OPAK #08

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apr – jun 2011

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Vier / 4 Euro

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Wir müssen reden

unDErGrOunD Sprengstoff oder Mittelmäßigkeit — jazz Avantgarde statt Außenseiter — DEr HipstEr Die Geschichte eines Niedergangs — rEplay unDErGrOunD 13 Thesen — pOly styrEnE Was kommt, wird kommen — DarrEn arOnOFsKy Oh je. Au weia. Jessas, Jessas, Jeremias �

underground


opak #8

Mehr Sinn! Abb. 1: What time is love ?

Abb. 2: Hungry for more ?

„The mainstream comes to you, but you have to go to the underground“, sagte Frank Zappa. aber muss man da wirklich noch mal hin oder ist das Thema Underground nicht längst durch? Je mehr wir darüber nachdachten, desto unklarer wurden die Dinge. Was ist das eigentlich, „Underground“? In welchem Verhältnis steht es zu „Untergrund“ und „Subkultur“? kann dieser Begriff überhaupt für etwas herhalten, das dieser Gesellschaft gefährlich werden kann? Gibt es irgendwo noch Sprengstoff gegen den Mainstream? Wir haben uns professionelle Hilfe gesucht … roGer BeHrenS erklärt, wie aus Untergrund Underground wird, warum das, was heute als Underground tituliert wird, nur noch die Langeweile des Mainstreams wiederholt und warum es dennoch Sinn ergibt, diesen Begriff nicht vollständig abzuschreiben. Der new Yorker Literaturwissenschaftler Mark GreIF gibt auskunft darüber, warum Menschen, die einem in engen Jeans auf „fixed gear bikes“ entgegenkommen, nach einer Subkultur der 1940er Jahre benannt wurden. FeLIx kLopoTek schreibt über das Verhältnis zwischen Underground und Mainstream im Jazz. Und warum Institutionalisierung dort gerade nicht „ausverkauf“ bedeutet. GeorG SeeSSLen beschreibt, warum der demokratische kapitalismus einen Underground benötigt und ihn dennoch fürchtet. Und wie daraus der Traum von einem kontrollierten Underground entsteht. „Ich bitte alle dringend, radikaler zu werden“, lautet die bündige ansage von BILL aYerS, der als Mitglied von Weather Underground im Untergrund gekämpft hat. Die Kuh ist vom Eis. Die Bundesregierung konnte ihre Visionen nahtlos umsetzen. Mit ihrem historischen Reformwerk, das nun in trockenen Tüchern ist, hat sie ein für allemal die Weichen gestellt. Indessen ist in der Bevölkerung die Schere zwischen Arm und „Das ist mir ziemlich egal“, sagt FranZ DoBLer, angesprochen auf sein Reich größer geworden. Dennoch muss die Regierung nicht zurückrudern. Der kleinere Koalitionspartner stärkt der Bundeskanzlerin nach wie vor den Rücken, indem er ihr den Rücken freihält, sodass sie weiter Rückenwind hat. Kritische Stimmen, die sich Image als Underground-Literat. er erzählt wie er mit seinem Fanzine zunächst gemehrt hatten, warfen keinen Schatten auf die Regierungsbank, sondern gingendavon, unter. Die Regierungsmannschaft bröckelt nicht, sondern hält weiter Kurs. Ein Bruderzwist ist nicht in Sicht. Fest steht: Über der Bevölkerung, die sich noch immer Markt vorbei gewirtschaftet hat warum ihn normale Literaturbeinam einem Dornröschenschlaf befindet, obwohl sie massiv der Schuh drückt, wirdund weiter das Damoklesschwert Hartzder IV schweben. Es bleibt also eine Zitterpartie. Doch das Zeitfenster, in welchem die Parteien akuten Handlungsbedarf nach weitergehenden triebanmelden nur können, langweilt. Reformen bleibt weiterhin geöffnet. Die Parteien schnüren und bündeln hinter verschlossenen Türen schon neue Reformpakete. Entsprechende Eckpfeiler und Eckpunkte sind schon eingeschlagen bzw. markiert. Und es ist wohl mehr Peitsche alsUnd Zuckerbrot die Zeichen Zeit nicht erkannt nicht bald ein zündender Funke überspringt und eszu erwarten. gibt Wenn Grund zuderfeiern: Mitwerden derundnummer acht wird unser Heft zwei Jahre einen flächendeckenden Flächenbrand entfacht, wird der Widerstand, der momentan anzupeilen wäre, auch künftig nicht umgesetzt werden. wennbedanken die Regierung dann einuns weiteresbei Mal deneuch, Reformmotorliebe anwirft und grünes Licht für soziale und Grausamkeiten gibt, alt.Und Wir Leserinnen Leser! kann der Zug jetzt schon als abgefahren gelten. Die Gretchenfrage wäre, ob es gelingen kann, dass Teile des außerparlamentarischen Spektrums sowie linke, emanzipatorische Strukturen und Praxen sich schon im Vorfeld gegenseitig vernetzen, um zeitnah Druck Wir wünschen euch viel Spaß mit dieser ausgabe. aufzubauen. Aber da wird wohl nichts draus. Und alle gucken dann abermals in die Röhre bzw. dumm aus der Wäsche. (Red.)

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Wer braucht schon Freunde?


InHaLT

ConTrIBUTorS/IMpreSSUM

THeMa 6 als wäre das so eine art orden (Ute Meyer) 10 14 18 26 29 32 34

„The Hype“. Über Underground (roger Behrens) replay Underground (Georg Seeßlen) and you can never know it, daddy-o (n. Dommaschk, L. koch) avantgarde statt außenseiter (Felix klopotek) revolution als Work in progress (o. koch, H. Lehmann)) DIY or die (nils Quak) er nannte sich Udo Untergrund (Ulrich Holbein)

Under

MoDe 36 Hidden places. Hidden Faces (Josephin Thomas)

ground

MUSIk 40 Was kommt, wird kommen (Chris köver) 45 keine Verstecke (kristof künssler) 46 Sich dem absurden unterwerfen (Fabian Soethof) 48 aufhören, wenn es am schönsten ist (Barbara Schulz) 50 alles einsaugen, einpacken, mitnehmen (alek Zivanovic) 52 körper-klaus is back in town (Lucia newski) FILM 54 ein Bitterzuckerbäcker (Dietmar Dath) 60 Die revolution findet woanders statt (Gabriele Scholz) 61 Der opak-Filmklub (Jan-eike Michaelis) reZenSIonen 62 Musik, Film, Literatur

BarBara SCHULZ

CaroLIn WaLCH

HenDrIk LeHMann

CHrIS köVer

barbara Schulz schreibt, seit sie fünf ist. Damals über Aquariumfische, derzeit über Musik, Film und literatur. nach freien Jobs bei u. a. taz, Prinz, Szene hamburg, Allegra ist sie zurzeit bei der intro, dem Missy Magazin und diesem feinen heft hier tätig. Mittlerweile ist sie von St. Pauli in die nähe der elbe gezogen, legt allerdings Wert darauf, nicht als elblette bezeichnet zu werden. Das Glück ihrer erde liegt zur Zeit auf dem rücken eines stieseligen norwegers. Und in der Gartenarbeit. Ach ja: Musik macht sie auch, und zwar als Schlagzeugerin und Sängerin (früher bei TGV, heute bei Ponika). letztere haben sich gerade in Pinkwave umbenannt und wörkeln mit einem ollen KorgM1-Synthi an Tracks.

Moment mal. ist das nicht die Zeichnerin von „Magic Mütze“? bekannt aus der deutschen Manga-Szene? Ja, richtig! ihre Geschichten veröffentlichte carolin in ballroom blitz oder orang, momentan arbeitet sie an ihrer ersten Graphic novel „roxanne & George“, die im Juni 2011 bei reprodukt erscheinen wird. Worum es geht? Um crash Mcenroe und Terry Schnakenburg natürlich. Und ihre faulen hipster-Kinder, die das sauer verdiente Geld mit beiden händen ausgeben. carolin lebt mit ihrer französischen bulldogge lola in München und zeichnet seit dieser Ausgabe den comic für oPAK. Wir sagen Danke. Und willkommen.

Der erste eindruck ist ja immer entscheidend. Als hendrik lehmann das redaktionsbüro betrat, waren zwei Dinge sofort klar: 1. niemand hat mehr haare auf dem Kopf als er; 2. „ich möchte mich um ein Praktikum bewerben. Darf ich einfach „du“ sagen?“ oh, ein höflicher Sohn aus besserem hause! Mit Manieren und so. Das kann ja nicht gut gehen. Wie sich allerdings schon nach Tagen herausstellte, war es mit der Zurückhaltung doch nicht so weit her. Denn hendrik organisierte, hendrik schmiedete Pläne, hendrik hatte ideen. Anrufe waren bald nur noch für ihn. Und was er einem Feuer machen konnte. Mach dies, mach das, nicht immer nur rumlungern! Man kann es nicht anders sagen: ohne hendrik lehmann wären die letzten Wochen wirklich nicht halb so gut gewesen. Danke.

chris Köver hat sich mit 14 Jahren mal eine bondage-hose gekauft, die sie ein einziges Mal in der Schule anzog – und dann für den rest ihrer Jugend in den Schrank legte. Später studierte sie in lüneburg und Toronto Angewandte Kulturwissenschaften und lernte dort den Dritte-Welle-Feminismus und die riot-Grrrl-bewegung kennen und lieben. Sie kann weder Gitarre spielen noch singen oder etwas anderes, das auf der bühne gut aussieht. Um wenigstens ein bisschen cool zu sein, gründete sie Anfang 2008 gemeinsam mit Sonja eismann und Stefanie lohaus das Missy Magazine, in dem sie seither über die berichtet, die es können.

konTakT oPAK Magazin oliver Koch (V.i.S.d.P) Gneisenaustraße 33 10961 berlin redaktion@opak-magazin.de www.opak-magazin.de

VerWenDeTe SCHrIFTen: Simplon von emmanuel rey, www.emmanuelrey.ch Romain BP von ian Party, www.bpfoundry.com Larish Neue von radim Peško, www.radimpesko.com

reDakTIon

LekToraT / korrekToraT Dörte Kanis, www.doerte-kanis.de

Chefredaktion: niklas Dommaschk,

lasse Koch, oliver Koch (V.i.S.d.P.) Musik: Senta best Film: Jan-eike Michaelis Mode: Josephin Thomas Bild: Max Zerrahn Übergreifend: Markus Göres, Janine Schemmer praktikum: hendrik lehmann DeSIGn, LaYoUT & SaTZ Adeline Mollard, www.adelinemollard.ch Floyd Schulze, www.wthm.net

CoMIC 66 Man vs. Wild (Carolin Walch)

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TITeLBILD Der aUSGaBe estelle hanania http://morepaper.free.fr TexTe DIeSer aUSGaBe roger behrens, Senta best, Dietmar Dath, niklas Dommaschk, Philipp Dorestal, Markus Göres, lili hartwig, Ulrich holbein, Felix Klopotek, lasse Koch, chris Köver, Kristof Künssler, hendrik lehmann, Tobias levin, Ute Meyer, Jan-eike Michaelis, nagel,

lucia newski, nils Quak, Matthias rauch, Milla rose, Janine Schemmer, Jan Schimmang, Gabriele Scholz, Kristof Schreuf, barbara Schulz, Georg Seeßlen, Fabian Soethof, Alek Zivanovic FoToGraFIen & ILLUSTraTIonen DIeSer aUSGaBe Melanie bonajo, Dennis busch, Flabbyhead, Marco Fusinato, estelle hanania, Sarah haug, hendrik lehmann, Myeongbeom Kim, Torsten lange & Johannes Assig, rosa Merk, Jan-eike Michaelis, Tanja Pippi, Fabrizio rainone, Falcon Stuart, carolin Walch, Joachim Zimmermann Danke an n+1, Florian Demmer, Julia hoffmann, christine Pfeifer, Stefan rudnick, britta Schoening, ian Svenonius (Free him noW!)

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anZeIGen oliver Koch anzeigen@opak-magazin.de DrUCk Druck und Werte Gmbh Peterssteinweg 17 04107 leipzig www.druckundwerte.de VerTrIeB carnivora Verlagsservice Gmbh & co. KG Stefan rudnick Gneisenaustraße 33 10961 berlin Tel. (030) 747 86 26 40 vertrieb@carnivora-verlagsservice.de

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UnDerGroUnD FAbiAn SoeThoF

AUSbrecher

Seite 7

FoToS Von MAX ZerrAhn

Seite 6

illUSTrATion Von DenniS bUSch—MADeWTihhATe.De

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Als wäre das so eine Art O r d e n D

u wirst ja häufig als Undergroundliterat bezeichnet …

Das ist mir ziemlich egal!

AlS Wäre DAS So eine ArT orDen

— Aber dein Verlag wirbt damit …

Werde ich so beworben? Echt? Das weiß ich ja gar nicht! Na gut, da würde wahrscheinlich „Ex-Underground“ besser passen. Also ich finde die Zuschreibung schwer, man müsste erst mal klären, was Underground überhaupt ist. Insofern sind mir selber die Kriterien nicht so ganz klar. Sind das jetzt eher wirtschaftliche oder ästhetische?

— ich denke eher an eine bestimmte haltung oder Attitüde. eigensinn und Querschießen.

Die Frage ist, ob es diese Haltung überhaupt noch gibt. Und warum sollte nichtkonformes Verhalten „Underground“ sein? Aber gut, im Grunde ist schon klar, aus welcher Ecke ich komme. Anfang der 1980er war das durchaus ein positiver Ausdruck: „Ich bin Underground.“ Als wäre das so eine Art Orden. Später habe ich dann gemerkt, dass das relativ egal ist.

München. Und das hat gut funktioniert, es war immer was los. Das Publikum war nicht nur „Underground“, aber die Eintrittskarte war dieses Heft und vierzighundert waren in diesem Moment schon weg. Leider gab es nur drei Ausgaben des „Ziegelbrennen“, die sind 1989/90 erschienen, Mitherausgeber war Thomas Palzer. Naja, und dann waren wir wieder mit anderen Dingen beschäftigt und ich bin aus München weggezogen. Natürlich hat es was mit „Underground“ zu tun, so Heftchen zu machen, selber etwas auszuprobieren und seinen Standpunkt zu festigen. Es war klar, dass es besser ist, es so zu machen, wie man es selber meint. Wir haben uns auf keinen Fall bemüht, in den Literaturbetrieb reinzukommen. Automatisch war da eine Art Anti-Haltung, ich glaube, viele Leute hätten uns für wirr gehalten.

— Mitunter hört man von ehemaligen Punkern, die jetzt Jobs im Kulturbereich haben, man könne radikalere Sachen im FAZ-Feuilleton oder auf Theaterbühnen machen als in der beschränkten Subkultur-Szene. Was hältst du davon?

Das, was allgemein als Underground eingeschätzt wird, verändert sich natürlich permanent. Und was wir 1985 für Underground gehalten haben, ist so

— Du bezeichnest deine lesungen als entertainment und legst dabei auch Platten auf.

Es ist schon einige Jahre her, dass ich meine Lesungen als Entertainment angekündigt habe. Damals war es viel interessanter zu sagen: Hey, es ist keine Lesung, sondern Entertainment. Aber nachdem sich Entertainment stark verändert hat, würde ich das heute nicht mehr so machen.

„Wir wollten Spaß haben und den Literaturbetrieb rausholen aus dieser prinzipiellen Stille. Uns ging es einfach darum, dass die Leute saufen konnten und rauchen.“ — Zum Stichpunkt entertainment fällt mir auch der große Zulauf für Poetry-Slams ein. Wie erklärst du dir das? Was ist davon zu halten?

Die Entwicklung von Poetry-Slams ist ähnlich, finde ich. Als das angefangen hat, war das „Underground“, weil es tatsächlich von außerhalb kam. Das war eine völlig neue Form, hat sich dann aber ganz schnell zu dieser Unterhaltungsschiene entwickelt und wurde somit wahrscheinlich das größte Reservoir für den dann folgenden Comedy-Wahn. Besonders gefallen hat mir das eigentlich nie; es verleitet natürlich dazu, dass es oft knallen muss, möglichst schnell. Vor ’nem Publikum stehen, das nach ’ner halben Minute sagt: Hey, der Typ ist geil! Ein Testgebiet für die Leute, die in die Comedy wollten. In den USA hingegen, wo der Poetry-Slam ja eigentlich herkam, hatte er eine starke soziale Komponente. Die Leute wollten einfach sagen, was sie bewegt oder was in der Nachbarschaft so los ist, ihre Meinung vertreten. Auf den ersten Slams, die ich mitbekommen

— Zur Underground-literaturszene gehört ja auch zweifellos die Geschichte literarischer Fanzines. Du warst früher Mitherausgeber des heftes „Ziegelbrennen“.

Von UTe Meyer

Das Heft hatte auch nur ein Grundlayout, keine Fotos, gar nichts – und das war natürlich bewusst so ausgewählt. Der Gedanke des Auflockerns war überhaupt nicht da. Es war über viele Seiten einfach Bleiwüste wie so ’ne Barrikade aufgebaut. Wir wollten auf keinen Fall intellektuell erscheinen, aber auf diese Art tust du es natürlich zwangsweise.

natürlich gar nicht mehr da. Qualität hat mit dem Ort zu tun, an dem etwas passiert. Wenn man versucht, Underground zu verorten, fällt einem bestimmt nicht als Erstes das Theater ein. Fraglich ist, was überhaupt beim Theaterpublikum ankommt. Aber wenn man Underground auf Form und Ästhetik reduziert, dann wäre er natürlich unabhängig von einem Ort. Naja, aber es sträubt sich auf jeden Fall etwas in mir zu sagen, der Underground wäre in der FAZ eher möglich als in der OPAK.

Ja, „Ziegelbrennen“ war natürlich insofern „Underground“, als dass es an einer größeren Öffentlichkeit und dem Markt vorbeiging. Was uns wirklich auch egal war. Das war ja eh von vornherein klar.

— Wurde das heft dann überhaupt wahrgenommen, gab es reaktionen?

Die gab es, weil wir jede Ausgabe mit einer möglichst großen Party verbunden haben, damals in so ’ner Diskothek-Bar in

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FoTo: rAlF illinG

habe, kamen die Leute immer am besten an, die ich am wenigsten leiden konnte. Mein persönlicher Eindruck ist: 90 Prozent sind einfach Schrott, aber dennoch vielleicht ganz lustig. Die Form ist halt ganz lustig.

— in deiner erzählung „Zufall“ schilderst du die begegnung mit edo Popovic, der als Generation-X-literat in den 1980er Jahren in Zagreb bekannt wurde. Wie wichtig war diese begegnung für dich?

Es war so, wie ich es in „Zufall“ geschildert habe: ein sehr schönes Erlebnis. Jemanden zu treffen aus einem anderen Land, im gleichen Alter, der von einem ganz ähnlichen Punkt gestartet ist. Und das, obwohl dieser Eiserne Vorhang dazwischen war. Im Grunde war Popović inspiriert oder angekickt von ganz ähnlichen Sachen, mit dem gleichen Antrieb, mit so einer Fuck-off-Haltung. Wir wollten Spaß haben und den Literaturbetrieb rausholen aus dieser prinzipiellen Stille. Uns ging es einfach darum, dass die Leute saufen konnten und rauchen. Sie sollten tun können, was sie wollten, anders als diese prinzipielle Aufmerksamkeit in Literaturhäusern. Dort herrscht per se so eine Aufmerksamkeit, in der es eh keine anderen Möglichkeiten gibt. Und wenn dir dann keiner zuhört, musst du dich dem eben aussetzen. Das haben diese Leute in Kroatien ganz genau so gesehen und haben im Grunde genau dasselbe gemacht. Was schon irgendwie sehr witzig ist.

— Wie versuchst du auf deinen lesungen dieser literaturhaus-Stille entgegenzuwirken?

Ich habe nach einer Form gesucht, die die Lesung auch für mich spannend macht. Und so kam es, dass ich Musik mit reinnahm und die Texte variierte. Während der Lesung versuche ich immer, herauszufinden, was im Publikum los ist. Ob zum Beispiel Protest im Spiel ist. Manchmal ruft dann einer „Ja, lies doch einfach!“, wenn ihm zu viel Gelaber zwischen meinen Geschichten ist. Aber ich will nicht einfach nur so einen Text nach dem anderen runterlesen müssen. Das betrifft natürlich erst mal nur die Form, aber mich interessiert die Frage: Was passiert in der Live-Situation? Die eingeübten Posen des Literaturbetriebs langweilen mich.

— es gibt ja auch noch eine andere Facette von „Underground“, den Untergrund. in deinen Storys spielt häufig die begegnung mit verschiedenen vermeintlichen Verlierer-Typen ein rolle. Die Schauplätze deiner Geschichten sind oft Knäste, biergärten, Krankenhäuser, vor allem auch bahnhöfe.

Ja?

AlS Wäre DAS So eine ArT orDen

— Ja! Mir fallen mindestens drei ein. Echt?

— Die Figuren haben mich irgendwie an outlaws erinnert oder den 1950er Jahren entsprungen, beeinflusst von amerikanischer Populärkultur. Da viele Storys in der bayrischen Provinz spielen, musste ich an „Die halbstarken“ denken, zum beispiel auch an die Schwabinger Krawalle von 1962. ist das ein politischer bezugspunkt?

Das klingt auf alle Fälle interessant, ist aber nicht die Zeit, aus der ich komme. Deshalb fällt es mir schwer, das zu beurteilen. Natürlich spielen Texte von mir in der Provinz oder haben auf irgendeine Art provinziellen Charakter. Das hängt auch damit zusammen, dass ich selber aus der Provinz komme – das steckt irgendwie überall ein bisschen drin.

— Du hast irgendwann mal gesagt: „heimat ist da, wo man sich aufhängt.“ hassliebe zur bayrischen Provinz?

Ich denke, dass Hassliebe hier das falsche Wort ist. Vielleicht ist es eher Unverständnis oder so etwas. Nationalismus oder Lokalpatriotismus sind mir total fremd. Heimat wurde immer als Begriff von Ausgrenzung benutzt. Wenn du nicht von da bist, dann bist du draußen … das finde ich furchtbar! Aber du kannst dich diesem Zusammenhang eben auch nicht ganz entziehen, deshalb: Heimat ist da, wo man sich aufhängt.

— in einigen deiner erzählungen spielen Alltagsrassismen eine rolle, zum beispiel schult eine Mutter ihr Kind dann lieber doch nicht in der Kiez-Schule um die ecke ein, weil da kaum deutsch gesprochen wird. in einem interview hast du mal gesagt, politisches engagement fängt in der Kneipe bei den Gesprächen an der Theke an …

Ich würde das allerdings nicht verallgemeinern. Es hängt vielmehr mit meiner persönlichen Arbeitsweise zusammen, so etwas wie das Tresengespräch als Ausgangspunkt zu nehmen. In meine Geschichten fließen grundsätzlich viele Beobachtungen des Alltags ein, so haben sie häufig aktuelle Bezüge, sind stark im Jetzt verankert. Ich schreibe ja keine bekenntnishafte Literatur, ich erzähle einfach von den Lebensumständen, die ich kenne, und darin liegt bereits das Politische. Deutsche Literatur ist sehr geprägt von Leuten, die eine bestimmte Bildung haben und meinen, diese auch mitteilen zu müssen. Ich hingegen gehöre eher zu den wenigen, die einfach mit dem Schreiben angefangen haben. Und das spiegelt sich natürlich auch in meinen Texten wider.

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UnDerGroUnD

außenseiter, Irrsinnige und outlaws bevölkern seine Geschichten, er selbst steht immer etwas abseits. ein Gespräch mit dem gemeinhin als „Underground-Literat“ bezeichneten FranZ DoBLer.


UnDerGroUnD

„THE HyPE“ Über U n d e r g r o u n d

,Die AuSSenSeiterbAnDe‘ „nimmt man Pop einmal als Überbegriff für die ganze populäre Kultur von Kino bis Schlager und rockmusik, so war Pop zu diesem Zeitpunkt bereits unversöhnlich gespalten – Protestkultur auf der einen, staatstragende unterhaltung auf der anderen Seite. um beides besser voneinander abgrenzen zu können, machte ein neuer begriff die runde: underground.“ MArtin bÜSSer (1968 – 2010)

Von roGer behrenS

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n den neunzehnhundertsechzigern machte also ein neuer begriff die runde: Underground. Zwar war der begriff von Anfang an politisch gemeint, doch hatte er wesentlich kulturelle Konnotationen, fungierte gleichsam als konzeptuelle Abgrenzung und Gegenentwurf zur Kultur des establishments. Dass er überdies seinen Ursprung in den Vereinigten Staaten hatte, dort vor allem aus dem explosiven Gemenge großstädtischer Alltagskultur und ihrer Kunst hervorging, kommt nicht von ungefähr: es ist der erste offensiv gegen- oder subkulturelle reflex, der sich von high und low, von e und U gleichermaßen absetzt; eine bewegung, die eben nicht totalitäre Unfreiheit (zum beispiel Faschismus) zum Feind hat, son-

dern die schlechtweg gegen die zum block, zum Ganzen geronnene falsche Freiheit kämpft. Sie entlarvt die prosperierende ,affluent society‘, also die konsumistische überflussgesellschaft, als eindimensional, entfremdet, lebens- und lustfeindlich, enttarnt die Demokratie als Scheinsystem einer, wie es herbert Marcuse nannte, „repressiven Toleranz“, in der die ideale von ,life, liberty and the pursuit of happiness‘ bloß noch ideologie sind. immerhin war das land der unbegrenzten Möglichkeiten vom Wohlstand und Ghetto, von Mondlandung und Vietnam-Krieg gleichermaßen bestimmt, und insofern die Dialektik der Aufklärung in einer neuen Stufe virulent. Dagegen formulierte und formierte sich Underground als Projekt einer Großen Weigerung, die den ,American way of life‘ insgesamt kontaminierte, konterkarierte oder einfach karikierte. Politik und Kunst gingen dabei hand in hand, von der black Panther Party über die yippies bis zum Weather Underground und hendrix’ Version von ,Star spangled banner‘ … ende der sechziger Jahre taucht das Wort ,Underground‘, ohne übersetzung und übrigens bis heute als Anglizismus verwendet, dann auch im deutschen Sprachraum

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auf. etwa hier: „Schließlich hat die ideologie der Kulturindustrie sich verselbstständigt … An den Mann gebracht wird allgemeines, unkritisches Mit-dabei-Sein, reklame gemacht für die Welt, so wie ein jedes kulturindustrielle Produkt seine eigene reklame ist. Darin spielen sämtliche Sparten wie in prästabilierter harmonie zusammen. Selten wird, außer underground, etwas durchgelassen, was nicht den kulturindustriellen Stempel trüge“, heißt es ausgerechnet bei Theodor W. Adorno – in einem kurzen Memogramm für eine radiosendung, datiert auf den 21. Februar 1969. ob das als eine wissentliche Verteidigung des Underground gemeint war und an wen oder was Adorno dabei dachte, ist nicht bekannt (er stirbt noch im August desselben Jahres). Allerdings darf nicht vergessen werden, dass gerade jemand wie Adorno mit radio- und TV-Sendungen, wie etwa einer mehrstündigen Fernsehdiskussion über beckett 1968, selbst Underground war, und zwar in genau der von ihm beschriebenen Weise inmitten einer Kulturindustrie als „synthetische Kultur der verwalteten Welt“. Wieweit allerdings Adorno, der ja den guten Teil seiner emigrationszeit in den Vereinigten Staaten verbrachte, mit der amerikanischen Underground-Szene vertraut war, ist

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„The hyPe“. über UnDerGroUnD

DreI FraGen: erSTenS: Was ist Underground? ZWeITenS: Inwiefern unterscheidet sich Underground von Untergrund, avantgarde und außenseitertum? DrITTenS: Wozu Underground – wenn alles nur noch oberfläche ist, auf der sowieso alles als Underground gespiegelt werden kann? GUTTenBerG: „Muss ich alle drei Fragen beantworten?“ poSCHarDT: „nein!“ kUJaU: „aber besser wär’s …“ HeGeMann: „aber besser wär’s.“

Wer als Erster und am lautesten skandiert, ,underground‘ zu sein, ist es auch. Druck eine Banane auf das Cover und nenne die musikalisch unterdurchschnittlich begabte Band einfach V e l v e t Underground …

illUSTrATion: AnDie WAr hohl

„The hyPe“. über UnDerGroUnD

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UnDerGroUnD

nicht zu ermitteln. Und wohl keine Verbindung gibt es zu rolf Dieter brinkmann, die in diesem Fall weiterhelfen könnte – denn tatsächlich soll brinkmann, damals noch keine dreißig Jahre alt, den begriff Underground von einer Amerikareise mitgebracht und dann in die hiesigen literaturdebatten eingeführt haben: „Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten – ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben nur noch permanent sich selbst repräsentieren kann, ein establishment repräsentieren kann. Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege.“

Von roGer behrenS

„The hyPe“. über UnDerGroUnD

,Wir KellerKinDer‘ Die Geschichte des Underground ist unterirdisch, führt zum Mythos zurück, zum Untergrund. Der Mythos vom Untergrund geht so: orpheus, der betörende Sänger, will seine schon im Totenreich weilende eurydike zurückhaben. Der Wunsch wird ihm gewährt, er darf sich nur nicht beim Aufstieg in die oberwelt nach seiner Geliebten umdrehen. Aus Versehen macht er das aber doch, eurydike bleibt in der Unterwelt, alles vergebens. Als Jacques offenbach 1858 mit diesem Stoff seine überaus erfolgreiche operette in Paris zur Uraufführung bringt, arbeitet sich gerade Karl Marx in london in die Kritik der politischen Ökonomie ein: die realen Verhältnisse als Unterwelt, die kapitalistische Moderne als „Zeit der hölle“ (benjamin): „Die Konsumtion der Arbeitskraft, gleich der Konsumtion jeder anderen Ware, vollzieht sich außerhalb des Markts oder der Zirkulationssphäre. Diese geräuschvolle, auf der oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre verlassen wir daher, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgne Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: no admittance except on business. hier wird sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital.“ Marx weiß wie orpheus, dass der Mythos nur zu bezwingen ist, wenn man sich auf ihn einlässt. nachforschungen im Untergrund als Aufklärung. Die oberwelt ist jedenfalls nicht alles; leidenschaft, liebe und Antwort auf die Frage, was alles zusammenhält, gibt es nur in der Unterwelt. Und so wird sie, zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts, langsam zu einer „heterotopie“ (Foucault), zu einem zugleich unheimlichen und heimlichen ort: Versteck und Fluchtraum. Und tatsächlich entsteht in den Großstädten ein realer Untergrund, wird der boden mit einer verborgenen Architektur von Kanalisation, Katakomben, Schächten und schließlich den Metro-Tunneln durchzogen. Damit wird der Untergrund, der im Mythos wie in der Marx’schen Kritik als basis des Systems sein bild hat, zum Gegenteil,

nämlich zum ort des Antisystems. So wird der Untergrund zum ort der illegalität. Und er ist keineswegs mehr nur ein freiwillig gewählter ort des rückzugs: Spätestens der politische Terror des zwanzigsten Jahrhunderts, Faschismus, nationalsozialismus und Stalinismus, zwingt Menschen, die nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen können, in den Untergrund. Zunächst ist es aber die Zeit um neunzehnhundert, die Dekadenz, die den Untergrund als lebensraum formt, also den Untergrund gleichsam als Utopie, als nicht-ort inmitten der Krise der bürgerli-

Der Untergrund, der im Mythos wie in der Marx’schen kritik als Basis des Systems sein Bild hat, wird zum Gegenteil, nämlich zum ort des antisystems. So wird der Untergrund zum ort der Illegalität. chen Gesellschaft lokalisiert. hier zeigt sich, fortan: Der Untergrund ist immer der Untergrund zu den herrschenden Verhältnissen, den bestehenden herrschaftsverhältnissen, die sich in der modernen Gesellschaft im Staat manifestieren. Und der Staat ist oben. illegalität und damit Kriminalität sind mithin die beiden bestimmenden Merkmale des Untergrunds beziehungsweise des lebens im Untergrund. Dies wird vielfältiger, der Untergrund selbst größer, je weiter die entwicklung des modernen Staats zum bürokratischen Verwaltungsstaat voranschreitet: Die boheme, die Prostitution, die Spieler und Trinker, die Amüsierdamen und Anarchisten, die bankräuber und banden, schließlich die Schriftsteller und Jazzmusiker. Das erlebt seine blüte in den Zwanzigern und hat seine Kongruenz zu den modernen Avantgarde-bewegungen. überhaupt gehören Untergrund und Avantgarde zum selben begriffskomplex: beide Worte sind dem militärischen Vokabular entlehnt. Und wie Avantgarde ist auch Untergrund in einer historischen Parallelentwicklung von Kunst und Politik kontextualisiert.

,ZUr SAche, SchäTZchen‘ Anders als der Untergrund ist die Avantgarde keineswegs konspirativ. Der Untergrund entzieht sich, ist Widerstand. hingegen ist die Avantgarde offensiv, und in diesem Sinne mehr Katalysator als Wider-

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stand. Das heißt, die Avantgarde ist der Umsturz, auf den der Untergrund erst hinarbeitet. insofern entscheidend: Die Avantgarde ist unbedingt sichtbar und muss sichtbar sein; der Untergrund bleibt unsichtbar und flüchtig. ordnung und Fortschritt sind die Attribute der Avantgarde; indes ist Untergrund mit Freiheit und gegenläufiger Unterwanderung, Störung oder Unterbrechung zu assoziieren. clement Greenberg bezeichnete Kitsch als den spezifischen Gegenbegriff zur Avantgarde (1939 in der, wenn man so sagen will, theoretischen Untergrund-Zeitschrift ,Partisan review‘). Der Gegenbegriff zum Untergrund dagegen ist zunächst lapidar, nämlich einfach der obergrund; Unten und oben bezeichnen Zonen, die ästhetisch und gegebenenfalls auch politisch indifferent bleiben. Auch Faschisten können abtauchen; und das traurige Schicksal politischer Verfolgung macht aus einem schlechten Künstler keinen guten. erst mit den fünfziger Jahren, wo aus Untergrund langsam Underground wird (und im übrigen die Avantgarde obsolet ist), wird der Gegenbegriff inhaltlich präzisiert: Underground versus establishment. Dieses „versus“ ist zudem charakteristisch, denn anders als Untergrund ist Underground viel beweglicher und flüchtiger in bezug auf den konkreten ort, der aber immer eine abstrakte Positionierung innerhalb der Kultur fixiert. Zudem: mit dem Underground verwischt auch die hierarchie von oben und Unten, wird vielmehr zu einem horizontalen nebeneinander, zur Peripherie: Underground wird das Außen zum Mainstream … Und das ist das initiale Motiv in den Sechzigern: Mit dem Underground kehrt auch, in seiner Gestalt, die Avantgarde wieder – indem auf einmal der Underground dann doch als Vortrupp unterwegs ist –, laut, auffällig, sichtbar für alle beziehungsweise – und das ist für die diskursiv-referenzielle Verortung des Underground wichtig – sichtbar für alle, die es sehen wollen. insofern kommt der Underground raus aus der illegalität; er ist zwar Geheimtipp, aber längst nicht mehr Geheimbund. Anders als der Untergrund definiert sich der Underground selbst: durch positivistische Selbstaffirmation beziehungsweise affirmative Selbstpositivierung: Wenn ich Xy beschreiben kann, bin ich Xy. Wenn ich weiß, was Punk ist, bin ich ,punk‘. Wenn ich Subkultur oder D.i.y. definieren kann, definiere ich mich selbst als Subkultur oder D.i.y. Das war am Anfang, als mit den ersten Klängen von rock ’n’ roll und Soul noch niemand so recht wusste, was eigentlich los ist, noch anders, änderte sich erst mit der ästhetischen Selbstermächtigung des Pop in den Sechzigern. etikettierungen waren notwendig, und Vokabeln wie „Underground“ wurden sukzessive entsprechend diskursiv funktionalisiert. eine rhetorik der Mode im übrigen: schnell, schrill und plötzlich – wer als erster und

am lautesten skandiert, ,underground‘ zu sein, ist es auch. Druck eine banane auf das cover und nenne die musikalisch unterdurchschnittlich begabte band einfach Velvet Underground …

,DAS iMPeriUM SchläGT ZUrücK‘ Underground ist von Anfang an Teil der Produktionsverhältnisse des Pop. Anders gesagt: Die behauptung, dass Underground wie eben früher die Avantgarde eine ästhetische oder politische Strategie sei, gehört bereits zur ideologie des Pop. Faktisch bezeichnet Underground eine ökonomische Position zur spätkapitalistischen Kulturproduktion: ,independent‘ ist das Schlagwort, mit dem dann etwa ende der Fünfziger der Underground-Film charakterisiert wird – und die ökonomische Unabhängigkeit von hollywood als Anti-Kunst supponiert. Die Vorstellung allerdings, innerhalb einer Gesellschaft, in der Kulturalisierung und Kommodifizierung synonym sind, kommerziell unabhängig agieren zu können, ist naiv; darüber hinaus zu glauben, solche Unabhängigkeit sei die Voraussetzung für ästhetische wie politische Subversion, ist schlichtweg Unfug. Das tangiert die Dialektik des Underground: War die Kulturindustrie Aufklärung als Massenbetrug, so geriert sich der Pop mit seinem immer wieder aus dem boden emporschießenden Underground als Selbstbetrug der aufgeklärten Konsumenten. Schon mit dem ökonomischen Großunternehmen Woodstock, spätestens aber mit der spektakulären inszenierung des Punk Mitte der Siebziger wird deutlich, inwiefern Popkultur buchstäblich mit den ,public relations‘ konvergiert, nämlich zu einem öffentlichen Verhältnis wird. Der Underground wird reklame für das establishment. Das geht so weit, dass schließlich seit den Achtzigern vom establishment niemand mehr redet, das Wort aus dem Vokabular der Kritik verschwindet und eben die im Alltagsleben manifeste ideologie der kapitalistischen leistungsgesellschaft für den Pop kein Thema mehr ist. Underground wird zu einer banal-moralischen Kategorie, mit der ökonomisch zunächst schwierige neuware gegen die böse herrschaft der Majors und des Mainstreams auf dem Markt platziert wird: Underground ist dann nur noch das vermeintlich Unbekannte, angeblich Sperrige und schwer Verständliche, meistens aber nicht mehr als Quatsch, der als Kunst wohlfeil geboten wird. Die Dialektik des Underground schlägt dabei auf die Dialektik der Kultur überhaupt zurück: Der langweilige Schrott der Mainstream-Produktionen wird nicht mehr durch kluge Underground-interventionen kritisiert, sondern wiederholt sich im als ,Underground‘ deklarierten Schrott sinnentleerter Mittelmäßigkeit. hatte sich bis in die neunziger der Mainstream noch hinter dem allenthalben aus der Versenkung geholten Underground versteckt gehalten (Techno, Grunge etc.), kollabierte schließlich diese idiotische Pop-idiosynkrasie um die Jahrhundertwende, sodass mit den nullern ei-

„The hyPe“. über UnDerGroUnD

gentlich jedes klug lancierte Kulturformat als Underground firmiert. Alles ist so sehr Mainstream, Durchschnitt, oberfläche, dass es schon wieder Underground ist. Wahrscheinlich war der Underground ohnehin nie Sprengstoff; sicher ist er heute nur noch der Kitt, mit dem die Verhältnisse notdürftig zusammengehalten werden; reale Verhältnisse, deren Fundamente tief im innern des Systems längst von gewaltigen erosionen erschüttert sind. Wie alle Kultur restauriert auch der Underground das zerrissene bild des Sozialen und macht die Welt ein bisschen bunter, hübscher, erträg-

Der langweilige Schrott der Mainstream-produktionen wird nicht mehr durch kluge Underground-Interventionen kritisiert, sondern wiederholt sich im als ,Underground‘ deklarierten Schrott sinnentleerter Mittelmäßigkeit.

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OSCAR NOMINIERUNGEN BESTER FILM BESTE HAUPTDARSTELLERIN

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Unglaublich kraftvoll! Der bewegendste Film des Jahres. - New York Magazine

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licher. Freilich ist das schwarzmalerischer Pessimismus, aber das gehört schon mit dazu; genauso wie der nächste Film, das nächste buch oder die nächste Platte, die irgendwie auch Underground sein wird.

AB 31. MÄRZ IM KINO wintersbone-derfilm.de


UnDerGroUnD

Replay UNDERGROUND 13 knappe anmerkungen zu

des Verlorengehens einem verloren gehenden Zustand Wer vom „Underground“ spricht, der hat von der Kultur entweder eine architektonische oder eine „natürliche“ Vorstellung. Was die Architektur anbelangt, so ist der Untergrund natürlich als kultureller oder gegen-kultureller ort tief verwurzelt, insbesondere in der christlichen Tradition. Das ganze christentum, sagt man, kommt ja aus dem Untergrund. „Katakomben“, die die Kinderfantasien beflügelten; geheime botschaften, Ausgrabungen. oben herrschte ein zugleich technokratisch geordnetes, religiös und moralisch aber chaotisches römertum, im Untergrund dagegen vollbärtige Friedensprediger und Frauen mit seligen Augen und heiligenscheinen um die nachlässige erscheinung herum. Da war die Welt im inneren in ordnung. Mehr oder weniger.

Und noch etwas muss zur Verteidigung dieses Autors gesagt werden: Das Wort „Underground“ kam im eigenen Gebrauch gar nicht so häufig vor. es passte indes gerade, weil es von außen kam.

Wenn man dem christentum etwas vorwerfen kann, sehen wir mal von hexenverbrennungen, Verblödungsstrategien und Kreuzzügen ab, dann ist es der Verrat am Underground.

rePlAy UnDerGroUnD Von GeorG SeeSSlen

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Der Underground, sagte man dann, „explodiere“. Wenn er das tatsächlich tat, dann explodierte er am liebsten direkt in sein angebliches Gegenteil, in den Kommerz. Denn auch eine Undergroundband träumte von einem Plattenvertrag, die Protagonisten des Underground-Theaters bekamen feuchte hände, wenn sich der Kritiker einer bürgerlichen Zeitung zu ihnen wagte, Underground-Filme mit ein bisschen Sex kamen in die bahnhofskinos, und die Arbeiten in der Underground-Galerie waren für den Underground selber schon lange nicht mehr zu bezahlen.

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Umgekehrt natürlich hat der Underground auch immer irgendwie religiöses und Verschwörerisches zu bieten, wenn auch meistens eher als inszenierung denn als erfahrung. Man muss indes den Grund definieren, wenn man sich im Untergrund wähnt. Wo sind die Falltüren, und wo enden die labyrinth-Wege an geheimen Ausgängen? Und sind die Verhältnisse dort oben eigentlich noch die, derentwegen man überhaupt in den Untergrund gegangen ist? 5

Underground ist ein Transit-raum, nicht so offen wie die boheme, nicht so geschlossen wie eine Subkultur. er bildet sich offensichtlich zu Zeiten, da die Mainstream-Kultur organisatorisch mit den Veränderungen nicht mitkommt, die sich semiotisch vollziehen. Und genauso schnell bricht er auch wieder zusammen.

oder in ihn gestoßen wurde. in der „natürlichen“ Vorstellung nämlich ist der Underground so etwas wie eine „unterirdische Strömung“ in einem breiten Fluss oder eine wertvolle Ader im Gebirge, in einer höhle möglicherweise. Verborgener reichtum, noch unberechnet, Zuflucht.

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Underground gibt es nur in einer kapitalistischen organisation der Kultur. eine prismatische organisation der ästhetischen und ethischen innovationen, nachdem es so linear mit Avantgarde und Moderne nicht mehr klappt wie in der alten bürgerlichen Gesellschaft. Anderswo sind solche innovationen entweder gar nicht vorstellbar, oder sie sind wirklich gefährlich. Underground ist am ende des Tages eine dann doch konsequent marktförmige organisation der kulturellen und politischen hefe. Was nach oben kommt, wird abgeschöpft, ein wohlfeiler Gewinn, denn primär erhält sich der Underground ja erst einmal selbst – oder er versucht es jedenfalls.

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es gab eine Zeit, lang, lang ist es her, da war der Autor dieser Zeilen ziemlich 100 Prozent Underground. er spielte Underground-Musik in Underground-Kneipen, las und verfasste Underground-literatur, er amüsierte sich über Underground-comics, verliebte sich in Schauspielerinnen des Underground-Theaters und frequentierte Underground-Galerien. er hielt sich eine Underground-Gazette, diskutierte über Underground-Filme und sympathisierte mit einer politischen Underground-bewegung. Zur Verteidigung dieses Autors muss gesagt werden: er war jung und brauchte kein Geld. Jedenfalls nicht mehr als das, was durch betteln, Stehlen und borgen von Menschen zu bekommen war, die eben nicht Underground waren.

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Underground ist ein Transit-raum, nicht so offen wie die Boheme, nicht so geschlossen wie eine Subkultur. 7

Doch ist die Ausbeutbarkeit einer Sache noch nicht deren entwertung. Fest steht indes, dass im Underground die Versuche einer Abwehr der Korruptionsanfälligkeit wesentlich laxer gehandhabt werden als etwa in der organisation einer Subkultur. Man einigt sich schon in einem vagen Gefühl des Anders- und Dagegenseins, und gerade weil der Underground darauf verzichten muss, sich selber einen Diskurs zu verpassen (stattdessen jeden, beinahe wirklich jeden Diskurs durchzulassen), ermöglicht er auch die radikalsten und eben auch extremsten impulse, weshalb aus dem Underground die Talente von morgen ebenso kommen wie die heftigsten Verlierer und immer mal wieder der eine oder andere wahnsinnige Gewalttäter. im Underground wird der liberalismus des Systems an die belastungsgrenzen geführt.

collAGen Von DenniS bUSch — WWW.MADeWiThhATe.De

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natürlich hat es so ein Underground auch an sich, dass es genau anders herum ebenso funktioniert: Während es eine Produktion der Zeichen gibt, sexuell und politisch erhitzt, die den „Grund“ früher oder später erreichen (wenn auch durch die im übrigen seit einem halben Jahrhundert nahezu perfektionierten Filterapparaturen), sickern auch Zeichen von oben in den Untergrund und werden dort überholt, recycelt und erneuert. hier bekommen sie wieder, was sie oben verloren haben: bedeutung.

rePlAy UnDerGroUnD

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ein historisches Missverständnis war es, den Underground grundsätzlich als „progressiv“, „jung“ und „links“ zu verstehen. er ist ein temporäres Subsystem, das den vom demokratischen Kapitalismus versprochenen liberalismus beim Wort nimmt; aber gerade durch diese Konsequenz kann der Underground dem hauptsystem (zu dem immer noch ein mehr oder weniger funktionierender „Staat“ gehört) gefährlich werden. Und deswegen wird der Staat, durch seine eigenen Formen der Subversion, so gerne dem Underground gefährlich. Die Freiheit des Underground ist nicht zu tolerieren! Denn sie ist nicht notwendig links, aber notwendig „staatsfern“. Underground ist der Dünger für die anarchistischen Wurzeln des liberalismus. (natürlich weiß der Markt, wie man so etwas „verwässert“.) 13

Der demokratische kapitalismus benötigt einen Underground und muss ihn dennoch fürchten. So träumt er von einem „kontrollierten Underground“. rum auch nicht anders als eine Underground-Kneipe. Und an der Korruptionsanfälligkeit und der Tendenz zur Selbstkannibalisierung hat sich auch nicht viel geändert.

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Von GeorG SeeSSlen

Theoretisch könnte man wohl sagen, dass die wechselseitige Definition von Mainstream-Grund und Underground mit den neuen Medien obsolet geworden ist. im internet tauschen sich, zumindest unter den bedingungen, wie man sie hierzulande vorfindet, Grund und Untergrund in so raschem Tempo aus, dass jede ortsbestimmung einer Aussage (sei sie im „architektonischen“ oder im „natürlichen“ bild als „Underground“ gemeint) grundsätzlich zu spät kommt.

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Aber in Wahrheit ist natürlich auch das internet abhängig von ideen und impulsen. Und die organisieren sich in erstaunlicher Konsequenz nach den immer gleichen Modellen, egal welches Medium dazu benutzt wird. Was die darin erzeugten Zeichen und die darin kursierenden ideen anbelangt, so funktioniert dieses oder jenes internet-Fo-

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eine Gesellschaft, die vom „Aufsteigen“ (oder genauer gesagt, noch mehr von der Angst vor dem „Abstürzen“) besessen ist, tut sich mit der lust am hinuntersteigen schwer. Aber genau darum geht es auch in allen Underground-Fantasien. Man will nicht nur in die Keller der Konspirationen, sondern auch in den Unterleib der Gesellschaft. oder in die verborgeneren Teile einer seelischen Architektur: im Underground sollen sich ich, eS und über-ich begegnen wie alte Freunde, die zusammen ein bier trinken gehen. (Klar, dass das oft böse endet.) Primat von Theorie und Praxis soll es hier nicht geben; eine idee soll nicht bloß formuliert, sondern immer gleich ausprobiert werden, und Kunst soll nicht für die Kunst da sein, sondern die soziale bewegung begleiten. Und umgekehrt.

collAGen Von DenniS bUSch — WWW.MADeWiThhATe.De

Der demokratische Kapitalismus benötigt einen Underground und muss ihn dennoch fürchten. So träumt er von einem „kontrollierten Underground“. Dabei entstehen als notwendige Abfallprodukte neurose und Kriminalität. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um eine mehr oder weniger planvolle „Vergiftung“ des Underground zu diagnostizieren. Der einzelne entkommt ihr entweder in die geschlossene Welt der Subkultur (Gefahr: Sektierertum, Wirklichkeitsverlust, isolation) oder ins offene einer boheme, die sich nun schon mal gerne eine digitale nennt und mit Mode und Verzweiflung umzugehen gelernt hat (Gefahr: Unverbindlichkeit, Karnevalisierung, instrumentalisierung). Der Transitraum wird enger (und natürlich mangelt es ihm entschieden an „öffentlichem raum“). Die Frage ist natürlich, ob der postdemokratische Kapitalismus überhaupt noch einen „authentischen“ Underground benötigt bzw. ob die kapitalistische Postdemokratie überhaupt noch einen „authentischen“ Underground dulden will. Man arbeitet vermutlich daran, ihn in ein Segment der Sinnindustrie umzuformen. Die absehbare semiotische Austrocknung ist den Protagonisten dieses Prozesses egal. ein Medienstandort oder ein bankenviertel brauchen keinen Underground. oder?

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Für eine normale bürgerliche biografie ist der Underground ein ort, an dem man mal gewesen sein sollte. So wie man mal in Paris gewesen sein sollte. oder in indien. Für die kulturelle elite ist es eine Art Sprach- und Körper-Pubertät; es tut gut, solange man nicht allzu lange darin umherirrt. Denn wer zu lange im Underground verharrt, der verliert eben dort seine Unschuld. ein sich selbst erhaltendes System (wenn auch in einer dynamischen beziehung zum rest der Sinnerzeugung in einer Gesellschaft) tendiert nämlich auch zu einer besonderen Form der Selbstkannibalisierung. Wer im Underground vom Underground lebt, muss seine Widerstandskräfte aufzehren. Während die boheme sich nichts draus macht, zu benutzen, was es semiotisch (und ökonomisch) so zu benutzen gibt und die Subkultur ihre Zeichen fest im code-Griff haben will, lebt der Underground von einem vollkommen frivolen begriff der Zeichen. Sie erstehen hier gleichsam noch vor ihrer bedeutung, vor allem aber vor ihrer kritischen reflexion. ohne Underground würde eine kapitalistische Kultur der Zeichen förmlich austrocknen, zu viel Underground, auch das ist eine der hoffnungen auf die Subversion dieses Zustandes, führt indes zu einem semiotischen overflow. Der Markt wird mit den im Underground produzierten Zeichen (ohne bedeutung, mit offener bedeutung, mit wechselnder bedeutung etc.) einfach nicht mehr fertig.

UnDerGroUnD

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AnD yoU cAn neVer KnoW iT, DADDy-o Von niKlAS DoMMASchK, lASSe Koch

U

rsprünglich bezeichnete der begriff „hipster“ die Figur einer schwarzen Subkultur der 1940er Jahre in den USA. Unter welchen sozialen und politischen Umständen bildete sich dieses Phänomen heraus? In den 1940er Jahren befanden sich die jungen Amerikaner afrikanischer Abstammung in einer ungewöhnlichen Position. Sie waren frei und zumindest im Norden der USA konnten sie offiziell gleichberechtigt leben und arbeiten. Dennoch bedeutete schwarz sein weiterhin das Gefühl, gesellschaftlich nicht anerkannt zu sein, überhaupt gar nicht erst gesehen zu werden. Als wäre man unsichtbar, wie es Ralph Ellison in „Invisible Man“ beschrieben hat, dem bekanntesten und bedeutendsten amerikanischen Roman dieser Zeit. Ein Buch, das sich damit auseinandersetzt, was es bedeutet, Underground zu sein und in dem auch die ersten Schwarzen Hipster auf der Bildfläche erscheinen.

— Worum geht es in diesem roman? Und wie kommt der hipster ins Spiel?

Der schwarze Protagonist versucht, sich sichtbar zu machen. In New york, in einer Gesellschaft, die offiziell gleichberechtigt, unterschwellig aber weiterhin in Schwarz und Weiß getrennt ist. Ellisons Protagonist engagiert sich politisch, etwa bei der Kommunistischen Partei, und scheitert. Er schließt sich schwarzen Nationalisten an, aber auch das funktioniert nicht. Am Ende des Buches entscheidet sich der Protagonist, im Underground zu leben, und zwar im wahrsten Sinne des

Wortes. Er zieht sich in einen geheimen Keller eines alten Gebäudes zurück. Von allen vergessen plant er von hier aus seinen nächsten Schachzug.

Sie lesen Comics anstelle von Büchern, sie hören Bebop anstatt Duke ellington, sie tragen hippe Zoot-Suits und Sonnenbrillen bei nacht und sie benutzen eine spezielle Sprache, einen Slang, den andere unmöglich verstehen können. Aber er hat auch Figuren aus dem schwarzen Underground gesehen – in der U-Bahn beispielsweise –, die versuchen, sich auf anderem Wege von der Gesellschaft abzugrenzen. Diese neuen Hipster lesen Comics anstelle von Büchern, sie hören Bebop anstatt Duke Ellington, sie

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tragen hippe Zoot-Suits und Sonnenbrillen bei Nacht und sie benutzen eine spezielle Sprache, einen Slang, den andere unmöglich verstehen können. Der Hipster taucht also in Ellisons „Invisible Man“ auf, wirklich beschrieben hat ihn aber Anatole Broyard in seinem Essay „A Portrait of a Hipster“.

— in diesem essay, das 1948 in der „Partisan review“ erschien, spricht Anatole broyard gar von einer Art eigener hipster-Philosophie, „a philosophy of somewhereness called jive“ …

Laut Broyard ist man als Schwarzer in den USA abgeschnitten vom „offiziellen Wissen“, von den Entscheidungen, die deine Wirklichkeit gestalten. Und die, die über dieses Wissen verfügen, lassen dich gar nicht erst daran teilhaben, weil sie dich in Abhängigkeit halten wollen. Warum haben sie dieses geheime Wissen? Die Antwort scheint einfach: weil sie weiß sind. Nur würden sie es dir nie zugestehen, dein Protest wäre sinnlos, sie würden sagen: „Geheimnisse? Wir? Niemals!“ Die Haltung, die der Schwarze Hipster dem entgegenstellt, ist: „Geheimes Wissen haben wir auch. Wir haben geheime Codes, unsere eigenen Begriffe und eine besondere Art zu hören und zu sehen. Und dieses besondere Wissen haben wir, eben gerade weil wir schwarz sind. Dieses Wissen steht vor eurem Wissen, es hat nichts mit Erkenntnissen zu tun, es geht aller Erfahrung voraus – wir wissen diese Dinge a priori, sie sind

II.

0)_________ ein Hipster war ein Angehöriger einer hauptsächlich in den uSA verbreiteten, urbanen Subkultur der Mitte des 20. Jahrhunderts. Hipster definierten sich selbst wesentlich über die eigenschaft der Hipness (das zugehörige Adjektiv lautet hip). Dass dieser begriff für den Außenstehenden (den so genannten square, ungefähr so viel wie „Quadratschädel“, also konventionell, konservativ) nicht wirklich fassbar war, zeigt sich am besten in einer bekannten „Definition“, die der Jazz-Altsaxophonist Cannonball Adderley gegeben hat: Hipness is not a state of mind, it’s a fact of life. Quelle: Wikipedia

ill-USTrATionen: FlAbbyheAD

iT’S hiP To be SQUAre

I T ’S

ein Interview mit Mark GreIF, Literaturwissenschaftler und Herausgeber von „n+1“.

I.

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UnDerGroUnD

Das Buch „What was the Hipster? a Sociological Investigation“ schreibt die Geschichte eines niedergangs. Seine Herausgeber, redakteure der new Yorker Zeitschrift „n+1“, haben sich darangemacht, einer Figur nachzuspüren, die durch die Subkulturen des zwanzigsten Jahrhunderts geistert.

HIP TO BE DIP

And y o u can never know it, daddy-o

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Von niKlAS DoMMASchK, lASSe Koch

AnD yoU cAn neVer KnoW iT, DADDy-o

— Worin besteht dieses geheime Wissen des Schwarzen hipster, wie drückt es sich aus?

Hauptsächlich wird es über die Musik transportiert. Bebop ist die zentrale kulturelle Ausdrucksform des Schwarzen Hipster, das Herz dieser Figur. Schnelle Läufe, komplizierte Skalen, dazu komplexe, gebrochene Rhythmen und Bassläufe – ursprünglich war Bebop Musik für Musiker und für viele schwer zu verstehen. Er wurde von Schwarzen gespielt, in kleinen Clubs in Midtown, New york, von Thelonius Monk, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Miles Davis und anderen. Indem er ihm mehr Tiefe gab, ihn komplexer, schwieriger zu spielen und auch schwieriger zu hören machte, holte sich der Hipster den Jazz zurück, der von den Weißen über Bigbands und Swing annektiert worden war. Und er verband ihn mit einer weiteren esoterischen Praktik: Drogenkonsum, high sein, um die Musik tiefer erfahren zu können. Anatole Broyard beschreibt, wie sich der Schwarze Hipster über seinen Stil, über Sprache und Musik eine eigene Philosophie, eine eigene Welt erschaffen hat. Andererseits konstatiert Broyard, dass der Schwarze Hipster, weil er seine Wut lediglich symbolisch artikuliert, sich umso fester an die weiße Welt bindet, sich mit ihr versöhnt … Für Broyard ist es nachvollziehbar, dass die Sprache, die Musik und die Philosophie des Hipster wie ein Akt des Widerstands wirken müssen. Hier entsteht ein abgetrennter Raum. Hier kann man sich als jemand Besonderes fühlen, seiner Wut Ausdruck verleihen. Hier sind es die Weißen, die ausgeschlossen sind. Aber letztlich stellt der Schwarze Hipster keine Forderungen an die Gesellschaft, nach Gleichberechtigung etwa, nach Fairness. Er verlangt nicht nach Teilhabe am „weißen Wissen“, das du aber eben brauchst, wenn du mehr sein willst als nur wütend – auch dann, wenn du extrem wütend bist und zurückschlagen willst. Gut sechzig Jahre nach Broyards Essay ist uns diese Kritik natürlich vertraut – dass neue Subkulturen ihr zeitweiliges Potenzial in Bezug auf Identitätsbildung und Widerstand letztlich verlieren, weil sie sich nicht auf die Veränderung der Gesellschaft im Ganzen richten. Zudem entstammen die Stilmerkmale des Schwarzen Hipster der Massenkultur: die Comics, die Sonnenbrillen, die Anzüge, die Hüte. Hinter der Figur des Schwarzen Hipster steht also bereits dessen schleichende Kommerzialisierung.

Andererseits ist der Schwarze Hipster mit seinen kulturellen Codes, mit seiner Coolness eine der ersten wirklich wichtigen Subkulturen des 20. Jahrhunderts – und sicherlich eine der Wichtigsten überhaupt.

— Du hast ja bereits angedeutet, dass der „Jive“ eine starke Anziehungskraft auch auf Weiße ausübte. in den 1950er Jahren tauchte ein neues subkulturelles Phänomen auf, der Weiße hipster …

Die ersten Weißen Hipster begaben sich in eine Welt, in der sie als Weiße in der Minderheit waren. Ich denke, das war Ausdruck einer besonderen Verbundenheit mit der Kultur der Schwarzen. Sie fühlten sich angezogen von der Coolness des Schwarzen Hipster. Sicherlich ging es ihnen auch darum, Zugang zu dessen überlegenem Wissen zu finden, wie etwa im Falle der weißen Musiker, die die Entwicklungen im Jazz beobachteten und von den schwarzen Musikern lernen wollten, auch wenn dies im Ansehen der Weißen einen Statusverlust bedeutete.

Die revolution kommt und zur revolution gehört ein paar neuer Turnschuhe. Die Übernahme der Stilmerkmale der Schwarzen haben diese frühen Weißen Hipster häufig als einen bewussten Rückzug aus der „weißen Welt“ dargestellt. Ein Konzept der „Ablösung“ von einer Gesellschaft, zu der man vermeintlich gehört, der gegenüber man aber seine Ablehnung zum Ausdruck bringen möchte – indem man einfach anders aussieht, sich anders verhält.

— Das erinnert an die bewunderung von bebop und „blackness“ durch Jack Kerouac und die „beat Generation“. Aber trägt der Weiße hipster nicht zugleich den Jive in den Mainstream?

Auf den ersten Blick wirkt das natürlich schlüssig, wenn man an das Klischee vom Weißen Hipster denkt, wie er „Hey, daddy-o“ und „cool“ und „get hip“ sagt und so was. In einer berühmten FernsehShow aus den Fünfzigern, der Dobie Gillis Show, trat sogar eine solche Figur auf, Maynard G. Krebs, und 1957 veröffentlichte Norman Mailer seinen berühmten Aufsatz � „The White Negro“. /� White Negro / Aber es gibt verschiedene Stufen der Adaption subkultureller Styles bis zu ihrem endgültigen Aufgehen in der Massenkultur. Die ersten Weißen Hipster orientierten sich noch grundsätzlich weg vom Mainstream, und zwar in zweierlei

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Hinsicht: erstens in ihrer Bewunderung und ihrem Respekt für Schwarze, die in Amerika systematischer Repression und Herabwürdigung ausgesetzt waren, und zweitens in ihrem Empfinden, dass jedes andere Leben dem der „offiziellen Welt“ vorzuziehen war.

— in eurem buch „What was the hipster“ stehen allerdings weder der Schwarze hipster der 1940er Jahre noch der Weiße hipster der 1950er Jahre im Mittelpunkt. Die Untersuchung widmet sich vielmehr dem Phänomen des zeitgenössischen hipster, das euren Angaben zufolge ende der 1990er Jahre in den Großstädten der USA entstand …

Genauer gesagt beziehen wir uns auf das Jahr 1999. Es mag sein, dass der Begriff schon einige Jahre vorher wieder im Umlauf war. Aber 1999 tauchten auf einmal diese Leute in der Lower East Side auf – weiß, in den Zwanzigern, einige mit Jobs als Barkeeper, andere gerade erst vom College –, in einem Viertel von New york, in dem zuvor orthodoxe Juden, Puerto-Ricaner, Schwarze, Menschen aus der Dominikanischen Republik gewohnt hatten. Sie trugen Trucker Caps, Doppelripp-Unterhemden („Wifebeater“ genannt) und Schnurrbärte, als seien sie einem Amateurporno der 1970er entsprungen. Plötzlich sah man überall Pilotenbrillen und Tattoos, aus den Kneipen der Ludlow Street drang Country der 1970er, Johnny Cash und Waylon Jennings. Es war schwierig, diese Menschen einzuordnen, aber irgendwie war sofort klar, dass der treffende Begriff nur „Hipster“ lauten konnte – und zwar auf grundlegend ironische Weise, wenn nicht gar als Beleidigung. In diesem Begriff schwang zwar noch seine Vorgeschichte mit, das Wissen, das mit dem Schwarzen Hipster der 1940er Jahre zumindest das Selbstverständnis eines Außenstehenden verband. Diese neuen Hipster standen jedoch nur scheinbar außen vor. Ihr Selbstverständnis, so es denn überhaupt eines gab, bestand lediglich darin, die cooleren Sachen anzuhaben als die anderen. Sie ähnelten vielmehr der Serienfigur Maynard G. Krebs aus den 1950er Jahren, also dem Klischee eines Hipster: Einer, der glaubt, er wisse alles schon vorher, der glaubt, er sei wahnsinnig cool, der aber in Wirklichkeit auf ganz fundamentale Weise nur ein Konformist und Idiot ist. Das „besondere“ Wissen des heutigen Hipster passt bequem in die „offizielle Welt“. Es ist nicht viel mehr als Bescheidwissertum.

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Ausdruck dessen, wer wir sind. And you can never know it, daddy-o.“ So schafft es der Schwarze Hipster, dass plötzlich die anderen an seinem Wissen teilhaben wollen. „Jive“ wird für einige weiße Amerikaner zu einem geheimen Ausdruck von Wahrheit, Vitalität und einem besseren, aufregenderen Leben.

1)_________ Cool Jazz ist eine ende der 1940er Jahre in new York, uSA aus dem bop heraus entwickelte Stilrichtung des eher konzertanten Jazz. Quelle: Wikipedia

— Was ist der Unterschied zum A-prioriWissen des Schwarzen hipster?

Broyard sagt, dass aus dem speziellen Wissen, das der Schwarze Hipster der 1940er Jahre dem geheimen Wissen der Weißen entgegensetzt, sich dessen Coolness erklärt. Es scheint eine Art „Magie“

iT’S DoT To be noT

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Von niKlAS DoMMASchK, lASSe Koch

AnD yoU cAn neVer KnoW iT, DADDy-o

— ein begriff, der in eurem buch in Verbindung mit dem hipster verwendet wird, ist „rebel consumer“ …

Diesen Begriff hat Thomas Frank geprägt, der in den 1990er Jahren das Magazin „The Baffler“ in Chicago herausgebracht hat. Der „rebel consumer“ zeichnet sich aus durch die Überzeugung, dass die absolut konventionellen Tätigkeiten des kapitalistischen Lebens – kaufen und verkaufen, shoppen gehen oder coole Werbung machen, damit andere shoppen gehen – an sich rebellisch seien. Die Revolution kommt und zur Revolution gehört ein Paar neuer Turnschuhe.

— Du hast bereits angedeutet, dass die bezeichnung „hipster“ heute eigentlich nur noch diskreditierend verwendet wird. Also würde niemand den begriff auf sich selbst anwenden?

Das ist etwas, was uns auch bei unserer Untersuchung umgetrieben hat: Ein Begriff, der seit mehr als zehn Jahren benutzt wird, der weit verbreitet ist, ohne dass jemand überhaupt von sich gesagt hätte: „Ich bin ein Hipster.“ Denn das würde bedeuten: „Ich bin ein Loser“ oder „Ich bin ein Idiot“, eigentlich heißt es auch: „Ich bin ein Fake.“

— Das „Vice-Magazine“, das du in eurem buch als Schlüsselmedium des modernen hipster bezeichnest, wirbt für sich mit einem Zitat, in dem „Vice“ als „das Zentralorgan des hipsterismus“ bezeichnet wird …

Das ist echt witzig. Hättest du den Leuten, die „Vice“ damals gegründet haben, gesagt, ihr Heft sei für Hipster, sie hätten geantwortet: „No way!“ Das wäre für sie die ultimative Beleidigung gewesen. Lustig, dass sich zumindest in die deutsche Ausgabe eine gewisse Ehrlichkeit eingeschlichen hat.

Ich denke, dass sich das „Vice-Magazine“ in den letzten Jahren verändert hat, dass versucht wurde, sich einen seriöseren Anstrich zu geben. Mit neuen Redakteuren, Literatur-Artikeln und einer immerhin halbwegs humanen Ausrichtung. Aber natürlich war das „Vice-Magazine“ ursprünglich extrem regressiv. Das war gleichzeitig auch das Lustige an seinem Auftritt, eine Art Modemagazin für Jungs. Doch steckte dahinter die Gesinnung, „political correctness“ attackieren zu wollen. Umgeben von Jungs in Skateboarder-Klamotten erschienen Artikel, in denen Frauen, Schwule und Schwarze runtergemacht wurden. Das Gefühl von Subversion – ich würde sagen: die Illusion von Subversion – entstand aus der Vorstellung grausamer „Über-Mütter“, von Mamas, die von dir verlangen, progressiv zu sein und deine gute Erziehung nicht zu vergessen. Wohin diese „Rebellion“ führen kann, zeigte sich dann am Beispiel Gavin McInnes’, eines der Gründer des „Vice-Magazine“. „Ich liebe es, weiß zu sein, und ich glaube, dass man darauf stolz sein darf“, äußerte McInnes gegenüber der „New york Times“ und schrieb einen langen Artikel für ein Magazin des äußerst konservativen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Patrick Buchanan, der für seine fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt ist. Hinterher sagte McInnes dann: „Das war alles nur ein Spaß.“ Aber vielleicht steckte doch mehr dahinter, vielleicht war diese frühe Phase des heutigen Hipster tatsächlich zu einem gewissen Grad geprägt von einer politisch rechten Weltanschauung.

alle anderen haben keine ahnung, nur der Hipster weiß wirklich Bescheid. — Du verbindest das Phänomen des hipster mit einem Prozess, den du in eurem buch als die rückkehr der „Whiteness“ in die amerikanischen Städte bezeichnet hast. Kannst du das genauer erklären?

Die Leute, die in Williamsburg oder Brooklyn oder der Lower East Side Ende der 1990er auftauchten, trugen Klamotten, die lauthals verkündeten: Hier kommt einer vom Land. Adaptionen der „White-Trash-Kultur“: Trucker Caps, die eigentlich auf Auto- und Truck-Shows verteilt wurden, um Kunden zu werben. Riesige Gürtelschnallen mit Adlermotiven. Und natürlich die berühmten ironischen T-Shirts, die deshalb als ironisch empfunden wurden, weil die auf ihnen abgedruckten Sprüche eine „ländliche Kultur“ abbildeten: „Come down to Sammy’s Bar-B-Q“ oder „Eat at John Doe’s Diner

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on Route 10, Knoxville, Tennessee“. Diese T-Shirts wurden jetzt in den Städten getragen, und zwar in den Vierteln, die weiße Einwanderer – Polen, Ukrainer, Juden aus Osteuropa, Iren, Italiener – Jahrzehnte zuvor verlassen hatten, als sie im Zuge der sogenannten „White Flight“ in den 1970ern in die Vorstädte zogen. Das war seltsam, denn auf eine gewisse Art zeigten diese ironischen T-Shirts ganz ernsthaft an, welche Rolle ihre Träger im gesellschaftlichen Zusammenhang spielten. In Wirklichkeit stand auf diesen T-Shirts: „Hier sind wir. Der weiße Rest des Landes.“ Ich finde es jedenfalls noch immer faszinierend, dass Menschen ganze Bücher mit der Erforschung des demografischen und sozialen Wandels füllen, während die Lösung auf dem T-Shirt irgendeines Zwanzigjährigen steht.

— in eurem buch schreibst du, dass sich die ersten hipster in diesen Vierteln wie eine neue ethnie ansiedelten. Was meinst du damit?

Das ist wirklich schwer zu erklären. Ich habe die „Ankunft“ der ersten Hipster in der Lower East Side sehr genau vefolgen können, weil meine Großeltern dort leben. Es wirkte, als hätten sie ein regelrechtes Stammesgefühl entwickelt, als verweigerten sie ostentativ jede Berührung mit Mitgliedern aus den um sie herum lebenden ethnischen Minderheiten. Dieses Verhalten unterschied sich stark von dem der Künstler, der Neo-Bohemiens, die bereits zuvor in Viertel wie die Lower East Side gezogen waren und sehr viel stärker den sozialen Kontakt mit ihren Nachbarn gesucht hatten. Die Hipster hingegen lebten in regelrechten Enklaven. Ich musste mir neue Antworten überlegen, wenn mich jemand in der Nähe des Hauses meiner Großeltern nach dem Weg fragte: „Wo geht es nach Chinatown?“ – „Erst gehst du durch den puerto-ricanischen Teil, dann kommt der der Hipster, dann der jüdische, und dann bist du in Chinatown.“ Weil sich der Hipster als Mitglied einer besonderen Ethnie verstand, musste er sich nicht mehr fühlen wie der reiche weiße Schmock, der mal eben im Ghetto vorbeischaut. So konnte er ohne schlechtes Gewissen Teil eines Prozesses sein, den er sonst schlicht „Gentrifizierung“ hätte nennen müssen …

2)_________ Die bezeichnung beatnik wurde von Herb Caen vom San Francisco Chronicle für die Mitglieder der beat Generation erfunden. Der name lehnt sich an den damals von der Sowjetunion ins All geschossenen Sputnik an. Symbole dieser Subkultur sind der bebop, sowie Modern Jazz und das ständige befassen mit Literatur, ein eng verwandter begriff ist der des Hipsters. Quelle: Wikipedia

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zu geben, die ihn ausmacht, die ihn wissen lässt, was cool ist, bevor es irgendjemand anderes weiß. Die Magie des heutigen Hipster hingegen reduziert sich nur noch auf eine Magie des Geschmacks. Er sieht auf alle herab, die das Internet benötigen, um zu wissen, welche Bands gut sind. Er verachtet diejenigen, die ihren Modestil bei anderen abgucken müssen. Er hat das alles immer schon vorher gewusst, die anderen laufen ihm nur nach. Alle anderen haben keine Ahnung, nur der Hipster weiß wirklich Bescheid. Als die heutigen Hipster auftauchten, stach eines sofort hervor: Hier gab es keine Ablehnung von Kommerz und Reichtum, nichts davon wurde noch als Übel angesehen. Es gab kein wie auch immer artikuliertes widerständiges Moment. Für viele dieser Hipster scheint es ganz im Gegenteil um Anerkennung, Überlegenheit und Dominanz zu gehen.

— ihr untersucht den neuen hipster hauptsächlich als ein Phänomen des Zeitraums von 1999 bis 2003. Was ist seitdem passiert? Anders als der Titel eures buches „What was the hipster“ andeutet, ist diese Figur ja noch nicht Geschichte …

Nein, auch wenn wir in unserem Titel die Vergangenheitsform gewählt haben, glaube ich nicht, dass der Hipster tot ist. Wenn es seit 2003 eine Veränderung dieser Figur gegeben hat, dann meiner Meinung nach dahingehend, dass sie

iT’S TriP To be hiP

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Der Begriff „Underground“ hat sich gehalten. er lebt weiter als Beschreibung einer echten alternative zu all dem, was durch den Hipster kolonisiert wurde. — Kann man den hipster, der sich nur noch auf Geschmack und Stil beruft, nicht vielleicht als so etwas wie den genuinen Ausdruck von Subkultur in einer verwalteten Welt begreifen? oder, um es etwas weniger pessimistisch zu formulieren: Steht der hipster nicht einfach für den endpunkt, auf den jede Subkultur letztlich zusteuert?

Das Konzept der Kulturindustrie habe ich nie wirklich geteilt. Wahrscheinlich, weil ich auch innerhalb von Pop- oder Massenkultur immer noch an so etwas wie eine Alternative glaube – an Bereiche, in denen sich eine grundsätzlich demokratische Position ausdrückt, für die Gleichberechtigung ein elementares Ziel ist. Und der Hipster – auch wenn er sehr präsent ist – stellt trotz allem nur einen winzigen Partikel im Spektrum aller Subkulturen dar. Zwar denke ich, dass es sich dabei um eine besonders aufschlussreiche und vielleicht sogar bedrohliche Version oder Modifikation traditioneller

Subkultur handelt. Aber ich glaube auch daran, dass es immer noch echte Subkulturen gibt. Denen gegenüber ist der Hipster in Sachen „Publicity“ natürlich extrem erfolgreich – aber den größeren Raum besetzen immer noch die wirklich widerständigen Subkulturen. Der Begriff „Underground“ hat sich gehalten. Er lebt weiter als Beschreibung einer echten Alternative zu all dem, was durch den Hipster kolonisiert wurde. Ich muss dabei wieder an die Schwarzen Hipster in den 1940er Jahren und an Ralph Ellison und sein Buch „The Invisible Man“ denken. Was da beschrieben wird, findet wirklich im Untergrund statt. Den Underground gibt es noch. Da passieren die interessantesten Sachen – die, die am meisten Hoffnung geben.

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„The White Negro“

rung, die Abkehr von blue-collar-berufen, also Jobs, die mit harter körperlicher Arbeit verbunden waren, und die Verbreitung von Angestelltenverhältnissen hätten die weißen, US-amerikanischen Männer verweichlicht. Ausgehend von dieser absurden These sieht Mailer nur einen Ausweg: er orientiert sich an einer angeblich homogenen schwarzen Subkultur, die seiner Meinung nach den „Verfall“ weißer Männlichkeit aufhalten könne. Afroamerikanische Kultur konzipiert er dabei anhand klassischer rassistischer Muster als vornehmlich durch Körperlichkeit, emotionalität und hypersexualität bestimmt. Allerdings wendet er diese Vorurteile in eine Form des „positiven rassismus“, indem er die orientierung auf diese im herkömmlichen rassismus als „primitiv“ gekennzeichnete schwarze Subkultur als positiven referenzpunkt begreift. nach Mailer ist vor allem die beschränkung auf schlecht bezahlte, harte körperliche Arbeit und das eingegrenztsein in die Subkultur dafür verantwortlich, dass afroamerikanische Männer ihre Männlichkeit bewahrt hätten. Diese Vorstellung würde sich auch in der schwarzen Subkultur selbst widerspiegeln, in welcher sich laut Mailers rassistischen Projektionen das „Ungezügelte“ und „emotionale“ bahn breche. „Jazz ist orgasmus“, schreibt Mailer – und durch das hören von Musik könnten sich Weiße wieder ihrer ursprünglichen Triebe entsinnen, die durch die Annehmlichkeiten der weißen Wohlstandsgesellschaft verloren gegangen seien. Das „übertreten“ in die schwarze Subkultur und deren Musikszene sowie das hören von Jazz sind also Mailer zufolge eine Möglichkeit, zum „White negro“ zu werden. Der Autor verdinglicht und exotisiert dabei schwarze Subkultur und projiziert seine sexistischen und rassistischen Vorstellungen von Männlichkeit unreflektiert auf Afroamerikaner.

3)_________ Hipsters are the friends who sneer when you cop to liking Coldplay. they’re the people who wear t-shirts silk-screened with quotes from movies you’ve never heard of and the only ones in America who still think Pabst blue ribbon is a good beer. they sport cowboy hats and berets and think Kanye West stole their sunglasses. everything about them is exactingly constructed to give off the vibe that they just don’t care. Quelle: time magazine, 2009 Seite 25

UnDerGroUnD AnD yoU cAn neVer KnoW iT, DADDy-o Von niKlAS DoMMASchK, lASSe Koch

sich nicht mehr wirklich auf die „White Trash“-Kultur bezieht. Diese ziemlich hässliche Art des Weißen Hipster gibt es nicht mehr. Ich denke, dass in den letzten Jahren zwar nicht unbedingt die „political correctness“ Einzug gehalten hat, aber eine politische Korrektur hat schon stattgefunden. Das hat meiner Meinung nach mit dem Krieg gegen den Irak 2003 und dem Aufkommen eines aggressiven Patriotismus zu tun. Der weiße Machismo im Unterhemd wirkte einfach nicht mehr subversiv. Hinzu kam der wirklich schockierende Moment der Wiederwahl Bushs 2004, der zeigte, wie schlimm es wirklich werden kann. Die Interessen des Hipster und seine Stilmerkmale richten sich seitdem eher auf Themen wie Wald, Strand, ländliche Rückzugsorte überhaupt und gern auch auf die dazugehörige Tierwelt. Statt Porno-Schnurrbart trägt man jetzt Vollbart, am besten kombiniert mit Karohemd und altmodischer Brille. Heute hört der Hipster Bands wie Fleet Foxes, Grizzly Bear, Neon Indian und Animal Collective, die diesen Style in Musik, Texten und Videos transportieren.

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TeXT: PhiliPP DoreSTAl

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er weiße, US-amerikanische Schriftsteller norman Mailer veröffentlichte 1957 in der linksliberalen Zeitschrift „Dissent“ einen mit „The White negro“ überschriebenen essay, in dem er das Verhältnis weißer US-Amerikanerinnen zur Jazzkultur thematisiert. Mailer gehörte zum Umkreis der beatnik-Schriftsteller, die sich in der US-amerikanischen nachkriegsgesellschaft um Personen wie Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. burroughs scharten. Mit ihren unkonventionellen und die Prüderie der US-Gesellschaft herausfordernden Gedichten und romanen schufen sie nicht nur die subkulturelle „beat-Generation“ der 1950er Jahre, sondern beeinflussten auch die USamerikanische hippie-bewegung. in „The White negro“ entwirft Mailer ein düsteres bild der US-amerikanischen nachkriegsgesellschaft und beklagt einen Verfall der weißen Männlichkeit durch „zu viel“ Zivilisation. Zunehmende Technisie-

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iT’S yoU To be Me

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UnDerGroUnD

AVANTGARDE statt AUSSENSEITER

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Von FeliX KloPoTeK

AVAnTGArDe STATT AUSSenSeiTer

azz in Deutschland wird an Musikhochschulen gelehrt, die Festivals werden von den öffentlich-rechtlichen rundfunkanstalten finanziert und den Jazzreihen in Kunstvereinen, städtischen Galerien oder anderen gediegenen orten greifen die Kulturämter unter die Arme, Touren im Ausland werden nicht selten von hiesigen Kulturinstitutionen erst möglich gemacht, und schaut man sich an, wie Jazz heute vermarktet wird – als urbaner lifestyle, elegant

Mass black implosion (imaginary Landscapes no. 3, John Cage). Courtesy of Marco Fusinato and Anna Schwartz Gallery

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Das Gegensatzpaar „Underground – Mainstream“ oder besser: „Underground – establishment“ strukturiert natürlich auch die Jazzgeschichte – zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt –, aber es ist ein beweglicher Gegensatz, einer, der sich aufzuheben bestrebt ist.

und mondän, aufgeklärt, aber irgendwie auch traditionsbewusst –, soll man gar nicht auf die idee kommen, dieser Musik noch irgendwelche subversiven Qualitäten zu attestieren. Die Pointe dabei ist, dass mit der institutionalisierung des Jazz kein „Ausverkauf“ vorliegt, kein Verfall einer einst blühenden Kultur, sondern das Gegenteil: Diese institutionalisierung – immer auch eine Form der Anerkennung und existenzsicherung – darf man getrost als Telos, mindestens jedoch als Utopie jener Jazz-Musiker ansehen, die wir für den „Underground“ halten. Das Gegensatzpaar „Underground – Mainstream“ oder besser: „Underground – establishment“ strukturiert natürlich auch die Jazzgeschichte – zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt –, aber es ist ein beweglicher Gegensatz, einer, der sich aufzuheben bestrebt ist. Denn die zentrale, den Widerspruch übergreifende idee des Jazz ist – Fortschritt, Weiterentwicklung, immer tiefergehende Verfeinerung der künstlerischen Mittel, um andere Stile, andere Musiken in sich aufzunehmen. Der klassische Underground-Jazz schlechthin ist der bebop, jener Anfang der 1940er Jahre entstehende Stil, den die Musiker in den clubs erst dann spielten, nachdem diese für das zahlende Publikum geschlossen hatten: Musik für Musiker. bebop ist ultraschnell (auch um zu verhindern, dass er kopiert werden kann), er wird in kleinen Gruppen gespielt (Abgrenzung vom damaligen bigband-business), der virtuose Solist steht im Vordergrund, der in seinen improvisationen wesentlich größere Freiheiten sich ge-

ArbeiT Von MArco FUSinATo, MASS blAcK iMPloSion, 2009

statten darf, harmonisch wird europäische Kunstmusik adaptiert. bebop ist reaktion auf einen immer seichter werdenden bigband-Sound, eine rebellion gegen die etablierten bandleader und selbstverständlich auch eine Absage an den – weißen – Swing. Die Protagonisten des bebop – charlie Parker, Thelonious Monk, bud Powell, Max roach, charles Mingus, Miles Davis – sehen sich aber nicht als Teil einer Gegenkultur, sondern als Avantgarde. Sie nehmen zwar die brüskierung des Publikums in Kauf (die freilich bald schon in begeisterte Aufnahme der Musik umschlägt), wissen aber, dass sie gerade dadurch zu autonomen Künstlerpersönlichkeiten reifen, zu rundum eigenständigen Akteuren ihrer Musik. logisch, dass sie keine Singles mehr veröffentlichen wollen und sich auch nicht ausschließlich über Konzerte und club-engagements als künstlerische Persönlichkeiten definieren: Sie wollen Alben veröffentlichen, wohl gestaltete longplayer, die mit mindestens vierzig Minuten Spieldauer in der lage sind, alle Facetten des aktuellen Schaffens eines Musikers widerzuspiegeln. Dass Max roach und charles Mingus bereits Anfang der 1950er Jahre ihr eigenes label gründen, muss man in dieser Folge betrachten: es geht nicht um die ultimative Abgrenzung, sondern um die größtmögliche Selbstverwirklichung (ihr label – Debut records – war gleichzeitig auch eine Plattform für junge Talente). roach und Mingus sollten wenig später – ihr label erlebte bald Schiffbruch – kein Problem damit haben, für große Plattenfirmen aufzunehmen. einzig künstlerische Freiheit musste ihnen garantiert sein.

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Free JaZZ klingt schräg. er brüskiert, fordert seit seinen anfängen gängige Hörgewohnheiten heraus und bildet als absage an den Mainstream eine Gegenkultur. oder doch nicht? Über die unfreiwillige nähe von Free Jazz und Underground.


Auch Free Jazz ist eine reaktion auf musikalische Stagnation. Dabei ist im Prinzip doch alles schon in den Mutationsformen des bebop angelegt! bereits in den 1950er Jahren experimentieren cool Jazzer wie lennie Tristano mit Kollektivimprovisationen, ein musikalischer bastard namens Third Stream orientiert sich explizit an der europäischen Zwölftonmusik, cecil Taylor – zehn Jahre, Mitte der 1960er Jahre, an vorderster Front der Free-Jazz-revolte – führt die erweiterten Klaviertechniken, wie sie von John cage oder henry cow vorgedacht wurden, in den Jazz ein. Wer das legendäre Miles Davis Quintet der 1960er Jahre hört, meint eine frei improvisierende Gruppe zu erleben. erst beim genaueren hinhören entdeckt man die Kompositionsregeln, den nach wie vor existierenden Takt, das harmonische Korsett. es ist also möglich, die Spielarten des bebop dermaßen zu überdehnen, dass Atonalität, Disfunktionalität, die Aufhebung von rhythmusgruppe und leadspielern die logische Folge sind – der nächste Sprung. Das ist dann Free Jazz – der befreite Jazz. Die Dialektik des Free Jazz besteht nun darin, dass der Sprung aus dem bebopKontinuum nicht zu neuen (rhythmischen/ melodischen/harmonischen) regeln führt, sondern zur regellosigkeit. Alles das, was die Musik strukturiert, entscheidet das spielende Kollektiv, Komposition und Aufführung sind identisch. Der Sopransaxofonist Steve lacy – auch einer der großen Free Jazzer, der aber zuvor alle Stationen der Tradition und des bebop durchlief und später, nach den wüsten 1960er Jahren, immer wieder zur Tradition zurückkehrte – Steve lacy hatte einst die Frage, wie man in zehn Sekunden den Unterschied zwischen einem Komponisten und einem improvisator erklären kann, ultimativ beantwortet: Der Komponist kann sich alle Zeit der Welt nehmen, was er in den zehn Sekunden sagen will; der improvisator hat bloß diese zehn Sekunden. Das stellt ganz neue herausforderungen an die Musiker (u.U. kann sich der Virtuose als denkbar ungeeignet herausstellen, ein guter improvisator zu werden, wohingegen der Dilettant, der Querulant und Freigeist geradezu prädestiniert zu sein scheint), wie auch an die Zuschauer – Free Jazz ist, nachdem schon bebop im off der Morgenstunden geboren wurde, erst recht keine Musik für ein Publikum, sondern ausschließlich für die Musiker. Der Genuss ist ein indirekter, als Zuhörer erfreut man sich nicht an der Musik, sondern daran, dass sie gelingt. Das Gelingen ist also nicht vorausgesetzt. Daraus resultiert die Schroffheit der Musik, aber auch die Ablehnung, die sie vonseiten modernistischer Kollegen er-

fährt (Miles Davis hat Free Jazzer, selbst die Musiker, deren technisches und melodisches Genie außer Frage stand, immerzu verachtet und jeden Dialog verweigert). Die erste Generation der Free Jazzer initiiert im oktober 1964 in new york ein Festival, eine – sie haben es tatsächlich so genannt – „oktober revolution“ (die idee hatte der Trompeter und Komponist bill Dixon, der sich politisch als Marxist begriff und Spaß an den zu erwartenden Schockwellen hatte, die abzusehen sind, wenn im new york des Jahres 1964 jemand eine oktoberrevolution ausruft), und sie fand im cellar cafe statt – stilecht.

Der klassische Underground-Jazz schlechthin ist der Bebop, jener anfang der 1940er Jahre entstehende Stil, den die Musiker in den Clubs erst dann spielten, nachdem diese für das zahlende publikum geschlossen hatten. Selbstbewusst angenommen hat den Underground-Status wohl keiner, nicht nur weil das dem Selbstverständnis der Musiker widersprach – sie waren die Avantgarde, keine Außenseiter; die oktoberrevolution sollte ein Auftakt sein, kein einsamer höhepunkt! –, sondern weil das Stigma des Undergrounds keine Jobs, keine Touren, kein Verträge mit größeren Plattenfirmen verhieß. Die schwarze Musikerorganisation chicagos, die zum nukleus der neuen Musik im Jazz avancierte, hieß (und heißt immer noch): Association for the Advancement of creative Musicians (AAcM). Darum ging es: Weiterentwicklung, gegenseitige Unterstützung, die schwarze Musik durch immer kühnere Verfeinerungen gewissermaßen zu universalisieren. Von „Underground“ keine Spur.

Geschichte des new yorker Free Jazz Subventionen locker zu machen. rivers ringt darum, seiner Szene Anerkennung zu verschaffen, ihr den Zutritt zu größeren Festivals zu ermöglichen, Free Jazz als Teil des Jazz-Kanons durchzusetzen. bloß wenig später – 1976 – wird new york finanziell bankrott sein, damit werden auch die künstlerischen Subventionen kassiert. Free Jazz als Gegenkultur ist tatsächlich ein europäisches Phänomen. in london, berlin (West wie ost), Amsterdam oder Wuppertal – den Zentren des europäischen Free Jazz (der bald schon seine Jazzwurzeln kappt und dann nur noch improvised Music heißt) – geht es den jungen Musikerinnen und Musikern nicht mehr um die erweiterung des Kanons, um die Fortsetzung der Tradition der ständigen erneuerung, sondern um die Zertrümmerung der hergebrachten Formen, um Ablehnung, Destruktion, radikale Traditionslosigkeit. im Prinzip setzt sich diese Geschichte (auch die Ablehnung von Tradition wird irgendwann zur Tradition) bis in die Gegenwart fort, etwa wenn sich im berlin der späten 1990er Jahre eine echtzeitmusik-Szene findet. Aber auch dieser europäischen Musik ist eine eigentümliche Dialektik eingebildet. improvisierte Musik ist, nun ja, einigermaßen komplex, es ist eine haltung, die die ganze Aufmerksamkeit und Konzentration der Spieler erfordert. Sie verträgt sich schlecht mit anderen Tätigkeiten – man muss schon Profi sein. Aber wie als Profi überleben in einer Umwelt, die diese Kunst nicht goutiert? es bleibt der Streit für öffentliche Förderung, die hoffnung, Teil der rundfunkwelt zu werden. So wird das überleben der Gegenkultur letztlich durch deren institutionalisierung gewährleistet. eine Sache allerdings ist dem Free Jazz resp. der improvisierten Musik erspart geblieben: die Vermarktung für ein urbanes, trendiges Publikum, das seine eleganz aus seinen wirtschaftlichen Privilegien zieht.

Gegen krieg und rassismus

amerikanischen Untergrundorganisation ein Interview mit BILL aYerS,

REVOLUTION als Work in P r o g r e s s : Ekstatisch im Takt der Dialektik mit Bomben, „Love“ und Drecksjobs.

WeaTHer UnDerGroUnD.

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UnDerGroUnD AVAnTGArDe STATT AUSSenSeiTer Von FeliX KloPoTeK

Free Jazz markiert daran gemessen einen kaum zu kittenden bruch – Free Jazz kommt dem, was indierock- und Punk-hörer unter Underground verstehen (eine Gegenkultur) ganz nahe. Allerdings unfreiwillig.

einem der ehemaligen köpfe der militanten

M

it bombenanschlägen, Slogans wie „Smash Monogamy“ und „bring the War home!“ sowie der befreiung des Drogengurus Timothy leary aus dem Gefängnis verbanden die „Weathermen“ die ideen der 68er mit Militanz. Die Gruppe wurde 1969 von bill Ayers als Absplitterung der Studentenorganisation SDS mit begründet. Ayers hatte zuvor die Schule abgebrochen, war mit der handelsmarine zur See gefahren und hatte Kinder an einer Alternativschule im Kellergeschoss einer Kirche unterrichtet.

in den 1970er Jahren etablierte sich in new york die loft-Szene. Auch das ist Underground: selbstorganisierte Konzerte, Musiker, die allesamt als neu- und Schrägtöner gelten, Verzicht auf großes Publikum. Promoter dieser Szene ist der Saxofonist Sam rivers, der zusammen mit seiner Frau bea im noho-District das rivbea Studio betreibt (de facto ein kleiner Konzertsaal). rivers ist zugleich auch stadtpolitisch engagiert, ihm gelingt es, zum ersten Mal in der

nach Anschlägen auf das new yorker Polizeipräsidium, das capitol und das Pentagon gingen er und seine Freundin bernadine Dohrn in den Untergrund. Während Dohrn vom zwangsneurotischen Gründer des Fbi, J. edgar hoover, eilig zur „gefährlichsten Frau in Amerika“ erklärt wurde, entwickelten sich die Weathermen laut Ayers zunehmend von revolver- zu Maulhelden. An Tragik fehlte es dabei nicht: Die einzigen Todesopfer ihrer Anschläge hatten die Weathermen in den eigenen reihen zu beklagen, als eine bombe beim bau explodierte. Um nicht gefunden zu werden, nahmen die Weathermen identitäten verstorbener Kleinkinder an. Mehr als zehn Jahre war Ayers flüchtig, bis er sich schließlich

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Von oliVer Koch, henDriK lehMAnn

Fahndungsbild bill Ayers

1980 gemeinsam mit Dohrn stellte. Aufgrund unzulässiger ermittlungsmethoden konnten sie nie verurteilt werden. — herr Ayers, ihr buch „Flüchtige Tage“ vermittelt teilweise den eindruck, als sei es nahezu unvermeidlich gewesen, in den Untergrund zu gehen. Was waren die Gründe?

reVolUTion AlS WorK in ProGreSS…

Es war keineswegs unvermeidlich. Es war eine Entscheidung. Ich wurde kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges geboren und wuchs in privilegierten Verhältnissen in den Nachkriegs-USA auf. Meine kleine Welt war ein Ort sofortiger Bedürfnisbefriedigung und scheinbar endloser oberflächlicher Vergnügungen, von Konformität und Gehorsam und einer Art absichtlicher Ignoranz gegenüber allem, was außerhalb unserer wohlgeordneten Enklave mit ihren hübsch beschnittenen Hecken hinaus existieren könnte. Wir waren wie kollektiv betäubt, wie im Schlaf der Verleugnung. Als ich in den 1960er Jahren volljährig wurde, prägte die Black-FreedomBewegung die moralische und politische Landschaft in den Vereinigten Staaten und über deren Grenzen hinaus, und antikoloniale Kämpfe bestimmten überall die Agenda des progressiven Wandels. Ich öffnete die Augen und sah eine Welt in Flammen. Mir fiel auf, dass die USA auf der falschen Seite der explodierenden Weltrevolution standen und ich wurde bald zum Aktivisten. Ich begriff mich selbst als Revolutionär. 1965 wurde ich zum ersten Mal wegen meines Widerstandes gegen den Krieg verhaftet. Das war während einer

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Bombendrohungen. Nichts dergleichen hatte es je zuvor in den Staaten gegeben. Weather Underground zeichnete sich gerade einmal verantwortlich fĂźr 20 davon. Und in keinem wurde irgendjemand getĂśtet oder auch nur verletzt.

Freude und Gerechtigkeit. Gleichzeitig wollten wir die ganze Welt innig genug lieben, um diejenigen zu unterstßtzen, die gegen unterdrßckerische und ausbeuterische Systeme kämpften.

— ihren beschreibungen zufolge vermittelte das leben im Untergrund manchmal sogar den eindruck von Freiheit, man fĂźhlt sich geradezu an typische VerheiĂ&#x;ungen subkultureller Kontexte erinnert. haben Sie sich anderen Subkulturen der Zeit verbunden gefĂźhlt?

— Sie haben ihre Aktionen oft nach Popoder rock-Songs benannt. Welche rolle haben Musik und Kleidungsstil in diesen Tagen gespielt?

— Sind Sie der Meinung, dass es fßr bestimmte politische bewegungen heute noch notwendig ist, sich in den Untergrund zurßckzuziehen?

Von oliVer Koch, henDriK lehMAnn

reVolUTion AlS WorK in ProGreSS: eKSTATiSch iM TAKT Der DiAleKTiK

— Ah ja. Und wieso befreiten Sie Timothy leary aus dem Gefängnis? Weil Sie eine besondere beziehung zu Drogen hatten?

„Ich Ăśffnete die augen und sah eine Welt in Flammen.“

FĂźr mich war jede Option eine vernĂźnftige MĂśglichkeit und ich hatte Freundinnen und Freunde und Familie in allen Lagern – keine Option war fĂźr mich vĂśllig ausgeschlossen. Was ich dann tat, war illegal, in gewisser Weise im gesellschaftlichen Abseits, fĂźr viele auch verachtenswert. Aber wer tat das Richtige? Wer beendete den Krieg? Wer veränderte die Welt? Niemand von uns. Also sollten wir behutsam mit vorschnellen Urteilen sein. Die Weathermen waren die bekannteste Gruppe, keineswegs aber die einzige in den USA, die den bewaffneten Kampf als Protestmittel aufnahm. Zwischen Anfang 1969 und Mitte 1970 gab es 40934 Anschläge, versuchte Anschläge und

6. März 1970 – nYC’s Greenwich Village. Die Weathermen Diana Oughton, ted Gold und terry robbins kommen beim bau einer bombe ums Leben

1

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— Sie schreiben: „PlĂśtzlich fand ich mich in der Welt der Konsequenzen wieder.“ Zu diesen Konsequenzen gehĂśrten auch Anschläge. Wieso fiel die Wahl gerade auf gewaltsamen Widerstand?

Wir fĂźhlten uns in jeder Hinsicht als Teil der Jugendkultur, ja. Aber Freiheit ist immer paradox: Man fĂźhlt seine Freiheit am intensivsten, während man die HĂźrden erkennt und sich Ăźber sie hinwegsetzt. We were hunted and on the run; we were free! Ich hege dennoch keinerlei Nostalgie fĂźr die sogenannten 1960er, die heute vollkommen kommodifiziert sind und uns als Mythen und Symbole zurĂźckverkauft werden. Sie sind geschehen – und weder waren sie so glanzvoll und ekstatisch, wie es einige gerne hätten, noch waren sie ein komplettes Werk des Teufels – jetzt macht weiter! Was auch immer die 1960er waren, sie bleiben nur das Vorspiel der notwendigen Veränderungen und kurz bevorstehenden UmbrĂźche. Fangt an! Lebt, liebt, bildet Reihen!

— Welche einkommensquellen hatten Sie während ihrer Zeit im Untergrund?

Wir machten alle ScheiĂ&#x;jobs der Untergrund- und Schwarzgeldwirtschaft: Feldarbeit, TagelĂśhnerarbeit, Putzjobs, KĂźchenarbeit. Abb. 1: Abb. 2:

Plakat der Students for a Democratic Society (SDS) Demonstration gegen Vietnam Krieg, Philadelphia

„Wir wollten damals den Schritt ins Ungewisse wagen, Grenzen Ăźberspringen, neu leben und lieben lernen, im Takt der Dialektik ...“ Seite 30

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SDS Poster, April 1968. nYu Archives Collection

Wie fßr die anderen Kids waren Drogen wie Gras Teil unserer Gemeinschaften. Wir befreiten Tim aus dem Gefängnis, weil er im Gefängnis war. Wir waren und sind Gefängnisgegner.

gewaltfreien Sitzblockade. Damals unterstĂźtzten ungefähr 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner den Krieg. 1968 lehnte die amerikanische BevĂślkerung den Krieg bereits strikt ab. Aber er nahm kein Ende. Er eskalierte in einen Luft- und Seekrieg. Jede Woche, die dieser Krieg sich weiter hinzog, wurden weitere 6000 Menschen in SĂźdostasien ermordet – 6000! Das muss man sich mal vorstellen! Die Kriegsgegner splitterten sich auf – einige versuchten einen pazifistischen FlĂźgel innerhalb der demokratischen Partei zu organisieren, andere flĂźchteten nach Europa oder Afrika, wieder andere in Kommunen. Ich selber und einige andere bauten eine klandestine Truppe auf, welche, so hofften wir, das Ăźberleben wĂźrde, was wir als drohenden amerikanischen Faschismus begriffen.

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Eine riesige Rolle.

Fahndungsbild bernardine Dohrn

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— Politische bewegungen haben den lauf der Dinge häufig beeinflusst. Welchen politischen effekt wĂźrden Sie dem Weather Underground im nachhinein zuschreiben?

Betrachtet man unsere damaligen Ziele, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass wir versagt haben. Wir wollten Armut und Ükonomische Ausbeutung ausrotten; freie Liebe und Land fßr alle, gratis Essen und gratis Wohnen, Abschied nehmen von einer Schulausbildung, die trocken, selbstreferentiell und selbstzufrieden ist, von Ehrerbietung, Didaktik, Ego und von Selbstgefälligkeit

in einer herzlosen Welt. Von Gefängnissen und Grenzsoldaten, von Quarantäne, Vernichtung und Eingrenzungen. Goodbye to all that! Wir wollten damals den Schritt ins Ungewisse wagen, Grenzen ßberspringen, neu leben und lieben lernen, im Takt der Dialektik ...

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— ‌ langsam wird klar, was Sie mit scheitern meinen.

Wo sind wir jetzt? Jahrzehnte später verläuft die Grenze der Ungleichheit noch immer entlang der Hautfarbe. Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Inhaftierung, Schulerfolg, Arbeitsverhältnisse – die frappierende Macht weiĂ&#x;er Vorherrschaft kommt Ăźberall zum Ausdruck. Abb. 1:

— nimmt man nach so vielen Jahren nicht desillusioniert Abschied von den alten idealen?

Meine Träume sind nicht Wirklichkeit geworden. Noch nicht. Aber sie sind auch keinesfalls verblasst oder verschwunden. Ich habe immer mit einem FuĂ&#x; im Modder dieser Welt gestanden und gleichzeitig mit dem anderen nach einer Welt getastet, die sein kĂśnnte, bisher allerdings nicht ist. Ich bitte alle dringend, radikaler zu werden. Die Dinge grundsätzlich zu betrachten. Studiert, lernt, organisiert euch, redet mit Fremden, mobilisiert, macht eure ethischen Erwartungen Ăśffentlich! Was die wesentlichen Dinge der letzten zwei Jahrhunderte betrifft, haben politisch Radikale von Jane Addams und Emma Goldman Ăźber Eugene Debs und W.E.B. Du Bois bis Martin Luther King Jr. und Malcolm X es richtig gemacht.

— Sie bezeichneten Weather Underground auch als „Army of lovers“, was etwas witzig klingt ‌

... das sollte es natßrlich auch. Oder wenigstens widersprßchlich. Die Liebe zwischen uns sollte stark genug sein, um etwas vollkommen Neues zu erschaffen: Eine Gemeinschaft auf den Säulen von

Von oliVer Koch, henDriK lehMAnn

Abb. 2:

eines von vielen selbst gemalten Logos CommuniquĂŠ no. 5., 1970

Untergrund ist ja eine Metapher. Eine Metapher, die dazu dient, die Integrität eines Kampfes zu wahren, Militante und Aktivisten vor dem repressiven Apparat des Staates zu schßtzen und einen Freiraum zu schaffen, in dem frischer Wind wehen kann. Also ja, in gewisser Weise brauchen alle Zeiten ihren Underground.

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biLL AYerS stand zuletzt 2008 im rampenlicht der amerikanischen Ă–ffentlichkeit, als dem damaligen Senator von illinois, barack Obama, eine persĂśnliche Verbindung zu ihm nachgesagt wurde. V. a. die republikaner, aber auch Hillary Clinton, versuchten Obama damit im Wahlkampf als Freund von terroristen zu denunzieren. Ayers lehrte bis vor Kurzem Sozialpädagogik an der university of illinois in Chicago. Seine Schwerpunkte waren soziale Gerechtigkeit und frĂźhkindliche bildung. PersĂśnliche erinnerungen an die Zeit des Weather underground hat er in dem buch „FlĂźchtige tage“ niedergeschrieben, 2010 im Ventil Verlag erschienen.

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iy ist einer der zentralen begriffe, die seit den frühen 1980er Jahren besonders eng mit der Punk/hardcore-bewegung verknüpft sind. Als dissidente Subkultur versuchte sie auch in bezug auf die eigenen Produktionsmethoden Möglichkeiten zu finden, sich der kapitalistischen Verwertungslogik zu entziehen und so ein kleines Moment des wahren lebens im Falschen zu ermöglichen.

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Die dem Diy zugrunde liegende idee reicht bis zur Arts-&-crafts-bewegung des englischen bürgertums zu Anfang des letzten Jahrhunderts zurück, die, zumindest teilweise, als reaktion auf den fortschreitenden erfolg der industriellen Fertigung von inneneinrichtungsgegenständen entstand, und so ein zentrales Diy-Thema vorformulierte: Die Gegenüberstellung von ehrlicher, einfacher und handgemachter Arbeit im Gegensatz zur vermeintlich seelenlosen, artifiziellen und maschinellen Serienproduktion.

Diy or Die

Aus dem Diy wird ein Prozess des Aussich-selbst-Schöpfens. Dabei spielt individualität insofern eine besondere rolle, dass Diy nur denkbar in Form von unvermittelter Arbeit ist, welche die Produkte wie Schallplatten oder Fanzines direkt an die produzierenden Personen koppelt. Diese Vorstellung von Authentizität lädt Arbeit im Kontext von Diy mit einem metaphysischen Mehrwert auf, der libidinös besetzt ist.

D Von nilS QUAK

Was hier schon anklingt, verdichtet sich bei genauerer betrachtung: Selbstermächtigung, Selbsterlebnis, Ursprünglichkeit oder Verweigerung der kapitalistischen Produktionsmentalität sind im Diy primär Ausdruck einer Vorstellung von Authentizität. Dies spiegelt sich im Selbstverständnis der meisten Akteure wider, die dem „künstlichen leben“ der kapitalistischen Wirklichkeit ein wahres und direktes leben entgegenzustellen versuchen. Diy versteht sich als Abkehr von einem „entfremdeten Fertigungsprozess“ und einer „gedankenlosen Konsumhaltung“, wie man es etwa an den Diskussionen über den Ausverkauf von Szenebands beobachten kann, die infolge finanziellen erfolgs „Verrat“ an der Szene und ihren idealen begehen.

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Do-IT-YoUrSeLF hat als vermeintliche Underground-praxis gemeinhin einen guten ruf. Birgt diese Idee doch den Gedanken, dass es irgendwo kleine enklaven gibt, die sich außerhalb der klassischen kapitalistischen Verwertungsprinzipien befinden. Dass es diese enklaven wirklich gibt, kann jedoch wohl eher bezweifelt werden. Seite 32

Money Money Money Am Diy-Paradigma, keinen Gewinn zu erwirtschaften, wird die protestantische Verzichtsethik dieser ideologie deutlich sichtbar. Zum einen findet hier eine besonders lustvolle Aufladung der Arbeit statt, die zum anderen aber nichts anderes ist als entsagung, auch wenn die Akteure häufig das Gegenteil behaupten. Diy hat sich zwar auf die Fahnen geschrieben, zumindest neben den Verhältnissen zu stehen, gleichzeitig aber verschleiert es, dass die bestehenden Zustände auf diese Weise weder überwunden werden (können), noch dass die Praxis des Diy einen Ausweg aus der Warenförmigkeit bedeutet. Der Diy-Produzent besetzt lediglich das eigene Verhältnis zur Produktion

anders und arrangiert sich in seinem kritisch konnotierten eskapismus mit dem System, das er zu kritisieren vorgibt.

ehrliche ArbeiT in der vermeintlichen entkopplung der Diy-Waren von der kapitalistischen Sphäre entsteht ein problematisches Verständnis von Ökonomie: Die Welt wird eingeteilt in einen Massenmarkt, der mit Konsum assoziiert wird, auf der einen Seite und einen „kleinen Markt“, der von „schaffenden“, „authentischen“ Produzenten bestimmt wird, auf der anderen Seite.

Selbstermächtigung, Selbsterlebnis, Ursprünglichkeit oder Verweigerung der kapitalistischen produktionsmentalität sind im DIY primär ausdruck einer Vorstellung von authentizität. Diese Aufteilung und moralische Aufladung ähnelt der Vorstellung, die dem vermeintlich „schaffenden“ Kapital (Warenproduktion) als Gegenentwurf das bild eines „raffenden“ Kapitals (Zirkulationssphäre) entgegenstellt. in dieser Trennung zeigt sich ein verkürztes Kapitalismusverständnis, das die Verhältnisse zwischen Arbeit, Ware und Wert naturalisiert und verkennt, dass Warenproduktion und Zirkulationssphäre im Kapitalismus untrennbar miteinander verbunden sind. ein bild, das sich so auch häufig im strukturellen Antisemitismus findet, der zwischen der echten Arbeit und den „Multis“, „banken“ und „Spekulanten“ unterscheidet und in ihnen die „schmarotzenden nutznießer“ eines globalen Kapitalismus sieht. Solch ein Weltbild muss nicht zwangsläufig in Diy-Projekten zu finden sein, aber es taucht mit guter regelmäßigkeit immer wieder im Duktus vieler Punk/hardcorebands oder -labels auf, wenn etwa die eigene „echte“ Musik der „artifiziellen“ Popmusik des vermeintlichen Mainstream gegenübergestellt wird.

berlin cAllinG Aller Kritik am begriff und der realität des Diy zum Trotz ist die idee, die Dinge selbst in die hand zu nehmen und danach zu streben, sein leben möglichst an den eigenen interessen auszurichten, sicherlich begrüßenswert. eine ähnliche idee entwirft

ArbeiT Von MyeonGbeoM KiM — WWW.MyeonGbeoMKiM.coM

die sogenannte digitale bohème um lobo, Friebe oder Passig, die im selbstbestimmten, freiberuflichen leben abseits von fest strukturierten Arbeitsverhältnissen eine neue Freiheit heraufbeschwört. Mercedes bunz geht sogar einen Schritt weiter, wenn sie einen linken neoliberalismus postuliert, der sich als dissidente Praxis innerhalb des herrschenden Kapitalismus versteht. in der Umcodierung von gesellschaftlichen rahmenbedingungen und Abhängigkeitsverhältnissen sieht sie die Möglichkeit, den Kapitalismus zwar nicht abzuschaffen, aber dennoch eine Verschiebung von Machtverhältnissen zu realisieren. Die hier geäußerte Vorstellung lässt außer acht, dass das individuum durch den permanenten Zwang zur Konkurrenz und zur Produktion mitnichten vollkommen frei in seinen entscheidungen ist, sondern sich fortwährend den regeln des Marktes unterwerfen muss. Die idee, sein leben in der Selbstständigkeit als dissidente Praxis zu entwerfen, wird so in ihr Gegenteil verkehrt. Das leben der Kreativ- und Kulturproduzenten, das für viele nicht selten am rande oder innerhalb von prekären Verhältnissen stattfindet, ist geschult an den ideen des Diy, der innerlichkeit und des authentischen lebens. Dieses ideal ist – zumindest in bestimmten bevölkerungsgruppen – so weit zu einer normalisierungsinstanz geworden, dass sich die individuen unter dem Programm der Selbstverwirklichung und einer vermeintlichen Unabhängigkeit freiwillig in diese prekären Verhältnisse begeben. Die Straßen berlins sind voll von willigen und hochqualifizierten Kulturproduzenten, die jedem, der es hören will, erzählen, wie aufregend das selbstbestimmte leben in Projekt- und Auftragsarbeit ist – solange nur genug Geld für ein laptop dabei rausspringt. Und dass man in den Durststrecken auch mal im call-center arbeitet, muss man ja nicht jedem erzählen. Dass diese entwicklung selbstverständlich auch dem Arbeitsmarkt als neues ideal sehr entgegenkommt, wird in den immer weiter wachsenden Forderungen nach Flexibilität oder Mobilität sowie den hohen Anforderungen in Selbstdarstellung und -produktion etwa bei bewerbungsgesprächen und im Assessmentcenter deutlich. noch so schlecht bezahlte, projektbasierte Arbeits- und Praktikumsverhältnisse locken mit ideellen Werten und können sich dabei kaum vor interessenten retten, die ihre materiellen interessen nur zu gerne hintenan stellen. So wandelt sich im Schatten der Authentizität und Selbstverwirklichung das bild des Diy. Die vordergründig und nach außen getragene vermeintliche Verweigerungshaltung wird zu einem Modell der permanenten eigenwerbung, in dem es darum geht, seinen Körper und seine Arbeitskraft auf dem freien Markt zu veräußern und dies gleichzeitig auch noch gerne zu tun – die rückkehr des calvinistischen Arbeitsethos unter dem Deckmantel der sogenannten boheme.

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auch ich als imker, Ziegenhirt und Kunststudent der hbK Kassel (hochschule für bildende Künste) einen Unterschlupf gefunden hatte, im Stückhof bei remsfeld, eben bei jenem seltsamen, weitherzigen Psychologie-Dozenten Dr. ewald rumpf, der absolut jeden Tramper mitnahm und oft monatelang auf seinem Aussiedlerhof beherbergte, durchfütterte und sich dafür ein wenig

Umweltschutzpapier gedruckt werden konnte — Autor: Udo Untergrund. Vorwort von ewald rumpf. Monate später drang die Kunde zu uns: hausbesetzer Udo säße im Gefängnis. 1980 tauchte er wieder auf dem Stückhof auf und berichtete, wie er unter der Zwangsberieslung mit ganztägiger Popmusik per ringlei-

Er nannte sich U d o UNTERGRUND

ULrICH HoLBeIn erinnert sich an den menschgewordenen Underground zur Zeit der Landkommune von Dr. ewald rumpf bei remsfeld in den siebziger Jahren. Denn dort gab es einen, der nannte sich „Udo Untergrund“

Von Ulrich holbein

er Untergrund ist natürlich viel älter als jede Menschheit, siehe erdmännchen, Wühlmaus, Maulwurf, blindmull und regenwurm. einige Millionen Jahre lang – war’s im Präkambrium oder im Karbon oder wann? – wurde es auf erden bzw. auf heimatplanet Terra weltweit so kochend heiß, daß nur Säugetiere, die in die erde abzutauchen vermochten, überleben durften. Aus solcher basis wuchsen dann orkus, Tartarus und inferno hervor, und die mittelalterliche hölle wich ja vom Glühquotient her erstaunlich wenig vom Magmagebrodel ab. Kaum aber säkularisierte sich die religiöse Unterwelt durch fortschreitende industrialisierung, wurden orpheus und Jesus, die in den orkus stiegen oder niederfuhren zur hölle, von ruhrpott-Kumpeln profan ersetzt, von Tiefgaragen, Kanalisation und Ubahn-Schächten und von der Wühlarbeit lichtscheuen Gesindels, die am Umsturz bestimmter Konfigurationen in obengelegenen Tagwelten arbeiteten. Salzstöcke, nachtschattengewächse, Kellerasseln – blindheit dauert länger als Dunkelheit. ich aber kannte einen, der nannte sich in seinen heißen Jahren „Udo Untergrund“ und trug eigentlich den bürgerlichen namen Udo Knorr (name vom Autor geringfügig verändert, zum Schutze seiner pensionierten eltern). Sein Vater, der bürgermeister einer Kleinstadt mit Atomkraftwerk, war nicht stolz auf seinen mißratenen Sohnemann, einen ewigen Studenten, Taugenichts und hungerleider. Zeitweise wohnte er in berlin und befand sich um circa 1977 in den häuserbesetzenden Kreisen. Was studierte er eigentlich? Plötzlich fällt mir nicht mehr ein, ob und was er studiert hat – im Fachbereich Sozialwesen bei Dr. ewald rumpf am AVZ Kassel (Allgemeines Verfügungszentrum)? rein zufällig schlüpfte er in derselben landkommune unter, in der

handreichung und Tierhütung erbat, und bei dem öfters Polizei auftauchte, um das Glashaus nach haschischpflanzen abzugrasen oder um den pazifistischen Dozenten, der auch J.S. bach geigte, des Asylgewährens für verdächtige Gestalten, z.b. Terroristen, also des Sympathisierens mit rAF-Gedankengut, zu verdächtigen. Für mich stand das rosenzimmerchen als Absteige oder Schlafgemach zur Verfügung, als stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer… – und seltsam, wenn ich darin übernachtete, kurz nachdem Udo darin geschlafen hatte, erwachte ich morgens mit Kopfweh. Udo sah nicht äußerst edel aus, trug einen riesigen Zinken im akneüberzogenen Angesicht, eine fettige Mähne, und wenn ich ihn fragte, warum er nicht arbeitete, sagte er: „Das macht mich immer so fertig.“ immerhin borgte er sich mal von mir meinen stockfleckigen Schopenhauerband in der Griesebach-Ausgabe von 1880; das ließ auf geistige intressiertheit schließen, doch hinterher fehlte dieser band in meiner Gesamtausgabe. Tagsüber teilte Udo uns mit, daß er just faste, seit sieben Tagen, nachts aber hörte ich ihn am Speiseschrank sich zu schaffen machen, und der von evelyn mit Pfefferminz bereitete Ziegenkäse schwand vorzeitig dahin. Für Udos schattenhaftes Dasein wählte ich das Wort „hausgeist“. Auf fatale Weise erinnerte er mich auf verunglückte Weise an mein eigenes, leicht schmarotzerhaft angelegtes Studentenleben als reisender Pendler, Vagant und lebenskünstler. Udo legte sogar Aufzeichnungen nieder – wirre Gesellschaftstheorien? Sein Manuskript hieß „Unterwegs“ und verewigte onthe-road-erlebnisse in Amsterdam und anderswo, wie er z.b. mal in einer badewanne übernachten mußte und ihn jede Frau nach drei Tagen wieder rauswarf. ewald stellte sogar einen betrag zur Verfügung, damit das opus in der Alternativ-Presse auf

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tung gepeinigt wurde und daß er als Vegetarier zwar statt Fleisch täglich hartgekochte eier bekam, aber nie-nie obst, und wie in ihm nur eine Sehnsucht großwuchs – nach Apfelsinen.

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er nAnnTe Sich UDo UnTerGrUnD

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eines Abends zog Udo mich nach nebenan ins kaminbestückte Musikzimmer, sah mich mit gequältem blick und seltsam glänzenden Augen an und fragte: „Weißt du, wie ich an eine Pistole kommen kann?“ ich erschrak unsagbar äußerst. Sowas wußte ich nun wirklich nicht. ich befand mich im falschen Film. Wollte er sich vor Drogendealern schützen oder vor den Androhungen seines Vaters, der sich im heftchen „Unterwegs“ verunglimpft sah? Später berichtete mir hausherr ewald, er habe im haus eine versteckte Pistole gefunden und habe sie ohne rücksprache einfach nur in den Mülleimer geworfen, zur baldigen Verzweiflung des Udo Untergrund. Dann entschwand Udo Untergrund aus unserem Gesichtskreis, mit unbekanntem Ziel. Jahre später hieß es, man habe ihn in Kolumbien auf offener Straße liegen gefunden, nackt und tot. War’s um Drogen gegangen? Wieso nackt? nichts Genaues ließ sich eruieren. im heftchen „Unterwegs“ hätte man nochmal etwas nacharbeiten können, aber die es besaßen, hatten es weiterverborgt – aber an wen? Die Gesamtgeschichte blieb etwas mager und unerfreulich, als herausgepickter Tupfer aus damaliger Gemengelage landkommunardischer, gesellschaftspolitisch engagierter, subversiver, alternativer bestrebungen.

FoTo: eSTelle hAnAniA AUS Der Serie "PArKinG loT hyDrA", 2009

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Maske: privat Jacke: odeur Legging: Burlington

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Fotos —

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Sweatshirt: adidas originals Ohrringe: Tatty Devine Str端mpfe: Fabiani

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CHrIS köVer

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1978 sah sie aus wie eine 14jährige, die aus einer LSD-getränkten Vogue gefallen war – mit x-ray Spex ging poLY

STYrene in die Geschichtsbücher des punk ein. Trotz schwerer krankheit gab sie Chris köver ein Interview.

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igentlich hätte das hier ein Gespräch über das comeback einer der bemerkenswertesten und einflussreichsten Musikerinnen der Post-Punk-ära werden sollen. Poly Styrene, legendäre Frontfrau der ebenso legendären Punk-Formation X-ray Spex und eine der wichtigsten Vorbilder für die riotGrrrl-bewegung der 90er-Jahre, veröffentlicht über 15 Jahre nach ihrer letzten Platte ein neues Soloalbum. eine kleine Sensation und Anlass zur Aufregung für all die jungen Frauen, die Styrene heute als eines der wenigen feministischen Vorbilder feiern, die die Musikgeschichte überhaupt zu bieten hat. Dann wurde mitten in der Promotion-Phase bekannt, dass bei Styrene kürzlich brustkrebs diagnostiziert wurde – und was als Gespräch mit einer aufregenden Frau über eine aufregende Zeit angelegt war, wurde zu einer der ungewöhnlichsten und schwersten Situationen, die man sich als Popjournalistin vorstellen kann. Styrene liege gerade im Krankenhaus, sie sei schwach und hätte Probleme mit der Atmung, sie wolle das Gespräch aber führen, hieß es von Seiten ihres labels. Klar, Promotion-interviews sind an sich schon eine absurde Situation – auch wenn sie wie sonst üblich im 20-Minuten-Takt in einem hotelzimmer stattfinden. Aber eine Künstlerin zwischen zwei chemotherapie-Sitzungen auf dem Krankenbett zu ihrem neuen Album befragen – ist das nicht absurd und zynisch? Kann man mit jemandem, die gerade gegen Krebs kämpft, über etwas im Vergleich derart banales wie eine neue Platte sprechen? Styrene war das Thema offenbar nicht zu banal, sondern so wichtig, dass sie selbst vom Krankenbett aus darüber sprechen wollte. Also beschließe ich: man kann. einmal wird das Telefonat verschoben, Styrene gehe es zu schlecht. Zwei Tage später erreiche ich sie im Krankenhaus, wo sie gerade auf ihre nächste behandlung wartet. ihre Stimme ist schwach und sie hat hörbar Probleme zu atmen. Trotzdem kann sie sich ein kleines lachen zwischendurch nicht verkneifen – das Gespräch fällt mir offenbar wesentlich schwerer als ihr. — ich war sehr erschrocken zu hören, dass bei ihnen brustkrebs diagnostiziert wurde. Wie fühlen Sie sich? So gut, wie man sich in so einem Zustand eben fühlen kann. Morgen wird entschieden, wie meine Behandlung fortgeführt werden soll. Ich nehme meinen Zustand Tag für Tag hin und hoffe, dass es mir bald wieder besser geht. — Als Sie 1996 mit X-ray Spex eine lang erwartete, zweite Platte veröffentlichten, sind Sie während der Promotion-Phase von einem Feuerwehrwagen angefahren worden und lagen mit einer gebrochenen hüfte monatelang im Krankenhaus. Finden Sie das leben manchmal ungerecht?

Ich glaube, es ist einfach karma. Ich arbeite gerade durch negatives karma, aber normalerweise komme ich da gut durch. Das empfinde ich nicht als ungerecht. — in jedem Falle haben Sie sich nie davon abhalten lassen, Musik zu machen. Was motiviert Sie? Ich mag einfach den prozess des Schreibens und aufnehmens. Ich bin eine kreative person, ich könnte gar nicht damit aufhören. Ich finde es schwer, nicht irgendeine Form von kreativem output zu haben. — 1976 haben Sie in den britischen Musikmagazinen nMe und Melody Maker eine Kleinanzeige geschaltet, die mit der Zeile „yoUnG PUnX Who WAnT To STicK iT ToGeTher“ begann – der Anfang von Xray Spex. erinnern Sie sich an einen bestimmten Moment, in dem Sie beschlossen haben: ich will eine band gründen? Das war, als ich das erste Mal die Sex pistols in Hastings pier spielen sah. Sie waren damals noch nicht berühmt und es waren kaum Leute im publikum, aber sie waren in meinem alter und ich dachte: Wenn die das können, ohne eine plattenfirma zu haben, kann ich das auch.

„Ich fand es lustig, mitten in der rezession darüber zu singen, dass man die eigene kreditkarte wegwirft“ — Zu dem Zeitpunkt hatten Sie schon einen reggae-Track unter ihrem Geburtsnamen Marian elliot veröffentlicht. Warum gründeten Sie danach eine Punk-band? Für mich war die Musik von x-ray Spex nicht punk. Wir waren zwar im gleichen Zeitrahmen und auch Teil der Szene, aber für uns war es einfach „High energy“-Musik. Ich liebe reggae und höre es gerne zu Hause, auf dem neuen album sind auch wieder reggae-Tracks zu finden. aber für die Band hätte das einfach nicht gepasst. Ich wollte Musik machen, die hochenergetisch war und fand es einfach aufregender, eine rock’n’roll-Band zu haben. — X-ray Spex wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer der meistdiskutierten bands in der damals jungen britischen PunkSzene. ihr erstes Konzert fand gleich im legendären roxy statt, wo sich die Szene damals traf, später spielten Sie im nicht minder legendären new yorker cbGb. Welcher Auftritt aus dieser Zeit ist ihnen am eindrucksvollsten in erinnerung geblieben?

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Das erste konzert im roxy, weil wir einfach total schockiert von unserem eigenen publikum waren. Wir waren ja keine punks, hatten nicht diesen Look mit den Frisuren und Hundehalsbändern. Da waren Jungs, die hatten ihre Freundinnen an der Leine. Ich war zwar vorher schon mal im roxy gewesen, aber da war der Laden voll mit allen möglichen Leuten. an dem abend, als wir dort zum ersten Mal spielten, war es eher leer, wir hatten ja noch nicht so viele Fans. Da war also nur das harte Stammpublikum – und das sah eben so aus.

Foto — F a B r I Z I o r a I n o n e

— ihr Stil war damals tatsächlich vollkommen anders als der gängige Punklook der Zeit. Statt lederjacke und zerrissenen Klamotten trugen sie neonfarben oder Fantasie-Uniformen. Wovon haben Sie sich modisch beeinflussen lassen? Ich mochte die Mode in „Vogue“ und stellte immer schon gerne meine eigene Streetfashion zusammen. Die meisten outfits, die ich damals im roxy und bei den frühen auftritten trug, waren aber von Sophia Horgan, einer jungen Designerin, mit der ich gut befreundet war. Sie schuf einen sehr auffälligen Look und ich ergänzte ihn mit accessoires. Mir gefiel es immer schon, anders auszusehen. Ich wollte aber auch einen gewissen Glamour. — Sie hatten eine Zeitlang sogar eine eigene boutique in der londoner King’s road, wo auch Vivienne Westwoods laden war. Was haben Sie dort verkauft? Sophias entwürfe, aber vor allem meine eigenen Sachen. Das waren meistens Stücke, die ich billig in anderen Läden kaufte, leicht veränderte und dann teurer weiterverkaufte, zum Beispiel ein plastik-regenmantel, den ich mit einem pompom am kragen verzierte. Ich machte auch Schmuck: ketten aus Badewannenstöpseln oder Broschen aus radiergummi. — Aus heutiger Sicht scheint die PostpunkPeriode von 1978 bis 1984 eine Art Goldene ära für Frauen in der Musikgeschichte gewesen zu sein. Auf einmal waren da all diese bands mit Musikerinnen in einflussreichen Positionen: neben X-ray Spex die Slits, die raincoats, lydia lunch ... ... Chrissie Hynde, Debbie Harry von Blondie, und Siouxsie and the Banshees gab es ja auch noch. es stimmt schon, da waren auf einmal scheinbar überall Frauen, die kreativ sein wollten. — Wie erklären Sie sich das? Glauben Sie, dass Frauen auf besondere Weise von dem ermächtigungsgedanken hinter Punk profitieren konnten? Vielleicht waren sie einfach zur richtigen Zeit am richtigen ort und hatten auf einmal die Möglichkeit, eine neue art von Musik zu machen und damit erfolgreich zu sein. Und sie haben es einfach getan.

„Wir waren mit x-ray Spex ende der 70er genau an der Schnittstelle, eine der letzten Bands, die sich ein nicht-sexualisiertes Image noch erlauben konnten. nach uns kamen dann schon acts wie Madonna.“

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MUSIk Zeit einfach so weit voraus oder hat sich seither so wenig geändert? Für meine Texte lasse ich mich oft von Schlagzeilen inspirieren, die ich in der Zeitung lese und dann zu einem Song verarbeite. Vielleicht haben wir uns seither also tatsächlich nicht besonders weit bewegt.

„Ich machte auch Schmuck, ketten aus Badewannenstöpseln oder Broschen aus radiergummi.“

— ein neues Thema auf dem Album ist die Kommunikation im internet-Zeitalter. in „Virtual boyfriend“ geht es um ein Paar, das nur noch über MySpace und e-Mail miteinander verbunden ist. Klar ist das ein aktuelles Thema, aber MySpace und blackberry? Das wirkt im Jahr 2011 doch fast schon retro. Das Lied habe ich vor einer Weile geschrieben, da war Facebook noch nicht so dominant und MySpace in voller Blüte. Ich wollte einfach darüber schreiben, wie absurd es ist, dass viele Beziehungen heute nur noch über das netz stattfinden und mit einem klick wieder beendet werden können. Dass wir uns eigentlich gar nicht mehr begegnen. Und ich fand es lustig, mitten in der rezession darüber zu singen, dass man die eigene kreditkarte wegwirft.

— Wenn man sich heute eine Stunde Musikfernsehen anschaut, hat man den eindruck, dass es seither nur noch bergab ging. Sie haben sich noch erfolgreich dagegen gewehrt, zum Sexsymbol erklärt zu werden. heute scheint es für junge Frauen im Musikbusiness sehr viel schwieriger, ihre Musik ohne ein sexualisiertes image zu verkaufen. es ist für Musikerinnen mit Sicherheit sehr viel schwieriger geworden, heute noch kontrolle über ihre arbeit zu haben. Da sind die produzenten und die Stylisten und die plattenfirmen. Sex verkauft nun mal. Wir waren mit x-ray Spex ende der 70er genau an der Schnittstelle, eine der letzten Bands, die sich ein nicht-sexualisiertes Image noch erlauben konnten. nach uns kamen dann schon acts wie Madonna. — Für viele junge Musikerinnen heute sind Sie ein erklärtes Vorbild. Karen o von den yeah yeah yeahs, beth Ditto oder Kathleen hannah sagen alle, sie seien von ihnen beeinflusst worden. Ich freue mich sehr darüber, so einen positiven einfluss zu haben, das ist ein großes kompliment. Man kann ja nicht wirklich voraussehen, wie das, was man tut, später mal aufgenommen wird. In meinem Fall ist das sehr gut gelaufen. — Wer waren denn damals ihre Vorbilder? Für x-ray Spex gab es keine Vorbilder, da habe ich mich einfach sehr weit aus dem Fenster gelehnt. aber ich mochte protestSängerinnen wie Joan Baez, Musikerinnen, die über politische Themen sangen, starke Frauen wie aretha Franklin. Ich mochte auch Joni Mitchell, die sang ja im Grunde damals schon über Umweltfragen – auch wenn sie es vielleicht selbst nicht wusste. — Auf ihrem neuen Album geht es auch wieder um Konsumkritik und Umweltfragen – Themen, die Sie schon vor über 30 Jahren auf „Germfree Adolescence“ besungen haben. Waren Sie damals ihrer

— Das neue Album klingt unerwartet poppig für jemanden mit ihrer Vergangenheit – neben einigen Dub- und reggae-Stücken erinnert ein großer Teil der Songs eher an 90er-Jahre-Dance- und PowerpopProduktionen, wodurch das Album etwas rückwärtsgewandt wirkt. Warum wollten Sie ihr comeback nicht mit einer PunkPlatte machen? Ich hätte auch eine punk-platte machen können, aber als künstlerin will man eigentlich nicht auf einen Sound festgelegt werden. außerdem hätten die Stücke, die ich im kopf hatte, als punkproduktionen einfach nicht funktioniert. Der produzent Youth, mit dem ich für die platte zusammengearbeitet habe, hat selbst eine postpunk-Vergangenheit (anm.: er hat früher bei killing Joke gespielt). Ich hatte einige seiner Sachen recherchiert, bevor ich mich für ihn entschieden habe. Ich fand, er war ein netter Typ. — ihr letztes Soloalbum „Flower Aeroplane“ haben Sie selbst veröffentlicht. Diesmal sind Sie wieder bei einem label. Wie kommt’s? als wir mit x-ray Spex nach einem Label suchten, um die „Live at the roundhouse“DVD und CD zu veröffentlichen, empfahl uns ein Bekannter das Label Future noise Music. Shirin (anm.: koohyar, eine der Mitbetreiberinnen) hat eines meiner neuen Stücke gehört und fand, es sei zu gut, um es einfach als Bonustrack auf der platte zu veröffentlichen. Sie fragte, ob ich nicht eine neue platte aufnehmen will und schlug vor, das als Soloprojekt zu veröffentlichen. Ich mag das album und ich bin froh, dass es ein bisschen poppiger geworden ist. Wenn es ein x-ray-Spex-album gewesen wäre,

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hätte es auch so klingen müssen, denn die Band ist so etwas wie eine Marke. So war es eine art von Befreiung; einfach wieder Musik machen zu können und das zu genießen, statt immer zu denken: Ich muss diese Band sein. — Vor 30 Jahren haben Sie auf „Germfree Adolescence“ über die Angst vor dem Alter gesungen: „Age so afraid / Age not the rage / Age so afraid“. ist ihr Alter etwas, das Sie heute besorgt? es hat mich sehr viel mehr gestört, als ich jung war. Man gewöhnt sich daran, älter zu werden. natürlich mache ich mir auch Sorgen über Falten und möchte so jung wie möglich aussehen. aber es macht mir keine angst mehr. Verglichen mit dem krebs erscheint das auf einmal alles sehr unwichtig. Ich hoffe, dass es mir bald besser geht. aber egal, wie es ausgeht – ich habe keine angst. Was kommt, wird kommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich wiedergeboren werde und freue mich darauf.

Dass Styrene sich um Konventionen nicht besonders schert, hat sie schon früher eindrucksvoll bewiesen. 1978, als Punks, die etwas auf sich hielten, bondagehose, nietenlederjacke und einen wütenden Gesichtsausdruck trugen, kleidete sich die damals 19-Jährige für ihre bühnenauftritte in türkisfarbene hosenanzüge, mit neonpinker Schleife im haar – und einer festen Zahnspange im Mund. Sie sah aus wie eine 14Jährige, die gerade aus einer lSD-durchtränkten „Vogue“ gefallen war. Kein Wunder, dass den nietenhalsband tragenden Punks, die sie und ihr Fünf-Personen-Kraftwerk Xray Spex damals im londoner club roxy oder später im cbGb in new york auf der bühne sahen, ob dieser explosion aus lärm, rebellion, Mode und Spaß vor Schock die Kinnlade herunterfiel – und seither nicht wieder geschlossen wurde. Das Debütalbum „Germfree Adolescence“ – ein Fest aus schlauen, konsumkritischen Texten, Styrenes treibendem, oft ins hysterische kippendem Gesang und einem Sound, der unter anderem dem punk-atypischsten instrument Saxophon einen prominenten und schrägen Platz einräumte – gilt heute als eine der wichtigsten Punk-Platten überhaupt. Und die tanzende, lachende, schreiende neonqueen Poly Styrene als eine der einflussreichsten Frontfrauen der damaligen Zeit. nach einem nervenzusammenbruch im Jahr 1979 löste Styrene die band auf und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Sie bekam eine Tochter, lebte fünf Jahre in einem hareKrishna-Tempel, veröffentlichte hier und da ein paar Stücke und absolvierte den ein oder anderen Auftritt – zuletzt 2008 bei einem ausverkauften reunion-Konzert von X-ray Spex im londoner roundhouse. Am 15. April erscheint ihr neues Soloalbum „Generation indigo“.

WYe oak aus Baltimore untermauern die These, dass Bands ohne Muckertum und übertriebenen erfolgswillen vielleicht die besseren sind — Blake Schwarzenbach nannte sie einmal „die geschicktesten kartografen

keIne Text — k r I S T o F k Ü n S S L e r

VerSTeCke der Seele“. Jenn Wasner und andy Stack über keller, Tapes und Coolness.

Foto — J o a C H I M Z I M M e r M a n n — erinnert ihr euch, wie es war, zum ersten Mal etwas zu entdecken, das ihr für „Underground“ gehalten habt? J: als ich anfing pavement zu hören, dachte ich: Ich bin der heiße Scheiß! Damals war es schon seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr cool, wie sich kurz darauf herausstellte. Ich war ein kind und bis dahin kannte ich nur die Musik, die meine Mutter hörte. a: Wir haben mit 16 in der Highschool zusammen in einer Band gespielt, und damals dachte ich wirklich, wir wären „Underground“. Irgendwann merkte ich, dass das Spielen in kirchenkellern nicht bedeutet: Du bist „Underground“. es bedeutet lediglich: Du bist in einer Highschool-Band. Wir waren natürlich eine GUTe Band, aber wir bewegten uns nur im übertragenen Sinne im Untergrund.

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— Kannten Sie sich untereinander? Ich kannte Chrissie Hynde. Wir haben uns auf einer party kennengelernt und danach ein paar Mal zusammen rumgehangen. Wir haben auch heute noch kontakt. Die anderen kannte ich nur von auftritten.

— ihr seid als Duo sehr präsent auf der bühne, dabei aber natürlich limitierter als „größere“ bands. Vermisst ihr es, mit weiteren Mitgliedern zu spielen? J: Manchmal schon. Wir hatten mal mehr Bandmitglieder und spielen mitunter in größeren konstellationen. Um mit dieser Band etwas zustande zu bringen, müssen wir so ziemlich alles andere in unserem Leben zurückstellen. Glücklicherweise funktioniert das, wir fühlen uns wohl so. aus dem Songwriting wird eine gesunde Herausforderung, die uns in eine richtung zwingt, die wir sonst nicht einschlagen würden: probieren und neuland erobern. In größeren Bands spielt das Individuum keine so enorme rolle. Man kann sich verstecken, wenn man sich nicht wohl fühlt, und zumindest bei mir gab es schon immer Teile, wo ich nicht einmal wusste, was ich spielte. Jetzt

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gibt es keine Verstecke, jede note zählt. Wir tricksen herum und wir werden dadurch bessere Musiker. a: als Mike Watt (u. a. ex-Minutemen) auf einer gemeinsamen Tour zu uns meinte „You are econo“ – das war verdammt cool. Wir wurden früher oft als „acoustic Folk Duo“ angekündigt, keiner kannte uns: ein Typ, eine Frau, klar: Folk-pop! aber mit dem ersten Ton merkten die Cafébesucher mit den Laptops und Sandwiches, dass sie jetzt dran waren, und das vor allem, weil die Barbesitzer uns vorher nicht richtig angehört hatten. Wir sind eine laute Band. — Stichwort „Verstecke“: Durch die Musik und v. a. die sehr persönlichen und direkten Texte scheint ihr die eigene Persönlichkeit sehr nach außen zu kehren. Schüchtert euch das ein? J: Bei kleinen Shows, wenn wir weniger anonym sind, ist es schwieriger, den Leuten in die augen zu blicken. aber ehrlich: Wenn ich mich nicht mitteilen wollte, würde ich andere Sachen schreiben. Für mich ist das Texteschreiben meine art, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und mir über Dinge klar zu werden, mich selbst zu verstehen. Wenn wir spielen, erinnere ich mich daran, dass das, was ich singe, für das publikum neu ist, und das macht es auch für mich frisch und aufregend. Ich möchte nie durch ein konzert schlafwandeln, allein schon weil es für die meisten das erste oder einzige Mal ist, uns zu hören, und dem möchten wir gerecht werden. — Könnt ihr euch mit Wye oak ein Tape-only-release vorstellen? J: Ja, absolut. Wir lieben analoge Formate. Man kann dadurch einen Zeitabschnitt unveränderbar konservieren. ein Tape ist eine Momentaufnahme, die noch dazu leicht herzustellen ist. Vor kurzem haben wir mit Freunden betrunken ein Tape aufgenommen, im keller innerhalb von drei Stunden, und jetzt haben wir quasi ein album. okay, zumindest ein Teil davon ist richtig gut. Das sind kleine Schätze, die man nur im Untergrund finden kann.


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Ja, panIk

SICH DeM aBSUrDen UnTerWerFen*

ICH kann BeIM BeSTen WILLen keInen SYnTHeSIZer enTDeCken anTI Gone (FÜr anTIGone)

RED CAN RECORDS mp3 songs & alben:

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Text — ToBIaS LeVIn UnD

Melodie und anarchie: Mit „DMD kIU LIDT“ liefert die nach Berlin ausgewanderte österreichische Band Ja, panIk eines der besten deutschsprachigen alben der letzten Jahre ab. Vielleicht auch, weil ihnen das alles so egal ist.

e

s ist ruhig an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag in der Markthalle in berlin-Kreuzberg. Andreas Spechtl hat mal gegenüber gelebt, nebenan wohnt christiane rösinger, mit der er unlängst ihr Soloalbum (vgl. oPAK #7) einspielte. er sitzt da, um über seine aufstrebende band Ja, Panik und erstmals über ihr viertes, komplett in berlin entstandenes Album „DMD KiU liDT“ zu sprechen. es geht um Konstruktion und Destruktion, um Wegnehmen und räume schaffen, um erwartung und Versagung. „nichts ist schlimmer als Selbsterklärung“, sagt Spechtl, während er genau das tut. Schließlich sei so eine bandkarriere, mit der man zumindest sein Faulenzerleben finanzieren wolle, gepflastert mit Kompromissen; man müsse also ein bisschen darüber reden, wenn man Platten verkaufen will. Und Spechtl will das, „da brauchen wir uns nichts vormachen“. er, der Songschreiber, Sänger und Gitarrist von Ja, Panik und Protagonist einer gefallenen indierock-boheme, ist im normalen leben nicht der Dandy, den er auf seinen Tonträgern bisweilen mimt. Fuchtelt nicht mit den händen, schleudert weder Parolen noch Gläser gegen die Wand, sitzt da mit seinem Parka über cardigan und Polohemd, rotem halstuch und wuscheligem Kopf und sucht nach Worten. „Die Gruppe Ja, Panik hat sich noch nie hingesetzt und auf der Gitarre einfach einen Song gespielt. bis jetzt“, sagt er und nippt verstohlen an seiner Apfelschorle. „Und dann fragten wir uns: Wie können wir das wieder zerstören?“ bei Ja, Panik sei alles immer so wild und aufbrausend gewesen, dem wollten Spechtl, Sebastian Janata (Schlagzeug, Gesang), Stefan Pabst (bass,

Gesang), christian Treppo (Klavier, Gesang) Verkopftheit seit jeher über ein Gefühl von und Thomas Schleicher (Gitarre) radikal enterkenntnis. Auch wenn man von dem, was gegenwirken. „es ist gewissermaßen die Spechtl sich da als Flaneur zwischen den entspannteste und reduzierteste unserer Sprachen und aus impressionsfetzen von Platten“, sagt Spechtl weiter. Vor allem aber Walter benjamin über bryan Ferry bis bob ist „DMD KiU liDT“ eine Platte, die mit ihrem Dylan („Klar bin ich Fan von roxy Music“) so ausgelassenen Situationismus, ihrem dadazusammenreimt, nichts versteht, versteht istischen Gestus, ihrer referentialität und ihman dank seines habitus doch alles. Wo „The rer reduktion bald zu einem der besten Taste And The Money“ (2007) von SPeX bedeutschsprachigen Popalben der letzten reits zum wichtigsten deutschsprachigen Jahre avancieren dürfte. Album seit blumfelds „l’etat * Zitat aus dem Song et Moi“ gekürt wurde und der „Der referenzen sind wir „Time Is on My Side“ von Ja, nachfolger „The Angst And uns zwar bewusst. Dieser panik. Ihr viertes album „DMD The Money“ (2009) sich noch ganze Zitatwahnsinn, der kIU LIDT“ erscheint am 15. ap- an der finalen Destruktion uns immer arg auf die Fah- ril bei Staatsakt/rTD. Das kom- von indierock versuchte und nen geschrieben wurde, hat plette album in seiner Chrono- dabei hits wie „Alles hin, hin, aber abgenommen“, relati- logie von Song 1 bis 15 wird live hin“ oder „Pardon“ abwarf, viert Spechtl, bleibt im Unge- an folgenden orten aufgeführt schmeißt „DMD KiU liDT“, für fähren und lässt ein bisschen werden: dessen Aufnahme Ja, Panik vom mangelnden Selbstbedem rockproduzenten Mowusstsein durchscheinen, 29.05.2011 Hamburg, Uebel & ses Schneider „Wummsverdas angeblich alle österrei- Gefährlich bot“ erteilten, nun sämtliche chischen bands teilen, bevor Altlast über bord – und baut sie international erfolge fei- 30.05.2011 Köln, Gebäude 9 sich aus Versatzstücken und ern. „Wir haben uns wieder einem entertainer, dessen fremder ideen bemächtigt, 31.05.2011 Offenbach, Hafen 2 gesangliches Spektrum die die aber viel vager bearbeiQualitäten von zum beispiel tet. Früher ist es ja praktisch 01.06.2011 München, Feierwerk Mick Jagger, Dirk von bis zum Plagiat gegangen.“ lowtzow, Pete Doherty oder Der sperrige Titel bedeutet in 02.06.2011 St. Gallen, Palace robert Smith nur beiläufig voller länge übrigens „Die vereint, ein Denkmal seiner Manifestation des Kapitaliseigenen Sozialisation. Von mus in unserem leben ist die OPAK präsentiert die Tour und der hand weisen will Spechtl Traurigkeit“, was Spechtl verlost je 1 x 2 Tickets. all das nicht, „am ende kann selbst im interview aber Mehr dazu im Netz. ich eh mit allem leben“. Aber nicht verrät. „Das wird sich auch nicht ausführen oder noch von selbst erklären“, prophezeit er und gar bestätigen. Weil ja nichts schlimmer ist will es dabei belassen. Das Gute daran: Ja, als Selbsterklärung. Panik funktionieren trotz aller eventuellen

Text — F a B I a n S o e T H o F, Fotos — T a n J a p I p p I

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krISToF SCHreUF

einige brechen sich einen ab Andere brechen sich zwei ab Und es ist Dein gutes recht Dir drei zu nehmen Wenn Du soviel hast Freund, Feind und guter Schlechter Wo du herkommst, werde ich älter Du bist der Schluss aus basta Das liegt daran, dass ich betrunken bin oder habe ich schon einen Schädel?

THE DOPE Into The Woods

(can029 | LP+CD / CD) _______________________________________________ Das as Duo THE DOPE aus der bayrischen Provinz produziert ungestüme Krachmusik in der Tradition von Bands wie MODEST MOUSE oder FLAMING LIPS. Klingt frech - und überzeugt auf ganzer Linie. LP mit Siebdruck, Stanzung, Offsetbildchen und CD - CD only im Digikarton! www.thedope.de // www.myspace.com/thedopemusik LIVE: 01.03. KÖLN underground // 02.03. LANDSHUT rocket club // 03.03. REGENSBURG w1 // 04.03. FRANKFURT yellowstage // 16.04. ERLANGEN e-werk // 06.05 KASSEL unten // 07.05. MÜNCHEN feierwerk // ...

Weißt du es, mein lockerhocker Mein Alligator für später? ich nenne dich Schluss, aber wo du auftauchst nennst Du mich den Akzeptator und dich realitäter Das ist ein schlimmer begriff der hört auf dich und um ihn zu verstehen, bräuchte ich ein richtiges leben ohne Väter (erst wenn es nur noch beschissen ist wird Anti Gone gehen, um sicher zu gehen dass es auf jeden Fall am schönsten war)

CANDELILLA

reasonreasonreasonreason (can022 | CD) _______________________________________________

„Der Sound von Candelilla liegt irgendwo zwischen den Dresden Dolls, den Pixies und Sonic Youth, von denen sie die Vorliebe für die grungigen Gitarren und die Experimentierfreude adaptiert haben. Dazu kommt ein Hauch Avantgarde und eine gewisse Eigensinnigkeit – voilà Candelilla.“ CD only im Siebdruck-Digikarton! www.candelilla.de // candelilla.bandcamp.com LIVE: 16.03. NÜRNBERG musikzentrale // 12.04. MÜNCHEN glockenbachwerkstatt // 01.05. MÜNCHEN straßenfest // 07.05. AT-KREMS donaufestival // 02.06. BERLIN schokoladen // 16.07. AT-WIEN badeschiff // ...

Danke an lena Meyer-landruth

Grus antigone

Grus antigone

ANGELA AUX whatever you guess it‘s not

(can032 | CD) _______________________________________________

Heiner Hendrix aka ANGELA AUX von L‘EGOJAZZ mit seinem Soloalbum, eine weirde Mischung aus Kraut, Neo-Folk, Hip-Hop und Indietronic. Ein herbstliches Winteralbum für Frühlingsgefühle - whatever you guess ... Mit den Gastmusikern JOASIHNO und THE MARBLE MAN. CD only im Siebdruck-Faltkarton! soundcloud.com/heiner-hendrix LIVE: 12.04. MÜNCHEN rationaltheater // 14.04. BERLIN schokoladen (+JOASIHNO) // 16.04. MAGDEBURG riff (+JOASIHNO) // 24.04. MÜNCHEN gasteig // ...

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MUSIk

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Wenn eS aM aUFHören, SCHönSTen IST FInn.

Finn

paTrICk ZIMMer macht Schluss. Mit Gesichtern auf pappcovern, mit dem Jungsdasein und mit finn. Ganz schön viel Überraschung auf einmal an einem so medienwirksamen (Hochzeits-)Tag … Text — B a r B a r a S C H U L Z , Foto — T o r S T e n L a n G e & J o H a n n e S a S S I G

P

atrick Zimmer alias finn. beschenkt uns mittlerweile seit einer Dekade mit seinen gezeichneten Schwarz-Weiß-Porträts auf Pappcovern, die oftmals zarte Songs bergen, die mal sparsam in Singer-Songwriter-Manier, mal opulent orchestriert daherkommen (so zuletzt auf „The best low-Priced heartbreakers you can own“ aus 2008). über allem schwebt seine entrückt klingende Kopfstimme, manchmal untermalt von der tieferen Sprechstimme. Das zufällig am Tag der hochzeit von Prinz William und Kate erscheinende vierte Album überrascht: Auf dem Plattencover sind Umrisse des bekannten finn.-Motivs zu sehen, ein Gesicht fehlt jedoch. nanu? „ich finde es gut, mit finn. aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Das bin ich nicht mehr“, sagt Patrick Zimmer lächelnd. Seine letzte Platte als finn. ist eine Sammlung von coverversionen, deren Zusammenstellung bunt ist: Da tummelt sich u. a. Tina Turners „Private Dancer“ (übrigens von Dire Straits’ Mark Knopfler geschrieben!) als folkige Midtemponummer neben finns. interpretation des 80er-Jahre-heulers „Dancing With Tears in My eyes“ von Ultravox – ohne deren bombast ist das ein entzückender Song, den finn. beschwingt interpretiert. Sehr schön auch das Duett „ne dis rien“, im original von Serge Gainsbourg und Anna Karina, das finn. liebevoll mit seiner guten Freundin Milli Schmidt covert.

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übrigens hat finn. bereits 2007 auf der 7“ „Moonriver/Tiny Dancer“ sein Talent als cover-Künstler bewiesen. Warum aber nun eine ganze Platte? „Jeder leser interpretiert eine Geschichte anders; genau so bin ich an die originale herangegangen. ein lied zu hören,

„ein Lied zu hören, es sich durch Covern aneignen, das ist, als wenn man jemanden zum ersten Mal sieht, toll findet und kennenlernen möchte!“ es sich durch covern aneignen, das ist, als wenn man jemanden zum ersten Mal sieht, toll findet und kennenlernen möchte!“ entgegen der landläufigen Meinung, dass es leichter sei, eine Platte mit coverversionen zu machen, fand er es anstrengender als ein eigenes Album. es brauchte zweieinhalb Jahre Tüftelei – und manche coverversion schaffte es nicht auf die Platte, wie z. b. die von elvis’ Klassiker „can’t help Falling in love“, aus dem Zimmer eine sehr sensible Fassung strickte. „Wenn man hierarchien

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und respekt ausblendet, geht das. ich bin sowieso der Meinung, dass tote interpreten etwas Unangreifbares haben, etwas Stolzes.“ Man denke nur an Johnny cash, aus dessen Archiven man regelmäßig mit „neuen“ liedern beliefert werde. letzteren hört Patrick Zimmer in letzter Zeit genauso gern wie leonard cohen. „Früher war ich von Sigur rós und radiohead beeinflusst, da war ich ein erwachsen werdender Junge auf der Suche. ich bin mittlerweile bei mir selbst angekommen – und humorvoller geworden. ich finde es auch spannend, älter zu werden.“ Für die erste Single hat Patrick Zimmer übrigens Tocotronics Dirk von lowtzow eingeladen, um mit ihm die Aha-Schmonzette „crying in The rain“ (im original von den everly brothers) zu raunen. Selten haben sich zwei männliche Stimmen so stimmungsvoll umgarnt wie hier (ein Video folgt). Was kommt nach finn.? „ich werde Platten unter meinem richtigen namen Patrick Siegfried Zimmer aufnehmen. es wird viel folkiger werden. Wahrscheinlich werde ich mit Tobias levin zusammenarbeiten.“ Man darf gespannt sein! finn. — „I Wish I Was Someone else“ (Sunday Service/Indigo, Vö 29.04.11)


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JaSon ForreST aka DJ Donna Summer, Wahlberliner und Hans Dampf in allen Gassen, hat ein neues album aufgenommen. Doch Forrest wäre nicht Forrest, hätte er nicht auch noch gleichzeitig ein Internet-TV-network ins Leben gerufen und noch zwei, drei andere Süppchen am köcheln …

Melanie bonajo, Hanna aus der Serie „Furniture bondage“, 2009

aLLeS JaSon eInSaUGen, eInpaCken, ForreST MITneHMen Text — a L e k Z I V a n o V I C

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lles einsaugen, einpacken, auf den rücken schnallen, mitnehmen, alles. Dann gelegentlich auspacken, auch mal in die Tonne schmeißen, wieder rausnehmen, neu zusammenstellen. Das ist nicht nur ein musikalisches organisationsprinzip, sondern eine lebenseinstellung, mit der Jason Forrest seit Jahren mehr als vertraut ist. Und er wird immer besser darin. Mit „The everything“ hat der Sample-Trickster sein bisher „introvertiertestes Album“ aufgenommen, sagt er, ohne Feuerwerk, „ohne große explosionen“.

Anders als bei seinen vielgelobten Vorgängeralben steht hier die Technik des Samplens nicht mehr so prominent im Vordergrund, wiewohl natürlich auch hier wieder alles zusammenklabautert ist aus Progrock, club-Music, Disco, rockabilly, Morricone-Sounds und vielem mehr. Aber das „Sportive“ ist weg: Die referenzsuche, die sich im ohr des hörers wie von selbst entspann, diese Art „Zuhörersport“ für eingeweihte, immer auf der Suche nach den geheimen Quellen, die Forrest benutzen würde, ist dem reinen musikalischem erlebnis gewichen. es geht nicht mehr um bloße Samples, zitierte Klangabfolgen, die kleineren bausteine, es geht um Struktur und Grammatik, um den größeren Zusammenhang: Gitarrenlicks werden kurz angespielt, aufgedröselt, in Kleinstbestandteile zerlegt, neu errichtet, gepitcht, gefiltert. beats, mal schneller, mal langsamer, lösen sich auf, sind plötzlich wieder da, treiben an. eine neue, intuitive Musiksprache ent-

steht. Dass auf dieser reise die referenz fast vollständig verloren geht, geschenkt. hierin liegt die Qualität dieser Musik: es ist Sample-basierte laptop-Musik, die sich dem wiederkehrenden loop-Wahnsinn entgegenstellt. Track vs. Song? eine Frage, die Forrest nicht interessiert. Für die Dissonanzbefürworter-Fraktion, die Avantgarde-Musikliebhaber kommt Jason Forrests Musik vermutlich zu optimistisch daher: „Da ist noch zu viel Struktur hörbar“ oder: „Zu dieser Musik kann man sich doch wohl noch bewegen“, so könnten die Urteile lauten; Musik also, gemacht von einem Schaf im Wolfspelz? Für die Party-breakcore-hörerschaft ist seine Musik nun vielleicht zu eigenwillig, zu introvertiert, zu „noisy“ und „arty“; eine Musik, die Mainstream-Popstrukturen zu wenig in den Vordergrund stellt, obwohl sie es doch durchaus könnte. Also: Musik, gemacht von einem Wolf im Schafspelz? Auch das ist eben Jason Forrest: Schwer einzuordnen. er entwickelt seine Musik ständig weiter. Seine Musik ist unverkennbar neu, unverkennbar komplex, aber dabei zugleich so greifbar und klipp und klar, eben „everything“. Das wiederum hat auch etwas beängstigendes. Was macht man eigentlich, wenn man „The everything“ zu ende gemacht hat, was kommt nach der Gesamtheit aller Dinge? „nichts, dann geht es weiter, es gibt immer etwas zu tun“, sagt Forrest und lacht (das tut er oft).

Und als gäbe es nicht schon genug zu tun als Musiker, labelbetreiber, Party-reihenorganisator und (überhaupt!) Vater, Jason Forrest – der „breakcore-Gott“ (Jens balzer, berliner Zeitung) – ist nun auch im internetTV-Geschäft unterwegs: Als Programm-Direktor von neTWorK AWeSoMe ( www.networkawesome.com). hier kann man sich nicht nur im Archiv Serien aus der Vergangenheit anschauen (z. b. die alten Twighlight-Zone-Folgen), ausgewählte Talkshows aus den 60er-, 70er-, und 80er-Jahren (mit Groucho Marx, hugh heffner, John cage etc.), live-Musik-Shows (von verschiedenen Künstlern kuratiert) und Film-Klassiker wie z. b. „Zabriskie Point“, sondern hier wird auch täglich neues Programm zusammengestellt. Da kann man sich dann schon mal fragen: Was ist da in den Sample-Zauberer Jason Forrest gefahren, von welchem Snippet ist der denn gebissen worden? Aber so verschieden diese beiden Formate – Musik und TV – auch zu sein scheinen, die Art und Weise, wie Jason Forrest seine beiden neuschöpfungen network Awesome und sein Album „The everything“ in Sachen Produktionsstrategie handhabt, ist identisch: er baut eine spannende neue Welt aus altem Material. hört sich sehr einfach an, doch der Weg dahin ist lang und verschlungen. Jason Forrest – „The everything“ (staatsakt/rTD) Im april auf Tour mit Bonaparte

Foto — M e L a n I e B o n a J o

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aBoSeITe

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BoDI BILL

körper-kLaUS Willkommen zu einer weiteren episode im Spiel der nach-ironischen Formkuppler BoDI BILL.

b

erlin, Köpenicker Straße. leerstelle zwischen Tresor und Punk-bastion Köpi. hier also entsteht dieser Sound, der Spuren verwischt, über dessen Ursprünge nur spekuliert werden kann. Aufgelöst das Muster aus waschechter intuition und Umsetzung, einspielen und Programmieren, Distanziertheit und Gefühl. Seit drei Alben legieren bodi bill verschiedene Stil- und Kompositionspraktiken miteinander, begreifen sich weiterhin konsequent als „band“ und haben doch mit gebräuchlichen Vorstellungen dieser Verfasstheit wenig gemein.

Denn von Songwriting, Verarbeiten, Sichöffnen, von klassischer rollenaufteilung oder davon, aus dem nichts etwas zu erschaffen, wird bei Fabian Fenk, Alex Ammon und Anton Feist nicht schwadroniert. in dem bewusstsein, das eigene aus der Summe

verfügbarer inspirationsquellen abzuleiten, spricht Fenk vom recht auf Musik wie von einem Gemeinplatz. Die handhabe über das Material? eine Selbstverständlichkeit, dass nicht probiert wird, etwas „Künstliches“ mit dem „handgemachten“ zu verbinden. Diese Unterscheidungen sind schlicht obsolet: „ob du später auf einem Keyboard oder einer Gitarre rumdrückst, ist egal, es landet im rech-

bodi bill gegen die beherrschtheit, die teilweise nüchtern wirkende Abgeklärtheit der Songs ausgespielt. Was das resultat ist? Welches lebensgefühl grundsätzlich dahintersteckt?

Der neUe MaGMa DIGI TroLLeY – Le BpITCH ConTroL eDITIon Weil Platten so wichtig und schwer sind, gibt es Magma. Weil die Berliner BPitch-Cont BPitch-ContProdurol-Gründerin Ellen Allien nicht nur Produ zentin, sondern auch Modedesignerin ist, sieht dieser DJ-Trolley so gut aus. Er ist in den meisten Airlines als Handgepäck zugelassen, sein Innenraum lässt sich individuell für Laptops, CDs, Platten oder wasauchimmer anpassen. Gewinnen Sie bitte jetzt!

Von Sinnbusrecords ist im Verlauf des Gesprächs die rede. Jener kollektiv verfassten berliner instanz, die sich in den vergangenen Jahren wie kaum ein anderes label hierzulande um die Veröffentlichung von Postrockund lo-Fi-elektronika-Gebilden verdient gemacht hat. ein charmantes Sammelsurium aus linken Studienabbrechern, Künstlertypen und durchtrainierten Fahrradfreaks, dessen Sicht auf die Dinge man teilt: „Sinnbus ist nicht nur unser label, es ist auch das

IS BaCk In ToWn ner und du arbeitest damit.“ Modelliert wird spontan aus allen greifbaren instrumenten, was zwischen elektronika und Folk changiert; seit ihren Anfängen im Jahre 2006 in eindeutig identifizierbarer Soundwelt und ästhetik. Der eindruck liegt nahe, dass konzeptionell aufs Ganze geblickt wird. Tatsächlich treten bodi bill als vielschichtig durchmessener entwurf in erscheinung. in seinem sonnendurchfluteten büro arbeitet der studierte Grafikdesigner Fenk momentan an der Gestaltung von cover und Visuals. Die eigens geschneiderten bühnenkostüme sind bunt, schrill, unironisch, die ganze inszenierung lebt von Kontrapunkten. Das Grelle, Ungehaltene des Auftretens, die Pose wird von

Und das geht so: Abonnentinnen nnen schreiben einfach eine email an insendeschluß ist der abo@opak-magazin.de (betreff: Trolley). einsendeschluß Montag, 02.05.11. Die Gewinner werden per email mail benachrichtigt.

Umfeld, in dem wir uns bewegen“, so Fenk. „Mit ,What?‘ hat sich gezeigt, dass wir auf künstlerischer ebene ausgezeichnet zusammenarbeiten können“.

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Fenk gießt einen weiteren Tee ein, wird langsam ungeduldig. bodi bill müssen proben, haben sich für die anstehende Tour einiges vorgenommen. „bei uns ist es nicht so 1:1 und dann schnipp, schnipp und press play.“ Die Songs müssen für die live-Situation aufbereitet werden. Sequenzen werden verlängert, gekürzt, bearbeitet. Je nachdem, was auf der bühne funktioniert. Unnötig zu betonen, dass man es sich nicht entgehen lassen sollte, wenn „What?“ – bodi bills bislang bestes Album – aufgeführt wird.

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Gaspar Noé, Enter The Void, Collector’s Edition (Capelight)

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ein biTTerZUcKerb채cKer

FILM

54 55 ein biTTerZUcKerb채cKer

FILM


FILM

oh je. Au weia. Jessas, Jessas, Jeremias.

Text — D I e T M a r D a T H

Vielerorts werden seine Filme gelobt und seinen Fähigkeiten als regisseur gehuldigt. Zeit für eine Gegenstimme: Dietmar Dath über Darren aronoFSkYS scheußlichen Chic

ZUCkerBäCker Illustration — S a r a H H a U G 1. WAS MAn DA Sehen UnD hÖren Soll Das angemaßte Wissen des weltlichen Kabbalisten blutet schwarz, den bildern um ihn steht offenbar kein bisschen Farbe zu. in achtzig Minuten Kultstreifen, das Zeug heißt „Pi“ (am besten als Symbol geschrieben, macht mehr her) wird mitgeteilt, dass es den Menschen grundsätzlich nichts hilft, herausfinden zu wollen, welche geheimen Größen schweigend von innen her den Kosmos regeln. Farbe blutet ins Geschehen; es handelt sich um Drogenschleier, in deren bläulich-pelziger Mitte das schöne Gesicht von Jennifer connelly bleichwangig neben der verschwitzten rübe ihres co-Darstellers von liebe faselt und davon, wie es ist, ein Mensch zu sein. ihr Pulli hat löcher unter den Achseln; in diesen löchern brummelt der Tod. Der rahmen wechselt. Jetzt glänzt hugh Jackmans stumpfe Glatze, er wohnt in windigen Spezialeffekten, die seifenblasenschmierig durch den Kosmos schweben, worinnen überdies ein baum zu finden ist, der abblättert, als wäre er aus altem Drehbuchmehl, das ein verantwortungsvergessener Träumer (Michael ende? André breton? Zirkus roncalli?) nicht genug mit eigelb angereichert, geschweige durchgeknetet hat. Auf einer davon ganz verschiedenen zweiten handlungsebene schmachtet ein weiterer hugh Jackman, diesmal als biodoktor aus der Schwarzwaldklinik, trotzig an seiner blass verdämmernden Geliebten rum, die von rachel Weisz slightly uncomfortable ge-

spielt wird und dabei wahrscheinlich nach Tee, Zahnfleischentzündung sowie falscher hoffnung riecht. Kunstwille kennt kein erbarmen: eine dritte Geschichte wird nunmehr hineingeflochten; diese aber handelt von den grotesk ameisig in sich selbst eingepanzerten Körpern blutrünstiger, gesichtsloser, massenhaft wimmelwütender indios, die den unvermeidlichen Jackman, der abwechslungshalber einen regenfeuchten bart spazieren führt, zunächst zu überwältigen drohen, dann aber freigeben, damit der unheilvolle Mann von unrechtmäßig errafftem heilkraut aus dem doofen baum von vorhin bei lebendigem leib samt viel computergeneriertem raschelzittern zugewuchert wird. leicht angewidert wechselt man den Film, dazu das Thema. Diesmal steht Mickey rourke, keiner erbarmt sich seiner, in einem Schicksal ohne Glück und Güte, na ja, nicht restlos ohne, aber was ihm Schönes zustößt, ist unhaltbar und nicht treu. Sein Körper schwankt als schwer gefoltertes laugenbrötchen; bronzene, brütende, brackige Farbtöne herrschen vor, von Ferne schimmert Gold, es soll betrug sein. Wem auch das nicht reicht, der muss natalie Portman zusehen, wie sie mit ihrer lust kämpft, voll Fiebergier auf irgendwas, vielleicht das böse, jedenfalls tanzt sie, aber nicht vor Freude, sondern weil schöne

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Was hat Darren aronofsky bloß, dieser besessene regiekünstler,

der all den schwerblütigen nebel verantwortet,

Wie voller Menschenhass das alles ist, diese arme Arschparade abgestürzter, schwer geprüfter, vage weltberühmter, immer fast gebrochener und dann doch weiterwurstelnder Gestalten, über die es im hause Aronofsky nie etwas anderes zu erzählen gibt als dass sie halt nicht schaffen, was sie wollen, und dass dieses Wollen selbst sich außerdem auf etwas richtet (Unsterblichkeit, den tieferen Sinn der geheimnisvollen Zahl Pi, erfolg bei Sport und Kunstgymnastik, das wilde Wuscheln aus dem Unterleib), das sowieso Zeitverschwendung ist und obendrein Sünde. Schrecklich. Was hat Darren Aronofsky bloß, dieser besessene regiekünstler, der all den schwerblütigen nebel verantwortet, lacht dieser Typ denn nie? Wer hat ihm wehgetan? braucht er Zuwendung, Kaugummi, viel Geld? Warum sagt sein Zeug andauernd solche fiesen Sachen? Will er das Publikum bestrafen, sich, seine eltern, den herrn der Welt, die Zeit im Kino, oder, am allerallerhöchstwahrscheinlichsten, vielleicht dann doch sogar explizit mich, den blöden Kritiker, direkt und ganz persönlich? nichts wirft ihn aus der bahn der mühseligen Widerwärtigkeiten, nicht einmal die Verlockung, sich ein paar unverhässlichte Minuten lang am Wetterleuchten zweifellos vorhandener eigener begabung zu erfreuen. Greulich will er sein; greulich ist er. Am Anfang dachte ich, da macht halt einer, so viel er kann, um so schnell wie möglich sein eigener David lynch zu werden: „Pi“ sollte wohl aussehen und verstören wie der elefantenmenschfilm oder auch „eraserhead“; der logische (nicht der chronologische: Da wird bei lynch privat meditiert, um zu Kräften zu kommen, während Aronofsky sich in „requiem For A Dream“, einem kleinen öffentlichen Drogendelir mit Miss connelly, die Füße vertritt) nächste Schritt nach so einer unzugänglichen, von Faszinationsverlockung wie von Stacheldraht umwickelten Frühphase ist natürlich ein größenwahnsinniges Science-fiction-Projekt, bei lynch war’s „Dune“, bei Aronofsky „The Fountain“; dann musste, der Abwechslung halber, eine Geschichte über Verlust und Männernöte her, bei lynch „The Straight Story“, bei Aronofsky „The Wrestler“. Aber diese Gleichung geht nicht auf, denn lynch ist (vielleicht nicht oft mit Absicht, aber doch immer wieder mal) lustig, wenn er, von bohrendem eigensinn bezaubert, in seinen abstrusen obskuritäten wühlt; Aronofsky hingegen bleibt die ganze Zeit ernst, ernst, fürchterlich ernst – so blutig ernst, als würde er den ganzen Tag auf etwas bitterem herumkauen, für das es kein Wort in menschlicher Sprache gibt.

oh Je. AU WeiA. JeSSAS, JeSSAS, JereMiAS.

eIn BITTer-

FILM bilder mit scharfen Konturen ihre beine packen wollen und sie denen auszuweichen sucht, während gemeinstes licht ihr in ihre Augen piekst, da sie ein ganz und gar zwiespältiges Wesen ist. Menschsein bedeutet Schmerz und Sehnsucht zwickt das kranke Gotteskind im hübschen Kopf.

lacht dieser Typ denn nie? Wer hat ihm wehgetan? Braucht er Zuwendung, kaugummi, viel Geld? 57


FILM entsetzlich. 2. WArUM ich DAS Ablehne Gleich zu beginn seines besten Films (handwerklich gewissenhaft zusammengesteckt und ausgefräst sind seine Werke ja alle; nicht selten sogar liebevoll nachpoliert, auf jeden Fall höchst hübsch), „The Wrestler“, unterläuft Aronofsky eine Geschmacksunsicherheit, in der sich alles zur Anschauung bringt, was mir an ihm zuwider ist – denn darum geht es hier: ich erkläre einen Widerwillen, und zwar unterziehe ich mich dieser fürs Publikum ja vielleicht auch nicht ganz angenehmen, mich nicht gerade als sympathischen onkel malenden übung nicht so sehr aus dem Grunde, dass ich etwa wünschte, man übernähme diesen Widerwillen, wie er eben ist, als vielmehr deshalb, weil heutzutage leider sehr viele Texte über Filme, bücher oder Platten so funktionieren, dass die leute, die sie schreiben, darin ihre Freude am betreffenden Zeug, oder ihre Abneigung dagegen, erläuterungsfrei in die landschaft setzen, höchstens noch ein bisschen feiern, selten aber die Gelegenheit wahrnehmen, durch genauere erkundung der beschaffenheit (also nicht unbedingt der berechtigung; die in aestheticis ja sehr schwierig tautologiefrei darzutun ist) ihrer empfindungen dem Publikum die chance zu geben, etwas über die Wirkweise der betreffenden Arbeiten zu erfahren, das nicht bloß auf ein blankes Urteil hinausläuft, sondern eine erkundung lebenswichtiger Ungenauigkeiten. Ausführlicher werden höchstens die feurig liebenden manchmal; ich finde aber, dass auch Abneigungen verdient hätten, präzise entfaltet zu werden. „The Wrestler“ also: Der Film fängt an mit einer geruhsamen, kontrollierten Kamerafahrt über Flyer, Plakate, Zeitungsausschnitte hin, die den von rourke gespielten Titelhelden im Glanze seines ruhms darstellen; dann wird das bild kurz schwarz, im nächsten Moment sieht man rourke ausgewrungen und von hinten auf einem schäbigen Stuhl sitzen – in der linken unteren bildecke indes erfährt man, dass wir jetzt „20 years later“ sind. nicht nur das Pädagogische (vielleicht wäre man ja gern selber darauf gekommen, dass hier Zeit vergangen ist zwischen dem Karrierehöhepunkt und dem Jammerzustand; vielleicht hätte man auch einfach rourkes großer Schauspielerei und sehr aussagekräftiger Körperhaltung zutrauen können, die botschaft zu transportieren) stößt mich ab an dieser narrativen Krücke, sondern vor allem die Tatsache, dass die Druckerzeugnisse, die da anfangs abgefilmt werden, ja gar kein ereignis, gar kein gespielter, erzählter Prolog sind, sondern Dokumente, also etwas, das JeTZT genau so ist wie DAMAlS, dass man sie also jederzeit filmen kann und ihre betrachtung einen deshalb nichT in eine Zeit „20 years earlier“ versetzen kann.

rourkes Figur kann sie sich genauso gut vor drei Minuten angeguckt haben – eine solche direkte, gegenwärtige Gegenüberstellung ist ja, was der Film liefert, also keine Ausmessung eines wie auch immer gearteten zeitlichen Abstands. Der regisseur jedoch, das zeigt der winzige Widersinn, interessiert sich gar nicht dafür, was an seinem

Greulich will er sein; greulich ist er. aronofskys erbarmen für seine Figuren ist zutiefst herablassend; er steht draußen im Trocknen und guckt rein, wie sie ersaufen.

Plot Geschichte hat, einen Verlauf darstellt, eine reise, eine entwicklung, sondern er liefert ein Tableau, das eine solche entwicklung einfach brüsk behAUPTeT – und das, brüsk etwas behaupten, tut er dauernd, darin ist er groß, das frisst und saugt alle anderen Momente seiner Filme auf, die dynamischen, topischen, libidinösen, sozialen – selbst die Musik, bevorzugt von seinem Spezi clint Mansell verantwortet, tritt, sich selbst behauptend, ständig auf der Stelle, macht nie bewegung, allenfalls ansatzweise histrionische Stimmung, pulst höchstens mal ein bisschen, dann aber versackt, verblödet, ohne Außen, ohne Zugzwang hin zum andern, das sie nicht ist. Die Welten, in denen Aronofsky sich umtut, haben ein Auffälliges gemeinsam, das zu dieser Starre, Schwere, diesem trägen ernst nur allzu gut passt: Sie sind sämtlich von erlesenster Ausgedachtheit und Unwirklich-

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keit, immer arrangiert, gepinselt – die verabredeten choreografien von ringkämpfern in überlebensgroßen helden- oder Schurkenverkleidungen; die gesundheitsschädigende Disziplin der Porzellanpuppen in der Tanztheaterkulisse oder der Sexarbeiterinnen im Strip-club; die Weggetretenheit von Pillen und Pulvern; die ferne Zukunft im Weltraum; die kühlen Konstruktionen der Mathematik und die wahnhaften der Zahlenmystik. An und für sich müsste mir das gefallen, mag ich doch Fantastik, das heißt die künstlerische Arbeit mit dem Unwirklichen, nichtvorhandenen. Dass aber die Welten, die er zeigt, nicht wahr sind, vergisst man bei Aronofsky nie: Was er zeigt, ist die Verzweiflung, Jämmerlichkeit, die mitleiderregende Tortur von Menschen, die in solchen ausgedachten Welten feststecken und nichts anderes können als daran glauben, die wären wahr. Aronofskys erbarmen für seine Figuren ist zutiefst herablassend; er steht draußen im Trocknen und guckt rein, wie sie ersaufen. ruth hatlapa hat für Konstruktionen, die nicht auf jene suspension of disbelief zielen,

die Fantastik sonst erreichen will, sondern aus dem Unglauben respekt vor ihrer Gelungenheit AlS UnWAhrheiTen beziehen wollen, den schönen begriff „Antifantastik“ erfunden. So etwas ähnliches wie das, was Antifantastik mit Fantastik anstellt, macht Aronofsky mit dem leiden der leute, die er in jedem Sinne des Wortes vorführt. eskapismus, so infantil der oft ist, wäre mir lieber: er hielte wenigstens den Gedanken wach, dass man aus schlechten wirklichen und ausgedachten Welten manchmal rauskommt. Das filmische Werk von Darren Aronofsky zeigt, was vom hartnäckigen Misstrauen der religionen gegen die Wirklichkeit übrig bleibt, wenn aller darin eingebetteter Glaube an erlösung zu Kunst verdampft ist: edelgruselgrießbrei. Man nenne es Geschmackssache, aber mir schmeckt so was nicht. Wer weiß, vielleicht bin ich damit ja nicht ganz alleine.

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VIeLen Dank FÜr DIe BLÜMeranZ nagel über brot statt bürger

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er bioladen im Karstadt am hermannplatz war, was brot und Gemüse anging, genauso leer geplündert wie der lebensmittelmarkt nebenan. Welcher idiot geht auch am 31.12. um 15 Uhr noch einkaufen, dachte ich, um mir sogleich die Antwort zu geben: Ja ich halt. ich und eine Million andere idioten, die sich gegenseitig die letzten Salatblätter vor der nase wegschnappend durch die Gänge schoben, vor den Kassen stauten und gereizt Sätze wie „Martin, ich steh hier schon in der Schlange … Ja? … nA DAnn Geh Doch SelbST loS, DU ArSchloch!!!“ in ihre Smartphones brüllten. ich war ja auch genervt, wollte das angesichts dieses Spektakels aber keinesfalls zeigen – man will ja nichts weniger, als zu sein wie die anderen, die, wie ein existenzialistischer Franzose einmal anmerkte, bekanntlich die hölle sind. „Das bestellte brot abholen?“, fragte die bioladenfachverkäuferin den großen Mann, der nach mir den laden betreten hatte. Ach, so war das, man bestellte brot zu Silvester vor, nicht dumm! Voller bewunderung starrte ich den Feiertagsprofi an, und da fiel mir auf, dass ich den ja kannte. ich wusste nur nicht, woher, und, noch wichtiger: wie gut. Wie immer in solchen Situationen kramte ich mein handy hervor, um den empfang einer SMS vorzutäuschen. Das Mobiltelefon, das perfekte Ablenkungsmanöver für den zwischenmenschlichen Autisten von heute. Der große Mann beachtete mich allerdings gar nicht. Als ich seinen langen haaren und der speckigen lederjacke nachsah, die so alt war, dass sie bestimmt bald wieder in Mode kam, fiel es mir plötzlich ein: es war der Typ, der mich fast täglich vorm Karstadt anschnorrte. „ein paar cent“ oder „Vielleicht ’ne Kippe?“, das waren seine üblichen Sätze. einer von denen, die sich nicht mal die Mühe machten, eine Motz oder einen Straßenfeger als Alibi in die luft zu halten. ein bettler der alten Schule, hundeblick und Pappbecher reichten ihm als Werkzeuge seiner Profession, und sein fester Arbeitsplatz war ebendieser Karstadt, das KaDeWe neuköllns, Ausgang hasenheide. einen kurzen Augenblick musste ich über diesen clochard mit den Shopping-Skills schmunzeln. Doch dann packte mich sogleich die Angst, dass einer der sogenannten Wutbürger den skandalösen Vorfall beobachtet hatte. ich empfinde die soziale Stimmung in diesem land als bedrückend. über leistungsverweigerer und Sozialschmarotzer wird immer offener und mit unverhohlener Aggression geschimpft. Zyniker aus Parteien, Verbänden und redaktionsräumen plaudern dem dummen Volk unge-

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niert nach dem Mund und liefern ihm gleichzeitig nicht nur neue Stichworte, sondern auch die bestätigung, mit ihren Antipathien nicht allein, ja, sogar im recht zu sein. Sie sonnen sich im Applaus geifernder „Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen“-bürger, die sich innerhalb kürzester Zeit in einen wütenden hassmob verwandeln können, wenn ihnen nur die richtigen Köder hingelegt werden. ein bettler jedenfalls, der sich im bioladen brot vorbestellt, ist manch kleinem Mann sicher Anlass genug, im Stillen nach hartz-4Sperre und Arbeitslager zu rufen. Wenn das gesellschaftliche Klima ihm erlaubt, das auch laut zu äußern, werden sich andere ermutigt anschließen. ich halte mich für einen recht furchtlosen Menschen, aber der Mob, der Mob macht mir Angst. er muss gebändigt und in Schach gehalten werden. es ist besser, wenn er apathisch und stumpf bleibt. ich möchte nicht, dass der Mob sagt, was er denkt, denn was er denkt, ist meistens falsch. ohne den eindruck eines Demokratiefeindes erwecken zu wollen, finde ich für diese These allerorten bestätigung. leserbriefe, Kommentarspalten oder die jüngsten plebiszitären entgleisungen der Schweizer eidgenossen zeigen, dass der Mob selten Gutes im Schilde führt. er verlangt einfache lösungen und kurzen Prozess. Der Mob ist nicht mitfühlend und aufgeklärt, sondern dumm und gefährlich. Man kann ihm gegenüber gar nicht vorsichtig genug sein. ebenso viel Angst habe ich, mich dem Mob partiell anzunähern, ohne es zu merken. Wer hat in jüngster Zeit nicht mal einen Gedanken in sich poltern hören wie: „bitte, ihr halbstarken mit Migrations- oder Unterschichtenhintergrund, reißt euch zusammen, die Stimmung gerade ist explosiv, die rufe nach law and order werden lauter, beim nächsten zusammengeschlagenen rentner fliegt uns alles um die ohren, also benehmt euch gefälligst!“ Aber ist diese Denkweise nicht selbst schon reaktionär? Darüber dachte ich nach, als ich gemüse- und brotlos mit meinem Substitutseinkauf (Tofu, sämtliche Geschmacksrichtungen) an der Kassenschlange stand. Darüber und über die Frage, ob ich heute Abend wirklich Tofu mit Tofu essen wollte. Der große langhaarige Mann verließ derweil mit zwei olivenbaguettes unter dem Arm schnellen Schrittes und heiter pfeifend den bioladen. Wahrscheinlich musste er bis 16 Uhr noch zum Fleischer, um die georderten Kobe-Steaks abzuholen. Fair enough, sagt der engländer.


FILM

FILM

DIe reVoLUTIon FInDeT WoanDerS STaTT Text — G a B r I e L e S C H o L Z , Foto — J a n - e I k e M I C H a e L I S

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m Vorfeld und während der diesjährigen berlinale ereilte mich wiederholt das Gefühl, es gäbe womöglich Wichtigeres als Film. „Das möchte ich sehen“, entgegnete mir Jan-eike Michaelis vom oPAK, „und zwar auf einer leinwand. Auf einer leinwand!“ Tunesien revoltierte, die ägypter stießen Mubarak vom Thron und ich saß im Kinoknast fest und schaute mir viel zu viele lauwarme, entweder gänzlich unpolitische oder sich auf weit zurückliegende politische ereignisse beziehende Filme an. Das galt in erster linie für den Wettbewerb, aber auch im traditionell unkonventionelleren, kritischeren Forum-Programm wurde ich wiederholt von flauen, sich dem Mainstream anbiedernden Produktionen enttäuscht. Fangen wir also mit dem Schlimmsten an, was das diesjährige Forum-Programm zu bieten hatte: Anne Villacèques ärgerliche Sexkomödie „e-love“. bezeichnenderweise flieht die hauptdarstellerin nach einer glücklosen odyssee durch die betten ihrer diversen bösen internetbekanntschaften (und ja, sie tat es nur, weil ihr ehemann sie wegen einer Jüngeren verlassen hatte) ins Kino, um sich einen Truffaut-Film anzuschauen. Das Kino als Zuflucht vor der realität – statt der Mittelmäßigkeit der Welt im Allgemeinen und der Filmindustrie im besonderen ästhetisch und auch politisch etwas entgegenzuhalten? Was hat sich Sektionsleiter christoph Terhechte nur dabei gedacht? Soll das Forum jetzt etwa auch als Sprungbrett für die faden Wettbewerbs-Teilnehmer von morgen herhalten? Fast in die gleiche Kerbe schlägt der Film „Auf der Suche“ von Jan Krüger mit corinna harfouch in einer der hauptrollen. Sie spielt eine Mutter, die sich gemeinsam mit dem ex-Freund ihres Sohnes in Marseille auf die titelgebende Suche nach dem seit Kurzem Verschollenen macht – wobei sich herausstellt, dass sie von ihrem Simon noch weniger wusste, als sie ohnehin schon annahm. ein unter dem Strich recht konventioneller Film, der womöglich in einem Jahr um 22 Uhr in der ArD läuft, wenn man vorher vielleicht noch die ein oder andere der offensichtlichen Vorliebe des regisseurs für Traumboys geschuldeten Duschszene herausschneiden würde. Die ArD schließlich gibt es rundheraus zu, dass sie die Grenzen zwischen Kino und Fernsehen aufweichen möchte – und präsentierte das Fernsehprojekt „Dreileben“ im Forum! So ambitioniert und teilweise gelungen dieses aus einem e-Mail-Wechsel zum Thema „berliner Schule“ erwachsene Projekt der drei regisseure christian Petzold, Dominik Graf und christoph hochhäusler auch ist – beim blättern im dazugehörigen Presseheft der ArD musste man feststellen, dass nahezu alle deutschen Filme der berlinale (zumindest auch) mit ArD-Geldern produziert wurden. ein ewig Gestriger, wer da den Untergang des Kinolandes vor Augen hat … Was für eine entdeckung und wie für das Forum-Programm geschaffen dagegen ein Film wie „brownian Movement“ mit der nuancenreichen Sandra hüller in der haupt-

rolle! Der formal strenge Film der niederländischen regisseurin nanouk leopold über die mit einem Schönling verheiratete, gutsituierte ärztin charlotte, die eine Wohnung anmietet, um sich dort ihren sexuellen Sehnsüchten mit hässlichen Männern

Tunesien revoltierte, die ägypter stießen Mubarak vom Thron und ich saß im kinoknast fest. hinzugeben, verweigert sich konsequent belanglosen lösungen und Auflösungen. Stattdessen hinterfragt er eindringlich konventionelle beziehungsmuster und spielt mit den erwartungshaltungen der Zuschauer, die verstehen wollen, was charlotte antreibt. ein Film, der noch lange im Zuschauer nachhallt und tatsächlich raum für eigene Gedanken lässt. in diesem Atemzug ist sicher auch ein Film wie „heaven’s Story“ von Zeze Takahisa zu nennen, der den FiPreSci-Preis der internationalen Filmkritik sowie den neTPAcPreis gewann. Das 278-Minuten-opus ist eine aufwühlende filmische Meditation über die Zerstörungskraft von rache: entweder klebt eine rücksichtslose handkamera an den lose miteinander verwobenen charakteren oder man beobachtet sie aus weiter Ferne beim handeln, wie sie sich zum beispiel in einem verlassenen, spukhaften Gebäudekomplex im grünen norden Japans gegenseitig an die Gurgel gehen – winzige Punkte in einem Spiel gewaltiger Kräfte, die unseren horizont übersteigen. ein forumswürdiger Film – auch wenn die „Auflösung“ nicht jedermann befriedigen mag. bleiben wir gleich bei den Perlen der Sektion: Marie loisiers intimer Film „The ballad of Genesis and lady Jaye“, der den caligari Filmpreis und den Teddy Award gewann – ihr gelingt es, uns die kühne liebesgeschichte des provokanten Musikpioniers Genesis Porridge (Throbbing Gristle, Psychic TV) und seiner 2007 verstorbenen Frau Jacqueline breyer alias lady Jaye nahezubringen –, ohne daraus auch nur einen Moment eine Freakshow zu machen. ein Freak bleibt dagegen der „angry young man“ bogus mit dem „Fuck off“-Tattoo auf der Stirn aus dem Film „Made in Poland“ – ihn dürstet es nach revolution, doch dummerweise macht keiner mit – womöglich sollte man sich im nächsten Jahr auch einmal um Filmemacher aus der arabischen Welt bemühen, damit einen nach dem Verlassen des Kinos nicht beständig das Gefühl überfällt, die revolution und die wirklich erschütternden Filme finden woanders statt.

Der opak-FILMkLUB … … GeHT In DIe erSTe rUnDe

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ie Kluft zwischen Festivalzirkus und Kinoalltag ist größer denn je. Dies wird ein bescheidener Versuch, dem entgegenzuwirken. Außerdem gehen wir selber gerne ins Kino. Ab April zeigen wir deshalb jeden zweiten Mittwoch (mit einer Ausnahme) im Monat im Zeise Kino in hamburg Filme, die es (wahrscheinlich) nicht in die deutschen Kinos schaffen. Wir bedanken uns bei Zeise latenight für die exzellente Zusammenarbeit und der KurzFilmAgentur hamburg, dank derer es jeweils noch einen passenden Vorfilm zu sehen gibt, und setzen uns den Kinohut auf. Am 13.4. fällt der Startschuss mit einer exklusiven Preview des schwarzhumorigen „Four lions“. er sucht im Scheitern einer Gruppe Selbstmordattentäter den Slapstickmoment und meistert so die höchste Kür der subversiven Komödie. hat zwar doch noch seinen Verleih gefunden, stand aber so hoch auf unserer liste, dass wir dennoch nicht auf ihn verzichten wollten.

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Manövriert kosslick die BerLInaLe in die völlige Belanglosigkeit? Manche behaupten das. Wir fanden heraus: es ist vieles, aber nicht alles schlecht. Gabriele Scholz zu Besuch im Forum

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Am 11.5. zeigen wir „The Sound of noise“, einen ziemlich unterhaltsamen experimental-Musik-Spielfilm, hinter dem das Team des legendären Kurzfilms „Music for one Apartment and Six Drummers“ steht. Der Film darf ruhig auch als Aufwärmrunde für die diesjährige Schwedenreihe beim internationalen Kurzfilmfestival gesehen werden. Danke euch. Am 15.6. läuft schließlich „catfish“, der andere Facebookfilm. eine Doku von drei Freunden, die sich auf den Weg machen, um hinter das digitale Gesicht einer internetbekanntschaft zu schauen und dabei auf erstaunliches stoßen. ein Film, über den wir uns extra dolle freuen. hat er es doch in unseren Filmjahresrückblick geschafft. Dass der Film so gut ist, ist dabei möglicherweise nicht einmal der Verdienst seiner Macher. herzliche Grüße, eure oPAK-Filmredaktion


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Analog Love In Digital Times

CLOUDS HILL VINYL BOX #2

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Seit nunmehr 23 Jahren existiert das Musikprojekt aus Hamburg von „behinderten“ und „nicht-behinderten“ Menschen namens Station 17 schon. Und die Band, die in der Vergangenheit immer wieder durch Besetzungswechsel gekennzeichnet war, lässt sich wohl eher als Kollektiv verstehen denn als festes BandgefĂźge. Das neue Album „Fieber“ wurde innerhalb von nur zwei Wochen konzipiert und oft improvisierend eingespielt und diese intuitive Herangehensweise hat den Songs sehr gut getan. Die fein ziselierten Elektronikelemente treffen auf eine versponnene Krautrock-AttitĂźde und hinterlassen elf bedrohlich schillernde Songs. Diese fast gänzlich instrumental hergestellte Grundatmosphäre braucht nur selten Gesang. Und wenn doch einmal gesungen bzw. gesprochen wird, haben die Texte auch eher einen nachdenklichen Ton. Station 17 verfolgen ihren vor Jahren eingeschlagenen Weg konsequent weiter und arbeiten an der perfekten Symbiose von klassischem Krautrock und minimalistischer Elektronik. Und es macht groĂ&#x;en SpaĂ&#x;, ihnen dabei zuzuhĂśren.

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Fieber

STATION 17

MA?! Hmmm - hippe HipHop-GĂśre, die auf E.T. hängengeblieben ist und jetzt ein paar Songs auf ein Album hat pressen lassen?! Trotzdem anhĂśren? Na gut.“ Wirre und recht unverschämte Gedanken, kurz nach dem ersten Anblick des Covers von „Past Life Martyred Saints“. Mit dieser vĂślligen Unvoreingenommenheit lässt es sich doch ganz wunderbar in ein Album reinhĂśren. Welches dann komplett Ăźberrascht. Andernfalls wäre es ja auch ziemlich blĂśdsinnig, es an dieser Stelle zu besprechen. Auf dem Cover von „Past Life Martyred Saints“ erinnert EMA tatsächlich an die groĂ&#x;e Schwester des telefoniergeilen AuĂ&#x;erirdischen E.T., die sich kĂźrzlich einer HipHop-Gehirnwäsche unterzogen hat. Warum sonst trägt sie unter ihrem zerzausten Schopf eine fette Halskette mit den goldenen Buchstaben E, M und A? Und was sonst assoziiert man mit zwei in die Luft zeigenden blinkenden Fingern einer rechten Hand? Ganz klar: nach Hause telefonieren. Doch telefoniert wird hier nicht. In einem ersten, vorsichtig formulierten Interpretationsversuch wären die Worte „goldene“ und „Musikerfinger“ mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kursiv hervorgehoben. Denn mit diesen ist Erika M. Anderson zweifelsohne ausgestattet. Gemeinsam mit Synthesizer-Frickler Ezra Buchla (Ex-Mitglied von The Mae Shi) hat sie das unter dem Deckmäntelchen Gowns vor ein paar Jahren schon einmal bewiesen. Und jetzt DAS: Auf ihrem SolodebĂźt verteilt EMA alle in Form von TĂśnen, Stimmungen und GefĂźhlsausbrĂźchen nur denkbaren Gegensätze auf gerade mal neun Songs. Da trampelt sie mit rauchig-wĂźtendem Gesang durch verdreckte Gitarrenfeedbacks und wild umherwirbelndes No-

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THE KILIMANJARO DARKJAZZ ENSEMBLE

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„Die PlattenhĂźlle war bis zum Siegeszug von MTV die bestimmende Visualisierung von Popmusik“, sagte Peter Saville einmal. „Als ich 15 war, das war 1970 in Nordengland, war ich allein durch PlattenhĂźllen mit irgendeiner Art von visueller Kultur verbunden. Nur Cover gaben einem eine Vorstellung von Coolness.“ Saville war Mitbesitzer und Hausgrafiker der legendären Plattenfirma Factory Records und gestaltete Cover, die wir alle kennen und lieben: New Orders „Blue Monday“ in Form einer ausgestanzten PappFloppy-Disc oder die Darstellung des ersten entdeckten Pulsars auf Joy Divisions „Unknown Pleasures“, um nur einige zu nennen. Was aber verbindet Saville mit der VerĂśffentlichung, um die es hier gehen soll? Saville resĂźmiert: „Man kann dem Ăźbervollen Kanon der Bilder, Texte, TĂśne, Objekte heute nichts Unverwechselbares mehr hinzufĂźgen – auĂ&#x;er einem selbst.“ Mit der Vinyl-Box #2 unternimmt das Hamburger Label Clouds Hill gewissermaĂ&#x;en den Versuch, diesem Ansatz nahezukommen: Die Vinylbox ist auf 200 StĂźck limitiert, jeder Box liegt ein einmaliges Foto eines KĂźnstlers bei, enthalten sind ausschlieĂ&#x;lich StĂźcke, die exklusiv fĂźr die Box aufgenommen wurden. Faust, Stella, The Ape, Wyatt Derbyngton, Michaela Meise, Scams, Scheerer – analog ist hier alles, von der Aufnahmetechnik bis zum Knacksen beim Abspielen. Aber Moment. Wie war es doch gleich mit der Authentizität? Wird hier nicht nur von der WarenfĂśrmigkeit des Produkts abgelenkt? Stop! Brechen wir an dieser Stelle eine Lanze fĂźr die unvernĂźnftigste VerĂśffentlichung in diesem Heft. Die Clouds-Hill-Vinyl-Box ist ein wunderbar anachronistisches Collector’s Item, das wirklich jeder haben will, der es einmal in Händen gehalten hat. Wunderbar.

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tenchaos, um dann mit hauchender, fast schon am Boden zerstĂśrter Stimme zarte Geigen- und AkustiktĂśne einzurahmen. Oder knurrt einfach nur als pures Gesangsorgan gegen verzerrte Gitarre an. Das alles passiert – wenn es denn sein muss – auch mal in nur einem einzigen Song. Die BezĂźge in Richtung Nirvana, Sonic Youth und Hole sind nicht von der Hand zu weisen. Und doch hat EMA mit „Past Life Martyred Saints“ etwas vĂśllig Neuartiges geschaffen. Einen Sound, der zart und heftig, nagelneu und uralt, Holzfällerhemd und Lippenstift, Innovation und RĂźckschritt, 1990 und 2011 auf wundersame Weise miteinander vereint. Und - wie sollte es auch anders sein - Ăźber all dem schwebt ein Hauch von Wahnsinn: Nach eigenen Angaben hat die KĂźnstlerin aus dem GroĂ&#x;raum San Francisco etliche Monate damit verbracht, in ihrem Schlafzimmer per KopfhĂśrer 20 Tracks mit Gitarren-Feedback ineinander zu mixen. „The vision of this was beyond my capabilities and budget and it almost broke my heart“, sagt EMA. Und erklärt damit die Sache mit dem bisschen Wahnsinn und auch das häufige Wechselspiel zwischen Widerspenstigkeit, Wut und Zerbrechlichkeit. All das macht dieses Album aus. Und auch ihre nächste Aussage umschreibt „Past Life Martyred Saints“ ziemlich passend: „I love really long songs, really long pieces, and I wanted to see if I could make an engaging piece using primarily just voice and guitar. And I love the sound of guitar feedback.“ Dem ist absolut nichts hinzuzufĂźgen. AuĂ&#x;er vielleicht: „Ich auch!“

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FĂźr alle, die nichts mit aufgeregten pentatonischen Tonleitern anfangen kĂśnnen: Das Projekt um Jason KĂśhnen und Gideon Kiers wurde vor Ăźber einer Dekade begrĂźndet, man konzentrierte sich zuerst auf die Vertonung von Stummfilmen. Das ist auch heute nicht zu ĂźberhĂśren. The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble spielt auf seinem dritten Album mit einer avantgardistischen Haltung, technisch auf dem neuesten Stand, verbeugt sich aber gleichzeitig vor der klassischen Instrumentierung seiner Gattung; mit Percussion-Besen und sanfter Trompete dient dem Ensemble eine sphärische, immer wieder bedrĂźckende Stimmung als Sujet. Die dunkle Seite des Jazz wird stilisiert, die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation werden negiert und die melancholische Anmut wird bis in die letzte Note inszeniert. Im Fazit schwere Kost – um so mehr Ăźberrascht es, mit welcher Leichtigkeit das Ensemble seinen HĂśrern den Zugang in ein spleeniges Genre ermĂśglicht.

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31 Knots aus Portland, Oregon, namentlich Sänger, Gitarrist und Organist Joe Haege, Bassist Jay Weinbrenner und Schlagzeuger Jay Pellicci, sind drei wirklich auĂ&#x;ergewĂśhnlich versierte Musiker. Konnte man zuletzt angesichts Haeges musikalischer Omnipräsenz mit seinen Zweit- und Drittbands Tu Fawning und Menomena berechtigt zweifeln, ob der Atem fĂźr seine Stammband 31 Knots reichen wĂźrde, darf man nun beruhigt sein. Er reicht. Und wie. Denn auch auf ihrem nunmehr siebentem Studioalbum entwickelt das Trio ein StĂźck Indie-Punk, Jazz, (Math-)Rock, dass einem der Mund offen steht: rhythmische WinkelzĂźge, abrupt wechselnde Arrangements, hier und da vertrackt, verkopft und verschroben, im nächsten Moment aber wieder eine verschwenderische FĂźlle von Melodien und Energie ausschĂźttend, die einem Sturm gleicht. So viel zum Atem. Dazu addiert sich Haeges Stimme, eine Stimme, mit der der Mann ohne Weiteres auch hätte Wanderprediger (des Souls wegen) oder Agitator (der Dringlichkeit wegen) werden kĂśnnen. Wer Shellac, The Make Up oder Tim Kashers Oevre in seinen eindringlichsten Momenten schätzt, wird in 31 Knots eine neue Lieblingsband finden. Im Mai kommt die Band Ăźbrigens auf ausgedehnte Tournee – don’t miss. Denn bei aller Komplexität ihrer Musik sind 31 Knots doch vor allem eines: Break-Rock-GĂśtter, eine wahnsinnig mitreiĂ&#x;ende Liveband, der nicht mal ihre Virtuosität vorzuwerfen ist. Versichert Ihnen, werter Leser, werte Leserin, ihr Alt-Punk:

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nes Mietshauses „Captain Charleys Privatmuseum für intelligente Menschen“ betreibt, wo er ausgestopfte Tiere, angebliche ägyptische Mumien und andere Kuriositäten ausstellt. Außerdem Reverend James Jefferson Davis Hall, der allabendlich in den Kneipen des Theaterdistrikts seine „Halleluja-Injektionen“ predigt – „Brüder! Schwestern! Das ist nicht etwa eine Fußleiste, auf die ihr euren Fuß stellt. Nein, nein! Das ist das Gaspedal zur Hölle!“ – und nebenbei die Telefonseelsorge erfunden hat, um noch mehr der armen Sünder zu erreichen. Dann ist da noch ein Schnorrer namens Commodore Dutch, der von sich sagt „Ich bin ja nicht besonders schlau … aber ich bin zu schlau, um zu arbeiten“ und der darauf gekommen ist, im Rahmen des OriginalCommodore-Dutch-Vereins jedes Jahr einen Benefiz-Ball für sich selbst zu veranstalten (Nichterscheinen wird mit Verlust der Vereinsmitgliedschaft geahndet). Oder auch Lady Olga, die ihr Leben als „Bartfrau“ auf Zirkussen und Jahrmärkten verbracht hat und in einigen Horror- und Zirkusfilmen aus Hollywood aufgetreten ist, am bekanntesten davon wohl „Freaks“. Schillerndes Personal treibt sich um in den Reportagen, die Joseph Mitchell hauptsächlich in den 1930er und 1940er Jahren im „New Yorker“ veröffentlicht hat, und die nun erstmals auf Deutsch erscheinen. Mitchell wurde 1908 in North Carolina geboren und wuchs auf einer Tabak- und Baumwollfarm auf. Im Alter von 21 Jahren kam Mitchell – einen Tag nach dem Börsenkrach von 1929 – nach New York, begann journalistisch zu arbeiten und schrieb ab 1938 für den „New Yorker“. Die großen sozialgeschichtlichen Umbrüche seiner Zeit macht Mitchell nicht explizit zum Gegenstand seiner Texte, sie bilden eher deren Hintergrund. Hier wird nicht der Börsenkrach analysiert und die anschließende „Große Depression“ beschrieben oder die Reformen des „New Deal“ kommentiert und Stellung zur Prohibition bezogen. Vielmehr widmet sich Mitchell fast ausnahmslos einzelnen Personen, Typen, mitunter größeren Gruppen, wie in „Mohawks im

itten in der rauen Einöde der Orzarks Mountains, Missouri: Die 17-jährige Ree Dolly lebt mit zwei kleinen Geschwistern und ihrer katatonischen Mutter in bitterster Armut. Die Schule hat sie längst abgebrochen, stattdessen hält sie ihre Familie zusammen, hackt Feuerholz und nimmt gefangene Eichhörnchen aus. Die Verpflichtung für die Armee scheint ihr einziger Ausweg aus der übergroßen Verantwortung, ihren Vater hat sie schon lange aufgegeben. Und doch sind es dessen illegale Verstrickungen, die Rees Geschichte leiten. Denn Jessup Dolly, Drogenkoch mit anstehender Gerichtsverhandlung, hat als Kaution den einzigen Besitz seiner Familie – das schäbige Bretterhaus – verpfändet und ist seither spurlos verschwunden. Um der anstehenden Enteignung zu entgehen, macht sich Ree auf, den Verbleib ihres Vaters zu klären und begibt sich dabei immer tiefer in das undurchsichtige Netz der von Crystal Meth zersetzten Gesellschaft. Der Film zeigt eine durch Perspektivlosigkeit und Kargheit gekennzeichnete Welt, weit abseits des amerikanischen Traums. Industrie und Arbeitsplätze gibt es keine mehr, die beliebten billigen Methamphetamine dienen nicht nur als Betäubungsmittel, sondern ihre Produktion und

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Ascot Elite

Winter’s Bone

der Vertrieb sind häufig die letzte Möglichkeit, Geld zu verdienen. Das enge soziale Geflecht dieser Gemeinschaft basiert auf unausgesprochenen Regeln, patriarchaler Herrschaft und der Abschottung nach außen. Entsprechend ablehnend reagieren selbst Rees Verwandte auf ihre Bitte um Hilfe, zumal das Geheimnis hinter dem Verbleib des Vaters weit dunkler ist als zunächst erwartet. Die junge Frau ist auf ihrer scheinbar hoffnungslosen Odyssee mit Brutalität und Feindseligkeit konfrontiert, nur getragen durch ihre eigene Charakterstärke und furchtlose Leidensfähigkeit. Regisseurin Debra Granik schafft in ihrem zweiten Spielfilm neben einem beeindruckenden Frauenporträt – zu Recht für einen Oscar nominiert: Jennifer Lawrence – auch das Porträt einer ganzen Region, ohne dabei in folkloristische Sentimentalität zu verfallen. Gedreht wurde der Film an Originalschauplätzen in den Orzarks und ist großteilig mit Laiendarstellern besetzt, die Granik in der Vorbereitungsphase kennenlernte. So sind es eben diese vom Leben gezeichneten Gesichter, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Die verwohnten Häuser vermitteln dazu in all ihrer Unheimelichkeit eine drastische Unmittelbarkeit und Authentizität. Eingefangen in betörenden Bildern (gefilmt mit der neuen RED-Digitalkamera) gelingt es „Winter’s Bone“, eine dichte Atmosphäre zu kreieren und so die konstante Bedrohung, derer sich Ree ausgesetzt sieht, für den Zuschauer spürbar zu machen. Die Geschichte ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Daniel Woodrell, dessen Werk – wie auch der Film – als Country Noir beschrieben wird. Tatsächlich mischt auch Granik das Sozialdrama geschickt mit Thrillerelementen. Rees Mission, das zunehmend mysteriöse Verschwinden ihres Vaters zu rekonstruieren, entwickelt sich zum Überlebenskampf. Denn nicht nur die Existenzgrundlage ihrer Familie

DEBRA GRANIK

FilM Der AUSGAbe

lle anderen haben’s inzwischen aufgegeben“, meint Joe Gould und findet, er sei der letzte Bohemien: „Die einen sind auf dem Friedhof gelandet, die anderen in der Klapsmühle und ein paar sind auch in der Werbung.“ Im Greenwich Village 1942 in New York ist der Mann im schlottrigen Secondhand-Anzug und den ausgelatschten Schuhen als „Professor Möwe“ bekannt. Ohne festen Wohnsitz schläft er in U-Bahnhöfen oder den Ateliers befreundeter Künstler und schlägt sich irgendwie durch. Unnachgiebig verfolgt „der Professor“ allerdings sein unvollendetes Großprojekt „Eine mündliche Geschichte unserer Zeit“, dessen Manuskript nach eigenen Angaben bislang etwa zweihundertsiebzig Schulhefte umfasst. Neben Joe Gould wären da beispielsweise noch Charles Eugene Cassell, der im Keller ei-

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Das McSorley’s McSorley’s befindet befindet sich sich im im Erdgeschoss Erdgeschoss eines eines roten roten Das Backsteingebäudes in in der der Seventh Seventh Street Street Nr. Nr.15, 15, gleich gleich am am Backsteingebäudes Cooper Square, Square, wo wo die die Bowery Bowery endet. endet. Es Es wurde wurde 1854 1854 ererCooper öffnet und und ist ist damit damit die die älteste älteste Kneipe Kneipe New New Yorks. Yorks. In In den den öffnet achtundachtzig Jahren Jahren seines seines Bestehens Bestehens hat hat es es nur nur dreidreiachtundachtzig mal den den Besitzer Besitzer gewechselt gewechselt — — auf auf den den ersten, ersten, einen einen iriirimal schen Einwanderer, Einwanderer, folgte folgte sein sein Sohn, Sohn, dann dann ein ein pensionierpensionierschen ter Polizist Polizist und und schließlich schließlich dessen dessen Tochter, Tochter, und und allesamt allesamt ter standen sie sie jeglichen jeglichen Änderungen Änderungen ablehnend ablehnend gegenüber. gegenüber. standen Heute ist ist das das McSorley’s McSorley’s zwar zwar ans ans Stromnetz Stromnetz angeschlosangeschlosHeute sen, aber aber der der Tresen Tresen wird wird noch noch immer immer nur nur von von zwei zwei GasGassen, lampen beleuchtet, beleuchtet, die die flackernde flackernde Schatten Schatten auf auf die die niedniedlampen rige,mit mitSpinnweben Spinnwebenüberzogene überzogeneDecke Deckewerfen, werfen,kaum kaumtritt tritt rige, jemandvon vonder derStraße Straßeherein. herein.Es Esgibt gibtkeine keineRegistrierkasse. Registrierkasse. jemand Münzen werden werden in in Suppenschalen Suppenschalen geworfen… geworfen… — — Seite Seite 77 Münzen

diaphanes

McSorley’s Wonderful Saloon

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Dommaschk

Hartwig

FilM

Um die Ringkämpfe der Box-Brüder Micky & Dicky – gespielt von Mark Wahlberg & Christian Bale, der vor allem versucht zu beweisen, dass (Schaupiel)Kunst von Können kommt – besonders ungestellt wirken zu lassen, heuerte Regisseur David O. Russell für seinen neuen Film ein Fernsehteam des TV-Senders HBO an. Denn diese filmten bereits damals die echten Kämpfe der echten Micky & Dicky. Wäre das akkurate Zusammenpuzzeln angepappter Boxhistorie alles, was Russell interessiert hätte, wäre hier Schluss. Doch eigentlich geht es um etwas anderes. „The Fighter“ ist kein Boxfilm. Zu wenig Hinterzimmertheorie, zu wenig Sandsackphilosophie. Russell bedient sich der Bildmaterialität des Fernsehens und stülpt dessen Prä-LCD-Zeilenoptik in den Kampfszenen auf die Leinwand. Diese Blickübernahme dient gleichzeitig ihrer Entlarvung und analysiert die Bedeutung des Ringkämpfers als Stellvertreterfigur, lotet dessen Verbindung mit den Menschen vor den Empfangsgeräten aus – seien es Freunde, Feinde, beides (also Familie, die hier eine gewichtige Rolle spielt) oder die Welt. Sie alle wollen was vom Sportsmann. Der Kämpfer zieht aus, für sie seine Rübe hinzuhalten. Natürlich rein sportiv. Und so ist es unausweichlich, dass der ruhige Micky schließlich zwischen all diese Fronten gerät. Er ist das perfekte Instrument: unentschlossen, befangen, manipulier-

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DAVID O. RUSSELL

rLili

gerät in Gefahr, sondern Ree selber wird durch ihre Hartnäckigkeit zu einem Problem für die Mächtigen der lokalen Meth-Szene, mit denen sie ebenfalls durch eine entfernte Verwandtschaft verbandelt ist. Mit „Winter’s Bone“ kommt ein wahrer LowBudget-Independent-Film ins Kino, der tatsächlich (trotz mehrerer Oscar-Nominierungen) völlig abseits des Hollywoodsystems produziert wurde. Im letzten Jahr gewann er bereits den Großen Preis der Jury in Sundance, lief im Berlinale Forum und auf dem Festival in Cannes. Orte, von denen seine Protagonistin wohl nicht mal träumen mag.

Essen, Anfang der 80er-Jahre. Miland (Rufname „Mille“), Roberto („Rob“) und Jürgen („Jülle“) kennen sich seit dem Kindergarten. Arbeiterkinder, die unter der grauen Smogglocke des immer prekärer werdenden Reviers groß werden. Das macht hart und schweißt zusammen – und Zusammenhalt, das ist eine der Kardinalstugenden des ehrlichen Metallers, das wissen wir noch aus der Zeit, als Metal denkbar uncool war. Kreator avancieren mit viel Glück und Talent innerhalb kürzester Zeit zu einer Thrash-Metal-Legende: Manager, Welttourneen, Mädchen, Besetzungswechsel, Asche, Phönix, Welttourneen … – das ist die „Story“. Autor Hilmar Bender hatte schon in „Die Schönheit der Chance – Tage mit Tomte auf Tour“ alternden Rockmusikern das Bandbier weggetrunken. In „Violent Evolution“ – der übrigens offiziellen Kreator-Biografie – wird mit dem Respekt eines Fans, aber auch dem ironischen Abstand eines Mitgealterten der kurzweilige Abriss einer Karriere gezeichnet. Bender vermeidet das nerdige Ansammeln von Fakten und Daten, er konzentriert sich auf die direkte Rede der Hauptfiguren, auf deren Anekdoten und Erinnerungen. Entstanden ist keine literarische Granate, das wollen die 220 Seiten auch nicht sein, aber eine

UBooks-Verlag

VIOLENT EVOLUTION DIE GESCHICHTE VON KREATOR

HILMAR BENDER

rNiklas

Stahlbau“ – immer aber geht es um Außenseitertypen, um Arbeitslose, Gestrandete, Nichtsnutze, Rumtreiber, Marginalisierte und deren Geschichten. Ohne sich voyeuristisch in den Skurrilitäten der beschriebenen Charaktere zu ergehen, entwickelt sich aus Mitchells Panorama der Außenseiter ein Bild des Lebens der schrägen Käuze und Freaks am Rande der Gesellschaft im New York der Krisenzeit der 1930er Jahre. Professor Möwes großes Geschichtsschreibungsprojekt, musste Mitchell in einem zweiten Text über Joe Gould 1964 berichten, habe es außer in dessen Fantasie leider nie gegeben. Die „mündliche Geschichte seiner Zeit“ hat zum Glück aber Joseph Mitchell selbst geschrieben.

liTerATUr

Schemmer

65

rJan-Eike

Michaelis

Das Gespann Simon Pegg/Nick Frost hält an seinem Prinzip fest: Die gleichzeitige Parodie und Umarmung eines eher abseitigen Filmgenres, angefüttert mit Versatzstücken des BuddyMovies. Nach dem Zombiefilm („Shaun Of The Dead“) und dem Copfilm („Hot Fuzz“) nehmen die zwei nun den Alienfilm spielbergischer Prägung aufs Korn. Im Gegensatz zu ihren früheren Variationen mangelt es diesmal an einem genretypischen Regelwerk, das den zu brechenden Rahmen darzustellen vermag. Das Gegenmittel ist ein gnadenloses Ausspielen aller Nerdtrümpfe, das ihr im Grunde längst vertrautes Leinwandpersonal hergibt. Denn deren Alienglaube speist sich nicht aus den einschlägigen Machwerken eines von Däniken, sondern aus dem sehnsuchtsvollen Blick in die Sterne, wie man ihn von „E.T.“ über „Close Encounter …“ bis zu „Star Wars“ kennt. Das führt uns gleich zu Beginn des Films zur Alma Mater of Geekness, der Comic-Con, von der aus sich die beiden britischen Hobby-Ufologen auf ihre Pilgerreise zu den bekanntesten amerikanischen Begegnungsstätten mit der dritten Art machen. Wo sie dann auch tatsächlich auf ein Alien namens Paul treffen. Die Folge des gewählten Prinzips ist eine verkalauerte Zitatflut aus oben erwähnten und vielen weiteren, einzelnen Filmen (und eben weniger aus Filmtypen). Manche der Gags zünden, andere nicht, die Story erfüllt Mindestanforderungen. Und doch sind sie großen Kinomomenten immer wieder auf der Spur, ganz im Sinne des senseof-wonder. Immer kurz davor, immer mit Hingabe. Letztendlich fehlt es an Fallhöhe. Ob dieser Film wohl auch was für mich ist, mögt ihr euch jetzt fragen, liebe Leser. Nun, wenn Paul zum Schluss mit einer rüstigen Rentnerin Richtung Heimatplanet losdüst, fällt der Satz: „Zähne? Wo wir hingehen, brauchen wir keine Zähne.“ Na, regt sich was?

Universal

PAUL

Michaelis

GREG MOTTOLA

rJan-Eike

bar. Natürlich kann sein Weg nur einer sein. Und der ist sogar spannend.

rJanine

Eine Stadt im Jugoslawien der 1960er Jahre. Blue ist Literaturstudent, träumt schlecht und beklagt den allgemeinen Stumpfsinn, von dem er sich umgeben wähnt. Er hat kein Geld, kein Auto und keine Aufgabe. Seine Zeit vertreibt er sich in den Bars und auf den Straßen: „Es tat mir gut, in die Nacht einzutauchen, zu verschwinden.“ Seine Diplomarbeit schiebt er vor sich her, eine Zukunft als Lehrer lehnt er ab. Um an etwas Geld zu kommen, fängt er an, bei einem Ingenieur zu arbeiten. Dieser lässt sich von Blue heimlich mit Mädchen fotografieren, um sie später zu erpressen. Dadurch wird er Teil der korrupten Gesellschaft, die er doch eigentlich so verachtet. So muss Blue auch die sozialen Rollenzuschreibungen täglich neu aushandeln: „Ich weiß, über mich wird gesagt, ich sei ein Zuhälter, ein Aufreißer.“ Seine Ideale hat er längst aufgegeben. Da ihm seine Stadt keine Perspektiven bietet, nimmt er sich vor, sie zu verlassen, irgendwann. Végels Roman erschien bereits im Jahr 1968 und wurde nun erstmals ins Deutsche übersetzt. Angesichts des zeitgeschichtlichen Hintergrunds der Geschichte überrascht die unpolitische Haltung der Protagonisten, die vom System anscheinend nicht nur enttäuscht, sondern betäubt sind und nur auf die Straße gehen, um Mädchen aufzugabeln. Diese Apathie beschreibt Végel überzeugend. In einfachen, eindringlichen Worten zeichnet der ungarisch-serbische Autor den desillusionierten Alltag nach und vermittelt die innere Zerrissenheit seiner Figuren, wobei der Erzählstil trotzdem äußerst unterhaltsam bleibt.

Matthes & Seitz

Bekenntnisse eines Zuhälters

Künssler

LÁSZLÓ VÉGEL

rKristof

umfassende Dokumentation des sozialen Mikrokosmos Kreator, der in all seiner Absurdität sehr lebendig wird. Das Buch ist kein dröges musikwissenschaftliches Fachbuch, das den Fehler macht, Heavy Metal mit Intellekt zu begegnen. „Violent Evolution“ ist schriftgewordener Männerschweiß, der aus langen Locken tropft.

reZenSIonen reZenSIonen


Mehr Sinn!

cArolin WAlch

CoMIC

Die Kuh ist vom Eis. Die Bundesregierung konnte ihre Visionen nahtlos umsetzen. Mit ihrem historischen Reformwerk, das nun in trockenen Tüchern ist, hat sie ein für allemal die Weichen gestellt. Indessen ist in der Bevölkerung die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden. Dennoch muss die Regierung nicht zurückrudern. Der kleinere Koalitionspartner stärkt der Bundeskanzlerin nach wie vor den Rücken, indem er ihr den Rücken freihält, sodass sie weiter Rückenwind hat. Kritische Stimmen, die sich zunächst gemehrt hatten, warfen keinen Schatten auf die Regierungsbank, sondern gingen unter. Die Regierungsmannschaft bröckelt nicht, sondern hält weiter Kurs. Ein Bruderzwist ist nicht in Sicht. Fest steht: Über der Bevölkerung, die sich noch immer in einem Dornröschenschlaf befindet, obwohl sie massiv der Schuh drückt, wird weiter das Damoklesschwert Hartz IV schweben. Es bleibt also eine Zitterpartie. Doch das Zeitfenster, in welchem die Parteien akuten Handlungsbedarf nach weitergehenden Reformen anmelden können, bleibt weiterhin geöffnet. Die Parteien schnüren und bündeln hinter verschlossenen Türen schon neue Reformpakete. Entsprechende Eckpfeiler und Eckpunkte sind schon eingeschlagen bzw. markiert. Und es ist wohl mehr Peitsche als Zuckerbrot zu erwarten. Wenn die Zeichen der Zeit nicht erkannt werden und nicht bald ein zündender Funke überspringt und einen flächendeckenden Flächenbrand entfacht, wird der Widerstand, der momentan anzupeilen wäre, auch künftig nicht umgesetzt werden. Und wenn die Regierung dann ein weiteres Mal den Reformmotor anwirft und grünes Licht für soziale Grausamkeiten gibt, kann der Zug jetzt schon als abgefahren gelten. Die Gretchenfrage wäre, ob es gelingen kann, dass Teile des außerparlamentarischen Spektrums sowie linke, emanzipatorische Strukturen und Praxen sich schon im Vorfeld gegenseitig vernetzen, um zeitnah Druck aufzubauen. Aber da wird wohl nichts draus. Und alle gucken dann abermals in die Röhre bzw. dumm aus der Wäsche.

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Wer braucht schon Freunde?


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