A H N

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Valerie Trebeljahr, Kopf von Lali Puna, über Kathleen Hanna, Role-Models und Klinkenkabel.

24 Musik — Der Weg der Dinge

DER WEG DER DINGE

Foto — J O A C H I M Z I M M E R M A N N


Musik — Der Weg der Dinge, J.K,

Text — K R I S T O F K Ü N S S L E R

Lali Puna haben sich auffällig unauffällig durch die letzten zwölf Jahre geschummelt und gerade ihr viertes Album veröffentlicht. „Our Inventions“ (Morr Music/Indigo) ist idealerweise ein weiteres Zeugnis davon, dass Pop nicht zwangsläufig unreflektiert und inhaltslos sein muss, sondern durch Reife und Durchdachtheit nur noch mehr Charme entfaltet. — Weißt du noch, welche deine ersten Idole waren? Ich hatte nie Poster hängen, das ist komplett an mir vorbeigegangen. Eigentlich komisch, weil ich zwei ältere Schwestern habe, die alles mit ABBA zugepflastert hatten. Ich hatte wohl nicht so den Popbezug, weil ich klassisches Klavier gelernt habe, und ich wäre so gerne Konzertpianistin geworden. Später war das Riot-Grrrl-Ding total wichtig, Kathleen Hanna etc. Ich fand damals toll, dass es einen Feminismus gab, der nicht peinlich war. Etwas, womit ich mich richtig identifizieren konnte, etwas Poppiges, weil ich auch so weit entfernt bin von der Generation Alice Schwarzer. Bei Riot-Grrrl musste man nicht viele Vorkenntnisse haben, das hat man einfach adaptiert und konnte das sogar gleich leben, ohne Theorieschriften gelesen zu haben. Da war das Selbstverständnis zu sagen, wir machen jetzt eine Band, ohne dass wir Instrumente beherrschen, obwohl das gar nicht stimmt, weil die Hälfte der Band natürlich doch ihre Instrumente beherrscht.

/J. K, Jörg Kleemann

Du hättest u. U. diesen Bandkontext nicht beschritten, wenn du keinen Kontakt zur Riot-Grrrl-Welle gehabt hättest? Ich komme von der Klassik her, da heißt es, gehe nie an die Öffentlichkeit, bevor du nicht jemandem Chopin vordüdeln kannst. Dieser Ansatz, dass man einfach etwas macht, das kam vom Riot-Grrrl. Für mein Selbstverständnis ist das total wichtig gewesen. Ich habe mir später auch Bücher besorgt und so weiter, das war enorm wichtig. Was mir dann musikalisch auf die Sprünge geholfen hat, war Stereolab, damals war das meine absolute Lieblingsband, die Anfänge hören sich ja auch ziemlich so an. — Denkst du, dass du heute eine ähnliche Rolle für jemanden einnehmen könntest? Jemand, der/ die dich sieht und das als Anlass nimmt, Musik zu machen? Das wäre wünschenswert, ich finde dieses Gefühl immer wichtig, dass man etwas sieht und sich denkt, das möchte man auch ger-

25 ne machen. Ich kriege z. B. über MySpace mit, dass es Leute gibt, die davon inspiriert sind. Ich glaube nicht, dass ich als Role-Model funktioniere, dazu bin ich nicht extrem oder präsent genug, und das müsste man wahrscheinlich sein. Zum Glück gibt es heute viel mehr Frauen, die etwas machen, der Aufnahmeprozess ist viel einfacher. Dadurch fällt diese Stufe weg, dass man sich mit blöden, dickbäuchigen Technikheinzels rumschlagen muss, denen du immer noch sagen musst: Ich weiß, was ein Klinkenkabel ist, ich weiß auch, wo der Eingang ist. Und von denen du sexistische Kommentare abbekommst. — Findest du Idole u. U. problematisch? Das Prinzip beinhaltet ja auch eine unkritische Idealisierung. Ich finde es wichtig, diese Idealisierung irgendwann, wenn man älter wird, zu zerstören. „Kill your teenage idols“. Das ist natürlich auch irgendwie traurig, aber das ist der Weg der Dinge, und das ist auch gut so.

NEUES AUS DER SCHÄFERSTRASSE Über musikalische Sozialisation

Heute möchte ich mich, aus aktuellem Anlass, mit einer der dringlichsten Fragen menschlicher Existenz beschäftigen: Wie erziehe ich mein Kind zu einem Menschen mit gutem Musikgeschmack? Der aktuelle Anlass heißt Mads, ist sieben Monate, moppelig (normal) und pränatal durch eine fast 9-monatige Tom-Waits-Beschallung traumatisiert. „Gibt Schlimmeres“, kann man da sagen. Klar, gibt immer Schlimmeres: Atomkatastrophen, Reggae, Überfischung der Weltmeere und Bluesrock ... Aber wie stelle ich es an, dass Mads später mal die richtige Musik hört beziehungsweise macht? Vielleicht hilft an dieser Stelle ein Blick in meine eigene Vergangenheit: In Salzgitter geboren, Vater Schlachter, Mutter Hausfrau und die Musik, mit der ich mich jahrzehntelang herumschlagen musste, kam von Milva, Peter Alexander und Roger Whittaker („Albany, hoch in den Bergen von Norton Green“). Diese für lange Zeit nicht in das Puzzle meines Lebens passenden Teile ergaben später die Matrix meines Erfolgs: die Provinz, meine Eltern und nicht zuletzt die entsetzliche Musik stellten mich schon früh vor Herausforderungen, an deren Ende es nur zwei Möglichkeiten gab: Junge Union oder Rock’n’Roll. Wäre es nach meinem Vater gegangen, der trotz größtmöglicher Anstrengungen seine Leidenschaft fürs Schlachten nicht an mich weitergeben konnte, hätte ich jetzt meinen eigenen Wurstbasar und wäre Schatzmeister der CDU Salzgitter-Nord. Und genau an dieser Stelle wird es heikel. Wenn ich also das Gegenteil meines Vaters geworden bin, also ein sich vegetarisch ernährender Schauspieler, der in den Metropolen dieses Landes seine Zigaretten in die Aschenbecher drückt, was wird dann aus Mads Mika Kurt Kleemann!? Ich sage nur: Bahnhof, Camouflagehose, ... Oder anders gefragt: Wie hoch ist der

Preis, den ich für die zukünftige Rebellion meines Sohnes zahlen muss? Es muss ja nicht gleich Roger Whittaker sein, vielleicht reicht es erst mal auch, mir ein neues Image anzufressen, in die FDP einzutreten und den Focus zu abonnieren. Aber das wäre nicht konsequent, schließlich geht es ja um Musik, um nichts Geringeres als die Zukunft des Rock’n’Roll. Also doch Roger und Reggae? Krude Mischung. Da ist der vorkindliche TomWaits-Einfluss noch das geringste Übel. Die ersten Jahre werden sicherlich nicht einfach. Wie wird mein Körper nach gut 20 Jahren Abstinenz auf Wurst reagieren? Auf Reggae? Auf den Focus? Andererseits kann ich ja auch heimlich Kicker lesen, gute Musik hören und Tofu essen. Aber kann ich noch meinen Beruf ausüben oder muss ich auf Schlachter umschulen? Was ist mit meiner Kolumne? Wird diese die letzte sein oder nächstes Mal schon „Neues aus Pinneberg“ oder „Neues von der Wursttheke“ heißen? Schön wäre natürlich „Neues von der Pinneberger Wursttheke“, aber lassen wir das, hier handelt es sich schließlich um eine ernste Angelegenheit. Was passiert mit Mads, wenn er einen Vater hat, der sich, wenn überhaupt, nur heimlich ausleben kann? Auf der anderen Seite haben vier Jahre Psychoanalyse auch noch keinem geschadet. Schwierig, schwierig, aber gut: Ich versuch’s. Sind ja wahrscheinlich nur die ersten 16 Jahre. Dann also an dieser Stelle die heißesten Entdeckungen aus meinem neuen Leben: „Alles Roger“ von, wir ahnen es schon, dem Meister selbst: Roger Whittaker, und ein schöner kleiner Bildband mit dem Titel: „Die Wirklichkeit, mit Fleisch nachempfunden“ von Ruedi Widmer. Soll ich’s einpacken oder darf’s noch mehr sein?


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Musik — Die Stimmen von Oddsac

DIE STIMMEN VON ODDSAC Das im Juni erscheinende „visual album“ von Animal Collective, „ODDSAC“, war zuerst in New York zu sehen. Derick Rhodes war dort und sprach mit Danny Perez, dem Regisseur.

Text — D E R I C K R H O D E S Fotos — K A T H E R I N E S H E E H A N . COURTESY OF SWISS DOTS

M

anchmal kann ein Kunstwerk all das: den Betrachter tief bewegen, ihn bestürzen oder an einen imaginären Ort tragen, den er sonst nie betreten hätte. Das hier könnte einer dieser Momente sein. Bleiben Sie aufmerksam, nur für den Fall. Das „visual album“ „ODDSAC“ entstand aus der Zusammenarbeit des in Philadelphia arbeitenden Video-Künstlers Danny Perez mit der Band Animal Collective, die, vormals in Baltimore ansässig, mittlerweile zwischen New York City und Lissabon verstreut ist. Ihr Sound? Eine seit acht Alben und zehn Jahren andauernde Überführung des reinen sonischen Experiments – einer kollektiven Besessenheit an den Rändern von Noise und atmosphärischen Sounds – hin zu einem lockeren Flirt mit konventionelleren, aber immer noch recht offenen Popstrukturen. Auch bei ihren Konzerten liegt bis heute, ganz avantgarde,

der Fokus nicht auf der individuellen Performance der Bandmitglieder. Im Zentrum der Aufmerksamkeit und Erfahrung des Zuschauers steht vielmehr das Zusammenspiel von Licht, Ton und Visuals. In gleicher Weise handelt „ODDSAC“ weniger von der filmischen Vorstellung einer Band oder Gruppe von Menschen, sondern vom Eintritt in eine Erfahrung: Charaktere tauchen auf, verschwinden und tauchen erneut auf, bleiben jedoch niemals lange genug, um vom Betrachter bestimmbar zu werden (eine mögliche Ausnahme bildet – auch er ist gerade populär – der Vampir). Perez ist durchaus bewusst, dass „der Zuschauer Dinge kategorisieren muss, um Bezüge zu schaffen“. Dennoch legt er Wert darauf, dass „ODDSAC“ „in einem eigenen Format existiert“. Jenseits der Welt der Kunstinstallationen, Konventionen des Musik-Clips (zwei Clips für Animal Collective hat er ohnehin bereits gedreht) und der Strukturen narrativen Filmemachens. Wie auch die Band weiß Perez um das affektive Potenzial seines Materials: „Es stecken viele Absichten in Schnitt und Szenenabfolge von ˛ODDSAC‘. In mancherlei Hinsicht wird dich der Film lenken, im Guten wie im Schlechten, das hängt von deiner Verfassung ab. Den größten Genuss hat der Betrachter, der sich darauf einlässt, dorthin getragen zu werden, wo der Film ihn hinleiten will.“ Wo aber ist der Ort, an den Perez uns bringen möchte? Wohin leitet uns dieser Mann, der in den Neunzigern nach eigenem Bekunden „Collagen entwarf, die Antilopen-verschlingende Krokodile mit Sex-Szenen aus ‚Basic Instinct‘ verbanden“, um sie über die TV-Station seiner katholischen Jugendschule auszustrahlen? Was ist das Ziel dieses Regisseurs, dessen Inspirationsquellen von den spirituell aufgeladenen Filmen Jordan Belsons über die Arbeiten der Experimentalfilmer John und James Whitney bis zum grotesken 80er-Horror wie „Street Trash“ reichen? Nach dem New Yorker Screening von „ODDSAC“ und der Korrespondenz mit Perez scheint mir das tragende Moment die (Risiko-)Bereitschaft des Filmemachers zu sein, vermeintlich widerstrebende Ästhetiken nebeneinander zu stellen und zu verschränken. Es geht darum, eine Art Transzendenz herzustellen, sowie um den Mut, neue Wege zu gehen. Perez selbst hat es einfacher, wenn auch trügerisch formuliert: „Es geht um eine Vielzahl von Inputs, die ihr eigenes Output schaffen.“ Ob jeder Betrachter einen Zugang findet zu den weitgefassten (und oft chaotischen) Sprachen, die „ODDSAC“ spricht, sei dahingestellt. Kein Zweifel kann allerdings bestehen, dass dieses originelle und wunderschöne „visual album“ weit davon entfernt ist, gängigen Regeln, gleich welcher Grammatik, unterworfen zu sein. Es schafft sich seine ureigenen und ist in diesem Sinne: 100 % Punk.

(ODDSAC: USA 2010, DVD, R: Danny Perez, 53 min, Plexi Films, VÖ: 11.06.) Den director’s cut dieses Textes auf Englisch sowie eine Vielzahl weiterführende links auf opakmagazin.de. Screenings am 18. Mai im Babylon Mitte, Berlin / 19.05. im Uebel & Gefährlich, Hamburg


Musik — Zurück nach Elfenland, T.L, / K.S,

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/T. L, /K. S, Tobias Levin, Kristof Schreuf

ICH KANN BEIM BESTEN WILLEN KEINEN SYNTHESIZER ENTDECKEN Rom

Text — N I N A L O R E N Z Foto — L I S A R O Z E , P R I V A T

ZURÜCK NACH ELFENLAND Ólafur Arnalds lässt sich von Ruhe inspirieren

S

eine Musik klingt nach einer Art Elfen-Roadmovie. Seit jeher beherrscht der 23-jährige Isländer Ólafur Arnalds dieses wundersame Genre und bleibt ihm auch mit "… and they have escaped the weight of darkness" (Erased Tapes/Indigo) treu. Auch wenn er nicht der Meinung ist, dass man sich auf eine Musikrichtung festlegen sollte. Das beweist der Multiinstrumentalist mit seinem Minimal-TechnoProjekt Kiasmos. Aber bleiben wir bei den Elfen und Ólafurs Flucht vor der Schwere nordischer Dunkelheit. Man sollte meinen, in einem knapp 8000Seelen-Ort ließe sich so ein Album zwecks mangelnder Ablenkung mal auf die Schnelle produzieren. Fehlanzeige. „In dem Album steckt viel Arbeit, ich habe lange daran geschrieben, und es gab unzählige Einflüsse, die dazu beigetragen haben, dass es sich ewig hingezogen hat. Die Inspiration für das Album basiert allerdings auf ‚The Werckmeister Harmonies‘.“ Béla Tarrs Film über ein ungarisches Dorf, das unter den Einfluss eines unheimlichen Wanderzirkusses gerät, wurde in nur 39 Einstellungen gedreht. Ähnlich puristisch gestaltete Ólafur sein neues Album, und diese Schlichtheit mildert nicht die Aussagekraft von „… and they have escaped the weight of darkness“. Sowieso scheint der Isländer es eher schlicht zu mögen: Sein kleines Heimat-Örtchen Mosfellsbaer würde Ólafur Arnalds niemals gegen eine größere, hippere Stadt eintauschen wollen. Hier bezieht er seine Inspiration, hier leben die Menschen, die er am meisten liebt und bewundert: seine Freunde und Familie. All der Hype, den sein Erfolg mit sich bringt, das Reisen und das damit verbundene Eintauchen in andere Welten sieht der junge Isländer als Privileg an, ist aber auch immer wieder froh, wenn er zurück kann in sein kleines, ruhiges Elfenland.

Er ist ein Vertreter der Musik Ein Stellvertreter ihrer Kunst auf Erden Er plant pünktlichen Erfolg Er will sich gegenfinanzieren Die Rede geht: er will nicht reden Leute, die mit ihm arbeiten, stehen zur Disposition Deinen sportlichen Idealismus wird er frühstücken Das ist seine Art zu musizieren Er interessiert sich für CD-Verkäufe Er interessiert sich für Besucherzahlen Erfolgreiche Kollegen inspirieren ihn Zu Duetten und Kooperation An den Dingen mag er seinen wesentlichen Anteil Er operiert mit Ungeklärtheiten Er kann zu seinen Gunsten zählen Er sammelt Ungeklärtheiten wie ein Mann vom BKA Er versteht nicht und er fragt nicht nach Er sammelt Ungeklärtheiten wie eine Frau vom BKA Er beherrscht Gesellschaftschirurgie Er kann beim besten Willen keinen Schnitt entdecken Er kann sich noch genau daran erinnern Als die grosse Unglaubwürdigkeit begann Das Gerede um Reizwäsche ist ihm übertrieben Die Welt ist gegen ihn, es sei denn seine Sonne scheint und die Erde lacht Gegen alles feindliche und gegen Modernismen hält er sein musisches Baby in Schach Er hat einen lakonischen künstlerischen Gestus Er ist naturverliebt und selbstmitleidig Er spielt Gitarre für den Click Neue Musik wird von ihm schon lange nicht mehr überschätzt Alle Kränkungen belehren ihn Die Mächte der Musik sind stärker als ihr schönstes Lied (Verbinde Dich mit den Könnern der Popökonomie Unterschreibe bei einem Label treuer Fans Lass Dir von der Sparkasse helfen, wenn es sein muss Lass Dir von Rom helfen, wenn es sein muss)

Tobias Levin und Kristof Schreuf komponieren Musik. Von nun an ein Vorabdruck ihrer Texte. An dieser Stelle.


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Musik — Es ist wieder Musik, Neuanfang der Dritte

ES IST WIEDER MUSIK Turbostaat – How fucking romantic! Text — A Y D O A B A Y Foto — E R I K W E I S S

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omantik? Tatsächlich war das die erste Assoziation. Warum genau, ist zunächst nicht auszumachen. Aber versteckt unter der Oberfläche schlummert dieser feine Hauch, der die Band seit jeher umgibt. Nicht genau zu differenzieren, aber eindeutig romantisch – es besteht mittlerweile kein Zweifel mehr. Ist es die Mischung? Gitarren, Aufbau, trotzig rausgekotzte Texte – all das wirkt fordernd, doch fühlt sich die Musik leicht an. Oder sollte Romantik besser unerklärt bleiben? „Nach einer längeren Auszeit haben wir uns ohne Ideen, weder musikalisch noch textlich, im Proberaum getroffen und einfach mal gemacht“, erklärt Tobert Knopp, Bassist und Teiltexter. „Obwohl wir grundsätzlich alles ausdiskutieren müssen, gingen die Entscheidungen diesmal leicht von der Hand. Wir waren offen für alles. Und am Ende war es wieder Musik.“ Niemand erwartet Veränderung bei dieser Band. „Pennen bei Glufke“, erste Singleauskopplung des Albums, überrascht deshalb umso mehr. Der Pop hat Platz genommen im Hause Turbostaat, mitsingen ist erlaubt und wahrscheinlich sogar willkommen. Treibend und anmutig entfaltet sich der Song im

wohl schönsten deutschsprachigen Mitsingrefrain seit Rio Reiser. Tobert wird nicht müde zu erklären, dass Turbostaat eigentlich nur auf Tour gehen wollten. „Wir konnten kaum unsere Instrumente bedienen. Der einzige Wunsch war es, in einem dunklen Raum auf einer Bühne zu stehen.“ Genau dort fühlen sie sich sichtlich wohl und haben eine Präsenz, die andere weder durch eisernen Willen noch durch jahrelanges Training erlangen können. Man strahlt sie aus oder eben nicht. „Ich fahre jedes Mal zwei Stunden zum Proben nach Flensburg. Auch wenn wir nur eine Stunde proben, ergibt jede Minute Fahrt Sinn und ich fühle mich danach besser.“ „Das Island Manøver“ (Same Same But Different/Warner), viertes Album in elf Jahren, wird Turbostaat wieder ein Stück bekannter machen. Das ist eine Prognose, keine romantische Schwärmerei.

NEUANFANG DER DRITTE Steve Masons weiterer Alleingang Text — J U L I A N S T E T T E R

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he Beta Band gibt es seit 2004 nicht mehr. Trotzdem ist Steve Masons Position im Pop-Kosmos nach wie vor durch seine PostBritpop-Combo und deren Erwähnung in Nick Hornby’s Bestseller “High Fidelity“ bestimmt. Zu Unrecht! Denn in der Zwischenzeit veröffentlichte er mehrere Alben als King Biscuit Time und Black Affair und tritt nun, ganz ohne Pseudonym, solo in Erscheinung. Neue Zeiten brechen also an. Nach den üblichen Post-Erfolgs-Depressionen, die dem Beta Band-Niedergang inklusive musikalischer Zeugnisse folgten, wird nun Optimismus gepredigt. „Ich hoffe, dass diese Platte eine der

berühmtesten Platten aller Zeiten wird! Ich war bei all meinen sechs vorherigen Alben total enttäuscht über die Verkaufszahlen. Jedes Mal hatte ich gedacht, diese Veröffentlichung würde die Musikwelt für immer verändern!” Ob der bekennende R’n’B-Fan dieses Mal sein Ziel erreichen wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass „Boys Outside“ Mason zurück zu sich selbst gebracht hat. Nachdem ihn der Misserfolg des vorangegangenen Black AffairAlbums mental wie finanziell zerrüttet hatte, erwog er ernsthaft, sich der Musik abzuwenden. Doch die Desillusion war nur von kurzer Dauer, nach einer Weile schon war genügend

Material für den nächsten Longplayer komponiert. Masons neue Stücke sind die eines Singer-Songwriters mit 80er-Score, der seine Arbeiten mit Beats kombiniert. Oder in seinen eigenen Worten: „Was entstanden ist, scheint mir unmöglich zu kategorisieren. Vielleicht sollte man es einfach Steve Mason-Musik nennen.” Live wird sein neues Programm voraussichtlich auch noch in diesem Jahr in Deutschland zu sehen sein. “Boys Outside” erscheint auf dem Domino Records Sublabel Double Six.


Musik — Experiment, Ergebnis, Tagebuch

EXPERIMENT, ERGEBNIS, TAGEBUCH

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Text — U L F S C H Ü T T E

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ierzulande erfährt man kaum etwas über eine recht junge Strömung experimenteller Musik, deren nordamerikanische Vertreter unter New Weird America subsumiert werden – konstatiert Martin Büsser in einem Artikel (Testcard 14), der, obwohl bereits einige Jahre alt, nicht an Aktualität verloren hat. Als ein besonderes Merkmal der einschlägigen Bands sei ein kollektivistischer Grundtenor herauszustellen. Dekorderkopf Marc Richter schlägt vor, den Rahmen des Wortgebrauchs von „Kollektiv“ zu erweitern: „Den Begriff ‚Kollektivismus‘ würde ich eher auf die gesamte ‚Szene‘ anwenden. Es existieren nur wenige passive Hörer; die meisten sind selber Musiker, machen ein Kassettenlabel, schreiben für Fanzines, verkaufen Kleinsteditionen via Mailorder, sind visuelle Künstler etc. – dadurch existiert eine internationale Struktur von ‚Machern‘.“ Und zu diesen gehört der Wahlhamburger und Musiker nicht erst, seitdem er 2003 das Label ins Leben rief, für dessen Coverdesigns er häufig selbst verantwortlich ist. Bereits vom Rande des Schwarzwalds, wo er aufgewachsen ist, wirkte er in und an diesem Kollektiv mit. Unter anderem moderierte er kleine Radiosendungen und schrieb für diverse Fanzines. Ein durchaus ambivalentes Resultat dieser Macher-Horde ist eine Flut von CD-R- und Kassettenveröffentlichungen, die häufig Arbeitsschritte und Skizzen enthalten. Musiker wie Rutger Zuydervelt aka Machinefabriek beispielsweise veröffentlichen keineswegs nur ausformulierte Alben. Indem einzelne Entwicklungsstadien zugänglich gemacht werden, mögen musikalische Experimente zwar transparenter und nachvollziehbarer erscheinen. Die Flut als solche bleibt jedoch gerade deshalb unübersichtlich und überschwemmend.

Foto — R E N A T E N I K O L A U S

Black to Comm ist Marc Richter, Marc Richter ist Dekorder, das Hamburger Label für experimentelle Musik. Sein Programm schreibt eine persönliche Geschichte.

Dekorder kann an dieser Stelle, wie Marc formuliert, „vielleicht als (durchaus subjektiver) Filter agieren“ – schließlich geht es bei der hier veröffentlichten Musik sehr wohl um „ausformulierte Forschungsergebnisse“. Musiker müssen über stimmige Gesamtkonzepte verfügen, ein zufällig geglücktes Experiment eines ansonsten gehaltlosen Forschers würde bei Dekorder keine Heimat finden. Neben dieser theoretischen Perspektive auf Labelpolitik und Maßstäbe von Qualität und Individualität bleiben für Marc als eigentliche, ausschlaggebende Entscheidungskriterien die emotionalen Aspekte: „Die Musik muss mich vor allem anderen einfach berühren und spiegelt so auch meine inneren und äußeren Zustände wider.“ Impliziert wird ferner der kollektivistische Grundgedanke. So basiert dieses Netzwerk der einzelnen Musiker und Künstler meist ganz einfach auf einer persönlichen Ebene. In der Folge tauchen auf Black-To-Comm-Alben Mu-

siker auf, die auf Dekorder Platten veröffentlichen. Auch das Labelprogramm gestaltet sich uneinheitlich: Kuupuus verschrobener, zagund geisterhafter Free Folk passt somit gleichermaßen in den Labelkatalog wie die metallene Noiseplanke von Our Love Will Destroy The World und Voks hyperaktiver Computerpop. Dementsprechend reiht sich auch die in sich bereits stilistisch heterogene Zusammenstellung diverser Soundtracks zu Theaterstücken und Hörspielen von Felix Kubin ein. Ein roter Faden fehlt. Diesen vermisst Marc jedoch nicht, da es ihm bei der Auswahl nicht um einen theoretischen Überbau geht, sondern vielmehr Persönliches vordergründig ist. So gesehen ähnelt Dekorder einem Tagebuch – man kann in der Retrospektive eine persönliche Geschichte lesen. „Einen roten Faden gibt es wirklich nicht, aber im Rückblick wird er erkennbar werden – auch für mich persönlich.“


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Musik — Die feinen Unterschiede

„I

ch werd’ Vadda … GEIEELLLL!“, brüllte der Berserker von der grell ausgeleuchteten Bühne. Kurze Pause, ohoh, erst mal wieder mühsam ins Gleichgewicht kommen. „IHR ARSCHLÖCHER!“ – Lars Lewerenz, Chef des Hamburger Labels Audiolith, meinte es freundlich. Natürlich. Einige lachten verunsichert, andere johlten spontan oder zogen eine Line Speed, weil es gerade passte.

Die Idee war so spinnert wie genial. Drei Audiolith-Acts, Bratze, Egotronic und Frittenbude, sollten ihren Discount-Tourbus vier Tage mit Journalisten teilen. Als Vorbild diente Lewerenz das Gladbecker Geiseldrama. Zur Erinnerung: Im August 1988 nahmen Rösner & Degowski nach einem Banküberfall Geiseln, Journalisten ließen die Entführer auf ihrer zwei Tage währenden Flucht durch Deutsch-

DIE FEINEN UNTERSCHIEDE

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Döbeln, Oelde, Tannheim-Egelsee, Höhr-Grenzhausen – Orte im Off. Das Hamburger Label Audiolith auf „Dorfdisko Geiselfahrt“

Foto — J O H A N N E S B Ü T T N E R

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Text — U L F A Y E S land und die Niederlande in Live-Interviews zu Wort kommen. „Genau so machen wir das, nur vielleicht ohne Waffen!“, hatte Lewerenz vor Tourbeginn mit funkelnden Augen gesagt. „Dann rauf auf’s Dorf, die Dächer ab, Mucke rein und Party!“ Keine Rückzugsmöglichkeit, keine Distanz, 90er-Jahre-Brachialtechno während der Fahrt und literweise EnergyDrinks um zwei Uhr nachts – die Aussichten waren also hervorragend, ein gutes Dutzend Journalisten ließ sich drauf ein. Das Szenario vor den Clubtoren wiederholte sich. Lange vor Konzertbeginn begannen marodierende Abiturientenbanden nervös zu diskutieren. Über drängende Themen wie Knicklichter, Neonklamotten, Schweißerbrillen und nicht zuletzt auch die Bands des Abends: „Die von Audiolith sind total kaputt.

Nur immer besoffen und so!“, sagten sie begeistert. Später legte der dumpfe Kölner Express unter der Überschrift „Gitarren, Groupies und Großmäuler“ nach. Augenscheinlich sind Audiolith-Acts jetzt das, was Rock-Bands einmal waren: provokativer Bürgerschreck und Projektionsfläche für Sehnsüchte nach gelebter Außeralltäglichkeit. Vielen Dank erst einmal dafür! Aber glücklicherweise gibt’s bei diesen Bands was on top! Zum Beispiel einen an Feinheiten satten Umgangston. 1:1 ist hier dermaßen vorbei, die rechtmäßige Einschätzung des Gesagten endgültig blockiert. „Wir sind das, was ihr wollt“, sagt Kevin Hamann, Sänger von Bratze. Stundenlang wird sich im Bus kaputtgelacht, das Register reicht von Antifa-Schlachtrufen über Scooter-Texte hin zu nicht enden wollen-

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Musik — Die feinen Unterschiede

den Blödelwortspielen. Das Besondere dieser Toursituation: Im Witz liegt Ernst, es geht immer um Themen. Als an einer Raststätte, irgendwo zwischen den Käffern, ein Soldatentrupp auftaucht, grölt die Audiolith-Fraktion: „Nieder mit dem Warschauer Pakt! Verteidigt die Ostgrenze! Der Kommunismus darf niemals siegen!“ Alle lachen, sogar einer der pausbäckigen Rekruten. An einem anderen Tag rezitiert Torsun, Sänger von Egotronic, aus seiner Dresdner Büttenrede: „Der Jäger traf im Wald die Hirsche, in Dresden traf’s die Frauenkirche. Am Anfang ham ’se noch gelacht, am Ende fiel die Bomb’ aufs Dach. Erst muss der Nippel durch die Lasche, eben noch Dresdner, plötzlich Asche. Des war, ich hab da so ’ne Ahnung, die alliierte Landschaftsplanung.“ Wieder mal lachten nur einige. Andere holten sich verunsichert drei weitere Biere, weil sie nicht wussten, ob sie diese Verse nicht doch geschmacklos finden sollten. Wenn ja, schlugen sie sich damit nicht auf die Seite dummer deutscher Nationalisten? Oder ging es hier am Ende um etwas ganz anderes? Apropos ganz anders: Kennt hier eigentlich jemand die Atzen? Das sind die, die momentan einfahren, was Egotronic und Konsorten lange vorbereitet haben. Stylemäßig zumindest. Denn das ästhetische Profil der Atzen wie auch ihre inhaltliche Performance sind

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so ungebrochen stumpf, dass sie niemals mit Audiolith-Bands verglichen werden sollten. Selbst wenn beiderseits auf die spaßbetonten Achtziger gesetzt wird – bei Audiolith-Performances fallen politischer Ernst und bittere Satire zu einem Edutainment zusammen, das zumindest die Generation Flatrate zum Protest anstiften könnte. Trotz drohender körperlicher Insolvenz.

29.03.2010 16:40:37 Uhr


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Musik — (Album der Ausgabe)

BROKEN SOCIAL SCENE „Forgiveness Rock Record“ Text — M A R K U S G Ö R E S Foto — M A X Z E R R A H N

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enn das Arts and Crafts Movement im ausgehenden 19. Jahrhundert der Nährboden war, aus dem sich Jugendstil, Werkbund und das Bauhaus entwickeln sollten, so könnte man in schiefem Analogieschluss sagen, dass das in Montreal ansässige Arts&Crafts-Label im frühen 21. Jahrhundert die Bedingungen schuf, unter denen eine Band, ein Künstlerkollektiv, ach was, eine Großfamilie wie Broken Social Scene erst entstehen konnte. Und ähnlich, wie jenes Arts and Crafts Movement das Ornamentale, das Florale ersann (oder sich zumindest darauf zurückbesann), um schließlich in so etwas Ungeheurem wie der klassischen Moderne zu gipfeln, verhält es sich auch mit Broken Social Scene, die sich nie im bloß Dekorativen bescheiden. Auch wenn das Bild des Organischen, des Wildwuchses, des Mäandernden ihrem Songwriting bereits in die DNS eingeschrieben scheint – Broken Social Scene sind eine moderne Band auf der Höhe der Produktionsmittel. Verlassen wir an dieser Stelle die Kunstgeschichte. Fünf Jahre ist es her, dass Broken Social Scene als Broken Social Scene ihre letzte Platte veröffentlicht haben; eine lange Zeit. Und wenn ich hier schreibe, dass „Forgiveness Rock Record” klingt wie ein alter Freund, so trifft das zwar zu, tut dem neuen Album aber auch Unrecht. Sind die meisten alten Freunde doch vor allem eins: Teil einer Vergangenheit, die sich allzu selten in die Gegenwart überführen lässt. Und damit sind wir bereits mittendrin in den Themenstellungen des Albums, von der wiederholten Zeile „Friends You Used To Call” bis zum zentralen Stück des Albums „Romance To The Grave”, das zu einem daher shufflenden Intro eine Robert-Smith-Gitarre erklingen lässt, um über sirenenhaften Chören in Erhabenheit und hoffnungsloser Romantik zu vergehen, während ein Song wie „All To All” eine verlorene Beziehung beweint und im Vorbeigehen den schönsten tremolobasierten

Rhythmus seit The Smiths’ „How Soon Is Now” hervorbringt (und gleichzeitig Donna Summer mit Ambient versöhnt). Klassischer Indierock, Brass-Arrangements, Geigen stehen gleichberechtigt neben dieser dunkel schimmernden, von mir aus auch außerweltlich klingenden BSS-Erhabenheit und doch ist der Band bei aller Disparatheit der Stimmen und Instrumente ihr bislang kohärentestes Album gelungen. Um den Kreis zu schließen: BSS sind anders als der erstbeste alte Freund. Ein Glücksfall. Jemand, der anschlussfähig ist, weil man nicht nur eine Geschichte teilt, sondern auch ein Jetzt. So klingt der Eröffnungssong „World Sick” mit seinen überbordenden, ineinanderstürzenden Gitarrenlinien (die sich aus einem hawaiianisch anmutenden Intro herauswinden) zwar auch nach ihrer ersten Single „Stars And Sons” vom Europa-Debüt „You Forgot It In People”, aber gleichermaßen wahnsinnig gegenwärtig. Und vor allem ganz nach ihnen selbst. Selten sind die Bands, die so sehr ihre eigene Referenz sind wie BSS. Aufgenommen und produziert wurde „Forgiveness Rock Record” – ein wahrlich klingender Titel – übrigens von John McEntire (Tortoise et al.). Und neben der aktuellen Bandbesetzung – die im Wesentlichen die gleiche ist, die wir bereits von Tourneen der BSS-„Solo”-Künstler Kevin Drew und Brendan Canning, den Gründern der Band, kennen –, spielen sich naturgemäß auch hier Künstler wie Feist, Stars, Metric, The Sea And Cake und The Weakerthans die Guesting-credits zu. Eines noch: Vergeben Sie mir den krummen Vergleich vom Beginn. Ich bin kein Kunsthistoriker. Diese Platte euphorisiert eben sehr. Broken Social Scene: „Forgiveness Rock Record“ ist bereits bei Arts&Crafts / City Slang / Universal erschienen


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Musik — (Highlights)

Flimmer

Hans Unstern

John Grant

„SINGING“

„KRATZ DICH RAUS“

„QUEEN OF DENMARK“

(A Tree In The Field–Records)

(Nein, Gelassenheit/Staatsakt/Rough Trade)

(Cooperative Music/Universal)

Flimmer – das sind 2 x Bass, 1 x Schlagzeug und 0,5 x Gesang. Hm, klingt nach 100-prozentiger Schrottmusik? Nach blutjungen Pickeljungs, denen zwar der Gitarrist abhanden gekommen ist, die aber auf Teufelkommraus trotzdem eine Band sein wollen? Weit gefehlt: Die Flimmer-Mitglieder sind alle seit mindestens anderthalb Jahrzehnten den spätpubertären Schuhen entwachsen, der gemeinsame Versuch mit der Gitarre wurde vor fünf Jahren aufgegeben. Warum? Weil man nach dem Ausstieg der letzten Gitarre festgestellt hat, dass Flimmer-Songs ohne selbige sehr viel besser funktionieren. Ihre Musik bezeichnen die drei Baseler dementsprechend als „Psy-core“ – eine Stilbezeichnung, die angesichts des druckvollen, treibenden, brachialen und dann auch wieder zurückhaltend-frickeligen Doublebass-Sounds (in denen man übrigens niemals auf den Gitarre-fehlt-Gedanken kommt) ruhig mal überdacht werden sollte. Auf Anhieb stehe ich da allerdings jetzt auch etwas rätselnd vor mehreren Stil-Schubladen. Am wenigsten quietscht die mit der verwischten Hardcore-Aufschrift. Hin und wieder gesellen sich zu den auf „Singing“ rar gesäten Instrumenten einige elektronische Brocken, dann und wann wird auch ein Mikrofon hinzubemüht: Soweit verständlich, sind die Texte englisch und deutsch, mit zumeist wunderbar dahingerotzter dadaistischer und oft sinnfreier Bedeutung. Pro Song bedarf es entweder gar keiner oder sonst auch eher weniger Worte. Selten benötigen Flimmerstücke länger als zwei Minuten – doch in diesen steckt mindestens so viel wie in den meisten Fünfminütern von Bands, denen keine Gitarre „fehlt“!

Vielleicht kennen Sie das Szenario: Zuerst ziehen sich die Wände zusammen. Die Ecken des Zimmers verändern sich und beginnen sich beim Klang der Musik abzurunden. Je nach Veranlagung werden Sie vielleicht einen dumpfen Modergeruch wahrnehmen oder knackende Insekten unter den Fußsohlen spüren. Irgendwann sitzen Sie schließlich in der Ecke und beißen in ihre Fäuste. „Im Herbst halte ich Winterschlaf / umgeiert von Raben ueber mir wie fettes Laub / Ich habe einen Deal mit den Ratten des naheliegenden Abortes / Sie bringen mir siebzig Kilo Kastanienlaub / und ich verrate ihnen in welcher Karosse Kokain lagert / Urlaub unter Laub “, singt Hans Unstern und macht einen richtig schön kaputt. Mit Geschichten, die zumeist in der Nacht angesiedelt sind, irgendwo zwischen den Orten Paris, Anglet, Barcelona und dem Straßengraben. Eigentlich ganz offen? Mitnichten. „Kratz Dich Raus“ ist dominiert von klaustrophobischer Grundstimmung. Assoziativ-gleitend zwischen traumwandlerischen Fantasien und Beobachtungen alltäglichen Irrsinns reißt Hans Unstern eine faszinierend entrückte Welt auf. Passagenweise wie Märchenfilme mit dräuenden Schattenrissen – voll psychotischer Gespinste. Dann konkret: „Der kaputte Mann flucht aus dem Regen / in den Schleim der Dächer der Boqueria / Er schlingt einen tiefen Schluck / Wartet auf ein Wunder / Auf Rauschgoldengel / Eine Rauschgoldmama“. Wenn am Ende keine andere Wahl mehr bleibt, als fluchtartig nach draußen zu rennen, ziehen sich dort gerade die Wolken zusammen. Zusätzlich können Sie sich gern vorstellen, allein zu sein, schließlich nachzugeben und wieder nach drinnen zu gehen. Die Platte ist fantastisch sie macht es einem nicht einfach.

Midlake als Backingband! Allein das sollte als Empfehlung reichen, doch darf man das Solodebüt John Grants, gewesener Frontmann der Band The Czars, nicht einzig darauf reduzieren, er ist ebenso ein großartiger Sänger und Texter. Zugegeben, für den Pathos eines „Outer Space“ muss man sich im richtigen, sprich verliebten Zustand befinden, doch ist die hier wie auf dem gesamten Album geschmackvolle Instrumentierung zwischen 70s Rockband und Pianoballade allein schon Grund genug, sich auf „Queen Of Denmark“ einzulassen. Außerdem wird nicht ausschließlich geschmachtet, „JC Hates Faggots“ zum Beispiel ist eine Anklage christlich gedeckter Homophobie und legt den Vergleich mit Rufus Wainwright nahe, womit man beiden Künstlern einen Gefallen tun dürfte. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der ab und zu hervorbrechenden Zickigkeit, die aber auch dann, wenn sie wie im Titelsong „Queen Of Denmark“ die Grenzen des schnippisch-Koketten überschreitet, niemals wirklich ätzend wird, kriegt doch Grant selbst noch nach Versen wie „You tell me that my life is based upon a lie / I casually mention that I pissed in your coffee“ die Kurve und gelangt elegant zum herrlich schlichten Refrain, in dem es heißt „I don't know what to want from this world“ und in dem man bei einem entsprechendem Hang zum Überschwang ein ganzes Lebensgefühl ausgedrückt finden kann. Ebenso großspurig und von der hiesigen Welt abgewandt sind viele recht altmodisch anmutende Metaphern aus dem Bereich der Science Fiction. Grant vergleicht den hier Besungenen gerne mit einem außerirdischen, weil unvergleichlichen Wesen und sich selbst mit Sigourney Weaver. Das ist nicht nur kauzig, sondern anrührend und liebenswert.

Text — Senta Best

Text — Lucia Newski

Text — Lennart Thiem


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Musik — (Reviews)

An Horse „REARRANGE BEDS”

Der studierte Mathematiker Dan Snaith, passionierter Formwandler hinter Caribou, hatte eine elektronische Platte von flüssigem Charakter angekündigt. Sie klingt dabei weniger nach stetem Fließen als vielmehr nach dem Wogen des Meeres, das sich in seiner Komplexität der Berechnung entzieht. Diese Unvorhersehbarkeit macht „Swim“ zwar bisweilen anstrengend, gleichzeitig aber auch eigen und spannend. Text — Felix Müller

(Grand Hotel Van Cleef/Indigo)

In Brisbane, Australien, gibt es nicht viel zu erleben. Das haben auch Kate Cooper und Damon Cox erfahren, und so wurde der Plattenladen, in dem beide arbeiteten, zum Proberaum umfunktioniert sowie die Zeit „Down Under“ gegen die Staaten eingetauscht. Dort wurde An Horse dann prompt von Tegan Quin entdeckt, die das Duo als Support für die Teganand-Sara-Tour mitnahm und auch mit weiteren Größen wie Death Cab for Cutie auf Reise schickte. Stilistisch gesehen passt das wie die Faust aufs Auge. An Horse machen schnörkellosen Indierock mit einer einfachen Stimme-SchlagzeugGitarre-Besetzung. Ohne aufwendige Arrangements und elektronische Untermalungen kommt An Horse an den Hörer ran und präsentiert trotzdem einen druckvollen, teils melancholischen Sound, der die Füße rhythmisch wippen lässt. Das Rad haben An Horse bestimmt nicht neu erfunden, aber der Karren rollt – und zwar mit unaufhaltbarer Geschwindigkeit. Text — Maximilian Römer

Caribou „SWIM”

(City Slang/Universal)

Wer Caribou bislang nur von der letzten Platte „Andorra“ kannte, der mag sich auf „Swim“ zunächst im falschen Club wähnen: Keine Sixties-Psychedelik, keine Hippie-Chöre, die Gitarre wird – wenn überhaupt einmal – lediglich für kleinste rhythmische Pattern eingesetzt. Hier hingegen: moderner, elektronischer Pop, meist näher an Four Tet denn an Hot Chip. Doch der Richtungsänderung zum Trotz: Noch immer wabert es gehörig! Ständig wandern Instrumente und Falsett-Gesang im Stereo-Bild durcheinander, winden sich in Delay-Schleifen empor, tauchen in Hallräume ab.

Darwin Deez „CONSTELLATIONS“

(Lucky Number/rough trade)

Darwin Deez ist speziell. Es fängt an bei seiner extravaganten Frisur, zieht sich durch seine Kleidung und macht eben auch keinen Halt vor seiner Musik. Worte wie „schrullig“ und „leicht naiv“ umschreiben sein Wesen und das Debüt „Constellations“ vielleicht am besten. Und das soll auf keinen Fall abwertend klingen. Das Album ist frisch; es sind die kauzigen Alltagsgeschichten eines Beobachters, der unterhalten will. Kleine Melodien, große Momente und charmante Spielereien lassen den Zuhörer denken, dass er sich immer noch in seinem Kinderzimmer befindet. Die einzige Sorge besteht darin, wann man das angerichtete Chaos wieder in Ordnung bringen muss, bevor Mama einen Anfall bekommt und Hausarrest anordnet. Aufgenommen und produziert wurde die ganze Platte im Schlafzimmer des Herrn. Das Equipment waren ein Laptop, eine 4-saitige Gitarre und ein billiges 200-DollarMikrofon. Irgendwie hört man das zwar, aber das ist vollkommen egal. Darwin Deez ist – wie schon gesagt – speziell. Text — Aydo Abay

Flying Lotus „COSMOGRAMMA"

Musikjournalismus ist schon lange im merkwürdigen Grau zwischen Plattenindustrie, Besserwissen und Entdeckungsreise zu neuen Klangwelten zu Hause. Ein Pendel, das jedoch leider immer mehr in die Richtung des reinen Erfüllungsgehilfen der Promo-Maschinerie ausschlägt. Viele von uns kennen das Spiel: Anzeige gegen Review, Freikarten gegen Feature. Und so kommt es, dass das neue Album von Flying Lotus auf dem Schreibtisch liegt und selbstbewusst postuliert, man habe auf Track-Markierungen verzichtet und das ganze Album zu einem einzigen 45 Minuten langen Track kondensiert – der schlimmen Gefahr der Raubkopiererei wegen. Aber mal ehrlich, wie soll ich ernsthaft eine Platte besprechen, bei der ich nicht einmal weiß, wo ein Track aufhört und ein anderer anfängt? Das Ziel ist hier offensichtlich: Hype-Maschine anwerfen, die Rezension als AnzeigenMultiplikator. Hiermit geschehen: Flying Lotus – tolle Platte, geile Sounds, noch nie dagewesen. Meilenstein und bestes Album 2010 sowieso. Kaufen! Lorem ipsum dolor sit amet … Text — Nils Quak

Hundreds „S/T“

(Actic Rodeo Recordings/Alive)

Es ist das Moment zwischen Gehen und Bleiben, an das die Sängerin von Juta mit profanen Texten und einer schier monotonen Klangqualität erinnert. Es ist die Leere, nachdem ein Herz gebrochen ist und erneut das eigene Glück sucht. „Running Through Hoops“, das Debütalbum der italienisch-kanadischen Band, ist bewusst analog aufgenommen. Es behält dadurch die Umrisse von Schwermut und Einsamkeit, ohne dass ein Teil Ehrlichkeit digital geglättet wurde. „Irgendwie schön“ ist diese Musik, wie das Gute, das nach einer gescheiterten Liebe eben bleibt. Leider verliert sich dieser Eindruck nach der Hälfte der Songs und entgegen des im Pressetext angekündigten Wartens auf den Frühling fängt es eigentlich nur wieder zu schneien an. Das Album bleibt ein Exemplar biografischer Melancholie, umsäuselter Verklärung und großem Schmerz, der zwar musikalisch durchaus seine Umsetzung findet, aber wahrlich keine Lust auf mehr und schon gar keinen Mut macht. Lieber sind mir da Jupiter Jones mit: „Kopf hoch und Arsch in den Sattel!“ Text — Janina Friedhoff

(Sinnbus/rough trade)

Eine Frau atmet ein, sie setzt an zu singen – und schweigt. Eine Frau atmet ein, sie setzt an zu singen – und schweigt. „Wait For My Raccoon“ wirkt zart und verletzlich, so wie das ganze selbstbetitelte Album von Hundreds, einem Geschwisterpaar, zart und verletzlich wirkt. Es ist so leicht und so kühl, dass man es fast nicht bemerkt, aber eben nur fast. Man hört doch hin, und es entspinnen sich fragile Soundstrukturen und eine klare Frauenstimme singt von ... Ach, was sie singt, ist eigentlich egal. Die Musik berührt, fast schon unanständig intim gehen die Songs unter die Haut. Hier und da gefährlich nah an der Grenze zum Kitsch tanzend, bleiben sie doch auf der guten Seite. Zwar eröffnen Hundreds sicherlich kein neues Genre, aber sie bereichern das Feld Singer/Songwriter meets Frickelei um ein ganzes Album voller perfekter Songs. Für Regenspaziergänge, erste Begegnungen und windige Sommertage. Text — Aida Baghernejad

(Warp Records/rough trade)

Juta „RUNNING THROUGH HOOPS“

Marble Man „LATER, PHOENIX”

(K&F Records/Broken Silence)

Das perfekte Indie-Märchen umspülte 2007 sämtliche Feuilletons, Musikmagazine und Blogs – und ließ sie alle ins Schwelgen geraten: Der gerade 19-jährige Josef Wirnshofer tauchte mit seinem im Dachboden seines Traunsteiner Elternhauses aufgenommenen Debüt „Sugar Rails“ unter dem Künstlernamen The Marble Man auf. Der neue Output „Later, Phoenix“ begeistert nicht minder: Verzaubernde Singer-Songwriter-Stücke, die sich stets in einem leisen Bombast aufbäu-

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Musik — (Reviews) men – zu impulsiv für Folk, zu sachte für Noise. Schwermütig, aber nie bedrückend sorgen breitwandige, aber fein austarierte Gefühlswallungen für große Momente, aus denen sich die verletzlich klingende Stimme Wirnshofers erhebt. Und die trotz vieler kleiner, feiner Verspieltheiten fern jedes Pathos ist. Klanglich irgendwo zwischen LoFi und Tüftelei, sind die einzelnen Songs mit Schlagzeug, Orgel, Streichern und Posaunen ins Perfekte ausarrangiert. Ein zeitlos klingendes kleines, den Zuhörer ummantelndes Meisterwerk.

stehen ihnen doch viel besser. Auch können sie sich nicht so recht entscheiden, wer von beiden die Frontfrau ist: Zwei talentierte Songwriterinnen, zwei großartige Sängerinnen, da fällt die Wahl schwer. Doch nicht enden wollende Duette sind keine Lösung.

Walter Schreifels

verrückte Quartett nicht nur auf Konserve, sondern auch unbedingt live empfohlen, hier lohnt sich das Gesamtkonzept Show+Kostüme/Musik+Stimmung!

„AN OPEN LETTER TO THE SCENE“

Text — Senta Best

Text — Regina Lechner

Unbunny „MOON FOOD”

So So Modern „CRUDE FUTURES”

Text — Kathrin Gemein

(Arctic Rodeo Recordings/Alive)

Peggy Sue „FOSSILS AND OTHER PHANTOMS“ (Affairs of the heart/Indigo)

(Unter Schafen/Alive)

(Wichita/Cooperative Music/Universal)

„hi saw you a while ago supporting the maccabees in london, thought you were great!“ – Kommentare wie diesen müssen Peggy Sue wahrscheinlich viel zu oft auf ihrer MySpace-Seite lesen. Rosa, Katy und Olly sind nämlich eine begehrte Vorband. Nicht gerade ein Kompliment, wenn man ehrlich ist, denn wer will schon für ein Publikum spielen, das eigentlich wegen jemand ganz anderem gekommen ist. Vielleicht liegt es daran, dass Katy und Rosa manchmal viel zu laut singen, um auch die hinterste Reihe der mit halbem Ohr zuhörenden Crowd zu erreichen. Die leisen Töne

Unruhig. Ein gutes erstes Wort im Um-Worte-Ringen bei der Beschreibung von „Crude Futures“. Denn unruhig beginnt das lang ersehnte Debüt der Neuseeländer von So So Modern. Und unruhig geht es dann auch weiter. „Crude Futures“ heißt: wirre Synthesizer-Zappeleinheiten gespickt mit blechernem Schlagzeug-Sound und nervösem Gitarren-Gewitter, und spätestens bei Song Nr. 2 bittet dieses Album aufgeregt zum Tanz – getarnt als Punk im 80er-Jahre-Chic. Zwar verleiten die meisten der neun Songs tatsächlich zum Mitwippen und Zappeln, doch dürften jegliche Tanzversuche böse – ja vielleicht sogar peinlich – enden, bei diesem Rhythmus-Hinundhergeschaukel. Zwischendurch schwächelt „Crude Futures“ an etlichen Stellen, ein Grund dafür ist vielleicht die völlige Missachtung eingängiger Melodien. Womöglich gibt es auch nicht wenige Menschen, die schon nach einigen Tönen genervt abwinken. Dem Rest sei das

Auch auf dem mittlerweile sechsten Album des amerikanischen Trios Unbunny kann dessen Songwriter Jarid del Deo Menschen und Orte scheinbar leichter hinter sich lassen als Melancholie und Schmerz. „Moon Food“ steht ganz im Zeichen seines Lebensentwurfs als moderner Hobo. Und als solcher hat man kein stilles Kämmerlein, um an den Stücken endlos zu feilen – von einem High-End-Studio ganz zu schweigen. Folgerichtig zeigen sich dann die Arrangements von Liedern wie „Cell Phone“ oder „Winning Streak“ schlicht und schmucklos als Gefäße für Texte und Stimme des Romantikers Deo. Nicht ein einziger Ton des stoischen Rock zwischen Americana und Indie lenkt ab von Zeilen wie „We used to compromise / but that’s where the problem lies / cause the average of opposing views / does not equal the truth“. So ungefähr könnte ein zerbrochener, vereinsamter und verarmter John Lennon geklungen haben.

Gorilla Biscuits, Youth Of Today, Quicksand, Rival Schools oder Walking Concert – Walter Schreifels ist bislang eher mit verstärkten Gitarren von (Post-)Hardcore über Indierock bis hin zu Britpop in Erscheinung getreten. Auf seinem Solo-Debüt „An Open Letter To The Scene“ kommt er nun mit einer Seite daher, die manche schon von seinen Solo-Touren kennen: Zehn akustische, reduziert gehaltene SingerSongwriter-Stücke, bei denen die Stimme des 41-Jährigen genau an den richtigen Stellen zu brechen scheint. Und mit seinen lebensnahen kleinen Geschichten rund um Freundschaft, zerbrochene Liebe und das Einstehen für das richtige Leben auf einen wohligen Herzknacks-Knopf drückt. Dabei vergisst der New Yorker nicht seine musikalischen Wurzeln: Das Titelstück ist ein herzzerreißender Nachruf auf den 1997 verstorbenen Warzone-Sänger Raybeez, daneben versammeln sich Cover-Versionen von Agnostic Front („Society Suckers“) und CIV („Don’t Gotta Prove It“). Ein bezaubernder Ausflug eines heimlichen Helden. Text — Kathrin Gemein

Text — Lennart Thiem

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Text, Fotos — JOSEPHIN THOMAS

Bumm Tschack Bumm Bumm Tusch

„Next Time“: Bodi Bill

Model — H A N N E S ( T E R H A A R / FUTURE FLUXUS) Produktion — J O S E P H I N T H O M A S & MAGDALENA KOHLER Foto — F R A N Z I S K A T A F F E L T „Nobody for nobody“: Kolleqt


„The Aim Of Design Is To Define Space“ (and the aim of Fluxus is to destroy future, they say …)

„Sinnbus Rec“ „There's nothing wrong with love“ (WORD!): Lousy Livin Schuhe „Soma II“: Pointer

„Excuse me, we need a bass drum.“ (MDSLKTR)


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Mode — Bumm Tschack, Bumm Bumm Tusch

Hipbag, Boxer: Cleptomanicx Schuhe „Fairbank“: Pointer

Bezugsquellen

Schuhe: www.pointerfootwear.com Bodi Bill, Kolleqt, Sinnbus, TWBA : www.merchsociety.com The Lousy Livin Company: www.livincompany.de Stuff-Shirt & andere von Stars und Sternchen getragene, neu aufgelegte Motive: www.wornby.co.uk The Aim Of Design Is To Define Space: www.grossflughafen-gosen.com Future Fluxus: auf Anfrage unter www.futurefluxus.de Schlagzeug: Fibes


„Stuff“: Worn by Joe Cocker „Liar“: The Whitest Boy Alive


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Literatur — Tagedieb und Superstar

Literatur

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Illu — F L A B B Y H E A D

Tagedieb und Superstar

Der moderne Medienstar lässt sich zurückführen auf den Dandy des 19. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Rhonda K. Garelick über Massenkultur und Literatur. Text — L U C I A N E W S K I


Literatur — Tagedieb und Superstar

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ie führten Schildkröten an der Leine spazieren und waren schamlos hedonistisch. Sie kümmerten sich berufsmäßig um ihr Äußeres und pflegten selbstverliebte Exzentrik gegen die aufkommende Ideologie des Nützlichen. Die Dandys inszenierten sich als Geistes- und GeschmacksElite zwischen Konservatismus und Avantgarde. Woher die Bezeichnung „Dandy“ stammt, ist nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich aber wurde sie im 19. Jahrhundert von „Jack-a-dandy“ abgeleitet, einer herablassenden Betitelung für Gecken und übermäßig aufgetakelte Männer. Dabei waren Dandys mehr als nur herausgeputzte Emporkömmlinge. Sie waren Lebenskünstler, „Artisten des Müßiggangs“ und Vorläufer des modernen Medienstars. Das zumindest behauptet die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Rhonda K. Garelick. In „Rising Star“ unternimmt sie eine Reise ins Frankreich der 1880er und 1890er Jahre, der Epoche der Décadence, und fördert Erstaunliches zutage. Spielte im Leben des klassischen Dandys Selbstkult die entscheidende Rolle, galt die Aufmerksamkeit dandyistischer Autoren wie Charles Baudelaire von nun an vermehrt weiblichen Bühnendarstellerinnen. Das Schauspiel Sarah Bernhardts wurde nicht nur begeistert verfolgt, Tänzerinnen wie Loïe Fuller nicht nur frenetisch umjubelt – sie wurden im gleichen Zug dandyistisch umkodiert. Weibliches Dandytum entstand und mit ihm Ikonen, die durch Massenmedien, vor allem durch Fotografie, Presse und später auch durch den Film, als Vorbilder für eigene Inszenierungen des weiblichen Publikums in Umlauf gebracht wurden. Diese Varianten des weiblichen Dandytums haben sich laut Rhonda Garelick später zum Typus der Stars, Diven und Prominenten wie Madonna, Prince, Jackie O. und Jacques Derrida entwickelt. — Frau Garelick, welche Motivation war entscheidend für Ihre Arbeit an „Rising Star“? „Rising Star“ ging hervor aus meinen literaturwissenschaftlichen Studien an der Yale-Universtität. Ich studierte damals Französische Literatur und war natürlich vernarrt in das 19. Jahrhundert, keine Frage. Gleichzeitig aber lebte ich in einer sehr exklusiven intellektuellen Atmosphäre von „Star-Professoren“ und ihren Schülern. Menschen, deren Persönlichkeiten mindestens genauso wichtig waren wie ihre Theorien. Menschen, die auf sehr aufgeladene Weise von den Studenten bewundert wurden. Jahre nach meinem Abschluss wurde mir eine Beziehung deutlich bewusst. Und zwar die zwischen meinem Thema – Dandyismus – und dem sozialen Umfeld, in dem ich als Studentin gearbeitet hatte. Mir fiel auf, dass niemand jemals die sozialen Aspekte dieser literaturwissenschaftlichen Schule anerkannt hatte, der sogenannten „Yale School“, die sehr eng mit der Arbeit verknüpft war, die in Paris geleistet wurde. Ich dachte über heutige Kulturen des intellektuellen Dandyismus nach. Ich vermutete, dass die Auseinandersetzung mit den Dandys des 19. Jahrhunderts, ihren Beziehungen zu Frauen und der Populärkultur, helfen könnte, um eben jene männliche, exklusive und sehr auf Persönlichkeiten basierende soziale Umgebung zu verstehen, die mich intellektuell geformt hatte. Deshalb setzt sich das letzte Kapitel meines Buches auch explizit mit Dandyismus in der Celebrity-Welt der Literaturkritik auseinander.

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— Es gibt so viele Beschreibungen. Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen Dandy aus? Von allen Definitionen gefällt mir Balzac’s eigentlich am besten: „en se faisant dandy, un homme devient un meuble de boudoir, un mannequin ingenieux ...“ Die Formulierung „en se faisant“ erinnert daran, dass Dandyismus zwar das Ergebnis eines aktiven Schaffensprozesses ist, der Dandy trotzdem ein Stück Schlafzimmermöbel ist, ein geistreiches Mannequin. Dandys sind träge, rückwirkungsfrei. Dandyismus ist ein Prozess theatralischer Arbeit, der nach Unempfindlichkeit strebt. Der Dandy ist eine Kreatur der puren, vergnüglichen Darstellung. Jemand, dem es im Leben auf den reinen ästhetischen Effekt ankommt. Er will Wellen verursachen, ohne dass jemand merkt, dass ein Stein ins Wasser geworfen wurde. — Welche Umstände führten zur Geburt des Dandys und welche Rolle kam der Literatur zu? Ich bin der festen Ansicht, dass der Machtverlust der Aristokratie ein zentrales Moment für die Geburt des Dandys war. Die Bedeutung der Französischen Revolution ist in diesem Zusammenhang von überragender Bedeutung, und das Aufheben des Geburtsrechtes, mit der daraus resultierenden Schwächung der adligen Familien. Die Bewegung gegen die Julimonarchie ist auch so ein Schlüsselmoment. Dandyismus war ein Versuch, eine Elite über andere Kanäle zu reinstallieren. Dabei half auch das Aufkommen des Journalismus während der Herrschaft LouisPhilippes, denn seine Techniken trugen zur Verbreitung dandyistischer Literatur bei. Walter Benjamin behauptete, der Dandy sei ein Ergebnis ökonomischer Anforderungen gewesen: „Der Dandy ist eine Prägung der Engländer, die im Welthandel führend waren. In den Händen der Londoner Börsenleute lag das Handelsnetz, das über den Erdball läuft; seine Maschen verspürten die mannigfachsten, häufigsten, unvermutbarsten Zuckungen. Der Kaufmann hatte auf diese zu reagieren, nicht aber seine Reaktionen zur Schau zu tragen. Sie verbanden die blitzschnelle Reaktion mit entspanntem, ja schlaffem Gebaren und Mienenspiel.“ Dem stimme ich zu, allerdings würde ich ergänzen, dass ökonomische Überlegungen komplizierte psychologische und soziale Aushandlungen mit sich bringen. — Inwiefern war das Verhältnis zwischen Dandyismus und Literatur wechselseitig und welche Widersprüche ergaben sich daraus? Balzac, Barbey, Baudelaire – sie alle tendierten dazu, ihr eigenes Leben in der Literatur zum Kunstwerk zu machen, beziehungsweise den Lebensstil nach literarischen Vorbildern einzurichten. Das ist absolut widersprüchlich zum Streben nach Unverwechselbarkeit! Aber darin besteht eben die Essenz des Dandytums, im Paradox sich wiederholender Originalität. Dandys waren Produkte der Nachahmung und feierten trotzdem ihre Einzigartigkeit. Jeder Dandy nach George „Beau“ Brummell bestand aus Versatzstücken von ihm. In Wahrheit ging es dem Dandytum um eine Art nicht-biologischer Reproduktion. Reproduktion durch Spiegelung, ohne Frauen. In vielerlei Hinsicht bieten sich hier Vergleiche zu modernen Star-Biografien an. Meiner Meinung nach findet der momentan vorherrschende obsessive Celebrity-Kult sein frühestes Modell, seinen Vorläufer, im System nachahmender Reproduktion des Dandytums. Wenn man bestimmte Ur-Celebritys ansieht, ältere Stars wie Michael


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Literatur — Tagedieb und Superstar

Jackson, Madonna oder aktuell jemanden wie Lady Gaga – überall lassen sich Androgynität und sexuelle Uneindeutigkeiten finden, ebenso wie Scharen von Nachahmern, die alle an den Dandyismus erinnern.

— Der Stellenwert von Mode war schon damals groß. Wie beurteilen sie Roland Barthes Einschätzung, Mode habe durch ihre Reproduzierbarkeit den Dandy zerstört?

— Auf welche Weise forderte die Explosion der Massenkultur in Frankreich die Regeln des Dandyismus heraus und welche Rolle spielte in diesem Kontext das weibliche Spektakel?

Barthes schrieb „The today of Fashion ... destroys things all around it, refutes the past ... censures the future ... tames the new even before producing it.“ Er hat sich geirrt. Meiner Meinung nach hat Mode den Dandy nicht getötet, sondern ihn sicher ins 20. Jahrhundert geleitet. Natürlich erschien dem Dandyismus demokratische Replizierbarkeit als Gefahr. Aber sie ist, paradoxerweise, trotzdem in seinem Innersten verankert. An dieser Stelle sei in Erinnerung gerufen, dass Dandys ja streng genommen keine Aristokraten waren. Sie konnten sich lediglich als eine Art paralleler Noblesse gerieren, was selbstverständlich nur aufgrund einziehender Demokratisierung möglich war. Die Mode, als System reproduzierbarer Styles, war abhängig von einer Struktur, die dem Dandyismus ähnlich war: Mode begann mit der Möglichkeit, Abbilder auf Lithografien beziehungsweise Bildtafeln oder Puppen in Miniaturgewändern zu betrachten und ihnen ähneln zu wollen. Daran hat sich kaum etwas geändert, auch das moderne Modesystem basiert auf der Weitergabe von Bildern. Momentan arbeite ich an „Antigone in Vogue“ (demnächst bei Random House), einem Buch, das sich mit Coco Chanel und ihrem Celebrity-Kult auseinandersetzt. Wahrscheinlich wird ein Magazin allein keinen so starken Einfluss mehr ausüben können wie noch Mallarmés „La Dernière Mode“ im 19. Jahrhundert. Heute sind es vielleicht Websites wie Polyvore.com, die Mode zu einem globalen Spiel für die Massen werden lässt.

Vom Aufkommen der Massenkultur in den 1880er und 1890er Jahren ging eine große Strahlkraft aus. Dandys schrieben häufig hymnisch über die weiblichen Stars der öffentlichen Bühnen. Ihre Anziehungskraft, ihr Zauber ging in Teilen klar von einer Identifikation aus – für Dandys war die sorgfältige Konstruktion einer Bühnenpersönlichkeit vollkommen nachvollziehbar, sie taten selbst nichts anderes. Außerdem vermute ich, dass von dieser Form der Identifikation eine Beruhigung ausging. Die Dandys konnten in „la canaille“ eintauchen und sich gleichzeitig auch von ihr distanzieren. Sie konnten sich über gewisse Ähnlichkeiten freuen und trotzdem Klassenunterschiede aufrechterhalten.

Der Dandyismus ist mit der Kulturindustrie verwachsen, es gibt ihn heute nicht mehr.


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Literatur — Tagedieb und Superstar — In „Rising Star“ datieren Sie das Aufkommen ikonischer Medienpersönlichkeiten. Während in der Literatur der Schriftsteller Villiers de l’Isle-Adam in seinem Roman „L’Eve future“ (1886) zuerst eine solche Persönlichkeit beschrieb, war Loïe Fuller, die amerikanische Tänzerin, das erste tatsächliche Beispiel dieses Genres. Welche geschichtliche Rolle kam ihr zu? Ich bin froh, dass Sie das fragen, weil mein letztes Buch, „Electric Salome“ (Princeton University Press, 2007), sich mit Loïe Fuller beschäftigt. Fuller war die erste künstlerische Darstellerin, die verstand, dass Körper und Technologie eins sein können. Sie machte sich selbst zu einer Art lebender Projektion oder Kinoleinwand. Loïe Fullers Darbietung lässt sich beschreiben als ein Modernismus biologisch-ästhetischer Verschmelzung, sie machte ihren Körper zu einer mutierenden Skulptur, auf der sie filmische Bilder von Krebszellen oder Fischskeletten zeigte. Auf diesem Wege literarisierte sie die Faszination des späten 19. Jahrhunderts für optische Technologie und biologische Medizin nicht nur. Sie entkörperlichte den Tanz gleichzeitig, nur um ihn in einem neuen, weniger begrenzten Körper erneut aufzuführen. Sie bewegte sich im Kontext von theatralischem Drama und Naturalismus. Und ich denke, wir können heute noch ihren Einfluss erkennen. In den Arbeiten von Bill Forsyth, der Wooster Group und sogar einigen Mode-Designern (beispielsweise Viktor and Rolf).

Rhonda Garelick ist die Autorin von „Rising Star“ (Princeton University Press, 1998) und „Electric Salome: Loïe Fuller’s Performance of Modernism“ (Princeton University Press, 2007). Momentan arbeitet sie an „Antigone in Vogue: Coco Chanel and the Myths of Fashion“ (under contract to Random House), einem Buch über Mode, Massenkultur

— Populäre Theorien legen nahe, der Star verschwinde hinter den Bildern seiner Vorgänger, mit denen er sich identifiziert. Können wir deshalb überspitzt behaupten, Prince sei „Beau“ Brummell? Ist Madonna also Marilyn Monroe? Der Dandyismus ist mit der Kulturindustrie verwachsen, es gibt ihn heute nicht mehr. Gleichwohl kommt den Celebritys der Massenkultur eine Funktion zu: Besonders in Amerika dienen sie als Lagerstätten, als Behälter politischer und sozialer Ängste wie der Furcht vor der Rückkehr verdrängter Probleme. Während der Präsidentschaft von George W. Bush beispielsweise stieg das Interesse an besonders faden, inhaltsleeren weiblichen Celebritys wie Paris Hilton oder Britney Spears – junge Frauen, die Leere zu verkörpern schienen. Meiner Meinung nach erhob sich dieses Interesse aus einer Kultur, die sich dramatisch abwendete von einer schrecklichen Serie von grausamen Kriegen und ihren Opfern. Uns wurde nicht abverlangt, zu denken, zu wissen oder wütend zu sein. Wir haben eine Celebrity-Kultur der Verleugnung geschaffen, die eine nationale Verfassung repräsentiert, in der die Menschen der Realität narkotisiert gegenüberstehen.

und Politik der europäischen Zwischenkriegszeit. Ihre Arbeiten zu Performance, Literatur, Mode und Kulturpolitik erschienen in zahllosen Zeitungen (u. a. New York Times, New York Newsday, Chicago Tribune, International Herald Tribune, Sydney Morning Herald), kritischen Anthologien und Museumskatalogen in den USA und Europa.

Professor Garelick lehrte an der Yale University, der University of Colorado at Boulder, Columbia University und am Connecticut College. Sie erhielt zahlreiche Preise und arbeitet parallel an der Fakultät für Englisch der University of Nebraska-Lincoln und am Hixson-Lied College of Fine and Performing Arts.

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Foto — P R I V A T

Literatur — Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer

NIETZSCHE UND ZWEI, DREI SEINER BEWUNDERER Text — U L R I C H H O L B E I N


Literatur — Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer

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Ulrich Holbein mit Apollo-Uwe und Dionys-Werner auf einer Reise zum Geburtsort der Tragödie.

1971

saß ich, ein Stündchen vor Dienstbeginn im Kleinheim für milieugeschädigte Kinder namens Rainer, Ilona, Thomas, Renate, Ehrhart, auf dem Friedhof von Großenritte-Baunatal, hummelumbrummt, allmorgendlich, und stieß in einer Leihgabe von Tante Gundula, nämlich in Hans Joachim Störigs „Kleiner Weltgeschichte der Philosophie“, zum zweiten Mal auf Nietzsche, nachdem ein Jahr vorher im „Steppenwolf“ gestanden hatte: „Eine Natur wie Nietzsche hat das heutige Elend um mehr als eine Generation voraus erleiden müssen – was er einsam und unverstanden auszukosten hatte, das erleiden heute Tausende.“ Wenn irgendwo von Nietzsche die Rede war, dann als von einem, der so unbekömmliche Dinge gedacht hatte, daß er deswegen wahnsinnig geworden war, getreu dem freischwebenden Nietzschezitat, das später nirgendwo bei Nietzsche sich auftreiben ließ: „Wer den Dingen auf den Grund geht, geht zugrunde“ – so kam das rüber, so wehte das voraus, ehe eine hinzugezogene rororo-Bildmonografie das Stichwort Syphilis ins Spiel brachte und der Legende ein paar Realien anfügte. Im Störig hingegen las ich nun Sätze wie „Nietzsche liebte die Musik“ – aha,

Wenn irgendwo von Nietzsche die Rede war, dann als von einem, der so unbekömmliche Dinge gedacht hatte, daß er deswegen wahnsinnig geworden war genau wie ich! Oder auch: „Nietzsche war einer der größten Dichter deutscher Sprache“ – ach ja. Das von Störig zitierte Gedicht „An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht ... goldener Tropfen quoll’s ...“ riß mich sofort derart vom Hocker, wie später nur noch „Der geheimnisvolle Nachen“, daß ich nach Ableistung meines sozialpädagogischen Vorpraktikums sofort nach Venedig trampte, um alldort ebenfalls in brauner Nacht zu stehn. Ich stand dann da aber bloß vor 21 Uhr (um noch den Zug nach Mestre zu kriegen) in nüchtern verblichener Steinwüste, deren Drumherum – samt Ölfilm und schwimmenden Stuhlbeinen auf Brackwasser – im Rückblick immerhin in eine durchaus halbwegs braune Nacht weh-

mütig sich umzuwandeln begann, samt aller ersehnten Zwischentöne und Duftpartikel.

Dann hatte da im Störig noch jener dionysische Schachtelsatz aus dem „Willen zur Macht“ gestanden, sprachmächtige Tiraden über die Welt, ein Ungeheuer von Kraft, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut der Gestaltungen, aus dem Einfachsten in die Vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selberWidersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend ... kein Sattwerden, kein Überdruß, keine Müdigkeit – da wurde ich mitgestrudelt, da konnte ich beipflichten, hatte damals noch keine Widerstände, um nicht zu sagen: Idiosynkrasien gegen Pathetik, gegen kosmisches Schaumschlagen, war allenfalls skeptisch gegenüber der Auflösung der soghaften Anläufe, Katarakte, die Lösung all dieser Rätsel, beim Namen für diese Welt, die dann kursiv effektvoll lautete: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ War das nicht ein bisserl wenig? Doch der Weltgeist-Impetus der strudelnden Pompösitäten und Aufbauten beim Weltbeschreiben peitschte über den ungenügenden, arg rationalen, schopenhauerlastigen Merksatz hinweg, und ich nahm die sofort besorgte, zweibändige Hanser-Ausgabe nicht nur nach Venedig mit, sondern sogar nach Hellas, wohin ich schon seit Längerem aufbrechen wollte und hierzu bei Uwe (Medizinstudent, blaß, in Kunst und Wissenschaft als Haydn-Enthusiast zu Hause) anfragte, ob er mitwolle, und separat bei Werner (Bauer, muskelbepackter BluesFan, im Leben steckend). Mit mindestens einer Absage rechnend, sagten mir beide plötzlich gleichzeitig zu, und schon fiel mir auf, daß ich Uwe und Werner all die Jahre nullmal zusammengedacht hatte. Sie liefen bei mir auf völlig konträren Kanälen, wußten von ihrer gegenseitigen Existenz nichts. Statt einem von beiden abzusagen, bestellte ich zwei Tage vor der Abfahrt mit Uwes VW die beiden Gegenpole um 18 Uhr zu mir in die Tannenkuppenstraße 19. Uwe kam superpünktlich und bekam sogleich per Tonband Debussys „Parfums de la nuit“ vorgespielt. Sturmgeklingel – der gnomhafte Werner polterte die Treppen hoch. Fremd hockten sie sich gegenüber: Uwe, ausnehmend interessiert an den antiken und byzantinischen Besichtigungsorten, einen akkurat durchgearbeiteten Reise-


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Literatur — Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer

führer auf dem Schoß, sozusagen mit Lineal-Unterstreichungen; dem Werner kam es mehr auf „Land und Leute“ an. Uwes Violoncello konnte – aus Hitzegründen – nicht mitgenommen werden; Werner nahm seine Schlaggitarre mit. Ich nahm Laotse und „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ mit. So kutschten wir durch Trieste, tauchten nackt an den Gestaden der Insel Krk und sahen von hoher Serpentine auf das mittelalterliche Dubrovnik runter. Da Uwe morgens eine Stunde länger schlief als ich, und Werner eine Stunde länger als Uwe, hatte ich jeden Morgen eine Stunde Zeit, um neben unserem Zelt Weiterführendes über Apollonisches und Dionysisches zu erfahren und um alsdann eine Stunde mit dem erwachten, abgeklärt lächelnden Uwe über den Ästhetikbegriff bei

Sinnend verweilte Uwe vor den antiken Werken, viertelstundenlang, länger als ich; Werner saß unwirsch im Schatten einer Zypresse, schimpfte abwechselnd auf den lauen Inhalt unserer Wasserflaschen und auf uns: „Was wollt ihr denn? Sind doch alles bloß Steine!“ Nietzsche zu disputieren – ehe der jederzeit hungergeplagte Dickwurzel-Werner aufwachte und einen schelmischen Waldgott durchschimmern ließ, Pan beziehungsweise im weitesten Sinn den Rauschgott Dionysus, mit dem man sich sogar über den La-Ottse und den Nitsche unterhalten konnte, derweilen im stets höflichen, dezent gottgläubigen, philosophisch nicht uninteressierten Etepetete-Uwe Traumgott Apollo erkennbar sich manifestierte, wenn auch nur auf CVJM-Stufe: Sinnend verweilte Uwe, dessen idealistische Adlernase und durchaus stahlblaues Auge vom fliehenden Kinn allzu sehr zurückgenommen wurde (und vom Papierchen, das Uwe zwischen Sonnenbrille und edelblasse Nasenwurzel klemmte), vor den antiken Werken, sonderlich vor der Statue eines Philosophen in Delphi, viertelstundenlang, länger als ich; Werner saß unwirsch im Schatten einer Zypresse, schimpfte abwechselnd auf den lauen Inhalt unserer Wasserfla-

schen und auf uns: „Was wollt ihr denn? Sind doch alles bloß Steine!“ Während im Zarathustra eine Schlange einem schlafenden Schafhirten in den Mund kroch, behauptete Rationalist Uwe, daß Schlangen als wechselwarme Tiere nachts nicht rauskämen, und legte sich seelenruhig ins Gestrüpp. Hauptsache, ich reiste durch Saloniki und Athen mit Apollo & Dionysus persönlich, mit dem Denker an sich und dem Bauern an sich, mit Asket und Lustmolch, mit Edelmut und Körperkraft, wenn nicht gar: mit Geist und Natur. Nur litt ich ein wenig an der Einseitigkeit meiner Freunde. Kaum wollte ich über Heisenbergs Unschärferelation tiefsinnigst räsonieren, war Uwe just schwimmen gegangen. Und kam er dann zurück, fiel mir ein Scherz ein, über den nur Werner lachen


Literatur — Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer, N.+,

Der vollständige Text „Nietzsche und zwei, drei seiner Bewunderer“ mit Auftritten von Herbert „Zeitblom“ Müller, Dr. Zelinsky sowie Dr. Burgauner alias Alois Prossmann findet sich unter www.opak-magazin.de Von Ulrich Holbein erscheint demnächst im Elfenbein Verlag „Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen“.

/N. +, Nagel

konnte. Ich sympathisierte eher mit Werner, wie damals Hermann Hesse mit Goldmund und Nikos Kazantzakis mit Alexis Sorbas, aber nur, weil ich eher Uwes bleichhäutiges Theoretentum teilte sowie vor allem die peinliche Neigung, im VW den von Werner verschmähten Sicherheitsgurt immer gleich beim Einsteigen ordnungsgemäß anzulegen. Apollo-Uwe, als ich ihm mein Leid klagte, daß ich gern ihn und DionysWerner in eine Person zusammenschmelzen würde, meinte, daß sie dazu zu unterschiedlich seien. „Aber wieso will ich dann beide?“ „Weil du sowieso seltsam bist.“ Ohne mich als Ferment, Verbindungsglied und Kitt redeten Uwe und Werner weniger über Werners La-Ottse als über Wechselkurse und Benzinkosten, also hatten sich die unvereinbarlichen Weltprinzipien wenig zu sagen, ich aber projizierte meine Sehnsucht nach Transformation der experimentellen, heterogenen Fahrgemeinschaft in Apollo/Dionys-Koinzidenz in der attischen Tragödie ungehindert auf meine Reisekumpel, die in einer südjugoslawischen Kleinstadt friedlich miteinander einkaufen gingen; ich aber, der ich nietzschelesend im überhitzten VW zurückblieb, sah nach einiger Zeit auf – da hatte nicht etwa ein Schaf an meinem Lorbeer gezupft, sondern quer durch Sonnenblendung und weißen

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Staub kamen Geist-Uwe und Natur-Werner von fern auf mich zu gegangen, traulich zu zweit, ein Herz und eine Seele, beide gleich groß, und jeder das Einheitsexemplar eines frischgekauften Strohhuts auf dem je ein Eis leckenden Partnerlook-Kopfe, ein Idealbild hochsommerlicher Konfliktlosigkeit, All-Einheit pur, auf ewig besiegelt – doch mein von Nietzsche nahegelegtes Schema hinkte: Uwe war nicht der Bildhauerei oder anderer Augen- und Sonnenkunst zugetan, sondern der dunklen Musik, wie Werner, der keinen Alkohol trank, während Uwe Neigungen zu griechischem Kräuterschnaps entdeckte, ja, etliche Flaschen Uso mit zurück nach Deutschland nahm. Und wie paßte es zum Naturkind Werner, daß er qualmte, gern Motorrad plus Auto fuhr und sozialistische Theorien vertrat? Ins Reisetagebuch schrieb ich: „Arme Menschenkinder muß ich degradieren zu Funktionsträgern und Projektionsobjekten, und das nur, um mich zu weiden an den Kontrasten, die diese zwei ausgelagerten Teilaspekte meiner nietzscheanisch bipolar angelegten Psyche gebären. Obwohl ich nicht mit zwei philosophischen Abstrakta reisen will, sondern mit Uwe und Werner.“ So oder so: Nach sechs Wochen ging die Hellas-Ausfahrt zu Ende und ich setzte mein SozialpädagogikStudium in Darmstadt fort.

VIELEN DANK FÜR DIE BLÜMERANZ Nagel über Helden der Faulheit

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde ...“ wurde mehrmals pro Abend skandiert, auf diesen Partys, auf denen wir mit Kommunismus sympathisierten und mit Alkohol experimentierten. Ein kleiner Klüngel westfälischer Abiturienten, der zu späterer Stunde stolz die rechte Faust hob und feierlich „Die Internationale“ grölte, vorzugsweise in der Version von Hannes Wader. Wir waren uns sicher, dass die beste Live-LP der Welt nicht „No sleep ’til Hammersmith“, „It’s alive“ oder „Nach uns die Sintflut“ hieß, sondern „Hannes Wader singt Arbeiterlieder“. Die Platte wurde in den Siebzigern auf einem Volksfest der DKP aufgenommen und enthielt Evergreens wie „Die Moorsoldaten“, „Das Einheitsfrontlied“ und das „Solidaritätslied“. Absolutes Highlight dieser Greatest-Arbeiter-Hits-Sammlung war jedoch „Die Internationale“. Der letzte Song, die große Hymne. Während wir Kinder westdeutscher Reihenhausbesitzer inbrünstig Zeilen wie „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“ mitsangen, wurden mir vor lauter Revolutionsromantik nicht selten die Augen feucht. Was sich aber leicht damit entschuldigen ließ, dass ich mit der linken Hand stets eine Flasche Billigwein umklammert hielt, aus der mir im Eifer des letzten Gefechts die Liebfrauenmilch nur so ins Gesicht spritzte. Häufig stand mein Freund Mark neben mir. Zu ihm schaute ich auf. Das musste ich auch, Mark war über zwei Meter groß. Außerdem war er der sowohl Schlauste als auch Faulste unserer Runde. Er kam nur circa einmal die Woche zur Schule, den Rest der Zeit war er krankgeschrieben und hing in seinem Kinderzimmer rum. Wenn er doch mal zum Unterricht erschien und von unseren Lehrern in Deutsch, Politik, Geschi, Philo oder Päda etwas gefragt wurde, analysierte er in seinen gelangweilt vorgetragenen Antworten mal eben kurz die ganze Diskussion, inklusive Argumenten und Gegenargumenten, was die Lehrer vor Ärger und Neid rot anlaufen ließ. Genial! Rote Lehrer, davon wünschten wir uns ohnehin viel mehr. Auf seine Faulheit ließ Mark allerdings nichts kommen. Ich habe ihn nie auf einem Fahrrad gesehen, und beim Schulsport stand er, wenn überhaupt, nur missmutig und nutzlos im Völkerball-Feld herum. Jede Art der körper-

lichen Anstrengung war ihm suspekt. Das Phlegma als Dogma. Das ging so weit, dass er sich bei der „Internationalen“ beharrlich weigerte, eine Zeile der dritten Strophe mitzusingen: „Die Müßiggänger schiebt beiseite“. Wir freuten uns schon immer auf diese Zeile und sangen sie Mark extra laut ins Gesicht, so dass sie mit der Zeit zu meiner Lieblingsstelle wurde (von dem „Rotfront!“ mal abgesehen, das ein DKP-Volksfest-Besucher zwischen den letzten beiden Refrains unorthodox und mutig in den Raum ruft). „Die Müßiggänger schiebt beiseite?“, rief Mark. „Das ist doch faschistoider Nazi-Mist!“ Das erschien mir irgendwie plausibel. Während ich fieberhaft darüber nachdachte, was denn nun die korrekte Position zwischen Helden der Arbeit und Recht auf Faulheit war, begann das Publikum auf der HannesWader-CD, „Hoch! Die! Inter-natio-na-le! Solidarität!“ zu rufen, worauf sich auch Genosse Wader nicht lang bitten ließ und solidarisch in den Chor der Geknechteten einstieg. Und ich dachte, dieser Mark, der ist immer einen Schritt weiter, der wird’s noch mal weit bringen. Na ja, wenn er nicht so faul wäre, jedenfalls.

„SPEED-DATING“ – Ein Leseabend mit NAGEL & LINUS VOLKMANN Präsentiert von INTRO und OPAK. 14.05.2010 Braunschweig, B58, Eintritt frei 15.05.2010 Bielefeld, Bunker Ulmenwall 16.05.2010 Wiesbaden, Kreativfabrik 17.05.2010 Nürnberg, MUZ 18.05.2010 Stuttgart, Keller Club 19.05.2010 Reutlingen, FranzK 20.05.2010 Saarbrücken, Garage 21.05.2010 Augsburg, Ostwerk 22.05.2010 Erfurt, Stadtgarten 23.05.2010 Berlin, Admiralspalast


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Literatur — Nach Stalin

Text — M A R T I N B Ü S S E R

NACH STALIN Wassili Grossmans „Alles fließt“

Illu — CH R I S T I N A G R A N S O W


Literatur — Nach Stalin

E

s beginnt mit einer Zugfahrt nach Moskau. Stalin ist gerade gestorben, Iwan Grigorjewitsch, der Protagonist des Buches, wird aus dem Arbeitslager in Sibirien entlassen. Weil er nicht weiß, wohin er sich wenden soll, fährt er erst einmal zu seinem Cousin in die Stadt. Wie ein Sog wirkt die riesige Stadt beim Einfahren des Zuges und auch im Kopf von Iwan beginnt es zu wirbeln, Rückblenden setzen ein, und schon nach wenigen Seiten finden sich Passagen, die deutlich machen, warum Wassili Grossman als einer der letzten großen russischen Erzähler in der Tradition eines Dostojewski und Tolstoi gilt: „Der alte Mann saß am Tischchen und schaute, die Schläfen in die Fäuste gestützt, aus dem Fenster. Vor vielen Jahren hatte er als blutjunger Mann mit zerzaustem Haarschopf genauso am Fenster des Wagens dritter Klasse gesessen. Und obwohl die Menschen verschwunden waren, die damals mit ihm reisten, obwohl ihre Gesichter und Gespräche vergessen waren, lebte in seinem grauen Kopf wieder auf, was anscheinend gar nicht existierte.“

Jüdische Agenten „Alles fließt“ beginnt ähnlich wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“: Auch hier kommt ein Mensch nach langen Jahren aus der Gefangenschaft an die Orte seiner Vergangenheit zurück und muss bemerken, dass ihm die neue Welt fremd geworden ist. Völlig verwirrt irrt auch Franz Bieberkopf durch die Großstadt und versteht die Handlungen der Menschen nicht mehr. Beim Blick in eine Kneipe ist er entsetzt: „Sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleischstücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht.“ Doch Iwans Fremdheit ist noch elementarer, für ihn gibt es auch politisch keinen Halt mehr: Er, der einmal an die Revolution geglaubt hatte, fühlt sich verraten. Wo nur soll er in diesem Land noch bleiben? Selbst die eigene Familie hat die Seiten gewechselt. Sein Cousin in der Stadt entpuppt sich als Opportunist, der unter Stalin politische Abweichler denunziert hatte. Der Cousin weiß das und redet deshalb permanent auf den Zurückgekehrten ein, erklärt ihm in panischem Zwang zur Rechtfertigung, dass er selbst stets sauber geblieben sei, während innerlich die Zweifel an ihm nagen: „War das der Sozialismus – mit den Lagern in Kolyma, dem Kannibalismus während der Kollektivierung, dem Tod von Millionen Menschen?“ Die Frage bleibt unbeantwortet im Raum stehen. Es ist die zentrale Frage, die den Schriftsteller Wassili Grossman über Jahrzehnte beschäftigt hat. Vieles an Iwans Entwurzelung und Entfremdung findet sich auch in Grossmans Biografie wieder. Er unterstützte 1917 die russische Revolution, verlor seine jüdische Mutter nach dem Einmarsch der Deutschen und arbeitete als Kriegsreporter für die Sowjetunion. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Grossman zusammen mit Ilja Ehrenburg als Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees die Herausgabe des „Schwarzbuchs“ über die Vernichtung der Juden in Russland und die Nazi-Kollaborateure in der Ukraine. Bereits dieses 1948 fertiggestellte Buch fiel der Zensur zum Opfer. Vom Antisemitismus in Russland sollte niemand erfahren. Auch dieses Thema verarbeitet Grossman in „Alles fließt“: „In den Straßenbahnen, auf den Märkten und in den Behörden erzählte man sich, dass in Moskau mehrere Apotheken geschlossen worden seien, in denen jüdische Apotheker – amerikanische Agenten – Pillen mit getrockneten Läusen verkauft hätten.“ Vorurteile und Gerüchte dieser Art bestimmen auch noch in den fünfziger Jahren, in denen der Roman angesiedelt ist, die russische Volksseele.

Schreiben für die Schublade Seit Grossman klar war, dass seine Bücher zu Lebzeiten keine Chance einer Veröffentlichung hatten, konnte er radikal mit Stalins Politik abrechnen. Das funktioniert im ansonsten tieftraurigen „Alles fließt“ manchmal sogar mit einer Spur Humor: „Stalin starb ungeplant, ohne Anordnung der richtungsweisenden Organe. Stalin starb ohne die persönliche Anordnung des Genossen Stalin.“ Grossman verfällt dabei jedoch nie in den heute gängigen Relativismus einer Gleichsetzung vom Terror unter Hitler und Stalin. Sein Hass auf Stalin wiegt den Antifaschismus nicht auf, vielmehr ist hier die Enttäuschung eines Re-

volutionärs spürbar, der sich einen anderen, auf freiheitlichen Idealen basierenden Sozialismus gewünscht hätte. Im 2009 auf Deutsch erschienenen Erzählband „Tiergarten“ macht Grossman dies bei einem Streifzug über einen alten Moskauer Friedhof deutlich. Am Ende steht der Erzähler vor den Gräbern aus der Frühphase der Revolution, bei den wenig übrig gebliebenen Grabmälern jener, „die an die Weltkommune geglaubt haben“: „Zu diesem Zeitpunkt war das Nationale noch

49 die jungen Männer und Mädchen, denen es nicht vergönnt war, ihre Bilder zu malen und ihre Bücher zu schreiben? Die russische Erde gebar freigebig eigene Platos und Newtons mit raschem Verstand, doch wie grausam leicht fraß sie dann ihre eigenen Kinder.“ Die zeitgenössische Literatur in Russland bleibt Iwan dagegen fremd, wirkt auf ihn wie Propaganda: „Bei vielen Romanen und Gedichten hatte er das unerträgliche Gefühl, sie wollten ihm mit aller Macht etwas eintrichtern.“

Stalin starb ungeplant, ohne Anordnung der richtungsweisenden Organe. Stalin starb ohne die persönliche Anordnung des Genossen Stalin nicht gänzlich aus der Form des sowjetischen Lebens in seinen Inhalt übergegangen und hatte sich das Sozialistische noch nicht endgültig in die Form verabschiedet. (...) Wie viele gemischte Ehen! Welch wunderbare Gleichbehandlung der Nationen! (...) Und wie viele Letten, Juden, Armenier, was für Kampfparolen auf den Grabmalen!“ An diesen Gräbern vermeint der Erzähler noch die Flamme der jungen Revolution zu spüren, „den Geist der Internationale“. Doch was nützt eine Flamme, die nur noch zwischen oder angesichts von Gräbern glüht? – „Hier ist er, der Tod“, endet die Erzählung und erklärt damit eine der größten Hoffnungen des 20. Jahrhunderts für gescheitert.

Verhinderte Newtons Bereits anhand dieser Passagen wird deutlich, dass Grossman nie bloßer Erzähler ist, sondern die politischen Zeitumstände stets mitreflektiert. Dadurch wechselt sein Stil oft zwischen Epischem und Essayistischem. Dies macht „Alles fließt“ neben seinen erzählerischen Qualitäten auch historisch interessant, denn erstmals erfährt man unzensiert vom Alltag und den Repressalien im Russland der fünfziger Jahre, von Grossman nicht ohne Pathos vorgetragen: „Die Literatur vor der Revolution beklagte oft das Schicksal von leibeigenen Schauspielern, Musikern und Malern. Aber wer beseufzte in den heutigen Büchern

Dass die Sowjetunion ein totalitäres Regime war, ist längst bekannt. Welcher Aufklärung oder neuen Erkenntnis dient also die Grossman-Renaissance, die hierzulande durch die Neuübersetzungen und das große Presseecho ausgelöst wurde? Leicht könnte die Rezeption darauf verkürzt werden, dass Grossman als großer Verfechter der Freiheit unter kapitalistischen Bedingungen hätte glücklich werden können. Im Kapitalismus wären all seine Bücher bereits zu Lebzeiten veröffentlicht worden. Doch diese Lesart würde dem Mann nicht gerecht, der die frühe Phase der Revolution als einen der historisch wichtigsten Momente des 20. Jahrhunderts gefeiert hat – eine Zeit, als die Revolutionäre selbst noch eine künstlerische Avantgarde hervorbrachten, bevor mit dem sozialistischen Realismus nur noch Stalinkult auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Wenn heute etwas an Grossman aktuell geblieben ist, dann ist es genau dieser Punkt: Er ist stets Verfechter eines freiheitlichen Sozialismus gewesen. Kapitalismus und Stalinismus waren für ihn nie Alternativen. Wassili Grossman: „Alles fließt“ Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Gebunden, 256 Seiten, Ullstein Verlag


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Literatur — Eins mit Kunst und Bunnys

EINS MIT KUNST UND BUNNYS Nicolas Mahlers Comic „Pornografie und Selbstmord“ Text — W A L D E M A R K E S L E R

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s gibt einige Etiketten, die sich Mahlers Humorzeichnungen redlich verdient hätten: selbstreferentieller Minimalismus, stilistische Dürre, nachdenklicher Stillstand, absurde Abstraktion, pointierte Pointenlosigkeit. Dennoch ist für die darauf Wartenden jeder neue Band von Mahler ein identitätsstiftendes Erlebnis: als ob Flaschko, der Mann in der Heizdecke, wieder zu selbiger zurückkehren dürfte, nachdem er gezwungen gewesen war, sie zu verlassen. So verhält es sich zumindest bei zwei Reihen Mahlers. Bei den Sitzmelodramen von ebenjenem Flaschko, dessen Universum sich beschränkt auf 1. die Decke, aus der ihn nicht einmal 2. seine Mutter lockt, und 3. dem Fernseher. Und dann können sich Mahlerianer noch auf die Comics verlassen, in denen Mahler selbst im Kunst- und Kulturbetrieb umherstreift. Nach „Kunsttheorie versus Frau Goldgruber“ (2003), worin er seine findige Finanzbeamtin davon überzeugen musste, ihn als Künstler einzustufen und ihm damit den ermäßigten Steuersatz zu bescheren, und „Die Zumutungen der Moderne“ (2007), in dem alkoholgezeichnete finnische Comiczeichner nach einem Orientierungs15 Schwenk offenbaren: „Hell is also Life“, erschien nun der dritte Teil mit dem knackigen Titel „Pornografie und Selbstmord“. „Pornografie und Selbstmord“ zeigt, wie beglückend wir uns auf Mahler verlassen können. Dort kommt zusammen, was nicht zusamPornografie_und_Selbstmord_innen.indd mengehört und nie zusammengehören sollte: Geeks in der Playboy Art Collection, High Culture (der Louvre) und Low Culture (Mattel-Actionspielzeug), Windeln und Ganzkörper-Frotteeanzüge, Großmutters Schrank und Kunstinstallationen oder eben perfekte Masturbationsvorlagen und kulturwissenschaftlicher Selbstmord. Warum fühlen wir uns bei Mahlers autobiografisch daherkommenden Büchern so geborgen? Inmitten von Figuren, die wie expressionistische Nachttischlampen oder unter dem Mikroskop deklamierende Pantoffeltierchen aussehen, bleibt Mahler eine existenzialistisch gekleidete 1 mit Brille, so sehr eins mit sich, dass sie uns immer zeigt, wie die auseinanderdriftenden Dinge zusammenfinden. Ein Schweizer Comicsammler spricht’s in dem neuen Band aus: „Super, dass si ihres Mannli gfunde händ.“ Damit meint er Figuren wie Charlie Brown, Calvin oder Krazy Kat, die in sich so stimmig sind, dass ihnen die Pointen von selbst zuzufliegen scheinen. Mahlers Mannli sind ebenso Flaschko wie auch die Comicfigur „Mahler“. Mahler weiß ganz genau, wo er sich als Comicfigur hineinstecken muss, damit sich die wundervoll abstrusen Mahler-Momente einstellen: vor sein Telefontischchen, in sinnentblößte Preisverleihungsempfänge, geriatrische Kunstausstellungen, vor ein Roy-Schnackenberg-Bild oder in einen seiner symbolisch entladenen Träume. Ob die Episoden erlebt oder erfunden sind, spielt da überhaupt keine Rolle. Alle oben aufgelisteten, schlimm nach geballter Kunstattitüde riechenden Attribute wirken hier wie die Authentizität vom Lande, da mit den richtigen Mitteln alles, was der Kunstbetrieb abwirft, direkt wieder Kunstblüten treibt.

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12.01.2010 20:07:03 Uhr

Nicolas Mahler: „Pornografie und Selbstmord“ ist bereits bei Reprodukt erschienen

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„Meine Stars“ holt die Celebritys nach Hause. Mira Cordes (9) hat das Malbuch für uns getestet. (… von Leuten, die es besser wissen)

MALEN MIT QUALEN

51 Foto — N I K O L A I P O T T H O F F

Literatur — (Gastexperten)

Text — U L F A Y E S

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s war ganz klar eine Erfindung von Eltern, die endlich Ruhe haben wollten: das Malbuch. Endlose Nachmittage lang knechtete es uns, die großen Flächen zwischen den groben Linien füllten wir mit Unwillen und Missachtung. Die Häuser mit Vorgärten sahen trist aus, Hunde und Katzen dämlich, für Autos und Schiffe interessierten sich eh nur Trottel. Was auch immer hier trainiert werden sollte, mit Spaß durfte es scheinbar nichts zu tun haben. Hauptsache Muttern konnte pennen und Vattern in die Kneipe. Dank „Meine Stars“ ist das natürlich heute alles anders. „Michael Jackson kann ich nicht leiden“, sagt die neunjährige Mira Cordes. Wieso sie ihn trotzdem ausgemalt habe? „Hä, na weil er auf der ersten Seite drauf ist!“ Besser gefällt ihr Selena Gomez: „Die sieht gut aus. Ich kenne sie aus dem Fernsehen. Obwohl, die Mundpartie ist hier ganz falsch. Und weißt du, was noch falsch ist? Hier ist Hannah Montana abgebildet, nicht Miley Cyrus“, kritisiert sie.

Der Einwand, Miley Cyrus spiele Hannah Montana, wird abgeschmettert: „Klar, aber Miley Cyrus hat gewelltes Haar, nicht glattes!“ Beim Ausmalen verwendet Mira eine spezielle Technik. Die Ränder werden zunächst mit Buntstiften nachgezeichnet, danach kommen Filzstifte zum Einsatz. „Die Frauen sind gut nachgezeichnet“, erklärt sie. Und die Männer? „Ach, Männer sind Männer. Bisschen langweilig. Außer Justin Bieber. Aber der ist ja nicht drin. Und Olli Schulz auch nicht, und Muff Potter und Heike Makatsch.“ Ansonsten? „Gut ist das Buch. Macht Spaß!“ Aber der Verlag muss sich vorbereiten, denn: „Die sitzen hier in der Kastanienallee, das habe ich gesehen. Da gehe ich vorbei und sag denen, wer fehlt!“ In dem Moment kommt Vatti nach Hause, es poltert. „Fuck!“, sagt er. „Oh, schon wieder ein neues Wort gelernt“, sagt Mira lachend und lässt das Malbuch unter der Twist und hey! verschwinden.


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Literatur — (Buch der Ausgabe)

JOHN GLASSCO „Die verrückten Jahre” Text — J O H A N N E S V . WEIZSÄCKER Foto — M A X Z E R R A H N

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em Bohemien wurde in der bügerlichen Gesellschaft oft eine Toleranz eingeräumt, die anderen Moralabweichlern nicht vergönnt war; wer sich frei ausleben wollte, tat gut daran, in eine geeignete Stadt zu ziehen und sich als Künstler auszugeben. Die NichtKünstler brauchten die Künstler, denn nirgendwo liessen sich die dem liberal-bürgerlichen Weltbild inhärenten Widersprüche von Toleranz und Moral so elegant aufheben wie im Erdulden der künstlerischen Moralabweichung. Der Lebenswandel des Künstlers interessierte daher oft mehr als seine Kunst und Ausführungen entsprechender „Szenen“ gaben angenehm verruchte Lektüre ab. Inzwischen ist die kommerzialisierte Moralabweichung ein unerlässlicher Bestandteil des Kulturmarkts geworden. Ihre Dokumentierung hat arg verkrampfte Züge angenommen – siehe Helene Hegemann.

Der nüchterne, geschmackssichere Leser lässt sich also lieber von Schilderungen aus vergangenen Jahrzehnten unterhalten – zum Beispiel von John Glasscos “Die verrückten Jahre”, einem leicht fiktionalisierten Bericht über den Aufenthalt des jungen kanadischen Autors im Paris der späten zwanziger Jahre. Glassco, ein literaturbegeisterter Achtzehnjähriger aus gutem Hause, bricht 1927 zusammen mit seinem Freund Graeme Taylor in Montreal auf. Dem widerwilligen Vater eröffnet Glassco, er wolle eine literarische Laufbahn einschlagen; so sichert er sich zunächst die nötige finanzielle Unterstützung. Am Monparnasse werden die beiden Freunde schon bald mit zahlreichen, mehr oder weniger namhaften Schriftstellern und Künstlern – vor allem natürlich Amerikaner und Engländer im selbstgewählten Exil – bekannt. Sie beschliessen, der Verwirklichung ihrer dichterischen Ambitionen eine bestenfalls zweitrangige Stellung einzuräumen und sich primär der unbedingt notwendig erscheinenden Erfahrung des Bohemischen hinzugeben. Also lernt man unter der Führung des Quartalssäufers und angesehenen Autors Robert McAlmon schleunigst Bars, Restaurants, Salons und Bordelle kennen, hat ebenso regelmässige wie faszinierend beiläufige Begegnungen mit Grössen wie Ernest Hemingway, Man Ray und James Joyce, gatecrasht eine Party bei Gertrude Stein und wird nach einer allzu frechen Retoure auf eine Bemerkung Steins wieder hinauskomplimentiert, organisiert wilde Feiern in muffigen Ateliers, hat endlose Affairen, Liebschaften und One-Night-Stands, reist nach Luxembourg und an die Cote d’Azur, wo man in einigen rasend komisch beschriebenen Passagen Peggy Guggenheim und ihren ersten Mann Laurence Vail kennenlernt. Glassco hat all dies mit jugendlicher Arroganz und präziser Knappheit einerseits und

kaum verborgener Begeisterung über das eigene Dabeisein andererseits aufgeschrieben; mit der richtigen Stilmischung also, um die von leichter Verzweiflung angehauchte Komik einer solchen Dauerparty wiederzugeben. Denn trotz aller literarischen Gesprächsstoffe geht es hier genau darum: ums Partymachen. Ums Mitteilen, „wer in welchem Laden nach wieviel Bier was zu wem gesagt hat”, wie es Max Goldt bezüglich seiner Kolumne im legendären Fanzine “Ich und mein Staubsauger” einmal ausdrückte. Der den Westberliner Postpunk-Untergrund der achtziger Jahre dokumentierende „Staubsauger” war stellenweise ebenfalls rasend komisch und wurde kürzlich, über zwanzig Jahre nach seiner Einstellung, sogar ins Marbacher Literatur-Archiv aufgenommen. Max Goldt etablierte sich durch seine einzigartigen Szene- und Alltags-Beobachtungen. Seinem Vorgänger Glassco erging es anders: Über sein Leben und Werk nach der Rückkehr aus Paris ist wenig bekannt. John Glassco: „Die verrückten Jahre“ ist bereits bei Hanser erschienen


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Literatur – (Highlights)

Don DeLillo

Steve Toltz

Elisabeth Rank

„DER OMEGA PUNKT“

„VATERMORD UND ANDERE FAMILIENVERGNÜGEN“

„UND IM ZWEIFEL FÜR DICH SELBST“

(Kiepenheuer&Witsch)

(dva)

(Suhrkamp)

Und irgendwann kommt dieser Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Idealerweise weil das Ziel erreicht ist, oder, die unschöne Variante, das Ende naht. Eine Stimmung, die Don DeLillos neuen Roman einfärbt und den Titel prägt: „Der Omega-Punkt“. In dem seitenschwachen, aber ausdrucksstarken Erzählstück besticht der Autor durch seine eigenwilligen Figuren. In idyllischer Einöde will ein junger Dokumentarfilmer den ehemaligen Kriegsberater Richard Elster für eine Videoprojektion gewinnen. Dieser soll vor laufender Kamera reflektieren: ohne Fragen, ohne Stimme aus dem Off und ohne Schnitt. Der Dokumentarfilmer selbst berauscht sich so an seiner Idee, dass ihm die Träumerei daran schier ausreicht. Über Wochen philosophiert er über das Projekt, ohne es groß weiterzuentwickeln oder echtes Interesse Elsters hervorzurufen. Der alte Gelehrte geht nur auf ein ungefilmtes Gespräch ein: Ein bisschen seine Beraterdienste beim Irakkrieg erläutern, nicht verurteilt werden. Ein bisschen Kunstobjekt sein, doch nicht wirklich eingefordert werden. Fast zwei Wochen lang spielen sich die beiden aufeinander ein: Tage, abgesteckt durch tägliche Omelettes und späte Drinks, dann kommt der Besuch von Elsters Tochter Jessie. Die Tochter ist zu lau, um wirklich etwas zu verändern. Es sind mehr die Erinnerungen des Vaters, die einen Zauber vorgaukeln. Der wünscht ihr das Beste, das der Ort hergibt: ein Dickhornschaf sehen. Jessie gewinnt nur durch ihr plötzliches Verschwinden an Bedeutung, und die Nichtentscheidung des Dokumentarfilms driftet ins Uferlose. „Was für ein Anblick, so untröstlich menschlich“: Es sind Sätze wie dieser, die das Buch auf den Punkt bringen, sprachlich und inhaltlich. Exakt.

In seinem Romandebüt entwirft Steve Toltz eine Familiengeschichte, die so irrwitzig daher konstruiert ist, dass man fälschlicherweise versucht ist, sie für wahr zu halten. Der Erzähler, Jasper Dean, beschreibt sein Leben als eine zwei Generationen umfassende Geschichte eines multiplen Coming-of-age. Was in der Kindheit seines Vaters Martin und dessen Bruders Terry im fernen Australien beginnt, wird zu einer Leidensgeschichte epochalen Ausmaßes. Aber einer köstlichen! Und wie jede gute Leidensgeschichte trägt auch diese die Hoffnung auf Erlösung in sich. Die Protagonisten: Martin Dean, Misanthrop aus humanistischen Gründen, Borderliner, ein Mann, der seinen Jungen schon mal aus dem Grundschulunterricht abholt, um ihm Nietzsche vorzulesen, einer, dem das Schicksal noch aus jeder guten Idee ein Unglück dreht, dessen Taten sich stets zu einem haarsträubenden Crescendo aus Scheitern und zum Schaden vieler, Feuersbrünste inklusive, auswachsen, an deren Ende die gesamte Nation gegen ihn aufgebracht sein wird. Sowie Terry Dean, hinkender Ex-Kindersportstar, Australiens beliebtester Schwerverbrecher, ein sich als moderner Robin Hood missverstehender Mörder aus Gründen der Gerechtigkeit, Drogenhändler von weltweitem Format. Mittenmang: Jasper, der aus Tagebucheintragungen seines Vaters, aus Zeitungsausschnitten und eigenen Erfahrungen berichtet. Und von einer Vielzahl weiterer gestörter Gestalten. Ein Buch so voller Volten, Aberwitz, Philosophie und Menschlichkeit, dass es eine Art ist. After all aber auch ein Vademecum jeder Familienpsychologie. Wenn Sie dachten, ihre Familie sei kaputt, dann schauen Sie sich diese mal an.

„Man rechnet ja nicht damit. Wir glaubten an ein Morgen.“ Lene und Tonia verbringen unbekümmert ihren Studentenalltag in Berlin, bis ein Unfall alles verändert. Tim verliert dabei sein Leben, und Lene ihren Freund. Lene und Tonia verlassen Berlin, den Ort ihrer Erinnerungen, und begeben sich auf eine Reise, deren Richtung sie nicht kennen. Im Auto umgibt sie eine Stille, die bedrohlich auf Tonia einwirkt. Passende Worte, um Lene Trost zu spenden, wollen ihr nicht einfallen. Wie die Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns ziehen in Tonias Kopf Bilder aus ihrer sorgenfreien Kindheit vorbei, Lene versucht unterdessen, sich die Zeit mit Tim ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Unsicherheit und damit einhergehende Angst vor Entfremdung der beiden Protagonistinnen beschreibt Rank auf eine beklemmende Weise. „... ich hatte Angst, es würde von uns nichts übrigbleiben.“ Die Hitze der Tage unterstreicht die Paralyse der beiden, die den Text durchdringt. Die Stärke der Erzählung liegt genau in dieser Sprachlosigkeit der Figuren. Rank schildert eindrücklich das Unbehagen, geht dabei aber behutsam vor. Eindringlich beschreibt sie die körperliche Nähe zwischen den Freundinnen, welche die Ratlosigkeit und die damit einhergehende Distanz kompensiert. Einzig die knifflige Liebesgeschichte, die in einem zweiten Erzählstrang eingeflochten wird, wirkt etwas klischeehaft. Einen Generationenroman, wie er auf dem Klappentext versprochen wird, hat Elisabeth Rank nicht geschrieben. Der Roman ist mehr als das: ein feinsinniges, atmosphärisch dichtes Buch, das sich den großen Themen Tod und Loslassen behutsam nähert, ohne dabei in Sentimentalitäten zu verfallen. Rank gibt den Figuren die Zeit, langsam wieder zu sich zu kommen, und lässt sie in kleinen Schritten zurück in einen Alltag finden.

Text — Bettina Koller

Text — Markus Göres

Text — Janine Schemmer


Film — Die Göttlichen

Film

Illu — O F E R W O L B E R G E R

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Die Göttlichen Text — M A R C U S S T I G L E G G E R


Film — Die Göttlichen

Cary Grant sagte einmal: „Everyone wants to be Cary Grant — even me.“ So viel also zur Star Persona. Doch woher kommt dieses Bedürfnis? Wie macht das Kino aus einem Menschen einen Star? Über die Ikonisierung und Verehrung von Filmschauspielern: sei es Monroe, sei es Schwarzenegger.

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Film — Die Göttlichen

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ie Entstehung filmisch konstituierter Leitbilder ist in gewisser Weise willkürlich und sehr stark vom Kontext der Rezeption, nicht nur der Produktion, abhängig. Die Sozialisation des Rezipienten, sein Bildungsstand, seine Sehnsüchte erst lassen das eigentliche Bild, letztlich die filmische Ikone entstehen. Dieses komplexe Geflecht der Umstände erklärt auch, dass filmische Ikonen immer im Fluss sind – ebenso wie sie populär werden können, ist ihre Wirkung mitunter vergänglich. In besonderer Weise mit dem Medium Film verknüpft ist das Phänomen der Stars. Wie die selbstleuchtenden Himmelskörper, nach denen sie benannt sind, geht von ihnen offenbar ein inneres Strahlen, eine Aura (Walter Benjamin) aus, die sie vom profanen Mitmenschen unterscheidet – zumindest in ihrer medialen Projektion. Diese Stars sind ein wesentlicher Teil der Verführungsmaschinerie Kino, und Zuschauerinnen und Zuschauer unterwerfen sich von jeher lustvoll jenen seduktiven Strategien, die die filmische Inszenierung für sie bereithält – wie in dem Buch „Ritual & Verführung“ (Berlin 2006) ausführlich dargelegt. Paul McDonald betont in seiner Untersuchung zum „Star System“ (2000), wie sehr dieses System mit anderen ökonomischen Aspekten verknüpft war und ist. Sobald es ein Filmgeschäft gab, wurden ikonische Schauspieler mit klar definierter Identität und Physis nötig, um die Werbung zu erleichtern und dem Publikum die Identifikation mit dem Produkt zu erleichtern. Seit den charismatischen Stars der Stummfilmära läuft die Verführung des Publikums, männlich wie weiblich, über den präsentierten, filmisch konstruierten Körper der Stars, der mit Licht modelliert und in Montage und Bildausschnitt neu zusammengesetzt wird, um ihn zu idealisieren. Und der simulierten Natur dieser oft makellosen Körperlichkeit vertraut der Zuschauer scheinbar widerstandslos. Die Körper der Stars sind die Erfüllung der Wunschträume und Utopien, sei es das undurchschaubare Antlitz von Greta Garbo, die schlangenhafte Körpersprache Brigitte Helms oder die verschwitzt-schimmernde Abenteurerpose von Douglas Fairbanks jr. Ist der Körper des weiblichen Stars meist einer der überirdischen Schönheit – und insofern perfekt zur Verführung des Betrachters geeignet –, wird der (identifikationstaugliche) männliche Körper mitunter zu einem militarisierten, nahezu mechanisierten Körper – oder aber zur androgynen Auflösung der gender-Grenzen: Der durchaus zweigeschlechtlich wirkende Stummfilmstar Rudolfo Valentino zum Beispiel zog ebenso Frauen wie Männer ins Kino. In den fünfziger Jahren trat mit Marlon Brando, James Dean und Montgomery Clift ein Typus des physisch attraktiven Rebellen auf. Ihre Gestik, ihre lässige Kleidung (Jeans und T-Shirt) und ihre Märtyrerposen beschworen ein neues Männlichkeitsbild, das sich von der unbedingten Maskulinität eines in sich ruhenden John Wayne deutlich unterschied. All diese Stars wurden zu ikonischen Leitbildern ihrer Generation, auch wenn sie heute nicht immer erinnert werden. Für Schauspielerinnen wurde in der Filmindustrie das Attribut der physischen Attraktivität geradezu verpflichtend. Als „Sexbomben“ wurden sie vermarktet, auch wenn sie ihr künstlerisches Potenzial lieber anders eingesetzt hätten. Marilyn Monroe ist zur populärsten Verkörperung der Tragödie eines solchen Stars geworden. Gerade an ihrer filmischen Persona wird deutlich, wie im Film die „Zurschaustellung der Frau auf zwei Ebenen von Bedeutung“ ist: „Sie war erotisches Objekt für die Charaktere im Film und erotisches Objekt für den Betrachter im Zuschauerraum, wobei die Spannung zwischen den Blicken auf beiden Seiten der Leinwand wechselte.“ (Laura Mulvey)

Marilyn Monroe, in The Seven Year Itch (1955) auf einem U-Bahn-Luftschacht stehend, aus dem ihr der Luftzug das Kleid hoch weht, wurde vielfach reproduziert und ist als ikonische Geste zu einem verfügbaren Markenzeichen geronnen, das unter anderem in Werbespots zitiert wird. Waren die weiblichen Star-Images im traditionellen Erzählkino in der „Sprache der herrschenden patriarchalen Ordnung“ codiert (ebd.), so gilt dies auch für männliche Stars, zum Beispiel im Actionfilm: Eine Figur etwa wie der britische Geheimagent James Bond, von Sean Connery in den sechziger Jahren dargestellt, verkörpert männliche Omnipotenzfantasien bis zum völligen Zynismus. Ist jedoch gerade in Connerys Performance die Gewalttätigkeit stets mit Charme und Stil kombiniert, so radikalisierte das amerikanische Actionkino seit Arnold Schwarzeneggers Verkörperung von John Milius’ Conan the Barbarian (1982) und Sylvester Stallones Figur in Rambo: First Blood Part 2 (1985) von George Pan Cosmatos das Konzept der „Spectacular Bodies“ (so nennt es Yvonne Tasker, 1993) bis zur emotionslos-instinktiven Kampfmaschine. Bruce Willis und Mel Gibson erweiterten dieses Figurenkonzept um die Komponente märtyrerhaften Leidens und um Elemente der Selbstironie: Gibson als Endzeitheroe Max Rockatansky in George Millers Film Mad Max (1979) wird zu einer einsamen Kampfmaschine stilisiert, die im Laufe des Films unzählige Verletzungen zu erleiden hat. Mit dem Mad Max des zweiten Teils The Road Warrior (1981) der gleichnamigen Filmreihe schuf der Australier Miller endgültig den Prototyp des modernen Typus des Action-Helden: Physisch effizient und zynisch wie James Bond, einsam und melancholisch wie der Italo-Westerner und auch ebenso verletzbar wie dieser, transzendiert er letztlich vom Märtyrer zum unsterblichen Mythos. Schmerzensmänner wie sie Bruce Willis in der Die-Hard-Trilogie verkörpert, schließen an dieses Märtyrer-Konzept an, ein morbider Gothic-Hero wie Brandon Lee als wieder auferstandener Rächer in The Crow (1994) geht noch darüber hinaus, da er den irdischen Schmerz bereits hinter sich gelassen hat und nur noch als zombiehafter Wiedergänger erscheint. Der Umgang des Fans mit „seinem“ Star als seiner persönlichen Ikone ähnelt wiederum der kultisch-fetischistischen Verehrung, die aus animistischen Kulturen bekannt ist. Ihm oder Ihr wird in Form von ikonischen Abbildungen altarähnlich gehuldigt. Die Filme werden in ritueller Wiederholung gesichtet, jede Äußerung mit dem populären Mythos abgeglichen. Am besten funktioniert diese Form der Verehrung bei bereits verstorbenen Stars, die ohnehin bereits zu ihrem eigenen Mythos geronnen sind. Richard Dyer hat in seiner Untersuchung „Stars“ (1979) drei Ebenen unterschieden, die sowohl für den Star speziell als auch für die Ikone grundsätzlich relevant sind: 1. als soziales Phänomen, 2. als Bild, und 3. als Zeichen. Eines vereint alle drei Ebenen: die Verdichtung von Wunschbildern und Idealen in einer medial projizierten Gestalt. Wie aber wird ein Filmschauspieler nun tatsächlich zu einer Ikone mit Starqualität, was erzeugt dieses innere Leuchten (die Aura) der Stars? Neben dem bereits beschriebenen filmisch konstruierten und idealisierten Körper erscheint vor allem die Pose und die spezifische Geste wichtig, die als Solospiel den Fluss der filmischen Erzählung unterbricht und zugleich hohen Erinnerungswert hat. Die meisten klassischen Filmstars sind mit wenigen Attributen zu charakterisieren und an denselben zu erkennen, sei es der schleppende Gang von John Wayne, das hektische o-beinige Watscheln von Charlie Chaplin, die exponierte und dennoch naive Sinnlichkeit von Marilyn Monroe. Diese Qualitäten werden zum Zentrum einer Sequenz aus Luc Bessons romantischem Thriller Léon the professional (1994), in dem die junge Mathilda (Natalie Portman) mit


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Ofer Wolberger aus dem Buchprojekt „Star Quality“. www.horsesthink.com, www.oferwolberger.com


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Film — Die Göttlichen dem fürsorglichen Killer Leon (Jean Reno) Starraten spielt und die ikonischen Qualitäten dieser Stars klar identifizierbar ausstellt. Das werden wir an zwei BeispieVerwendete Literatur: len nun ebenfalls nachvollziehen:

Richard Dyer: Heavenly Bodies. Film stars and society, London 1986 Richard Dyer: Stars, London 1979 / 1992 Vilém Flusser: Digitaler Schein, in: Florian Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main 1991, S. 147-159 Paul McDonald: The Star System. Hollywod’s Production of Popular Identities, London 2000 Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema [1973], in: Baudry, Leo und Marshall Cohen (Hrsg.): Film Theory and Criticism. Introductory Readings [1974]. Fifth Edition, Oxford 1999, S. 833-845 Marcus Stiglegger: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006 Yvonne Tasker: Spectacular Bodies. Gender, Genre, and the Action-Cinema, London 1993

Die Göttliche

The Seven Year Itch gehört vermutlich nicht zu den populärsten Monroe-Filmen, hat jedoch das Bild der Schauspielerin nachhaltig geprägt. Diese späte, in Farbe und Breitwand inszenierte Screwball-Komödie konfrontiert einen verheirateten Strohwitwer in den heißen Sommermonaten mit einer erotischen Nachbarin, die ihn mit kindhaftem Charme verführt. Berühmt wurde jene Szene, in der beide aus dem Kino kommen und über den gerade gesehenen Film „The Creature from the Black Lagoon“ (1954) diskutieren. Sie stellt fest, als sie über einen U-Bahnschacht läuft, wie angenehm ihr die kühle Luft unter den Rock bläst. Der Film inszeniert diesen Vorgang, den sie sichtlich genießt, dreimal, wobei der Körper immer nur in Teilen zu sehen ist. So sehen wir nur einen Ausschnitt der Beine und der Rock wird aus dem Bild geweht. Den wesentlichen Anblick überlässt die Inszenierung der Fantasie des Zuschauers. In der berühmten Monroe-Pose, die auf diesen Szenen basiert, sehen wir die Schauspielerin jedoch ganz, wie sie sich bemüht den Rock unten zu halten. Die ikonische Pose reproduziert also ein Pressefoto des Films, nicht eine Einstellung des Films selbst. Der Erfolg dieser Pose ist zurückzuführen auf die verheißene Freizügigkeit, die jedoch keusch gekontert wird. Wir sehen nichts, weder im Film noch im Pressefoto – lediglich die Pose. Richard Dyer stellt die Monroe ins Zentrum seiner Untersuchung „Heavenly Bodies“ (1986) und kommt zu erstaunlichen Verallgemeinerungen: „Stars matter because they act out aspects of life that matter to us; and performers get to be stars when what they act out matters to enough people. Though there is a sense in which stars must touch on things that are deep and constant features of human existence, such features never exist outside a culturally and historically specific context. So, for example, sexual intercourse takes place in all human societies, but what intercourse means and how much it matters alters from culture to culture, and within the history of any culture. […] in the fifties, there were specific ideas of what sexuality meant and it was held to matter a very great deal; and because Marilyn Monroe acted out those specific ideas, and because they were felt to matter so much, she was charismatic, a centre of attraction who seemed to embody what was taken to be a central feature of human existence at that time.“ Der tragische frühe Tod von Marilyn Monroe half, diesen Status bis heute zu bewahren.

Der Iron Man Eine Ikone des Kinos der 1980er Jahre ist zweifellos „hard body“ Arnold Schwarzenegger, der sich endgültig durch seine physische Präsenz in John Milius’ epischem Fantasyfilm Conan the Barbarian als Hollywoodstar etabliert hatte. Zuvor war er in den USA bereits als Role-Model des Bodybuilding berühmt geworden und hatte einige kleinere Filmrollen absolviert, die diese Funktion reflektierten. Der cimmerische Racheheros aus Robert E. Howards Erzählun-

gen erschien ihm wie auf den Leib geschrieben, und tatsächlich konnte er auf dieser Rolle seine folgende Karriere als Prototyp des Actionkinos der Reagan-Ära begründen. Sein massiver österreichischer Akzent schien ihn umso geeigneter als brachialen Gewaltkörper zu prädestinieren. Zugleich ging die von ihm mit gelegte Saat auf, die den Körperkult in Kalifornien (Bodybuilding, Aerobic) zur Manie werden ließ. Der von Muskelmassen gepanzerte Männerkörper, den Schwarzenegger mit Sylvester Stallone, Dolph Lundgren und Jean-Claude van Damme teilte, wurde zum männlichen Ideal der hochgerüsteten Zeit des zweiten Kalten Krieges. In Conan the Barbarian nahm Schwarzenegger die Stereotypen des Hardbody-Actionkinos vorweg: das Stählen des eigenen Körpers, das Training, Wettkämpfe (hier: Gladiatorenkämpfe), verlustreiche Schlachten und das Nahtoderlebnis unter der Folter. Die Körperhelden der 1980er Jahre sind vulgäre Messias-Figuren und daher religiöse Surrogat-Ikonen. Wie seine Geisteskollegen John Rambo oder Mad Max muss er durch die Hölle gehen, um triumphal wiederzukehren. Dafür integriert die Inszenierung jeweils performative und selbstverweisende Sequenzen des Show-Off: In einer kargen Steppenlandschaft schwingt Conan mit ölig glänzendem nacktem Torso kunstvoll sein Schwert. In Grubenkämpfen erweist er sich als gnadenlose Killermaschine, und schließlich wird er gekreuzigt und darf wieder auferstehen. Conan in der Verkörperung durch Arnold Schwarzenegger ist ein Messias des Neo-Barbarismus auf der Suche nach der unmittelbaren, meist kriegerischen Lösung. Ein Fleisch gewordener, wütender Rachegott. Regisseur John Milius, der diesen „Rachegott“ erstmals beschwor, dürfte diese Kategorisierung gefallen. Der Filmstar als Ikone hat das Gesicht des langsam in die Jahre kommenden Mediums Film nachhaltig geprägt und konstituiert einen Großteil von dessen Attraktivität und Identität. Selbst wenn die Filme verblassen – die großen Gesten ihrer Stars werden weiterleben als moderne Mythen.


ach: nd gewünschte Aboprämie* an: k-magazin.de, Geld überweisen, efkasten gucken.

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Ganz einfach: Adresse und gewünschte Aboprämie* an: abo@opak-magazin.de, Geld überweisen, in den Briefkasten gucken. John Glassco: „Die verrückten Jahre“ — Hanser

²%0 *5 ³

Broken Social Scene: „The Forgiveness Rock Record“ — Arts&Crafts/City Slang/ Universal Rainer Werner Fassbinder: „Welt am Draht“ — Arthaus Premium, 2 DVDs (www.arthaus.de)


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Film — Bewunderung ist Hass

BEWUNDERUNG IST HASS

Wenn Stars nur noch gezeichnet sind „Never listen to our music again!“ Das ruft Metallicas Rob Trujillo dem Schulbusfahrer Otto in einer Simpsonsfolge noch zu, als die Band mit dem Pick-up von Hans Maulwurf von dannen zieht. Witzige Szene. Eine, die Metallica ja sogar über die eigenen Serienfiguren stellt. Das ist mal ausagierte Bewunderung. Das ist aber auch: Ein Einzelfall. Eigentlich werden Stars nämlich nur noch gehasst. LINUS VOLKMANN erklärt dieses Phänomen anhand des Wandels von Gastauftritten in Cartoon’n’Comedy-Serien. TEXT — L I N U S V O L K M A N N

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ie neue InTouch, ein ganz normales Magazin mit dem Maul am Auspuff der Celebrity-Industrie, titelt dieser Tage mit einem aufwendigen Shooting und Porträt aller vier bis dato gekürten Siegerinnen von Germany’s Next Topmodel. Doch die Unterzeile bringt die eigentliche Intention der Betrachtung zutage: „Zickenkrieg bei den Topmodels“ heißt es dort. Ebenfalls auf dem Cover als Einklinker mit Bild: „Victoria Beckham – Drama um David! Wie sie davon profitiert.“ Und auch bei just mit Oscar versehenen Stars scheint es eigentlich eher entsetzlich zu verlaufen: „Sandra Bullock – Woher sie jetzt ihre Kraft nimmt.“ Diese Art des Umgangs mit Celebritys ist mittlerweile die Regel. Am liebsten, so möchte man glauben, wäre für Medien und Publikum jeder im Rampenlicht wie Amy Winehouse. Also sichtbar in Schwierigkeiten, am besten gleich halbtot. Staunende Hofberichterstattung über Künstler ist längst abstrus repetetiver Untergangspolemik gewichen. Die nur durch echte Todesfälle wieder in aufrichtigen Katzenjammer und Krokodilstränen zu drehen ist. Michael Jackson und Heath Ledger stellen da nur die naheliegendsten Beispiele der jüngsten Zeit dar. Falco prägte

Mich


Film — Bewunderung ist Hass seinerzeit einen auf Wien gemünzten Satz: „Richtig sympathisch bist Du den Leuten nur in der Niederlage.“ Diese Aussage funktioniert im Showgeschäft allerdings vollkommen universell. Und zwar mehr denn je. Bewunderung ist heute Hass. So einfach ist das. Es gilt die Schizophrenie, den jeweiligen „Star“ dafür zu bestrafen, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt. Dieser Entwicklung lässt sich auch da nachspüren, wo die liebevoll bis angerotzte Hommage sich seit jeher so breit macht. Denn selbst die Künstler-Apropos in Cartoon’n’ Comedys haben in Bezug auf Dreistigkeit und Terror angezogen. Analog also zur medialen Heldenverachtung allerorts. Beginnen sollte man eine solche Chronologie natürlich bei den Simpsons, dem Nukleus von spöttischer Abfeierei. Sollte! Doch aus Bewunderung vor dem Lebenswerk der Gruppe OPAK (deren Claim to fame übrigens stets: „Ey, da ist einer vom deutschen Vice dabei!“), also aus Bewunderung vor denen will man sich an ihren Wunsch bezüglich dieses Texts halten. Denn der solle die Geschichte mit den Starauftritten in der Muppet Show eröffnen. Muppet Show? Aha? Na, warum nicht. Offenbar scheinen die Leser dieser Jugendgazette mehrheitlich über 40 zu sein. Und für die Jüngeren sei gesagt: Muppet, das ist das mit dem Frosch. Also das, was nicht Sesamstraße ist. Als Kind glotzte man ja immer gelangweilt in sein aktuelles Panini-Sammelalbum oder träumte von Süßigkeiten, wenn einem selbst natürlich völlig unbekannte US-Celebs der 1970er und 1980er in der Muppet-Revue auftauchten. Meist war der Plot, dass der jeweilige Star nicht würde singen können, weil Fozzy-Bär eifersüchtig war oder Miss Piggy sich an seinem Bein Auslösung verschaffen wollte. Doch zum Schluss wurde stets doch gesungen. Und wir Kinder so: Gähn. Der jeweilige Star kam indes sehr gut weg. Die Puppen bewunderten ihn durchgehend und ließen ihn trotz allem sinnstiftenden Chaos spitze aussehen. Perfektioniert findet sich der Gastauftritt in einem solchen Rahmen dann eben bei

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den Simpsons. Große wie aber auch kleine gen, als Stan sie anschnauzt: „First you sing Rollen gelten bei den auserwählten Künstlern then you get your precious cocaine.“ In einer als hochbeliebt, so beliebt, dass man dafür so- anderen Folge bringt Stans Chef versehentgar seinen gezeichneten Tod in Kauf nimmt – lich seinen One-Night-Stand um; als ersterer unter anderem die Cartoon-Alter-Egos von auf dem Schauplatz bei der Leiche auftaucht, Green Day und Spinal Tap überleben ihren Auf- klagt er: „You killed your date, Sir? What in the tritt nicht. Die postmoderne Form der Hom- name of Phil Spector happened?“ Peter Grifmage erreicht hier ihre formvollendete Klimax. fin, der Fette aus Family Guy, wünscht sich Diese Ausprägung überstieg danach nichts indes eine Lindsay Lohan, die nackt und rückVergleichbares mehr – das wurde aber auch, wärts auf allen Vieren erscheinen möge. Diewie eingangs erwähnt, gar nicht mehr nötig. sen Wunsch erfüllt ihm Seth MacFarlane Denn „Die 15 Megabyte des Ruhms“ (statt „15 (Schöpfer von Family Guy und American Dad) Minutes Of Fame“) im Net sowie Reality-TV, dann auch umgehend. Gegen solche Routinen Casting-Shows und ähnlich unterhaltsame der Häme wirkt sogar der stilisierte VernichAffen haben dem Banalen die Bühne ge- tungswille der Splatter-Serie „MTV’s Celebrity schenkt. Und mit der Aufwertung des Banalen Death Match“ noch freundlich. Zumindest musste natürlich ein Hass auf das Besondere lässt jenes Format seinen bedauernswerten einhergehen. Insofern verwundert es nicht, Protagonisten eine gewisse Handlungshoheit, dass South Park (etliche Jahre nach dem sie dürfen noch agieren und sich verteidigen. Simpsons-Start) sich bereits damit brüstete, Dieses Moment ging in der aktuellen Hommaseine Star-Features total minderwertig insze- gerealität der Cartoon-Szenerie sonst vollnieren zu wollen. George Clooney zum Bei- ständig abhanden – was auch die immer noch spiel lieh nicht sich oder Ähnlichem die Stim- recht freundlichen Star-Spots der Simpsons me, sondern tauchte nur kurz als Bellen eines mittlerweile ziemlich datet erscheinen lässt. Hunds auf. Sicherlich findet sich in dieser Denn Bewunderung wurde offiziell zu Hass im Praxis der Wunsch nach einem Alleinstel- letzten Jahrzehnt. Wenn das Kermit der lungsmerkmal für die eigene Serie angesichts Frosch noch wüsste. Der hatte sich immer des Platzhirschs aus Springfield. Anderer- noch so viel Mühe gegeben mit seinen Gastseits zeichnete sich hier Ende der 1990er stars. Wie man diese Entwicklung übrigens schon sichtbar auch die Ansage ab: Der Star finden soll, kann an dieser Stelle nicht verist nicht mehr der Star. Noch pointierter wird bindlich geklärt werden. Denn bei aller Lust diese Entwicklung bei den Cartoon-Serien 2.0, an Respekt und Höflichkeit und bei allem Ekel namentlich Family Guy und American Dad. vor moralisch unter Null agierenden BehelfsHier ist vom einst liebevoll spöttischen Fea- zeitungen wie InTouch, aber auch TV-Magaziture nur noch blanker Hohn übrig. nen wie Prominent oder dem Auf einen Star zu rekurrieren kann Linus Volkmann ist ganzen kläglichen Gepöbele nur noch dazu dienen, sich von Redakteur beim Popim Netz – eigentlich ist die ihm abzugrenzen und seine Nied- kultur-Magazin IntSzene mit Whitney Houston rigkeit als Gag herauszustellen. So ro, aktuell erschien doch lustiger als ganze Stafschleppt in American Dad die gerade sein neuer feln der Simpsons zuletzt. InHauptfigur Stan Smith seiner Frau Roman „Wie sehr muss sofern: Bewundert meinetweFrancine wegen des vergessenen man sich eigentlich gen die paar Rest-Stars und Hochzeitstags eine völlig verwirrte noch verstellen, um Trottel-Sternchen weiter nur und abgewrackte Whitney Houston endlich natürlich noch mit Fackeln, Knüppeln an. Die sich zwar erst beschwert, rüberzukommen?“ und eurem Hass. That’s verdann aber sofort anfängt zu sin- im Ventil Verlag. mutlich entertainment.

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18.04.2010 18:12:08 Uhr


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Film — (Film der Ausgabe)

RAINER WERNER FASSBINDER „Welt am Draht” Text — R O G E R B E H R E N S Foto — M A X Z E R R A H N

„I

ch denke, also bin ich” – das ist nach Descartes der erste unbezweifelbare Satz und er definierte damit den Beginn neuzeitlichen Denkens, indem er die Existenz eines autonomen Ichs aus sich selbst heraus zu begründen ersuchte. Indes geriet die Wirklichkeit des Denkens immer trügerischer, bis in der Gegenwart manchen jedes materielle Dasein grundsätzlich bestreitbar scheint: In der als Informationszeitalter technizistisch verklärten Welt soll es keine Gewissheit mehr darüber geben, ob das „Ich denke” nicht vielleicht bloß eine kybernetische Simulation sei. Das führt die „Matrix”-Trilogie vor: Je scheinhafter, trügerischer die angeblich wirkliche Welt ist, desto authentischer, echter, „uriger” die wirklich-wirkliche Welt – sie ist erdig, wild, die Unterwelt als verlorene Natur und gelobtes Land (Zion) gleichermaßen. Dieses Modell simulativer Weltverwechselung hat bereits Platon mit dem Höhlengleichnis skizziert; heute ist es die Sciencefiction, die die literarische Vorlage liefert. Legendär ist der Roman „Simulacron-3” von Daniel F. Galouye, nicht nur durch „The 13th Floor” (1999), sondern vor allem durch Rainer Werner Fassbinders TV-Zweiteiler „Welt am Draht” (1973), der jetzt in restaurierter Fassung auf DVD erhältlich ist. „Günther”, warnt Henry Vollmer seinen Kollegen Lause beim Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung zu Beginn, „ich weiß etwas, was du nicht weißt. Und was auch niemand wissen darf – weil es das Ende dieser Welt wäre.” Wenig später ist Vollmer tot, ermordet; und kurz darauf verschwindet Günther Lause, spurlos und ohne dass sich jemand an ihn überhaupt erinnern könnte – außer Fred Stiller, der nicht nur Vollmers Posten im Insti-

tut übernimmt, sondern auch, nach und nach, hinter Vollmers Geheimnis kommt: Die von dem Computer „Simulacron” erzeugte „lebendige Welt in einem elektrischen Kasten” – das Forschungsprojekt des Instituts – ist nicht die einzige virtuelle Realität; vielmehr sind das Projekt, das Institut, die Menschen und eben auch Stiller selber Teile – „Simulationseinheiten” – einer weiteren rechnergenerierten Welt. Fassbinder (politisch nicht nur durch antisemitische Ressentiments diskreditiert) entwirft seine Dystopie als Psychogramm, nicht etwa als Actionfilm: das einzige, was hier an Martial Arts zu sehen ist, ist eine harmlose Schlägerei in der Institutskantine. Deutsch ist der Film, indem er die psychologischen Motive ins Existenzialontologische verschiebt: die Frage nach der Realität wird zur Frage nach dem Sinn des Seins – Innerlichkeit heißt die Antwort, nicht soziale Praxis. Zwar ist die Handlung in der kapitalistischen Gegenwart situiert, doch bleiben Staat, Firmen und Gewerkschaften letztendlich Kulisse einer immer schon idealistisch verstandenen Welt. Simulacron ist „ein winziges Universum unserer selbst”, und dieses Selbst ist niemals ein kollektives. Der Fluchtpunkt ist der Wahnsinn, „weil es keiner aushält, künstlich zu sein und darüber Bescheid zu wissen”. Hilfe findet Stiller, der nunmehr als geisteskrank und gefährlich gilt, bei Vollmers Tochter Eva, eine apathisch-erotisch anmutende Schönheit. Sie gibt sich schließlich als Verbindung zur wirklichen, „oberen” Welt zu erkennen, und rettet Stiller, wobei auch die Liebe zwischen den beiden nicht zu einem erlösenden Wir führt, sondern Stiller lediglich auf das cartesianische Cogito ergo sum zurückwirft; dem entsprechend sind die letzten Worte eines nur scheinbar in der endgültigen Wirklichkeit angekommenen Fred Stiller: „Ich bin!” Rainer Werner Fassbinder: „Welt am Draht“ ist bereits bei Arthaus erschienen


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Film - Highlights

Urszula Antoniak

Wes Anderson

Jonathan Caouette

„NOTHING PERSONAL“

„DER FANTASTISCHE MR. FOX“

„ALL TOMORROW’S PARTIES“

(MFA+ Filmdistribution)

(20th Century Fox)

(Rapid Eye Movies)

„Kann man Ihnen helfen?“ Eine irische Kleinfamilie sitzt auf einer Parkbank und macht ein Picknick. Drei Meter von ihr entfernt wühlt eine junge Frau in einer Mülltonne nach Essbarem. Nach skeptischen Blicken fragt die Mutter der Familie zögerlich, doch als Antwort bekommt sie lediglich ihre eigene Frage sarkastisch zurückgeworfen: „Kann man Ihnen helfen?“ Anne (Lotte Verbeek) ist diese junge Frau, die wir in Urszula Antoniaks Debütfilm begleiten. In kurzen Rückblenden sehen wir, wie sie ihr Hab und Gut auf die Straße befördert, auf dass sich jeder geneigte Fußgänger daran bedienen möge. Offensichtlich bricht sie ihre Zelte ab, das Szenario spielt in den Niederlanden. Nun ist sie in Irland, in weiten, rustikalen Landschaftsgebilden, deren stürmischer Gestus jeher als Seelenspiegel für die Figuren im Drama gilt. Anne reist gottvergessen, selbstvergessen, ohne Blick zurück durch die menschenleere Natur. Dann trifft sie Martin (Stephen Rea), einen allein lebenden Witwer. Unterkunft und Verpflegung gegen Arbeit heißt die Vereinbarung, mit dem Zusatz: Keine privaten Fragen. Nothing Personal. Die trotzige und zornige Anne und der desillusionierte, in sich ruhende Martin werden in minimalistische, prosaische Arrangements gesetzt und spiegeln in dieser Miniaturansicht eine menschliche Erfahrungswelt, in welcher Einsamkeits- auf Todeserfahrung trifft, in der es um Fluchtbewegungen geht, in jedwede Richtung: Weg vor der Gesellschaft, weg vor der Vergangenheit, weg vor sich selbst. Am Ende ist der Gewinner des Filmfestivals von Locarno vor allem eine sehr simple Erzählung um Nähe und Abstoßung, um Abgrenzung und die Grenzüberschreitung, die das hilflose, suchende Individuum in ein rastloses Chaos stürzt.

Für seine Frau hat der egozentrisch-charmante und fantastisch gekleidete Mr. Fox das Hühnerstehlen aufgegeben, um ein ruhiges Leben als Journalist, liebender Ehemann und schlechter Vater zu pflegen. Nach 12 Fuchsjahren jedoch hat er genug vom Journalismus und von den sirupgetränkten Pfannkuchen, die ihm Mrs. Fox serviert. Gut, dass das neue Baumhausappartement so nah an den drei größten Bauernhöfen liegt. Zu diesen begibt sich Mr. Fox, um mithilfe seines tumb-gutmütigen Opossumfreundes Kylie einen letzten großen Coup zu landen. Wie sein Kollege Spike Jonze nimmt sich Wes Anderson hier ein beliebtes und ob seiner anarchischen Tendenz teils umstrittenes Kinderbuch vor. Entstanden ist ein nostalgischer Film, der sich, wie Jonzes grandios roh-sensibler Wo die wilden Kerle wohnen, in erster Linie wohl an Erwachsene richtet, die sich an ihre Kindheit erinnern. Eine Kindheit in den 1970ern oder 1980er Jahren, in denen Animationsfilme – wenn sie nicht gezeichnet – eben Stop-Motion-Filme waren. Mit Puppen, die sich im Gegensatz zu den schmeichelnd fließenden Pixar-Kreaturen etwas ruckartig bewegen und nicht mit jeder Stirnfalte einzeln wackeln können, um damit ein Höchstmaß emotionaler Anteilnahme zu produzieren. Diese erzielt der Film eher inhaltlich, durch eine deutliche Vermenschlichung der Figurenkonflikte. Vor allem die neu hinzugefügte Figur des exzentrischen Fox-Sohnes Ash verlagert den Fokus der Dahlschen Erzählung stärker auf Andersons Lieblingsthema: den familiären Mikrokosmos – ohne dabei der Vorlage untreu zu werden. Es erscheint also nur logisch, dass Mr. Fox, der stets als Alter Ego des Autors Roald Dahl gedeutet wurde, im Film den Andersontypischen braunen Kordanzug trägt.

Auf den ersten Blick: eine Himmelshochzeit! Da feiert das indier-than-thou-Festival All Tomorrow’s Parties seinen zehnjährigen Geburtstag und verpflichtet den Über-DIY-Regisseur Jonathan Caouette („Tarnation“) für eine Dokumentation. All Tomorrow’s Parties versteht sich als das „andere Festival“: Alles, was den gemeinen Cordhosen- und Kastenbrillenträger auf ROCKFestivals nervt, wird eliminiert. Übernachten in Chalets, keine kommerzträchtigen Headliner, sondern von Künstlern kuratiertes Programm! Gibt man nun Caouette die Aufgabe, eine „Dokumentation“ zu drehen, darf es nicht wundern, wenn keine geradlinig erzählte Geschichte eines Festivals präsentiert wird, sondern eine Collage aus zehn Jahren Festivalgefühl. Und natürlich gibt es kein besseres Argument pro ATP als Daniel Johnston nachmittags auf einem Rasen sitzend Gitarre spielen zu sehen. In diesen Momenten wird die Idee des ATP als antikommerziellem Festival deutlich, die auch mittels Gesprächen über die Abschaffung des Kapitalismus auf der Tonspur befördert wird. Doch wird jene Idee des Antikommerziellen nie wirklich ausformuliert. Wir erfahren nichts über die Hintergründe, ob ATP sich nun tatsächlich in der Finanzierung von anderen Festivals unterscheidet, wir wissen nie, ob ATP nicht doch nur geschickte Vermarktung des „anderen Festivals“ ist oder ob Altruismus tatsächlich dem Kapitalismus eine lange Nase dreht. Das wäre nur halb so schlimm, würde Caouette auf der atmosphärischen Ebene seiner Collage überzeugen, doch nach schönem Einfangen der Ferienlagerstimmung zu Beginn wird die beliebige Aneinanderreihung von Bühnenauftritten und Strandspaziergängen ermüdend wie eine Endlosinstallation in einem Museum.

Text — Felix Piatkowski

Text — Lina Paulsen

Bild — Helen Barrass

Bild — Rinkel Film & TV Johnny Savage

Bild — 20th Century Fox

Text — Christian Ihle


D

Draußen — Figuren des Übergangs

Foto — R A C H E L D E J O O D E

Draussen

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Figuren des Übergangs

Ich-Projektionen in der Bewerbungsmappe In der Mappe erfinden wir eine Figur. Sie ist der Gegenstand unserer Bewunderung, und wir sind ihr dürftiger Doppelgänger.

Text — A N D I S C H O O N


Draußen — Figuren des Übergangs

M

ehr denn je sind Kunstschaffende aller Sparten dieser Tage damit befasst, Bilder ihrer selbst zu entwickeln, sprichwörtliche ›images‹. Ich möchte sie hier nicht als emphatische Künstlerindividuen betrachten, sondern als Vertreter der „creative class“ (Richard Florida). Die kreative Klasse bewegt sich in einem kompetitiven Umfeld. Mit jedem Jahrgang bringen die Hochschulen mehr Absolventen auf den Markt, als dieser verträgt: Gut qualifizierte Künstler, Designer, Musiker und Schauspieler konkurrieren mit zahlreichen Autodidakten um stets zu knappe Gelder aus öffentlicher Hand und Privatwirtschaft. Die meisten Anwärter sind sich dieser anspruchsvollen Lage bewusst und arbeiten schon in jungen Jahren zielstrebig auf einen bestimmten Punkt hin, sei es die Vertretung durch eine namhafte Galerie oder der Posten in einem Theaterensemble, einem Orchester, einer Agentur. Weil aber die Zahl langfristiger Anstellungen im Kulturbereich stetig abnimmt, gilt es, sich auf eine dauerhafte Arbeit im freischaffenden Bereich und eine fortwährende Bewerbungssituation einzustellen. Die permanente Selbstdarstellung gehört mit zum gewählten Berufsbild. Der erste Ort dieser Selbstdarstellung ist die Bewerbungsmappe, die je nach Kunstsparte in unterschiedlicher Form auftritt: als klassisches Portfolio im Ledereinband, als bescheidener Pappschuber oder auch als persönliche Website. In der fortwährenden Konkurrenz um einen Platz in der kreativen Klasse ist die Mappe eine Kapitalform, eine Währung und ein Spieleinsatz. Was aber geht in der Mappe vor sich? Die Mappe ist der Ort eines Figurenentwurfs. Sie stellt die absichtsvolle Verdichtung eigener Möglichkeiten dar. Sie überspitzt und pointiert das, was wir bisher geleistet haben. Sie wählt und lässt aus. Sie erzählt in der Regel ein bruchloses Kontinuum logisch aufeinander folgender Ereignisse. Sie entwirft einen in sich geschlossenen Horizont. Sie erzeugt Unverwechselbarkeit. Die in der Mappe beschriebene Figur gibt es nicht, denn sie ist über weite Strecken eine Behauptung. Doch das professionelle Leben soll sie zu einem Menschen aus Fleisch und Blut erwecken. Zugleich entspringt die in der Mappe entworfene Figur nicht ausschließlich der eigenen Wunschproduktion, da sie wesenhaft auf eine Bewerbungssituation hin ausgerichtet ist. Die Figur ist ein Vorbild und eine Ware. Bewerbung findet in der kreativen Klasse nicht ausschließlich in explizit dafür vorgesehenen Situationen, sondern vornehmlich in der alltäglichen Kommunikation statt. Ebenso wichtig wie das offizielle Vorstellungsgespräch ist der informelle Austausch im Rahmen gesellschaftlicher Anlässe wie Vernissagen und Vortragspausen. Die Mappe bleibt in solchen Momenten unsichtbar, doch sie ist immer mit dabei, als zwanglos eingebrachte Erzählung des eigenen Lebens. Jedes Tresengespräch kann schlagartig zu mehr oder weniger subtiler Reklame in eigener Sache ausarten, wenn die vage Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Zusammenarbeit der beteiligten Personen aufscheint. Der

Kostümbildner umschwirrt den Regisseur, der freie Autor den Verlagsleiter oder zumindest dessen Assistenten. Man findet sich abseits der Büros und ihrer Öffnungszeiten. Der Grund für die Ausweitung der Bewerbungszone ist in einem Wandel der Arbeitsformen zu finden, den der Philosoph Gilles Deleuze beschrieben hat. Er konstatiert über das 20. Jahrhundert einen schleichenden Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft, mithin von der industriellen Warenproduktion zum immateriellen Dienstleistungsgewerbe. Letzteres ist auch das Metier der kreativen Klasse. Es hat einen Berufsalltag mit freiheitlichem Antlitz hervorgebracht: Während die Arbeit in der fordistischen Fabrik durch äußere Repression überwacht wurde, durch Stechuhr und ermahnende Vorarbeiter, beruht die postfordistische Arbeit auf Selbstkontrolle. Vermeintlich flachere Hierarchien bringen das kreative Individuum dazu, Höchstleistungen in Eigenverantwortung abzuliefern. Die Arbeit wirkt dabei weniger beschwerlich als die in der Warenproduktion. Kulturarbeiter brauchen Denkpausen, sie sitzen mit Laptops

Der Grund für die Ausweitung der Bewerbungszone ist in einem Wandel der Arbeitsformen zu finden an öffentlichen Orten, sie besprechen sich und trinken Kaffee miteinander. Was sie im Gegenzug nicht kennen, ist der Feierabend. Keine Werkssirene ruft die kreative Klasse zur Zerstreuung abseits des Tagewerks. Stattdessen schreibt sie weiter Mails, empfängt Anrufe und notiert sich ihre Ideen. Schließlich führt ihr Weg an Kulturorte, wo sie die Nacht damit verbringt, sich und ihre idealisierten Figurenentwürfe zu Markte zu tragen. Das optimierte Ich überschattet das unmittelbare Erleben und Tun, den Ausdruck und die Begegnung. Die Freizeit wird zum Schlachtfeld. Die kreative Klasse ist privilegiert. Ihre Vertreter entstammen zum Großteil der bürgerlichen Mittelschicht, sie verfügen über eine hohe Bildung, sie sind flexibel und anpassungsfähig. Ihre Privilegien zeigen sich nicht immer konkret materiell, aber doch in Form symbolischen Kapitals, etwa der Wahlmöglichkeit in Fragen des eigenen Lebenswegs. Kaum ein Mitglied der kreativen Klasse ergreift seinen Beruf aus moralischer Verpflichtung gegenüber dem Elternhaus oder aus finanziellen Erwägungen heraus. Was dieser sozialen Gruppe droht, ist nicht der Hungertod, sondern das Scheitern des Selbstbilds. Was dann bleibt, ist ein anders gestaltetes Ich. Die erzählte Biografie lässt sich unter Einbezug aktueller Entwicklungen nachjustieren. Sowieso wird die Mappe je nach Bewerbungsziel umgearbeitet. Die gleiche Person bewirbt

65 sich an einem Staatstheater anders als bei einem freien Regisseur, in einer kleinen Galerie anders als bei der alteingesessenen Stiftung. Notwendig ergibt sich dabei eine Kluft zwischen Wesen und Erscheinung, mit der Gefahr, dass das Individuum im Schatten der Figur verschwindet. Vor allem aber steckt hinter der Annahme der Formbarkeit der eigenen Biografie ein Begriff von souveräner Autorschaft, der auf das 18. Jahrhundert zurückgeht. Die besondere Schwierigkeit der heutigen Situation liegt darin, dass diese Traditionslinie unterbrochen zu sein scheint. Die postmoderne Philosophie geht seit den 1960er Jahren davon aus, dass die großen Erzählungen, auf deren Grundlage sich das Individuum als geschlossen begreifen kann, zu einem Ende gekommen sind. Neben der Allmacht der Vernunft haben auch andere Angebote, die Welt aus einer einzelnen Ursache heraus zu begründen, ihre Glaubwürdigkeit für viele Menschen verloren, seien es Religionen, politische Systeme oder die Klassenzugehörigkeit. Diese Annahme ist nach wie vor einleuchtend, weil sie unserer alltäglichen Erfahrung entspricht: Wir nehmen die Welt als zersplittert wahr, als ein Überangebot ohne roten Faden. Wo aber die übergeordnete Narration fehlt, ist auch die Authentizität der Einzelbiografie gefährdet. Sie ist zwangsläufig in sich zerrissen. Den Markt kümmert das nicht. Er verlangt weiter nach Originalität, nach schlüssiger Dramaturgie, logischer Wendung und dem fest ins Auge gefassten Ziel. In der Mappe bekommen Geldgeber aller Couleur genau solche Geschichten erzählt. Geschichten, die nur fingiert sein können. Die zeitgenössische Diskurslandschaft geht mehrheitlich davon aus, dass sich die Diagnosen der postmodernen Philosophie längst überlebt hätten und einer grundlegenden Aktualisierung bedürften. Auch wenn ich entschieden glaube, dass Deleuzes Analysen unsere Realität erst in den letzten Jahren mit voller Kraft erreicht haben, ist die laufende Diskussion um eine „Autorschaft nach dem Ende des Autors“ notwendig und nachvollziehbar. Der Kunstwissenschaftler Hans Rudolf Reust hat unlängst die Wendung vom „sujet imaginaire“ eingebracht. Was er vornehmlich als Bezeichnung für Kunstschaffende jenseits überlieferter Spartendefinitionen vorschlägt, scheint mir als Ausgangspunkt für sämtliche Vertreter der kreativen Klasse verfolgenswert zu sein: Das sujet imaginaire begreift sich als eine momentane Setzung. Als eine Figur, die sich nicht festschreiben lässt, unberechenbar bleibt und als einzige über ihre Geheimnisse, ihre Untiefen, über Unausgesprochenes und Erfundenes Bescheid weiß. Als eine Figur, die sich mit vollem Bewusstsein ständig neu erfindet, sich dabei souverän über das eigene Werk erhebt und künstlichen Lebenshauch in die post-authentischen Varianten ihrer selbst verteilt.


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Comic – Sascha Hommer (http://saschahommer.blogspot.com)


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