jan – märz 2010
#04
Wir müssen reden
Vier / 4 Euro
JENSEITS DER STADT: GEGEN URBANITÄT / GENTRIFICATION NOVEL: RÜCKZUG NACH BROOKLYN / TOCOTRONIC: EIN SCHLEICHENDES GIFT / STADT UND SOUND: DETROIT / GISELA ELSNER: HUMORISTIN DES MONSTRÖSEN / STADT UND FILM: HADESLANDSCHAFT / UTOPISCHE ARCHITEKTUR: WER BEWOHNT ARKADIEN?
Stadt
FRÖHLICHE WISSENSCHAFT BEI MATTHES & SEITZ BERLIN ANTONIN ARTAUD Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft GEORGES BATAILLE Henker und Opfer JEAN BAUDRILLARD Im Schatten der schweigenden Mehrheiten JEAN BAUDRILLARD Warum ist nicht alles schon verschwunden MAURICE BLANCHOT Die uneingestehbare Gemeinschaft THIERRY DUFRÊNE Masken und modernes Portrait. Giacometti – Genet WOLFRAM EILENBERGER This is not America LÁSZLÓ F. FÖLDÉNYI Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDT Des Pudels Kern BÉLA HAMVAS Die Melancholie der Spätwerke VLADIMIR JANKÉLÉVICH Satie und der Morgen DANIEL KEHLMANN, SEBASTIAN KLEINSCHMIDT Requiem für einen Hund PAUL LAFARGUE Die Religion des Kapitals PAUL-LUDWIG LANDSBERG Die Erfahrung des Todes ALEXANDER PSCHERA (HG.) Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht HORST DIETER RAUH Nächtliche Muse MICHAEL ROES Perversion und Glück GERHARD RÜHM Aspekte einer erweiterten Poetik WARLAM SCHALAMOW Über Prosa WILFRIED F. SCHOELLER, HERBERT WIESNER (HG.) Widerstand des Textes HANS-MARTIN SCHÖNHERR-MANN Der Übermensch als Lebenskünstlerin PIERRE TEMKINE Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte JULIEN TORMA Euphorismen PETER TRAWNY Adyton. Heideggers esoterische Philosophie ERIC VOEGELIN Realitätsfinsternis WOLFGANG VON WANGENHEIM Ponderation. Skulptur und Schwerkraft
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12.01.2010 11:43:42 Uhr
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(Editorial), Analogien — )))
Abb. 1
Krisenherd
Abb. 2
Arztgewürze
„Yuppies Raus!“, steht seit einigen Jahren auf der gegenüberliegenden Hauswand. In manchen Jahresabschnitten werden in der gleichen Straße Plakate verklebt: „Wir wünschen den Schwaben eine gute Heimreise!“ Ist das nun Stadtpolitik von unten oder Ausdruck von scheußlichen Überfremdungsängsten und Form städtischer Heimatpflege? (OK)
Das Thema „Stadt“ ist en vogue. Es bestimmt öffentliche Debatten, es löst unglaubliche Mobilisierungswellen aus. Alle fühlen sich angesprochen und jedeR erhebt Anspruch. Man kennt sich aus, die Rede von „Gentrification“ ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und alle haben etwas dagegen. Was wir am besten kennen, ist uns paradoxerweise oft das größte Rätsel. Wer einen Schnupfen hat, kann ihn sich nicht erklären und muss zum Arzt gehen. Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt in Städten, die meisten haben täglich mit ihnen zu tun –trotzdem haben sie keinen Begriff von „Stadt“. Roger Behrens geht der Frage auf den Grund, was unter dem Schlagwort gefeierter Urbanität eigentlich zu verstehen ist. Dass alles in Wirklichkeit wieder komplizierter ist als gedacht, versteht sich natürlich von selbst. Manchester Rave, New York Hardcore, Hamburger Schule – Städte haben Sounds und Szenen. Worin aber diese Zusammenhänge bestehen und welche Rolle Stadtentwicklung dabei spielen kann, wird am Beispiel der Motorcity Detroit ersichtlich. Die New Yorkerin Elizabeth Gumport hat sich mit literarischer Verarbeitung von Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen beschäftigt. Im Vorbeigehen hat sie dabei ein neues Genre definiert: die „gentrification novel“. Im Film wird Stadt in Bilder aufgelöst und neu zusammengesetzt. Unterschiedliche AutorInnen werfen einen Blick auf verschiedene Bildwelten und liefern ein Panaroma über den Umgang von Kino mit Stadt. Liebe Leserin, lieber Leser, mal im Ernst: Hätten wir dem Thema in all seinen Facetten gerecht werden wollen, hätten wir ein 1000seitiges Heft machen müssen. Weil das aber zum Tragen zu schwer, zum Kaufen zu teuer und weil vor allem es zu lesen kaum auszuhalten wäre, haben wir zusammengetragen, was uns wichtig erschien. Wir hoffen, ihr findet Gefallen daran.
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((( – Inhalt
POLITIK 06 Jenseits der Stadt (Roger Behrens) 10 Alles in Laufnähe (Martin Büsser) 12 Ein schleichendes Gift (Rasmus Engler, Lasse Koch) MUSIK 16 The Sound of Detroit (Matthias Rauch) 21 Manchester United! (Aida Baghernejad) 22 Eine Sinfonie der Wundertüten (Maria Luther) 23 Zärtliche Zäsur (Jan Schimmang) 24 Other people's trash (Kristof Künssler) 26 Yes, we can Sushi! (S. Best, S. Schützeichel) 27 Wut ab! (Ulf Ayes) Ist das wahr? (Kathrin Gemein) MODE 32 Easy like sunday morning 36 Zwischen Fischreiher am Morgen und Weinbergschnecke bei Nacht (Ulrich Holbein) LITERATUR 38 Rückzug nach Brooklyn (Jonathan Blower) 44 He, too, he would destroy the old world with his pen (Till Werkmeister) 46 Humoristin des Monströsen (Lasse Koch) 49 (Gastexperten) Bell in L.A. mit Starr & Heimann FILM 52 Stadtcollage, Hadeslandschaft, städtische Frenetik 56 Des Hehlers Deutungshoheit (Dietrich Kuhlbrodt) 57 Niemals in ihrem Kino (Lili Hartwig) DRAUSSEN 60 Wer bewohnt Arkadien? (Andi Schoon) 64 Vertical railway (Niklas Dommaschk) COMIC 66 Tja, so schnell kann's gehen, was? (Arne Bellstorf)
Stadt
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– Contributors, Impressum
ANDI SCHOON
LILI HARTWIG
JONATHAN BLOWER
MICHEL BONVIN
Andi Schoon ist Dozent für Geschichte und Theorie der Transdisziplinarität an der Hochschule der Künste Bern (Institut Y). Er ist um die Bewusstwerdung der kreativen Klasse besorgt, kann sich aber selbst kaum wach halten. Hängt in verschiedenen Medien dem Gedanken nach, dass sich aus Bewerbungsmappen ein Sittengemälde gewinnen ließe. In einem vorigen Leben war er Mitglied der Gruppe Jullander, deren Netzdarstellungen seit geraumer Zeit in unberührter Endlosschleife laufen. Vermeidet Updates, verabscheut Presets. Opak empfiehlt sein Buch „Die Ordnung der Klänge – Das Wechselspiel der Künste vom Bauhaus zum Black Mountain College“ (transcript Verlag).
Geboren und aufgewachsen ist Lili in Hamburg, wo sie auch Medienkultur und Volkskunde studiert. Angefangen hat sie damit hauptsächlich, weil es etwas mit bewegten Bildern zu tun hat. Seit ein paar Jahren arbeitet sie außerdem beim Internationalen KurzFilmFestival Hamburg. Das Interesse an kreativen Filmen, eine Faszination für Populärkultur und die Abschaffung des Fernsehers haben ihren Filmkonsum dann unweigerlich ins Internet verlegt. Seitdem erkundet sie die blühende Onlinevideolandschaft und ist momentan mit ihrem Computer verheiratet, da sie über genau dies Thema ihre Magisterarbeit schreibt.
Jonathan Blower hat Architekturgeschichte und Deutsch in Edinburgh und Cambridge studiert. Momentan lebt er in Berlin, wo er an seiner Doktorarbeit schreibt, die sich mit Denkmalfragen in Wien zum Ende der Habsburger Monarchie auseinandersetzt. Sein wissenschaftliches Interesse richtet sich auf die Beziehungen zwischen moderner Architektur und Politik im deutschsprachigen Raum, umfasst allgemein die Frage nach der Rolle von Geschichte bei der Herausbildung einer kulturpolitischen Praxis. Seine Miete bestreitet er durch Übersetzungen für die Kulturindustrie, alles Überschüssige investiert er in eine teure Espresso-Abhängigkeit. Seine Freizeit verbringt er im Kino, in London und bisweilen auch im Wasser.
Nachdem er sein Studium der Fotografie an der Universität für Kunst und Design in Lausanne 2007 abgeschlossen hatte, arbeitete er dort als Assistent. Seitdem beschäftigt er sich mit Landschafts- und Architekturfotografie. Häufig arbeitet er mit Architekten, Designern, Künstlern und GrafikDesignern zusammen und erhält Aufträge von diversen Magazinen, wie Wallpaper (London), Hochparterre (Zürich), OPAK (Berlin/Hamburg), Domus (Milan) etc. 2009 gewann er einen Aufenthalt in Berlin, sowie ein sechsmonatiges Stipendium. Michel Bonvin hat erneut das Coverfoto geschossen. (www.michelbonvin.com)
Kontakt OPAK Magazin Oliver Koch (V.i.S.d.P.) Sonnenburger Str. 54 10437 Berlin (redaktion@opak-magazin.de) www.opak-magazin.de
Design, Layout & Satz (Print) Floyd Schulze (www.wthm.net) Adeline Mollard (www.fageta.ch) Verwendete Schriften: Simplon von Emmanuel Rey (www.emmanuelrey.ch) Romain BP von Ian Party (www.bpfoundry.com)
Redaktion Senta Best (Musik) Niklas Dommaschk (Literatur) Markus Göres (Übergreifend) Maike Hank (Online) Lasse Koch (Politik) Oliver Koch (Chefredaktion) Jan-Eike Michaelis (Film) Stefanie Müller (Bild) Josephin Thomas (Mode) Joachim Zimmermann (Bild)
Lektorat / Korrektorat Dörte Kanis (www.doerte-kanis.de) Titelbild der Ausgabe Michel Bonvin (www.michelbonvin.com) Texte dieser Ausgabe Aydo Abay, Ulf Ayes, Aida Baghernejad, Roger Behrens, Senta Best, Jonathan Blower, Martin Büsser, Sebastian Cleemann, Lisa Cordes, Niklas Dommaschk,
Rasmus Engler, André Frahm, Janina Friedhoff, Kathrin Gemein, Markus Göres, Lili Hartwig, Jakob Hesler, Ulrich Holbein, Christian Ihle, Jörg Kleemann, Ekkehard Knörer, Lasse Koch, Dietrich Kuhlbrodt, Kristof Künssler, Regina Lechner, Maria Luther, Daniel Matzke, Jan-Eike Michaelis, Nagel, Manuela Neskoda, Lucia Newski, Jochen Oppermann, Jesper Petzke, Stephanie Piehl, Nils Quak, Matthias Rauch, Tina Rentzsch, Maximilian Römer, Jo Ruthenberg, Jan Schimmang, Andi Schoon, Stefan Schützeichel, Georg Seeßlen, Johannes von Weizsäcker, Till Werkmeister Fotografien & Illustrationen dieser Ausgabe Jim Avignon, Fabien Baudin, Arne Bellstorf, Michel Bonvin, Jenna Brinning,
Nazgol Emami, Flabbyhead, Lyne Friederich, Max Frielinghaus, Ville Hill, Stefan Korte, Sophie Krische, Tanja Krokos, Sina Möhring, Pixie Mol, Jörn Morisse, Stefanie Müller, Sabine Reitmeier, Joachim Zimmermann Danke außerdem an Nadja Kugler Anzeigen Michael Kolepke +49 (0)173 7790940 michael.kolepke@opak-magazin.de Druck Druck und Werte GmbH Peterssteinweg. 17 04107 Leipzig www.druckundwerte.de
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Politik – Jenseits der Stadt
Notizen gegen den urbanen Lebensstil
Text — ROGER BEHRENS
+&/4&*54 %&3 45"%5 Fotos — TANJA KROKOS
Politik – Jenseits der Stadt
Die Stadt ist längst wieder Thema der Politik. Doch was ist eigentlich die Politik der Stadt, wenn sie mehr ist als nur die architektonische Form politischer Gewaltverhältnisse? Und was sind überhaupt die Stadt und das urbane Leben, der urban lifestyle, der neuerdings so vehement verteidigt wird? Ein ganz anderes Bild kann skizziert werden , wenn man sich dem Phänomen über Nebenpfade, Anekdoten und Randerscheinungen nähert. Die Stadt, mit der wir es heute zu tun haben, ist keine Stadt, für die es politisch gute Gründe gibt. Eine Politik der Stadt geht über die Stadt hinaus.
Ela é carioca, oder: Die Stadt bin ich Die Cariocas – das sind die Menschen, die in Rio de Janeiro leben. – „Ela é carioca“ ist ein kleines Lied von Tom Jobim, eine Liebeserklärung an eine Frau, die in ihren Bewegungen, ihren Augen, ihrer Anmut als Schönheit dieser Stadt selbst erscheint. Du bist Rio, du bist die Stadt, du bist das Lebensgefühl, der ganz besondere Ausdruck dieser ganz besonderen Stadt. Jobim hat es Ende der Sechziger komponiert; João Gilberto hat es gesungen, ebenso Elis Regina, Os Cariocas und viele andere. Wie ist ein Mensch, wenn er wie eine Stadt ist? Wie sieht eine Stadt aus, wenn sie wie ein Mensch ist? Ich bin Hamburger, ich lebe in Hamburg, am liebsten lebe ich aber in
7 Belo Horizonte. Bin ich Hamburg, bin ich Belo Horizonte, bin ich eine Stadt? Wenn man sich derart mit einer Stadt identifiziert oder identifiziert wird oder werden will, dann macht man sich ein kaum greifbares Lebensgefühl zu eigen, eine Ideologie gewiss, eine hübsche Phantasie des Urbanismus. Perfide allerdings, dass diese Phantasie mit der zunehmenden Kommodifizierung der Stadt immer größer zu werden scheint: Aus „Ich bin die Stadt“ wird die billige identitätspolitische Figur „Die Stadt bin ich“. In Hamburg macht die Sparkasse damit Werbung, verkauft als Merchandise Taschen, Fußmatten, Regenschirme mit dem Slogan „Meine Stadt“. Das ist als Reklametrick freilich schnell durchschaut, denn „meine Stadt“ heißt mitnichten, dass all denen, die sich mit diesen Utensilien ausstaffiert haben, irgendetwas von dieser Stadt gehört – vom eventuellen Immobilienbesitz einmal abgesehen. Nun wird in den neuen urbanen Bewegungen aber ähnlich gefragt: „Wem gehört die Stadt?“, und mit der Parole vom „Recht auf Stadt“ gleich die Antwort dazugegeben. Das Versprechen, dass es ein Recht auf Stadt gebe, ist die Idiotie des Stadtlebens, des Urbanismus; und der Urbanismus selbst ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Die kapitalistische Stadt ist nichts, was man wollen kann. Godard hat das zum Thema seines Films „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ gemacht: Eine Zeitung berichtete von den vielen Pariser Hausfrauen, die durch Prostitution die Familienkasse aufbesserten. Die kapitalistische Stadt, die auch ihre Bewohner zur Ware macht, wie der Kapitalismus die Arbeitskraft der Arbeiter. Das Überleben in den Städten in seiner vollkommenen Warenform: Das angeblich älteste Gewerbe der Welt wird zur neuen Ökonomie des städtischen Lebens: „Ihr: der Großraum Paris. Ihr: die Grausamkeit des Neokapitalismus. Ihr: die Prostitution.“ Der Erzähler flüstert: „Es ist sicher, die Verordnungen für den Großraum von Paris machen es der Regierung leichter, ihre Klassenpolitik durchzusetzen. Und den Großmonopolen, die Pariser Wirtschaft zu organisieren und zu steuern, ohne auf die Bedürfnisse der acht Millionen Einwohner und ihren Wunsch nach einem besseren Leben Rücksicht zu nehmen.“ – Bedürfnisse von acht Millionen Einwohnern: Das sind mindestens auch acht Millionen Bedürfnisse; und ebenso viele Wünsche nach einem besseren Leben. In der kapitalistischen Stadt, mit der wir es heute zu tun haben, gibt es keinen Ort, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, um diese Wünsche zu erfüllen.
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Politik – Jenseits der Stadt
Das Versprechen, dass es ein Recht auf Stadt gebe, ist die Idiotie des Stadtlebens, des Urbanismus; und der Urbanismus selbst ist nicht die Lösung, sondern das Problem.
Espressokanne, Java, Galão, oder: Die kapitalistische Stadt als kreative Stadt Die Städte verändern sich in derselben Weise, wie die wirklichen Subjekte des städtischen Lebens sich verändern. Die Entwicklung des Kapitalismus von der fordistischen Massengesellschaft zur postfordistischen Individualgesellschaft vollzieht sich in der Konstellation von Straße und Haus beziehungsweise Wohnen, Leben, Arbeiten, oder schließlich Konsum, Freizeit, „Kultur“. Zum Urbanismus, den Louis Wirth 1938 erstmals als „Way of Life“ beschrieben hat, gehört die Idee, sich einzurichten. Einrichtung ist ein Element der kalkulatorischen Verplanung des Lebensraums. Dazu passt zum Beispiel die Einbauküche, als sogenannte Frankfurter Küche 1926 von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entworfen. Das Einrichten fängt im Fordismus an, in dem die ökonomische Effizienz sukzessive auf alle Lebensbereiche übertragen wird. Avigail Moss erzählte mir neulich, dass die Espressokanne, wie wir sie in der 1933 von Alfonso Bialetti entwickelten klassischen Form kennen, eine Rationalisierung des Kaffeekonsums italienischer Automobilarbeiter bedeutete, nämlich sollte der wachmachende Espresso schon zu Hause getrunken werden, um die zeitraubenden Pausen in den Cafés zu sparen. In der Stadt des 20. Jahrhunderts gehört Kaffee nicht nur zur Gemütlichkeit, wie man es vom (Wiener) Caféhaus her kennt. Noch mehr Zeit lässt sich sparen, wenn der Kaffee im Vorbeigehen auf dem Weg zur Arbeit getrunken wird: Coffee to go. Die Rationalisierungsstrategien des Fordismus werden im Postfordismus in Lifestyle übersetzt und die kapitalistische Stadt permanenter ›kreativer‹ Aufwertungsprozesse unterworfen: Eine neue Stufe des Urbanismus, dass nämlich trotz der Kritik, die sich hier und da immer mal wieder regt, die Stadt als solche in ihrer Grundstruktur nie in Frage gestellt wird. Das Fatale am Urbanismus und seinen (links)politi-
schen Verdünnungsformen ist, dass er nicht über die Stadt hinauskommt, sondern sie zurückhaben will; er sperrt sich gegen Veränderungen, statt mit Veränderungsforderungen über das Urbane ins Utopische zu gehen. Der Urbanismus scheint davon auszugehen, dass die Stadt erst einmal ein leerer Ort ist, der schlimmstenfalls vom Kommerz besetzt wird, bestenfalls von der „authentischen“ Szenekultur. Doch in diesem Sinne ist die Stadt nicht leer: Zur Durchkapitalisierung des städtischen Lebens, wofür Urbanismus der Ausdruck ist, gehört nicht nur die ökonomische Besetzung der Stadt, sondern wesentlich die kalkulierte Rationalisierung der Stadt als soziales Verhältnis im Sinne einer umfassenden Kommodifizierung. Der Aufenthalt in der Stadt wird der Warenförmigkeit unterworfen: Mieten, Parken, Nahverkehr, jede Gehwegplatte, jeder Mauerstein und jeder Haufen Sand ist eine Ware, nichts ist umsonst. Nur wenn das überhaupt gleichsam als Naturordnung der Stadt erscheint, kann sich der Urbanismus in seiner höchsten Form auf die Stadt als Marke kaprizieren: Die kapitalistische Stadt als kreative Stadt, die nur deshalb selbst von ihren Kritikern nach Maßgabe der Kreativität verteidigt wird, weil von der Tatsache, dass die Stadt vom Kapitalismus durch und durch bestimmt ist, abgesehen wird, – weil die originären Praxisformen städtischen Lebens gerade in der Stilisierung des eigenen kreativen Potenzials der kapitalistischen Arbeit unterworfen werden. Denn überall dort, wo gelebt, gewohnt, gefeiert, gegessen, getrunken, gefahren, gefickt oder sonst irgendetwas gemacht wird, wird immer auch und vor allem gearbeitet. Anders gesagt: In der kapitalistischen Stadt sind ‚Wohnen‘ und ‚Leben‘ Synonyme für ‚Arbeiten‘.
Die Uhr, oder: Die Stadt des abstrakten Raums Das gesellschaftliche Leben heute findet in den Städten statt. Und so, wie das gesellschaftliche Leben im Kapitalismus von der abstrakten Zeit beherrscht wird, wäre auch zu fragen, ob nicht die städtische Gesellschaft ebenso vom ab-
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Politik – – Jenseits der Stadt strakten Raum beherrscht wird – einem abstrakten Raum, der mit der Entwicklung der abstrakten Zeit aufs Engste zusammenhängt und die Ordnung der Stadt nachhaltig geprägt hat. Eine mechanische Uhr misst Zeit nicht in variablen, sondern in konstanten Einheiten; ihre Erfindung gegen Ende des 13. beziehungsweise zu Beginn des 14. Jahrhunderts markiert die Entstehung der abstrakten Zeit. Die abstrakte Zeit, etwa die bestimmte und bestimmbare Anzahl von gleichen Stunden, ist grundlegend für die moderne Gesellschaft, sofern eben diese abstrakte Zeit Richtmaß für die Verausgabung menschlicher Arbeit ist und das Leben selbst nach der Form dieser spezifischen Arbeit, nämlich Lohnarbeit vollständig organisiert wird. Variable Zeit ist subjektiv gefüllte Zeit, die durch die Ereignisse überhaupt erst hervorgebracht wird. Ein Tag mit Kater und Kopfschmerzen wird anders erfahren als ein Tag mit einem geliebten Menschen im Bett. Konkret ist die Zeit, die Kartoffeln im kochenden Wasser brauchen, bis sie gar sind; konkret ist die Zeit, mit der ich im Zustand zwischenmenschlicher Verwirrung wieder und wieder meine E-Mails checke. Konkrete Zeit kann zyklisch beziehungsweise periodisch sein, oder hängt von besonderen Situationen und Prozessen ab: die Jahreszeiten, die Schwangerschaft, die Dauer eines Lebens, das Schreiben eines Buches, die Reise, der glücklichste Augenblick etc. Was wir hierbei Zeit nennen und als Zeit erfahren, wird durch die Ereignisse erst erzeugt. „‚Abstrakte Zeit‘ dagegen, unter der ich gleichförmige, kontinuierliche, homogene, ‚leere‘ Zeit verstehe, ist unabhängig von Ereignissen … Abstrakte Zeit ist eine unabhängige Vari-
Zum Urbanismus … gehört die Idee, sich einzurichten. Einrichtung ist ein Element der kalkulatorischen Verplanung des Lebensraums. able. Sie konstituiert einen unabhängigen Rahmen, in dem Bewegung, Ereignisse und Handlungen auftreten. Diese Zeit ist in gleiche, konstante, nicht-qualitative Einheiten aufteilbar“, schreibt Moishe Postone. Die Vorstellung einer abstrakten und abstrakt messbaren Zeit ist bis zum Ende des Spätmittealters unbekannt. Noch einmal Postone: „Anfang des 14. Jahrhunderts gingen die städtischen Gemeinden Westeuropas … dazu über, ihre Tätigkeiten über vielfältige Glockenschläge zu regulieren. Das Leben in der Stadt wurde bald von einer stattlichen Phalanx von Glockenschlägen geordnet, die Öffnung und Schließung der verschiedenen Märkte signalisierten, Anfang und Ende des Arbeitstages anzeigten, unterschiedliche Versammlungen ausriefen, den Abend einläuteten, die Zeit markierten, nach der kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden durfte, bei Feuer oder Gefahr Alarm gaben usw.“ Die Erfindung der mechanischen Uhr verstärkte diese Entwicklung. Entscheidend ist allerdings, dass die in den Städten über Glockenschlag und Turmuhren eingeführte Ordnung konstanter Zeiteinheiten, also die abstrakte Zeit, nicht nur bestimmte Tätigkeiten ordnete (wie etwa im Kloster), sondern zum Maßstab der Tätigkeit selbst wurde. Im Übergang, den das Spätmittelalter historisch markiert, hatten sich die Städte und die städtischen Lebensformen derart verändert, dass sie als Ausdruck und Ursache der Einführung der abstrakten Zeit wie auch der abstrakten Arbeit gedeutet werden können. Mehr noch: So wie die Uhr zum
spezifischen Instrument der Abstraktifizierung der menschlichen Zeitordnung wurde, so lässt sich parallel auch eine Abstraktifizierung des Raums an einer Reihe geometrischer Instrumente und Dispositionen festmachen – man denke an Sextanten, Kompasse oder die Entwicklung der Kartografie, der Zentralperspektive und später des Koordinatensystems. Der abstrakte Raum, also nämlich der Raum der kapitalistischen Stadt, ist mithin ein leerer Raum, der nicht durch die Ereignisse konstituiert wird, sondern als gleichsam leerer Behälter durch Dinge und Prozesse gefüllt wird, die eben dem Raum beziehungsweise der Stadt äußerlich bleiben. So werden die leeren Wohnungen, die leeren Häuser, die leeren Straßen mit Menschen gefüllt, die sich fremd und anonym zueinander verhalten. Die ökonomische Arbeitsteilung setzt sich im Alltag in der Stadt fort: Der urbane Lifestyle zerlegt die einzelnen Handlungen in isolierte Elemente. Im abstrakten Raum begegnen sich auch die Menschen nur noch abstrakt; sie berühren sich nicht und tatsächlich wären die meisten Berührungen Eingriffe in die körperliche, das heißt konkrete Integrität der Menschen.
Die Kommune, oder: Kein richtiges Leben im falschen Die falsche Konkretisierung der Stadt ist ihre Verwandlung in den Staat; der Urbanismus in all seinen Varianten repräsentiert dabei eine Ästhetisierung der Politik, für die heute noch dasselbe gilt wie zu den Zeiten, als Walter Benjamin diesen Herrschaftsmechanismus darlegte: Den Menschen steht eine Veränderung der Lebensverhältnisse zu; die kapitalistische Stadt gibt ihnen lediglich mit dem urbanen Lebensstil einen Ausdruck. Die dagegen zu formulierende Forderung hieße nicht Politisierung des Urbanismus, sondern Aufhebung der Politik als Staat und Stadt im Sinne der Verwirklichung der Kommune. Das richtige Leben gibt es erst jenseits der Stadt. – Es gehört übrigens zu den Finessen der kritischen Theorie, dass der schon zum Sprichwort herabgesunkene Satz Adornos, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, sich auf das Wohnen, das Leben in den modernen, kapitalistischen Städten bezog.
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Politik – Alles in Laufnähe
ALLES IN LAUFNÄHE Vom Leben abseits der trägen Metropolen Text — MARTIN BÜSSER, Fotos — MICHEL BONVIN & ADELINE MOLLARD In allen deutschen Städten gibt es die stets gleichen Einkaufsstraßen mit den stets gleichen Geschäften. Saturn, H&M, New Yorker, Nordsee, Fielmann, Subway und Pizza Hut schön aneinandergereiht, damit auch ja allen Menschen in allen Städten alles vertraut vorkommt. In Metropolen wie Hamburg oder Berlin ist so etwas nicht weiter schlimm, denn wer dort lebt, kann solche Fußgängerzonen meiden, kauft einfach im Gemüse- und Second-Hand-Laden ums Eck. Doch die meisten Menschen leben nicht in Metropolen wie Hamburg oder Berlin. Sie leben auch nicht auf dem Land, wo einmal die Woche ein Lebensmittelladen auf vier Rädern vorbeikommt und freitags das Fischauto. Nein, statistisch gesehen leben die meisten Menschen in mittelgroßen Städten, die auf Namen hören wie Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück, Wuppertal, Mannheim, Kassel, Bielefeld und Duisburg. Oder Mainz, die Stadt, in der ich lebe. Das Schicksal von Bewohnern mittelgroßer Städte ist es, dass sie die stets gleichen Einkaufsstraßen mit den stets gleichen Geschäften nicht umgehen können, da der Stadtkern in der Regel aus nichts anderem besteht. Der Rest sind Wohnviertel, entweder Neubaugebiete oder eingemeindete ehemalige Dörfer. Wer in Mainz mit dem Bus nach Finthen oder Hechtsheim hinausfährt, wird sich wundern, dass diese Orte immer noch zur Stadt gezählt werden, denn eigentlich befindet man sich bereits auf dem platten Land. Nur dank solcher Eingemeindungen erklärt sich die Einwohnerzahl von knapp 200.000. In der Innenstadt sieht man von all diesen Menschen nichts. Höchstens an Fastnacht. Aber das ist ein anderes, ein noch traurigeres Thema. Menschen leben in mittelgroßen Städten, weil sie dort arbeiten oder eine Familie gegründet haben. Sie leben dort aus allen erdenklichen, meist langweiligen und vernünftigen Gründen, aber nicht aus Leidenschaft zur Stadt. Die Boheme zieht es nicht in mittelgroße Städte. Und selbst die vielen großen Universitäten, die sich in mittelgroßen Städten wie Mainz angesiedelt haben, sorgen für keinerlei Boheme-Flair. Die Studenten sitzen weit draußen, rund um ihren Campus in eingemeindeten Dörfern verteilt, verlassen ihre Wohnheime nicht, schuften für den Bachelor, wichsen vorm Internet oder popeln in der Nase. In der Stadt sind sie fast nie zu sehen. Das Fehlen einer Boheme sorgt für das Fehlen von Boheme-Strukturen. Kein linker Buchladen, kein schwullesbisches Cafe, kein Plattenladen, der diesen Namen verdient, überhaupt keine Spezialkultur, keine Nischen. Wer das neue Album von Animal Collective haben will, muss zu Saturn, riskiert ein „Haben wir nicht“ und bestellt fortan lieber gleich per Internet. Und dennoch haben die meisten Menschen in mittelgroßen Städten nicht das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Im Gegenteil, sie betonen stolz, dass alles in Laufnähe sei. Manchmal sind die Dinge sogar so nahe, dass sie einander reiben. In Moers beispielsweise liegen ein chinesisches Restaurant und der Saturn auf einer Etage, ohne Trennwand. Beim Essen können die Restaurant-Gäste zusehen, wie Saturn-Kunden Waschmaschinen oder Flachbildschirme kaufen. Und Saturn-Kunden haben es nach dem Kauf einer Waschmaschine nicht weit zum „All you can eat“-Buffet. Bewohner mittelgroßer Städte nennen so etwas „praktisch“.
Lebendige Szene In mittelgroßen Städten gibt es keine Gentrifizierung. Immerhin, ein Vorteil. Dort existieren keine Viertel wie St. Pauli, Kreuzberg oder Neukölln. Anders gesagt, Viertel mit hohem Anteil an Arbeitern und Migranten würden sich in mittelgroßen Städten nie wie St. Pauli oder Kreuzberg entwickeln, weil keine „Szene“ in diese Viertel zieht, keine Künstler Ateliers eröffnen. Galerien gibt es in mittelgroßen Städten zwar auch, aber dort wird keine junge Kunst ausgestellt, dort kann man Siebdrucke von Hundertwasser und Toskana-Aquarelle von Künstlern kaufen, die längst darauf verzichtet haben, ihre Arbeiten überhaupt noch zu signieren. Darum sei jeder Besucher gewarnt, wenn ihm Bewohner mittelgroßer Städte irgendein Viertel ihrer Stadt als „Szeneviertel“ verkaufen wollen. Das bedeutet meistens nur, dass es um die Ecke einen Bioladen gibt sowie eine Kneipe, in der nicht einfach nur Radio läuft, sondern der Wirt die CDs selber auflegt. Zum Beispiel Bon Jovi, Sade oder Foreigner. Gastronomie und Ambiente solcher „Szenekneipen“ sind meist noch tief in den 80er Jahren verwurzelt. Auf der Speisekarte findet sich die einfallsreiche Auswahl von Knobibaguette bis zu überbackenem Schafskäse, seit den Neunzigern um Spaghetti Pesto ergänzt. Je nach Selbstpositionierung solcher Kneipen reden die Gäste über Hardrock und Fußball, Bluesrock und Fußball, Politik und Fußball, Hartz 4 und Fußball oder Lebensversicherung und Fußball. An den Wänden hängen traurige, mit einer Fettschicht versehene Embleme mittelstädtischer Kneipenkultur: Ein Guinness-Logo, ein Poster von Lemmy, ein Wimpel vom städtischen Fußballverein. Natürlich gibt es solche Kneipen auch in Berlin und Hamburg. Alleine, dass dort keiner in ihrem Zusammenhang von „Szene“ sprechen würde. Das, was sich gemeinhin Szene nennt, ist in mittelgroßen Städten nichts weiter als eine Ansammlung von Gescheiterten, die hängen geblieben sind. Die Tatsache, dass sie alle irgendwann den Absprung in eine der großen Metropolen verpasst haben und also alle immer noch in ihren „Szenekneipen“ unter Lemmy- und Guinness-Plakaten sitzen, eint sie alle, schweißt sie zusammen. Und so kommt es, dass Szenen sich in mittelgroßen Städten nicht wirklich ausdifferenzieren. Ex-Punks, ExSkins, Hardrocker, Feministinnen, selbsternannte Performance-Künstler, Lyriker und Werbegrafiker sitzen alle in ein und derselben Kneipe, sitzen an denselben Tischen, kauen alle auf denselben Knobibaguettes herum. Mittelgroße Städte sind somit ein Musterbeispiel an Toleranz.
Inseln Mittelgroße Städte sind reizarm. Hier gibt es nicht das beruhigende Metropolen-Gefühl, dass man am Abend – wenn man denn wollte – zu mindestens zwanzig spannenden Konzerten, Lesungen oder Kinovorführungen gehen könnte, wahlweise aber auch auf mindestens zehn vielversprechende Partys. Wer in solchen Städten etwas erleben will, muss es schon selber in die Hand nehmen. Deshalb gibt es in mittelgroßen Städten immer wieder Inseln, in denen ein Gefühl von Vertrautheit, Gemeinschaftsgefühl und DIY-Ethos das Miteinander bestimmt, wie man es aus keiner Metropole dieser Welt kennt. Man denke zum Beispiel an Silke Arp-bricht in Hannover. Ein seit Jahrzehnten existierender Kellerclub, wie es in Berlin temporär Hunderte gibt ... oder eben auch nicht,
Politik – Alles in Laufnähe weil die ständige Verfügbarkeit temporärer Kellerclubs in Berlin längst zu einer Sattheit und Undankbarkeit geführt hat, die dafür sorgt, dass solche Clubs nie das selige Gefühl einer Insel ausstrahlen, wie man es aus mittelgroßen Städten kennt. Weil in Berlin alle ständig nur in Erwägung ziehen, sie könnten abends zu dieser oder jener Veranstaltung gehen, um dann in der Regel doch nicht hinzugehen, sind die Konzerte, Lesungen und Kinovorführungen in Metropolen oft schlechter besucht als in mittelgroßen Städten. Vor diesem Hintergrund muss man auch Sprüche verstehen wie „Wer es als Künstler in New York geschafft hat, hat es überall geschafft“. Ein solcher Spruch bedeutet nicht, dass das New Yorker Publikum besonders wählerisch, anspruchsvoll und hip ist. Er bedeutet lediglich, dass es als Newcomer schwerer ist, in einer Metropole zwanzig Leute zusammenzubekommen als in mittelgroßen und kleinen Städten. Metropolen sind nicht, wie gerne angenommen wird, unglaublich lebendig, beweglich, flüchtig, sondern im Gegenteil träge. Dort, wo man immer etwas erleben kann, bleiben die meisten zu Hause. Dort, wo es fast nichts gibt außer den üblichen Einkaufspassagen und Guinness-Kneipen, nehmen Gleichgesinnte die wenigen Alternativen dankbar an. Ein Lob auf die Mittelgroßen!
11 In mittelgroßen Städten gibt es keine Gentrifizierung. Immerhin, ein Vorteil ... Viertel mit hohem Anteil an Arbeitern und Migranten würden sich ... nie wie St. Pauli oder Kreuzberg entwickeln, weil keine «Szene» in diese Viertel zieht, keine Künstler Ateliers eröffnen.
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Politik –– Ein schleichendes Gift
EIN SCHLEICHENDES machen Opposition, im Zweifel GIFT Sie gegen sich selbst. Tocotronic forder-
ten die Lüge, feierten die Kapitulation und verlangen jetzt danach, sich selbst zu zertrümmern. Ein Gespräch über die Krise der Subversion, gebildete Popmusik und Humor.
Text — RASMUS ENGLER & LASSE KOCH, Fotos — © SABINE REITMEIER
Politik – Ein schleichendes Gift
— Es fällt auf, dass sich euer neues Album „Schall & Wahn“ in den Texten vornehmlich mit Themen wie Zerfall, Wahnsinn und Verschwörung auseinandersetzt – wobei es musikalisch und, was den Sound betrifft, das wärmste und zugänglichste Werk der letzten Jahre ist. Dirk von Lowtzow : Ich hätte gedacht, dass „Schall & Wahn“ unzugänglicher ist als beispielsweise unser letztes Album „Kapitulation“. Zum einen auf der Textebene – „Kapitulation“ hat einem ja noch stark diese Botschaften vor den Latz geknallt –, aber auch insgesamt empfinde ich „Schall & Wahn“ als sehr divers. Wir beginnen mit einem langen Stück, das Aufmerksamkeit erfordert. Ich denke, das Album entwickelt eine eher suggestive Wirkung, es nimmt einen irgendwie mit, zieht einen rein. Diese Art der Zugänglichkeit finde ich sehr schön. Das ist uns und vor allem unserem Produzenten Moses Schneider gut gelungen.
— Wenn man sich einen eurer Hörer vorstellt, wie er durch die Gegend läuft und „Mach es nicht selbst“ summt … D. v. L : Das ist natürlich witzig.
— Wir finden daran diese Widersprüchlichkeit interessant: Der souveräne, mit einer gewissen Lässigkeit vorgetragene Indie-Rock prallt auf eine textlich-inhaltliche Ebene, die Zweifel und Verweigerung geradezu programmatisch einfordert. So entsteht das Gefühl, als funktioniere eure Kunst strategisch, wie eine Art Trojaner. Erst schleicht sie sich ein, dann wird einem bewusst, was da eigentlich gesungen wird. Das hat fast etwas Zersetzendes. Arne Zank : Es ist weniger eine Strategie oder ein Konzept, sondern eher ein Automatismus, der sich häufig bei uns einstellt. Man denkt Musik und Text widersprüchlich zusammen, und das setzt dann eine spezielle Dynamik frei. Man erzeugt bewusst Brüche und geht in die Extreme, oder einfacher ausgedrückt: Ein trauriger Text mag vielleicht besser funktionieren mit einer fröhlichen Musik. Ich glaube, diese gegensätzliche, dialektische Herangehensweise öffnet unsere Stücke, man durchschaut sie nicht sofort. Deshalb ist das Bild vom Trojaner gar nicht so falsch. Vielleicht schmuggelt man so tatsächlich Inhalte oder Botschaften in die Hörerinnen und Hörer ein. Aber nicht als Teil einer Strategie, sondern als Resultat eines Automatismus, der uns eingeschrieben ist. D. v. L : Das Wort „zersetzend“ ist ganz schön, da denke ich an Giftschrank, an Bücher im Giftschrank einer Bibliothek, das finde ich als Idee ganz hübsch. Aber was in eurer Frage mitschwingt, das ist der Gedanke der Subversion, und da wäre ich grundsätzlich sehr vorsichtig. Man kann ja machen, was man will, der Markt- oder Warenförmigkeit der Sache ist doch nicht zu entgehen. Dann stellt sich die Frage, inwieweit Rock- oder Popmusik überhaupt subversiv sein kann. Wahnsinnig viel schimpft sich heute subversiv, zum Beispiel Lady Gaga, wogegen ich überhaupt nichts habe – es ist schlicht zu einem sehr gebräuchlichen Wort geworden. Wenn Firmen Marketingaktionen durchführen, irgendwelche Zigaretten im Park verbuddelt werden und Leute sie suchen müssen, wird das als subversiv bezeichnet. In Bezug auf unsere Musik finde ich den altmodischen Begriff der Giftschrankliteratur eigentlich ganz schön.
13 Jan Müller : Wirklich subversiv zu sein ist eine sehr große Leistung. Würde man das von sich selber behaupten, wäre man entweder sehr eitel oder ein ziemlicher Trottel.
— Das heißt, solche Marketingstrategien vereinnahmen Subversivität über ihre Parolenhaftigkeit und Plakativität. Bei euch hingegen meint man, eine verstärkte Hinwendung zu Brüchen und Widersprüchen erkennen zu können … D. v. L : Wir werden oft direkter danach gefragt, inwiefern wir uns als politische Band verstehen. Ich denke, dass ganz bestimmte Anforderungen erfüllt sein müssen – vielleicht gar nicht unbedingt qualitativ, sondern auch zeitlich oder territorial – damit Kunst im weitesten Sinne politisch wird. Wobei ich ganz gezielt „wird“ sage statt „ist“. Es ist sehr schwierig, von vornherein zu postulieren, ein Stück sei politisch, weil es sich auf dem Feld der Politik ansiedelt, ein anderes eben unpolitisch, weil es sich mit ästhetischer Erfahrung, dem Feld der Liebe und der Gefühle beschäftigt. Es gibt viele Lieder, die einen eminent politischen Gehalt haben, obwohl man sie aufgrund der Art und Weise, wie sie erzählt oder strukturiert sind, ganz klassisch als Lovesongs bezeichnen würde. J. M : Ich finde es eher schwierig, Politik zu vermeiden. Gerade wenn sich irgendwelche Popbands demonstrativ unpolitisch geben, hat das ja oft eine subtile politische Botschaft. D. v. L : Natürlich würde ich unsere Stücke nicht als Bekenntnisse von Unpolitischen bezeichnen, um das mit Thomas Mann zu sagen, das wäre ja eine fast schon reaktionäre Haltung. Ich denke, hier ist es ähnlich wie beim Begriff der Subversion: Apostrophiert man sich selbst als politisch, ist man es meistens schon nicht mehr.
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Politik – Ein schleichendes Gift
— In eher linken Medien liest man oft vom Vorwurf des Eskapismus, des Rückzugs vom Politischen. Es wird behauptet, bei euch sei eine Haltlosigkeit entstanden … D. v. L : Mit den Begriffen Eskapismus und Subversion wird ein wahnsinniges Schindluder getrieben. Wenn man aber bewusst mit Motiven spielt, die beispielsweise gemeinhin dem Feld des Phantastischen zugeordnet werden, dann ist das noch lange nicht eskapistisch. J. M : Diese Kritik wurde insbesondere zu „Pure Vernunft darf niemals siegen“ geäußert und ich betrachte sie als Vereinnahmung. Das ist auf einer anderen Ebene genau das Gleiche, als ob uns nach einem Konzert jemand fragt, warum wir unsere Trainingsjacken nicht mehr tragen. Man ist ja nicht in irgendeiner Partei und muss deren Linie vertreten. Wir sind eine Band und machen das, was uns künstlerisch interessiert. D. v. L : Außerdem steckt darin eine sehr antiliterarische Komponente. Aufgehängt hat sich die Kritik ja häufig an unserem Faible für eine Literatur wie die H. P. Lovecrafts. In ihrer Komposition sind Lovecrafts Geschichten allerdings auf eine gewisse Art sehr antihierarchisch, ihre Erzählstruktur hat durchaus etwas Politisches.
— Also ist diese Kritik hängengeblieben an den von euch verwendeten Bildern und hat nicht erkannt, wie ihr diese verhandelt?
R. Mc. P : Das ist aber auch gut geschrieben. D. v. L : Es kommt insgesamt ganz stark auf die Machart an.
D. v. L : Wir proklamieren ja die ganze Zeit die Flucht aus sich selber heraus. Das, was uns heute als Eskapismus begegnet, bedeutet das Gegenteil, da findet eine Flucht ins Selbst statt. Der heutige Eskapismus ist eine Ideologie, die stark auf das Subjekt bezogen ist, die einfordert, dass man ganz bei sich sein soll.
— Möglicherweise entsteht ein weiteres Rezeptionsproblem dadurch, dass häufig die künstlerische Vermittlung nicht mitgedacht wird. Ein Text-Ich wird oftmals gar nicht mehr als Kunstfigur wahrgenommen, sondern sofort auf den Autor bezogen. D. v. L : Das kommt noch dazu.
— Es scheint ja durchaus so etwas zu existieren wie eine Sehnsucht nach Authentizität – vielleicht korrespondiert diese sogar mit der Ideologie des Bei-sich-sein-Sollens, von der du gerade gesprochen hast – und es gibt genügend Bands, die diesem Wunsch gerecht zu werden scheinen ... D. v. L : Bestimmt benutzen viele Bands das unvermittelt Autobiografische als Stilmittel. Für uns ist das aber nichts. Rick McPhail: Ich finde das oft langweilig. Das Leben eines kleinen Indie-Rockstars ist nicht interessant. Ich gehe auch jeden Tag einkaufen, who the fuck cares. D. v. L : Aber auch hier gibt es sehr interessante Sachen, Neil Young fällt mir spontan ein, dem Will Oldham beispielsweise auch vorwirft, sein Werk sei zu autobiografisch. Manchmal finde ich dieses ganz einfach Gesagte bei Neil Young oder bei Jonathan Richman, der dann über seine Lieblingsbiermarke singt oder über Pizza, total entwaffnend. Gerade weil es so unvermittelt ist, wird das dann wieder zur Kunst.
J. M : In dieser Frage gibt es einfach keine allgemeingültigen Regeln, da wäre man ja sehr schnell dabei, andere zu gängeln. Als Beispiel aus der Literatur fällt mir Wolfgang Welt ein, der die banalsten Alltagserlebnisse verarbeitet. Trotzdem ist das ganz große Kunst. Aber wir fühlten uns halt schon immer missverstanden, wenn unsere Stücke rezipiert wurden, als berichteten wir ausschließlich aus unserem Leben. Deshalb haben wir mit unserem Album „K.O.O.K“ damals die Notbremse gezogen. Ich denke, unsere Allergie auf den Begriff „Authentizität“ ist auch auf dieses Missverständnis zurückzuführen. A. Z : In den Indie-Rock oder in die Rockmusik an sich ist etwas sehr Authentisches eingeschrieben. Gerade dann, wenn sie deutschsprachig ist, wenn da also in der eigenen Sprache gesungen wird, entsteht erstmal so eine komische Nähe. Darauf versuchen wir natürlich zu reagieren.
— Auf „Schall & Wahn“ hat sich eure Sprache weiter verdichtet, wodurch das artifizielle Moment umso stärker zum Tragen kommt. Ist das vielleicht so eine Reaktion, eine bewusste Methode, sich den Unterstellungen des Autobiografischen noch weiter zu entziehen? D. v. L : Ich bin mir nicht sicher, ob eure Beobachtung hier zutreffend ist. Seit Kurzem spielen wir mit „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ wieder ein sehr altes Lied. Ich will mich jetzt nicht selber loben, aber wenn ich dieses Stück heute höre, dann denke ich, dass es ebenfalls eine große sprachliche Dichte hat. Das Lied ist sehr klar, weil es so verknappt ist, weil es auf den Punkt kommt, mit dem Refrain als Fazit. Begriffe tauchen auf, die für Rocktexte der damaligen Zeit total fremdartig waren. Man muss das ja auch im zeitlichen Kontext sehen: Damals war Rockmusik von einer viel stärkeren Verklausulierung bestimmt als es heute der Fall ist. Wir fanden beispielsweise die „Einstür-
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Politik – Ein schleichendes Gift zenden Neubauten“ ganz gut. Deren Spätphase spielte sich ja hauptsächlich auf Theaterbühnen ab, ging ganz stark in Richtung Poetik. Wenn wir dann Stücke geschrieben haben, in denen die Worte „Nuss“ oder „Stracciatella“ vorkamen, hatte das mit dem mephistophelischen, Goetheschen, von mir aus Heiner-Müllerschen Gestus einer Band wie „Einstürzende Neubauten“ überhaupt nichts mehr gemein. So etwas zu singen war provokant, in erster Linie aber irritierend. Wir haben das damals bewusst als Irritationsmoment gewählt. Insofern denke ich, dass die besten unserer älteren Stücke, wenn auch auf eine andere Art, eine ähnliche sprachliche Dichte aufweisen wie unsere aktuellen Lieder – und deshalb ähneln sie sich auch im Effekt der Irritation.
— Waren es damals Begriffe wie „Stracciatella“ oder „Nuss“, die zur Irritation beigetragen haben mögen, fällt auf eurem neuen Album die Verwendung altmodischer Vokabeln auf, zum Beispiel: „Gesichte“. Das hat durchaus auch etwas Erheiterndes. D. v. L : Wenn ich so etwas schreibe, erheitert mich das ehrlich gesagt auch. Formulierungen wie „Gesichte haben“ oder in „Zungen reden“ kennt man ja sonst vielleicht nur aus Litaneien oder der Bibel. Ich finde das grundsätzlich sehr schön. A. Z : Eben. Noch einmal zum Strategischen – ganz oft ist man da bei uns eher einem Witz auf der Spur als einem Konzept. Wenn man auf diese Art Widersprüche erzeugt, dann hat das etwas wahnsinnig Erheiterndes und Fröhliches. Vor allem das Pathos, das man ja mag, das man auch erzeugen möchte, wird dadurch erträglicher.
— Gerade wenn der Humor eine nicht zu unterschätzende Rolle in eurer Musik spielt, wie sehr geht es einem dann auf die Nerven, dass die Feuilletons häufig so eine Interpretationswut entwickeln, dass in Interviews in totaler Ernsthaftigkeit versucht wird, den Bezügen und Bedeutungen einzelner Textpassagen auf den Grund zu gehen? J. M : Vorhin fiel das Stichwort Verdichtung. Wenn wir eine Platte machen, dann versuchen wir, etwas sehr Verdichtetes zu schaffen. Leider gehört es nun einmal zur Promotion dazu, dass man das Ganze dann wieder ein Stück weit zerredet.
nageln, uns so oberlehrerhaft hinzustellen. Dabei weiß ich nicht einmal, ob wir sonderlich gebildet sind. Auch mit Begriffen wie „intellektuell“ kann ich überhaupt nichts anfangen. Wir sind einfach immer relativ stark auf der Lauer nach Dingen, die einen inspirieren. Das können Begegnungen mit Menschen sein, genauso wie die Auseinandersetzung mit bildender Kunst, Literatur oder Film. Im schlechtesten Kinofilm können Ideen stecken, die wir in unser Werk einspeisen, die wir uns auf diese Art und Weise aneignen. Häufig entstehen so unsere Lieder. Mit irgendeiner Form von Bildung hat das überhaupt nichts zu tun.
— Im Stück „Macht es nicht selbst“ setzt ihr euch kritisch mit dem Do-it-yourself-Gedanken auseinander, der ja längst in der Mitte der Gesellschaft angelangt ist. Ursprünglich kommt ihr selbst aus der Independent-Ecke ... D. v. L : Unsere erste Single war damals d.i.y. und wir sind ja auch heute immer noch gezwungen, fast alles selbst zu machen. Insofern ist das auch ein Kommentar, der sich ironisch auf uns bezieht. R. Mc. P. : Ich finde es nervig, wenn aus d.i.y. ein Verkaufsargument gemacht wird: Man soll die Musik mögen, weil alle irgendwie miteinander befreundet sind. Das hat so etwas Niedliches. Immer dieses Persönliche ... D. v. L : Ein Zeitzeichen ist natürlich diese permanente Aufforderung zum Kreativsein. Man soll sich selbst mobilisieren und auch vervollkommnen, da ist man ja ganz schnell bei solchen Horrorgestalten wie Peter Sloterdijk. Die Forderung, man solle alles aus sich selbst schöpfen, schafft nichts anderes als eine zweigeteilte Gesellschaft. Einerseits die Leute, die über das kulturelle und real-existierende Kapital verfügen, und dann diejenigen, die das eben nicht leisten können. In der bildenden Kunst gab es Bewegungen, zum Beispiel „Ready-made“ oder „Minimal Art“, in denen ganz stark auf Serialität Wert gelegt wurde, auf industrielle Fertigung oder eine fast-industrielle Fertigung – eben nicht auf Handarbeit. Das Künstlersubjekt auf diese Art und Weise gewissermaßen zu zertrümmern, ist bis heute eine reizvolle und schöne Idee. Diesbezüglich kann man die totale Verideologisierung des d.i.y., diesen Authentizitäts-Terror, eigentlich nur als totalen Backlash empfinden.
Tocotronic „Schall & Wahn“ erscheint am 22.01.2010
D. v. L : Besonders fürchterlich finde ich es, wenn man versucht, uns auf eine gebildete Form von Popmusik festzu-
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Musik - The Sound of Detroit
Text — MATTHIAS RAUCH 1
5)& 406/% 0' %&530*5 Die reale und imaginäre Neuerfindung der Motor City.
Fotos — JÖRN MORISSE
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Musik - The Sound of Detroit
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1 Packard Plant, entworfen vom Architekten Albert Kahn, ist ein ruinöser Abenteuerspielplatz, der von streunenden Hunden und Fotografen gleichermaßen geschätzt wird. 2 Do it yourself. Von den „No Fishing“-Schildern lässt man sich hier nicht abschrecken. 3 1538 E Grand Blvd: 1956 stellte die Packard Motor Car Corporation ihre Produktion ein. Geblieben ist ein riesiger Fabrikkomplex, der seitdem verfällt.
„But I don’t know what about Detroit it is. It’s just, I think it’s just a pathetic city. It’s just so pathetic when you live there. It’s so behind the times and such a not-modern city.“ (Jack White) Es ist schon lange keine Neuigkeit mehr, dass die meisten Großstädte schon seit Jahren kontinuierlich wachsen. Doch nicht alle Städte explodieren, einige schrumpfen auch. Manchester ist beispielsweise eine solche Stadt, Leipzig ebenfalls. Und eben auch Detroit. Eine nüchterne Zustandsbeschreibung Detroits, die oftmals einer Schreckensmeldung gleicht, ist schnell geschehen. Die Arbeitslosenquote ist mit circa 22-25 Prozent etwa dreimal so hoch wie der Landesdurchschnitt. Mit der höchsten Armutsquote in den USA von 28,5 Prozent lebt fast jeder dritte Einwohner in Armut. Seit 1950 hat die Stadt über die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren. Mittlerweile leben nur noch 900.000 Menschen im Zentrum Detroits, das auch in den jährlichen Kriminalstatistiken in ernüchternder Regelmäßigkeit ganz oben zu finden ist.
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Diese Entwicklung lässt sich unschwer am Stadtbild nachvollziehen. Über ein Drittel der Stadtfläche ist mittlerweile urbanes Brachland, und fast jedes fünfte Haus steht leer. Sofern überhaupt noch Häuser stehen. Kurz hinter der fast schon ironisch wirkenden Skyline der Stadt mit ihren glitzernden Türmen offenbart sich spätestens mit dem Chrysler Drive die ganze Misere der Stadt. Verlassene, teilweise abgebrannte Häuser wechseln sich mit verbarrikadierten Ladengeschäften ab, und nur die eingeschlagenen Fassaden ehemaliger Kinos und Clubs erinnern an die kulturell glorreiche Zeit Detroits, das in seinen besten Tagen sogar den beiden großen Schwestern an den Küsten – Los Angeles und New York City – in musikalischer Hinsicht Konkurrenz machte.
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Musik – The Sound of Detroit oder Detroit Cobras nur im Zusammenhang des urbanen Niedergangs Sinn. Als Berry Gordy 1960 sein Label Motown Records gründete, hatte Detroit seine größte Bevölkerungsausdehnung schon wieder hinter sich. Nachdem der Ruf nach Arbeitskräften der drei Großen der amerikanischen Automobilindustrie – Chrysler, Ford und General Motors – die Stadt rasant auf über 1,85 Millionen Einwohner anstiegen ließ, entwickelte sich Detroit erstaunlich schnell zu einer der am stärksten ethnisch getrennten Städte Nordamerikas. Downtown Detroit war bereits Ende der 1960er Jahre fast ausschließlich afro-amerikanisch, wohingegen die wohlhabenden Vororte fast nur von Weißen bewohnt wurden. An diesem Zustand hat sich bis heute nur wenig geändert. Diese Spannung sollte sich schließlich bei den blutigen Unruhen 1967 entladen, bei der 43 Menschen ihr Leben verloren.
Zudem klafft in der Kasse der Stadtverwaltung ein jährliches Haushaltsloch von über 200 Millionen US-Dollar. Toni Moceri, langjährige Mitarbeiterin der gemeinnützigen Michigan Suburb Alliance und heute in leitender Position bei der Stadtverwaltung tätig, macht auch kulturelle Faktoren für den allgemeinen Niedergang verantwortlich. „Unsere Werte sind von den Vorstädten geprägt“, berichtet sie etwas verärgert. „Nicht eine einzige Generation hat in der Innenstadt jemals in einer funktionierenden urbanen Umgebung gelebt. Für uns ist es immer noch am wichtigsten, ein Haus zu besitzen und individuelle Kontrolle über alles zu haben. Bildung und Geschichte sind uns leider immer noch nicht wichtig genug. Außerdem hat Detroit kein ausreichendes Netz öffentlicher Verkehrsmittel. Wir haben einen urbanen Raum geschaffen, der nicht Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung fördert. Beispielsweise braucht man in Detroit heute immer noch ein Auto, um überhaupt einen Job finden zu können.“ So weit, so erschreckend.
Obwohl Motown keineswegs ausschließlich Künstler aus Detroit unter Vertrag nahm, war die Erfolgsmaschine Gordys doch ein elementarer Teil der Identität Detroits. Mit 110 Top Ten Hits und Künstlern wie The Miracles, Marvin Gaye, Stevie Wonder, The Jackson 5, The Four Tops, The Supremes oder der Hausband The Funk Brothers etablierte Berry Gordy Detroit als Popmetropole und machte damit auch implizit deutlich, dass die wichtigen und folgenreichsten musikalischen Impulse nicht mehr ausschließlich von New York City oder Los Angeles ausgingen. Dennoch siedelte sich in Detroit niemals eine größere Entertainmentindustrie an, was für den Detroiter Musikjournalisten Dan Sicko einer der Gründe ist, warum die Stadt eine so vielschichtige und facettenreiche Musikszene hervorbrachte: „Detroit war und ist nie Teil der Unterhaltungskultur, wie sie von den beiden Küsten geprägt wird“, erläutert er. „Es gibt hier für Künstler einen größeren realen und virtuellen Freiraum, auch abseits von kurzfristigen Trends individuelle Herangehensweisen und einzigartige Sounds zu schaffen.“
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Doch vermeintlich objektive Statistiken erzählen bekanntlich nur einen und wahrscheinlich nicht einmal den wichtigsten Teil einer Stadt. Wie kam es überhaupt zu dieser Entwicklung und warum zeichnet sich gerade Detroit durch eine so faszinierende und vielschichtige musikalische Geschichte aus? Wie lässt sich die Beziehung zwischen dem realen und dem imaginären Detroit nachzeichnen, wie es nicht nur in der Musik, sondern auch in der Literatur und im Film immer wieder evoziert wird? Wie lässt sich der musikalische Beitrag zur Identität Detroits verstehen? Wenn man sich die Entstehung verschiedener Musikgenres in Erinnerung ruft, ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Musikgeschichte Detroits untrennbar mit dem urbanen Verfall verbunden ist. Genau wie sich die Entstehung des HipHop nicht ohne den post-industriellen Kontext des New York City der 1970er Jahre und deren massive sozioökonomische Auswirkungen verstehen lässt, so machen auch Motown-Soul und R&B, Detroit Techno und die Garage-RockEskapaden der späten 1990er Jahre à la The White Stripes
Natürlich trug auch die große afro-amerikanische Bevölkerung dazu bei, dass eine für die Stadt bis dato ungekannt breite Musikszene entstehen konnte. Getragen wurde diese Entwicklung während der 1950er und 1960er Jahre insbesondere von einer breiten afro-amerikanischen Mittelschicht, die nicht nur einen beträchtlichen Teil des Publikums für Motown-Acts darstellte, sondern auch andere Musikrichtungen wie den Jazz auf eine breite gesellschaftliche Basis stellten, wie Lars Bjorn, Professor für Soziologie an der University of Michigan-Dearborn und Autor des Buches „Before Motown: A History of Jazz in Detroit, 1920-60“, anmerkt: „Die Präsenz einer vergleichsweise großen afro-amerikanischen Bevölkerung trug maßgeblich dazu bei, dass sich eine derart vielschichtige Musikszene entwickeln konnte. Bis in die 1970er Jahre hinein gab es in Detroit viele Jahre lang ein sehr gutes Bildungssystem im Zentrum der Stadt, das nicht nur musikalische Karrieren ermöglichte, sondern auch ein breites Publikum für Jazz bereitstellte.“ Doch die Stadt schrumpfte
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Musik – The Sound of Detroit nicht nur kontinuierlich weiter, sondern musste 1972 auch zwei ihrer schmerzlichsten symbolischen Verluste hinnehmen: den Umzug von Motown Records nach Los Angeles und die Auflösung von MC5. Zusammen mit Iggy & The Stooges hatte die Band die Weiterentwicklung des Rock’n’Roll zum Proto-Punk vollzogen und waren lautstarke Repräsentanten der Counterculture und der damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Forderungen. Beide hinterließen klaffende Lücken im kulturellen Selbstbild der Stadt, die jedoch schon bald wieder gefüllt werden sollten.
Experiment des Detroit Techno von der Mitte der 1980er bis in die frühen 1990er Jahre hinein wirklich untersucht, kommt man zu dem Schluss, dass Techno nicht nur postindustriell, sondern auch stark zukunftsorientiert war“, erklärt Sicko. „Techno versuchte, die Vergangenheit abzuschütteln und einen neuen Weg in die Zukunft aufzuzeigen. Außerdem war Techno keine vorgefertigte Kultur und hat sich über weite Strecken den traditionellen Marketingkonventionen widersetzt. Diese Aspekte sind in der Musik fest verwurzelt.“ In Anbetracht der heftigen Transformationen waren die 1980er Jahre sicher einer der interessantesten Abschnitte der Musikgeschichte Detroits. Im Women’s City Club auf der Park Avenue teilten sich die verschiedenen subkulturellen Strömungen Techno, Punk und Jazz die gleichen Räumlichkeiten und sorgten schon allein deshalb für einen ungemein fruchtbaren künstlerischen Austausch. Auch das erste reguläre Live-Venue ließ nicht allzu lange auf sich warten, als 1988 The Music Institute auf dem Broadway eröffnete und nicht nur den Techno- und House-DJs ein neues Zuhause bot, sondern auch internationale Künstler nach Detroit brachte.
In den 1980er Jahren war Detroit den bisher schwersten sozialen Erschütterungen und urbanen Umwälzungen ausgesetzt, die sich in Form der „Devil’s Nights“ in die Erinnerung des Landes und der Welt brannten. Die Frustration über den zunehmenden Verfall der Stadt, der durch Deindustrialisierung und Suburbanisierung immer weiter vorangetrieben wurde, und die eklatanten sozialen Missstände, unter denen insbesondere die afro-amerikanische Bevölkerung zu leiden hatte, entlud sich am 30. Oktober 1984. An diesem Halloween-Wochenende meldete die Feuerwehr Detroits nicht weniger als 810 bewusst gelegte Brände in der Stadt. Leerstehende Häuser standen ebenso in Flammen wie Mülltonnen, Autos und öffentliche Grünanlagen. Diese etwas seltsam anmutende Art des sozialen Protests war keinesfalls neu, sondern schon seit einigen Jahren Ausdruck der Unzufriedenheit vieler innerstädtischer Bürger und existiert auch heute noch in abgemilderter Form. Doch trotz oder gerade aufgrund dieser sozialen Erschütterungen und urbanen Umwälzungen waren die 1980er Jahre vielleicht die interessanteste Dekade, was die Musikkultur der Stadt anbelangt. Denn nicht nur der Soul, R&B und Pop Motowns und der Jazz Detroits entstanden in und durch die afro-amerikanische Mittelschicht, sondern auch das Genre, das bis heute wahrscheinlich ihren weitreichendsten kulturellen Einfluss darstellt: Detroit Techno. Entgegen landläufiger Behauptungen, dass diese neu entstandene Musikrichtung ähnlich wie der HipHop in der Bronx von afro-amerikanischen Jugendlichen aus der Arbeiterschicht erfunden wurde, gehörten die drei afro-amerikanischen Protagonisten des frühen Detroit Techno – Derrick May, Juan Atkins und Kevin Saunderson – allesamt der Minderheit der schwarzen Mittelschicht aus den Vororten Detroits an. Dies unterstreicht auch Dan Sicko, der mit seinem Buch „Techno Rebels: The Renegades of Electronic Funk“ die erste umfassende Aufarbeitung zum Phänomen Detroit Techno vorgelegt hat. „Ich habe versucht, ein komplexeres Bild dieser musikalischen Bewegung zu zeichnen, als dies meist geschieht“, erläutert er. „Techno kommt primär aus der afro-amerikanischen Mittelschicht. Sie entstammt vielleicht nicht gerade der schwarzen Boheme, aber auch definitiv nicht der Straße.“ Wie auch schon der amerikanische Kulturwissenschaftler George Lipsitz bemerkte, ist die Entstehung von Detroit Techno untrennbar mit der verheerenden Deindustrialisierung und der damit einhergehenden Deterritorialisierung verbunden. Dieser Zusammenhang wird nirgends so deutlich, wie in Derrick Mays mittlerweile legendärem Aphorismus zu Techno und Detroit: „The music is just like Detroit, a complete mistake. It’s like George Clinton and Kraftwerk stuck in an elevator.“ Doch die Protagonisten des frühen Detroit Techno schufen sich in leerstehenden Fabrikhallen und Lofts mit ihrer faszinierenden Verbindung aus Kraftwerk und frühen P-FunkKlängen neue kulturelle Räume. Diese stellten gleichzeitig Verknüpfungen zwischen Düsseldorf und Detroit her und zeichneten durch die rasante weltweite Verbreitung ein neues imaginäres Bild der Stadt, das sich nicht auf den urbanen Verfall beschränken lässt, sondern stets neue, zukunftsgerichtete Alternativen aufzeigt. „Wenn man das sonische
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Das imaginäre Detroit wurde spätestens mit dem internationalen Erfolg eines gewissen Marshall Mathers aka Eminem um eine weitere Facette bereichert. Zwar hatte sich natürlich schon zuvor eine lebhafte HipHop-Szene in Detroit entwickelt, doch erst durch die mediale Aufmerksamkeit für den Herren mit den blondgefärbten Haaren aus dem WhiteTrash-Trailerpark wurde Detroit auch auf globaler Ebene zu einer anerkannten Adresse im HipHop. Künstler wie Esham, Slum Village, Obie Trice oder Street Lord’z, die teils schon wesentlich länger aktiv waren als Eminem, profitierten von der medialen Aufmerksamkeit, die der Musikszene Detroits insbesondere nach dessen Film „8 Mile“ zuteil wurde.
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4 Kreative Wiederaneignung der Stadt mit weggeworfenen Objekten 5 Auf Belle Isle, einer Insel im Detroit River steht das ehemalige Vereinsheim des Detroit Boat Club seit 1996 leer. Hier ein Teil des Geländes des ältesten Ruderclubs der USA mit Swimmingpool und Außenpavillon. 6 Schätzungen zufolge gibt es knapp 19000 Obdachlose in Detroit.
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Musik - The Sound of Detroit den letzten Jahren haben diese Entwicklung jedoch leider weitgehend zum Stillstand gebracht, zumindest vorübergehend.“ Wenn man nach konkreten realpolitischen Lösungen für Detroit fragt, sind sich Bjorn, Moceri und Sicko einig. Zuerst muss eine Verbesserung der öffentlichen Verkehrsmittel her, insbesondere des Schienenverkehrs, um sowohl die Vororte besser mit Downtown zu verbinden als auch eine bessere Anbindung an Chicago zu ermöglichen. Auch wenn das reale Detroit noch einen langen und harten Weg vor sich hat, so muss man sich um die Strahlkraft des imaginären Detroits und seiner kulturellen Räume keine Sorgen machen, was auch die umwerfende Resonanz des Detroit Electronic Music Festivals in seinem zehnjährigen Jubiläum eindrucksvoll unterstreicht. Und wie schreibt Jack White so treffend:
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Auch wenn sie ästhetisch durchaus zweifelhaft erscheinen mag, ist in diesem Zusammenhang auch eine Band zu nennen, die sich mit ihrem selbsterfundenen „Horror-Core“ ungebrochener Popularität erfreut: Insane Clown Posse. Dan Sicko merkt an, dass sich die Musik Detroits meist auf zwei Arten auf den urbanen Raum bezieht und diesen ästhetisch verarbeitet. Zum einen ist da die Strategie, die Realität und den urbanen Verfall der Stadt verdichtet beziehungsweise fast parodistisch überzeichnet zu repräsentieren, wie es insbesondere Insane Clown Posse vormachen, wobei man diese Tendenz in weniger extremer Ausprägung auch bei Eminem oder Obie Trice beobachten kann. Zum anderen lässt sich eine starke Zukunftsorientierung ausmachen, die hin und wieder auch Sci-Fi-Elemente aufgreift und Detroit eine neue, futuristisch imaginäre, urbane Identität verleiht. Diese Zukunftsorientierung lässt sich in fast allen frühen DetroitTechno-Veröffentlichungen beobachten. Da überrascht es nicht weiter, dass Derrick May, einer der wichtigsten Pioniere des Genres, in einem Interview mit dem „Montreal Mirror“ folgendes verlauten ließ: „Wenn Künstler, die überall auf der Welt leben könnten, bewusst in einer Stadt wie Detroit leben, dann bedeutet das für mich, dass sie weit in die Zukunft blicken. Denn wenn man in Detroit lebt, kann man nur über die Zukunft nachdenken. Würde man über die Vergangenheit sinnieren, würde einem das unweigerlich die Luft abschnüren.“ Auch Jack White von der Band The White Stripes, ein weiterer berühmter Sohn der Stadt, verließ vor drei Jahren seine Heimatstadt gen Nashville, aber nicht ohne noch ein herrlich pathetisches Gedicht („Courageous Dream’s Concern“) über die Besonderheit und merkwürdige Schönheit Detroits zu verfassen. Obwohl sich vor allem das Zentrum der Stadt in den letzten Jahren sehr positiv verändert hat und sich sowohl neue kommerzielle als auch kulturelle Räume öffneten, brachte die erneute Misere der Automobilindustrie diese Entwicklung zu einem jähen Halt. „Die positiven Entwicklungen vor etwa fünf bis sechs Jahren waren relativ unerwartet“, schildert Professor Lars Bjorn die Situation. „Das Stadtzentrum erfreute sich wieder größerem Interesse vor allem von den Vorstädtern und der Jugend. Zuvor gab es nur sehr geringen Zuzug junger Menschen in die Stadt. Die Auswirkungen der Rezession in
„Detroit, you hold what one’s been seeking, Holding off the coward-armies weakling, Always rising from the ashes Not returning to the earth.“ Wer wollte dem noch etwas hinzufügen.
8 7 Eastside von Detroit im Sommer, keine Autos, nur der Wind, der sanft durchs hohe Gras streift, die Natur holt sich die Stadt zurück. 8 Recycling von unten: Aus den unbewohnten Häusern wird alles Wiederverwertbare herausgeholt. 9 Motor City Industrial Park
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Musik - Manchester United!
MANCHESTER UNITED!
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Eine untergegangene Metropole lässt seit Jahrzehnten feinste Popmusik auf die Welt los. Delphic treten ein Erbe an, inklusive Rave und gelebter Alternative. Text — AIDA BAGHERNEJAD, Foto — JOACHIM ZIMMERMANN Manchester, diese einstige Perle und Epizentrum der englischen Wirtschaft, hat eine rasante Talfahrt vollzogen, um Stück für Stück wieder aus den Fabrikruinen aufzuerstehen. Nach dem Terroranschlag der IRA 1996 hat sich vieles getan, ein ganzes Stadtviertel wurde neu gestaltet und „aufgeräumt“. Ob diese Verjüngungskur wirklich nur positive Aspekte mit sich gebracht hat, bleibt aber skeptisch zu beäugen. Wie in nahezu jeder europäischen Großstadt wird mit einer vitalen Künstlerszene geworben, die sich jedoch die zentralen Wohnungen gar nicht mehr leisten kann. Bestes Beispiel: Der legendäre Hacienda-Club wurde abgerissen, dort stehen heute Lofts. Beworben werden die freien Wohnungen mit – was wohl? – dem legendären Hacienda-Club! Der Aufschwung lässt aber auch sonst verdammt viele Verlierer zurück: Armut und Siechtum sind immer noch an vielen nicht ganz blitzblank polierten Ecken anzutreffen. Überall werden neue, schöne Wohnungen gebaut, die aber leer bleiben, „there's just not enough people to live in them“. Aber genau jene Fabrikruinen, die Mahnmale für die Verlierer der neuen Zeit zu sein scheinen, stürmen Delphic, um sie mit ihrer Musik zu bespielen, um ihre Partys jenseits der sterilen Venues des neuen Manchester zu feiern. Auch wenn sie bei unserem Interview darum bitten, „illegalen Rave“ ohne das Wörtchen „illegal“ zu buchstabieren. Delphic haben entgegen der durch ihren Namen geweckten Hoffnungen keine unerwarteten Voraussagen zu machen. Auch der Name des geplanten eigenen Labels „Chimeric“ lässt sich nicht mit der Dichotomie Zweiteilung ihrer Musik begründen, sondern nur mit ihrer Begeisterung für schöne Wörter, die sich schön anfühlen beim Sprechen und die noch so unbelegt sind, dass man sie für sich einnehmen und definieren kann. Oder wissen sie selbst nur nicht, wie genau sie sich mit diesen Namen eigentlich beschreiben? Die Songs auf dem Album sind gelungene Hybride aus Gitarren- und Tanzmusik. Entgegen dem Trend, Indie mit Elektroelementen zu versetzen, gelingen die Stücke eher als Tanzmusik mit Gitarrensprengseln. Und das funktioniert so gut, wie man sich das dritte Album von Bloc Party gewünscht hätte. Treibende Bässe und Drums mit angenehm verzweifeltem Gesang, der Ian Curtis bestimmt stolz gemacht hätte. Schließlich gibt es ein Erbe in Manchester, das man antreten und erfüllen möchte. Sie beziehen sich auf den Sound ihrer Stadt. Oasis? „No, we're not really inspirated by Oasis!“. Aber vom Hacienda Club, Factory Records, von New Order und dem ganzen Madchester-Ding. Auch wenn das alles „Old Manchester“ ist, sie wollen ein „New Manchester“ entwickeln, weil „what has happened since then?“ - Vielleicht The Ting Tings? Nein, die werden übergangen, genauso wie ihre eigene Vorgängerband, die ihnen peinlich ist und ausgeklammert wird.
„Old Manchester“ ist jedenfalls bei weitem Weitem nicht ihre einzige Inspirationsquelle, auch skandinavische Bands prägten, und vor allem die vielen Reisen. Um nicht ganz im eigenen Saft zu schmoren, wurde das Album in Berlin mit dem auch als DJ der Panorama Bar bekannten Produzenten Ewan Pearson aufgenommen und fleißig rund um die Welt getourt. Jede Stadt hat ihren eigenen Vibe, ihren eigenen Sound, die Menschen, die Feierszene; all das sei in die Arbeit für das Album mit eingeflossen. Besonders Läden wie die Bar 25 oder die Wilde Renate in Berlin waren Quellen der Inspiration, das Wilde, Undefinierte und Lebendige solcher Locations hat Delphic nachhaltig fasziniert. Durch ihr ganzens Schaffen zieht sich die Diskrepanz zwischen Leben und Tod. Das Video für den besten Song des Albums „This Momentary“ wurde in Tschernobyl gedreht, einer sprichwörtlich toten Stadt. Im Video ist sie wiederbevölkert, wir sehen Schulklassen und tanzende Feenfrauen. Hier spricht die Suche nach einer alternativen Realität, wie sie die Band auch für sich versucht zu erschaffen: „We're living in our own little bubble, writing our tunes (…) with our heads in the clouds“ – sie wohnen und arbeiten zusammen und suchen Distanz zur übrigen Stadt: „We're not really aware of what's going on in the city or what's going on in London.“. Das klingt nach eigener Agenda, wie sie dieser Tage selten anzutreffen ist.
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Musik – Eine Sinfonie der Wundertüten
EINE SINFONIE DER WUNDERTÜTEN Souverän durch die Geschichte – La Stampa Wer zur Gitarre greift, verlässt sich häufig (halb) bewusst auf Szenerückbindungen. Das verschafft Übersicht, hält zugleich jedoch den Horziont erbärmlich schmal. Demgegenüber wirkt La Stampas musikalische Herangehensweise angenehm frei und auch ein bisschen aus der Zeit gefallen. Aber der Reihe nach. Man begegnete sich in Berlin. Jan Verwoert und Jörg Heiser, beide Autoren verschiedener Kunstpublikationen, trafen auf Reznicek von Nova Huta bzw. dem Groenland Orchester. Hinzu kamen der Ex-Tennisprofi Thomas Hug, sowie der Balkanfilm-Impresario Jons Vukorep. Ist das eine Band oder ein Kunst-Symposium? Vielleicht beides. Während andere im Nightliner Playstation daddeln, geht es bei La Stampa um Auseinandersetzung, wichtig sei die Polyphonie. „Unser gemeinsamer Nenner ist das Streiten“, sagt Jons Vukorep. „Bei persönlichen Themen wie Liebesbeziehungen etc. kommen wir lieber mit Ideologien. Zu ökonomischen Fragen entflammen meistens philosophische Debatten. Auf formal-ästhetische Sackgassen finden sich Lösungen in der Politik oder im Fußball.“ Eine
schöne Offenheit spricht aus diesen Zeilen, ein Wille, Bezüge herzustellen und querzudenken. La Stampa sind klug, inklusive verstörendem Witz und Überbau. Ihre musikalische Coolness erinnert an die distanzierte, „verkopfte“ Formensprache des New Wave. Es geht um Fragen und Ideen: „Wie können wir den vermeintlichen Gegensatz von formaler Strenge und großen Gefühlen aufheben und dafür sorgen, dass sich Strenge und Gefühl gegenseitig hochschaukeln?“ Jan Verwoert formuliert hiermit einen Anspruch, der in den Proberäumen der Republik derzeit nur selten eine Rolle spielt. Abmucken und Abliefern sind nicht entscheidend. Es geht um die lustvolle Auseinandersetzung mit Widersprüchen, Konzepten und musikalischen Fahrplänen. Das Fundament ist zutiefst demokratisch, Thomas Hug verdeutlicht die innere Verfasstheit der Band: „Die Idee, mit formaler Einfachheit etwas überbordend Reiches zu erzielen. Alle in der Band akzeptieren, dass sie nur das spielen, was dem dient.“ Ein angenehmes Diskussionsklima, das Gelaber um „Frontmänner“ und „Hit-
singles“ ausklammert. Ein Stück weit außen vor, dann wieder mittendrin, bedienen sich La Stampa musikalischen Materials auf selbstverständliche Weise. Nichts war noch nie da, dessen ist sich die Band bewusst und blickt unverdrossen in den Besteckkasten: „Wir behandeln das ‚Zitierte’ eher als Material, so wie ein Bäcker das Mehl (aber da gibt es ja auch ganz verschiedene Sorten – eben). Die mittleren bis späten Beatles (...) benutzten Versatzstücke von englischem Vaudeville-Musichall, Skiffle, Stockhausen, Teenie-Bop-Rock’n’Roll etc. Und dennoch hören wir diese ausgestellten ‚Zitate’ heute nicht als bloße kennermäßigen Checker-Verweise, sondern eben einfach als musikalisches Material. Zitate sind längst atomisiert. Es geht nicht um Fährten hin zur, sondern Wege raus aus der Referenzhölle.“ Herrlich. Endlich mal wieder eine Band, die sich nicht erst freishwimmen muss, sondern Dank Reflexionsniveau alle Berührungsängste zu verhindern weiß, um am Ende vor allem eines zu sein: sie selbst.
Text — MARIA LUTHER, Foto — STEFAN KORTE
Musik - Zärtliche Zäsur
ZÄRTLICHE ZÄSUR Shout Out Louds Text — JAN SCHIMMANG, Foto — JOACHIM ZIMMERMANN
Die Melancholie kann so viele Farben haben. Das haben die Shout Out Louds auf ihrem letzten Album „Our Ill Wills“ bewiesen. Songs zwischen schillernder Euphorie und trauriger Besinnlichkeit. Zwei Jahre später, die Band hat gerade ihr neues Album „Work“ live in Berlin vorgestellt. Was dessen schnöder Titel verspricht, hält er nicht: Die schwedische Band hat sich nicht selbst zur sachlichen Rationalität bekehrt. Glücklicherweise. Trotzdem ist auf ihrem dritten Album alles anders. Oder zumindest vieles. „Als Adam, unser Sänger, von seinem Aufenthalt in Australien mit seinen Demos zurückkam, waren wir irritiert - das klang verdammt nach Midnight Oil.“ Bassist Ted Malmros wirkt aufrichtig empört, als er dies erzählt. Neben ihm sitzen Schlagzeuger Eric Edman und Gitarrist Carl von Arbin und wissen nicht, ob sie darüber betreten schweigen oder amüsiert lachen sollen. Auch für sie stand damals außer Frage, dass die Stücke gemeinsam nochmal komplett überarbeitet werden müssen. Dabei ging man auch mit Keyboarderin Bebban Stenberg d'accord; es war ihnen klar, dass man sich nicht mehr so präsentieren wollte wie auf dem vorangegangenen Werk. Das war im guten Sinne überladen mit Finesse und Details, von Bjorn Yttling (Peter Bjorn & John) am Mischpult opulent inszeniert.
Mit diesem Stil hat das Quartett mittlerweile ganz offensichtlich abgeschlossen. „Diesmal haben wir alles bewusst reduziert, wollten weniger dramatisch, dafür aber persönlicher wirken“, erklärt Ted das Leitmotiv des neuen Klangs. Große Unterstützung fand die Band im Produzenten Phil Ek, der bereits mit den Shins oder den Fleet Foxes zusammengearbeitet hatte. „Den Punkt zu finden, an dem man sagt: Das war‘s jetzt, das Album ist fertig, ist sehr schwer. Das ist die Aufgabe des Produzenten.“ Dieser Punkt war gekommen, an dem hörbar wurde, dass sich die Shout Out Louds neu erfunden hatten, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. Klein gehalten wurde die Produktion, umso größer dafür die Wirkung ihres Songwritings. Überraschend geerdet, ohne das Gespür für diese gewisse musikalische Zärtlichkeit aufzugeben. Befreit vom Pathos, dem man sich bei den Shout Out Louds allerdings gerne hingegeben hatte, offenbart sich dem Hörer stattdessen eine neue Intensität. Die entschlossene Direktheit der neuen Stücke ist geradezu spürbar. Das Konzept einer Zäsur ist also aufgegangen. Man war vor der Arbeit an „Work“ regelrecht in Klausur gegangen, jeder für sich, sechs Monate lang. „Wir brauchten eine Pause voneinander. Nicht nur von uns, von allem. Als Musiker leben zu können, ist natürlich großartig. Doch manchmal fühlt sich diese Art von Beruf auch ziemlich absurd an. Wenn Musikmachen zum Alltäglichen verkommt, ist es wichtig, sich davon zu distanzieren. Um wieder zu erkennen, was man wirklich machen möchte. Und die Freude daran zurückgewinnt“, begründet Carl die Auszeit und die neue Ästhetik des Sounds. „Wenn der Hörer erkennt, dass dies ein offenes, ehrliches Album ist, das wirklich von Herzen kommt, wäre dies ein großes Kompliment“, betont Schlagzeuger Eric. Seine Kollegen nicken zustimmend. Ein allgegenwärtiger, fast schon profaner künstlerischer Anspruch. Aber so ist das mit den Shout Out Louds, das ist ihre Qualität: Diese Band hört man mit scheinbar anderen Ohren. Bei ihnen klingt sogar Triviales wie aus einer anderen, wunderbar empfindsamen Welt.
Shout Out Louds – Work (Vertigo / Universal, Veröffentlichung am 26. Februar)
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Musik - "Other people's trash"
„OTHER PEOPLE'S TRASH“ Manche Neuentdeckungen haben einen hohen Preis. Wer Beach House erst durch die Grizzly Bear-Kollaboration für den Soundtrack zu „Twilight“ kennengelernt hat, dürfte allein wegen des Besuchs des hanebüchenen Films einiges falsch gemacht haben. Dass die grotesk konservativ-verklemmte Vampir-Posse zugegebenermaßen sehr gut beschallt wird, gibt zumindest Hoffnung, dass ein Bruchteil der Millionen Kinogäste irgendwie belohnt wurde. Text — KRISTOF KÜNSSLER, Foto — JOACHIM ZIMMERMANN
Alex Scally und Victoria Legrand sind vor fünf Jahren in Baltimore aufeinander getroffen, einem Hafen-Moloch mit einer dreimal höheren Mordrate als Los Angeles und einem Einwohnerrückgang von einem Drittel in 30 Jahren. Hier gedieh zuletzt eine der lebhaftesten Musik-Szenen Nordamerikas, und Beach House sind dabei, sich neben Bands wie Grizzly Bear über die Landesgrenzen hinaus einen Ruf zu erspielen – und das nicht erst seit dem im Januar erschienenen dritten Album „Teen Dream“. Zwei sympathische Endzwanziger spielen unprätentiösen und düster-unterschwelligen Indie-Pop, spannend und trocken wie eine „The Wire“-Folge.
— Ihr habt euch in Baltimore kennengelernt, obwohl ihr woanders und unabhängig davon musikalisch sozialisiert wurdet. Denkt ihr, dass Baltimore als Stadt einen Einfluss auf eure Musik hat? Die Stadt hat uns sehr viel gegeben, aber sie hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Musik. Sie ermöglicht uns einen bestimmten Lifestyle. Dieser Lifestyle ist ein sehr großer Teil unserer Musik. Allein die Freiheit, niemals zu sehr an den Zwang zu arbeiten gekettet zu sein. Es gibt massenhaft Second-Hand-Shops, in denen wir einen Großteil unserer Instrumente aufstöbern und Dinge, die uns unsere Identität geben. Unter diesem Aspekt beeinflusst uns diese Stadt mit Sicherheit.
Musik - "Other people's trash"
25 Baltimore ist wirr, wie eine Kreuzung aus dem aufgeklärten Norden und dem konservativen Süden. Vor allem im Winter spürt man diese intellektuelle Kühle des Nordens, aber Baltimore hat genauso diesen verdorbenen, regressiven Südstaaten-Vibe, der auch viel Rassismus beinhaltet. Als Hafenstadt hat es ständig neue Einflüsse, zugleich wurde sie schon vor Generationen von den Landleuten aus den Bergen bevölkert und geprägt, sodass sie auch diese verrückte AppalachenSeite hat. Und es gibt eine Menge Bands, Dan Deacon, Double Dagger ... aber nicht viel Publikum. Wir sind nur untereinander Fans. Es ist eine Familie, das ist eine gute Sache.
— Double Dagger sind „hauptberuflich“ Typografen bzw. Designer, ihre Ästhetik spiegelt sich auch in ihrer Musik wider. Denkt ihr, dass es bei euch analog etwas gibt, was sich in eurem musikalischen Schaffen wiederfindet, einen Nenner? Wenn, dann ist es wohl unser Ansammeln von Dingen, die andere wegwerfen, vor allem alte Instrumente. Wir lieben den Müll anderer Leute. Ein Teil unserer Wärme kommt von diesen dreckigen Orten, an die wir gehen, und dem alten Kram, den wir von dort wegschleppen. Wir schalten die Sachen ein und sie sind kaputt und du spielst einen Akkord und es kommt nur „waah“. In einem Dreckloch wie Baltimore zu leben lässt uns Dinge schätzen lernen. Auch wenn sie in erster Linie kaputt sind, haben sie immer noch viel Schönheit in sich. Das ist Baltimore und das sind die Dinge, die wir lieben.
— Seid ihr denn Teil des New Weird America, gar Neo-Hippies? Wir sind wirklich keine Hippies, um Himmels Willen. Nicht mal im Ansatz. „Freak Folk“ besteht aus glamourösen Style-Fake-Hippies. Wir möchten das gar nicht verteufeln, es hat mit Musik angefangen, aber ist zu etwas völlig Bedeutungslosem geworden.
— Aber es hat den Aspekt des Un-Direkten, Realitätsflüchtigen in der Musik wieder in den Fokus gerückt, weniger Technik und mehr Romantik. Musik bietet eine gute Möglichkeit zum Eskapismus. Es ist nicht so sehr das Entfliehen. Menschen brauchen die Möglichkeit, für eine kurze Weile woanders zu sein, das hilft zu Überleben. Du lebst von dem Verlangen, etwas über dich selbst herauszufinden, es ist eine Erkundung. Musik ist ein Teil davon, wir stellen viele Fragen, bekommen ein paar wenige Antworten. Musik ist ein Hilfsmittel bei dieser Erkundung, aber nicht das Rezept. Es ist ein Trick. Kürzlich meinte jemand, unsere Musik würde „easy going“ klingen, also wohltuend. Aber die Songs sind alle deprimierend as fuck. Aber sie sind voller Lebendigkeit. Das Leben ist deprimierend, aber es ist nicht schlecht. Das Leben ist Leid, und wir erkunden, was es heißt zu leiden. Für die meisten ist es furchtbar und sie schreien „Oh nein!“, aber eigentlich ist es schön – was ein sehr katholischer Gedanke ist –, denn es bedeutet, dass du Dinge fühlst. Ein Leben in Glückseligkeit und Harmonie ist stumpf, es ist ein Leben voller Verleugnung. Unsere Leben bestehen aus Leid, aber wir sollten herausfinden, was es bedeutet, wenn Leute so geschockt auf diese Tatsache reagieren, denn das ist die harte Realität.
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Musik – Yes, we can Sushi, J.K,
YES, WE CAN SUSHI Mit Ken in der Küche Text — STEFAN SCHÜTZEICHEL & SENTA BEST, Foto — SENTA BEST Aydo und Guido von Ken sind sushisüchtig! Gut für uns, denn so konnten wir sie in unsere Wohnung locken, um sie dort mit ein paar Fragen zur neuen Platte „Yes We“ zu belästigen. Ausgestattet mit Sushi-Zubehör, ganz ohne vorbereitete Fragen und ohne, dass der Bassist Cover oder Songtitel je gesehen beziehungsweise gehört hatte, konnte das wohl am schlechtesten vorbereitete Interview ever stattfinden. Der Reis passte sich dem Szenario an und ging prompt in die Hose. Essbar war er letztendlich dann aber doch noch. Aydo (nachdem er sich zum wiederholten Mal erklären ließ, wie man Sushi-Reis kocht): „Wie findest du denn eigentlich die Platte?“ S: „Welche?“ Aydo: „Na, unsere! Die, weswegen wir hier sitzen.“ S: „Achso, hab ich ja schon gesagt, ich find die super. Die ersten beiden Songs erinnern mich an Blackmail, der Rest aber nicht.“ Aydo (entsetzt): „Der dritte nicht?“ S: „Nein, wieso?“ Aydo: „Weil ich da alle Elemente reingepackt habe, die Blackmail ausmachen.“ S: „Aha. Hm, dann höre ich mir das noch mal an.
/J. K, Jörg Kleemann
Das letzte Lied erinnert mich an ‚Sunglasses At Night‘. Kann das sein?“ Aydo: „Kann natürlich sein!“ S: „Warum?“ Aydo: „Weil wir immer klauen!“ S: „Bewusst?“ Aydo: „Nä! Also, doch! Auch sehr oft sehr bewusst! Das sechste haben wir ja fast komplett geklaut. Wir machen das dann
aber so offensichtlich, dass wir die Titel fast wie das Original nennen.“ S: „Ach, echt, wie heißt der Song denn?“ Aydo: „‚Polecats‘.“ S: „?? Und welcher Song soll das sein?“ Aydo: „‚Lovecats‘.“ Guido hält verwundert die Promo-CD in der Hand: „Noch nie gesehen.“ Aydo: „Schön, ne. Ach, die Titel kennste auch nicht? Nur die Arbeitstitel, ne?!“ Guido: „Hmm.“ (Allgemeines Gelächter)
S: „Warum heißt der erste Titel denn ‚21-21=21‘?“ Aydo: „Na, hier: Seele.“ S: „Hä?!“ Aydo: „21 Gramm. Und der Titel vom Song ‚Quitting Smoking Is Much Easier Than Quitting Talking‘ ist geklaut vom Dear-Reader-Schlagzeuger. Den Satz hat er auf einem Konzert gesagt. Selber schuld! Und ‚Woman Who Love Men Who Take Drugs To Make Music To Take Drugs To‘ ist ein Titel-Puzzle. Bestehend aus ’nem Song von Oceansize und das andere ist von Spacemen 3.“ Guido: „Sach mal, hast du denn mal so ein OpakMagazin da? Ich würde das gerne mal sehen.“ S: „Na, du bist aber schlecht vorbereitet!“ Guido: „Jaaa, ich hab vor allem gedacht, das hier wird ein Radio-Interview.“ (noch mehr Gelächter) Tja, Vorbereitung ist eben alles!
NEUES AUS DER SCHÄFERSTRASSE Über The Black Atlantic
Ich möchte jedenfalls nicht enden wie Hans Albers. Der hat sich am Starnberger See kurz vor seinem Tod noch Möwengeräusche vorspielen lassen, vor lauter Sehnsucht nach Hamburg. Das kann ich gut nachvollziehen, denn auch ich muss Hamburg Richtung Berlin verlassen, da blutet das Hanseaten-Herz ... Immerhin gibt es wahrscheinlich genug Menschen, die mit Kusshand in der Hauptstadt wohnen würden, aber die kommen dann auch aus Gelsenkirchen oder Tübingen. Ich habe ausgerechnet, dass ich, wenn ich täglich zwei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln verbringe – was in Berlin völlig normal ist – in zwölf Jahren ein Jahr nur in der U-Bahn sitze. Ohne Schlaf. Hinzu kommt, dass ich, wenn ich den Titel meiner Kolumne ernst nehme, nach Spandau ziehen muss, weil sich dort die einzige Schäferstraße in ganz Berlin befindet; da sind es dann schon anderthalb Jahre U-Bahn, ohne Bewährung. Der Zufall will es, dass ich mich heute mit maritimen Abschiedsplatten beschäftige, also dahin gehe, wo es wehtut: „Reverence For Fallen Trees“ heißt das Debütalbum des aus Groningen (NL) stammenden Quartetts The Black Atlantic. Beim ersten Hören denke ich an Hamburg, ’türlich ’türlich, und an Bon Iver, wahrscheinlich wegen des mehrspurigen Doppelgesangs, aber auch der Instrumentierung – sehr
warm das Ganze, Zugfahren durch verschneite Landschaften (Starnberger See?) oder, bei einer Länge von nur 34 Minuten, drei Durchgänge im ICE Berlin-Hamburg. Als Meister der schlechten Überleitung könnte ich jetzt schreiben, dass auch Noah And The Whale auf dem Black Atlantic schwimmen, aber das wäre zu billig. Das zweite Album der Londoner, „The First Days Of Spring“, ist so etwas wie ein Trennungs-Konzeptalbum. Was die Liebe anrichten kann, weiß man spätestens, wenn man sich im Vergleich dazu deren lebensbejahendes Debüt „Peaceful, The World Lays Me Down“ anhört. „Blue skies are coming, but I know that it’s hard“, heißt es gleich im ersten Lied, und man ahnt, wo der Hase lang läuft, bis das Ganze dann in der Mitte des Albums mit „Love Of An Orchestra“ zumindest musikalisch gebrochen wird, um danach nur noch mehr zu deprimieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das erwähnte Konzept nicht aufgegangen ist. Vielmehr zieht es die große Liebe nach dem Hören dieses Albums ganz gewiss zurück, mit den Worten: Komm, lass uns zurück nach Hamburg gehen, Möwen hören.
Musik – Wut ab!, Ist das wahr?
WUT AB! Bratze gegen Entbehrungen Text — ULF AYES, Foto — SOPHIE KRISCHE „Jetzt bin ich mal wieder das schwitzende Schwein auf der Bühne, das die Leute anpöbelt“, sagt Kevin Hamann wie selbstverständlich am Telefon. „Ich bin froh, alles auch zeitlich voneinander trennen zu können“. Gemeint sind Bratze und die Band ClickClickDecker, die 2010 pausieren muss. Für eine Weile, zumindest nach außen. Denn dieses Jahr ist reserviert für das Zusammentreffen zweier Musiker, die nach eigenem Bekunden ihr Debütalbum damals im Garten zwischen Grill und Bier produzierten. Dabei haben Bratze mit Entspannung wenig zu tun. Norman Kolodziej, alias Der Tante Renate, hatte schon vor Jahren klare Vorstellungen:
27 „Ich wünsche mir ein Keyboard mit zehn Zentimeter breiten Tasten, damit ich mit den Fäusten spielen kann!“ In der Tat war „Kraft“ von veritablem Aggro-Gestampfe dominiert. „Korrektur nach unten“ kommt allerdings noch direkter daher. „Ich bin einfach sehr geladen“, sagt Kevin. Frustriert? Nein, wütend ist die Antwort. Der Song „Trapez“ thematisiert die Verfehlungen der Hamburger Stadtpolitik. „Die auswendigen Muster“ wendet sich dezidiert gegen Zuschreibungen und Vereinnahmungsversuche: „Das ist keine Bewegung, wir passen da nicht rein!“ Kevin Hamann nennt es „Rausschreien“. Andere würden in seinen Texten eher den gelungenen Versuch erkennen, die Dinge grundsätzlich zu betrachten und sie gekonnt herunterzubrechen. Formeln zu finden, auf den Punkt zu bringen. Und so ist „Menschen im Minus“ eben keine bloße Neuübersetzung der Prekariatsproblematik – es ist eine größer angelegte Reflexion über menschliche Defizite und den Umgang mit ihnen. Denn „das Schwierigste ist es, ein Bild von sich selbst zu bekommen“, sagt Kevin. Eigentlich paradox, denn Bratze nehmen gerade jetzt Konturen an.
IST DAS WAHR? Royal Bangs geben Antworten Text — KATHRIN GEMEIN, FOTO — NAZGOL EMAMI Royal Bangs wirbelten, nachdem ihr 2008er Debüt „We Breed Champions“ relativ unterging, mit „Let It Beep“ die Musikmagazine und Blogosphäre ein wenig durcheinander. „Die meiste Zeit unserer Interviews verbringen wir mittlerweile damit, richtigzustellen, was andere Journalisten über uns verbreitet haben. No Shit“, erzählt Ryan Schaefer. Um ihnen die Arbeit mal ein wenig zu erleichtern, hier eine Zusammenfassung der meist getätigten Aussagen über das Quintett aus Knoxville, Tennessee. Und die Frage: Wahr oder falsch?
Ihr seid zum zweiten Mal daran gescheitert, ein Dance-Album zu machen. „Wir scheitern im Allgemeinen sicherlich ziemlich oft“, lacht Ryan. „Aber nicht in Bezug auf unser Album. In der amerikanischen Presse wird außerdem meistens geschrieben, dass wir
wie Seventies-Rock, Bruce Springsteen, Thin Lizzy oder Fleetwood Mac klingen wollen. Wir hatten eine Idee, wie wir klingen sollten – und das haben wir auch gut hingekriegt, finde ich.“ Ryan war einige Zeit in Frankreich und hat dort ein Faible für Euro-Dance entwickelt – was auch in das Album einfloss. „Hahahaha.“ Ryan lacht noch lauter. „Sicherlich hab ich bei all den billigen Drinks in Frankreich auch mal zu Euro-Dance mitgewippt. Aber eigentlich war ich ein paar Monate dort, um mir eine kleine Auszeit zu nehmen und hab dort viel fürs Album geschrieben. Zu der Zeit, als ich dort war, haben Justice zwar alle komplett umgehauen – und es war sehr cool, das mitzubekommen – aber es hatte keinen Einfluss auf mich, meinen Geschmack oder gar unsere Musik.“
Ihr tragt Bärte, ihr macht Frickel-Musik – summa summarum: Ihr seid Nerds. „Das ist das Erste, was wahr ist! Die Bärte haben etwas mit Faulheit zu tun. Ich hasse Rasieren. Außerdem spielen wir ständig Nintendo in unserem Tour-Bus. Und, nun mal ernsthaft, das wirklich nerdige an uns ist, dass wir kaum aufhören können, an unserer Musik zu arbeiten. Das Phantastische an elektronischer Musik ist, dass man immer und überall arbeiten kann. Auf dem Weg von Berlin nach Köln haben wir einen halben Song fertiggestellt. Das ist großartig.“ Nach den ganzen Richtigstellungen – gibt es denn irgendetwas, was ihr gerne über euch verbreiten würdet? Nicht wirklich. Uns werden Fragen über Fragen gestellt. Ich denke, es gibt mehr Informationen über uns, als wirklich interessant sind.
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Musik – (Album der Ausgabe)
MIDLAKE „The Courage Of Others“ (Cooperative Music) Text — ANDRÉ FRAHM, Foto — VILLE HILL
Diese Band zelebrierte im Jahre 2006 mit ihrem Album „The Trials Of Van Occupanther“ einen großen Wurf und lieferte den Sound, mit dem die Fleet Foxes groß wurden. Was bleibt nach drei Jahren Stille und was kommt nun? Tim Smith und seine Kollegen können Jazz, das wird beim Hören der neuen Platte ziemlich schnell klar. Lässt man sich auf die verschlungenen Arrangements und den dazugehörigen Sound ein, wird die sich zuerst breit machende Langeweile sehr schnell abgelöst und ins „Gute“ gerettet. Dies vermag vielleicht nicht jeder gleich für sich zu entdecken, aber das scheint dieser Band auch recht egal zu sein, machen sie es sich doch nicht leicht, indem sie im Strom der Mumford & Sons und anderen „Beach-Boys-Sixties-Melody-Catchers“ mitschwimmen. Diese Platte verweigert sich zu allererst einmal durch die konsequente Trägheit inklusive dem fast schon genervt und gelangweilt klingenden Gesang. So ist es ein schönes Stück Arbeit, sich durch die Songs zu kämpfen, es kann schließlich nicht sein, dass diese Band ein Album abliefert, welches sich nicht lohnen würde zu hören. Wie so oft ist es entscheidend, in welcher Stimmung und welcher Umgebung man sich befindet, und ich habe es selten erlebt, dass dies bei einer Platte so eine wichtige Rolle spielt. In dem Moment wird wieder mal klar, dass zu wenig Zeit damit verbracht wird, sich auf eine Sache zu konzentrieren und sich dementsprechend Zeit zu nehmen. „The Courage Of Others“ verlangt danach, sich Zeit zu nehmen, ruhig durchzuatmen und dann Play zu drücken oder die Nadel in die Rille zu legen, das erste Knistern zu hören – Augen zu und auf den Frühling freuen. Hinter den melancholischen Mauern aus Musik schlummern die schönen Melodien und die Sounds, und mit stoischer Gelassenheit findet auf dieser Platte die Band einen ganz eigenen Ausweg, um nicht an der Erwartungshaltung in Bezug auf
den grandiosen Vorgänger aus 2006 zu scheitern. Mutig und zugleich reduziert nehmen sie das Tempo aus der Musik und lassen dafür die Melodien sprechen. So langsam wie der Schnee taut und sich der Frühling durch die Erde schleicht, um dann die ersten Blumen zum Leben zu erwecken, so langsam entwickelt sich auch diese Platte. Nix für schnelle iPod-Hörer und gestresste Menschen, die sich schnell mal illegal einen downloaden müssen. Dafür ist hier zu viel Jazz drin, nicht im eigentlichen Sinne, sondern verborgen im Arrangement, im Aufbau der Songs und der gesamten Platte. Hier wird Hoffnung in Slow-Motion zelebriert – Schatten gehört nun mal zum Licht. Dieser Text soll kein esoterischer Ausflug in musikphilosophische Tiefen werden, sondern nur eindringlich darauf hinweisen, dass solche Musik und Bands wie Midlake es verdienen, nicht gleich auf dem Scheiterhaufen der Langeweile verbrannt zu werden. Gespannt dürfen wir sein, ob sich zusammen mit der ähnlich schwermütigen Band „Get Well Soon“ ein neuer Hype entwickeln wird, getreu dem Motto: MelancholyPsycho-Pop-Is-The-New-Happiness. Dann kommen bestimmt auch sehr fix die neuen Trendforscher um die Ecke, werden dies in Zusammenhang mit dem drohenden Zusammenbruch der modernen westlichen Welt und der einhergehenden Krise setzen, und dann spielen Midlake als Headliner bei Rock am Ring. Was für ein Glück, dass es so weit nicht kommen wird, dafür ist diese Musik zu geduldig und wird genau deswegen ihre Hörer und Fans finden.
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Musik – (Highlights)
GET WELL SOON
Musée Mécanique
Eels
VEXATIONS
HOLD THIS GHOST
END TIMES
(City Slang)
(Souterrain Transmissions)
(Cooperative Music)
Es gibt Momente im Leben, in denen Musik auftaucht und hilft. Hoffnungslos und zu Tode betrübt lag ich da, als eine gebrannte CD mich erreichte und plötzlich alles nicht mehr so grau und kaputt erschien. Jemand hatte alles Nötige auf den Punkt gebracht, um mich aus meiner Lebenslethargie zu holen – und es funktionierte besser, als ich es mir jemals erträumt hätte. Musikalisch eine Mischung aus getragener Fülle und dem Gefühl, das tschechische Märchenfilme transportieren. Textfetzen, die sich eilig im Gedankenzentrum festsetzen und eine insgesamt erhabene, aufbauende Gelassenheit. So traten GET WELL SOON 2006 in mein Leben. Als sie ihr fantastisches und zu Recht umjubeltes Debüt im Januar 2008 veröffentlichten, fühlte ich Zufriedenheit, obwohl ich erstaunt war, dass sich hinter dem Namen nur eine Person verbarg. Konstantin Gropper hatte die Platte im Alleingang geschrieben, produziert und aufgenommen und galt sofort als Wunderkind im deutschen Musikzirkus. Derartigem Erfolg muss man natürlich standhalten und erneut abliefern. „Everybody’s Darling“ würde im zweiten Durchgang bis aufs Mark geprüft werden, der kleinste vermeintliche Fehler dazu genutzt, den Vogel wieder abzuschießen. Ob dies der Grund war, warum Herr Gropper sein Zweitwerk „VEXATIONS“ nannte, kann ich nur vermuten – die Platte jedenfalls ist durch keinerlei Ärgernisse gezeichnet. Finden sich auch stellenweise die tschechischen Märchenfilme wieder, hat doch eine erstaunliche Selbstsicherheit Einzug genommen: Die kindliche Verspieltheit des Debüts ist einer kontrollierten Perfektion gewichen. Aus dem Märchen ist ein Drama geworden, ohne sich jedoch im Schwulst zu verlieren. Auch diese Platte wird verzaubern und helfen. Ohne Ärgernisse.
Bäh, ist das SCHÖN! Vom ersten Ton an SCHÖN vor sich hin wabernder Sound, diese wunderSCHÖN sanfte Stimme, tausende von SCHÖNen Melodien, die sich noch dazu brav im Rahmen von wenigen Tönen aufhalten, alles verdammt noch mal SCHÖNSCHÖNSCHÖN! Dieser Sound ist zwar extrem vielfältig und raumfüllend, aber auf eine andere Weise so SCHÖN einfach, dass man zwischendurch ständig Angst haben muss, gelangweilt zu werden. Wird man aber nicht! Denn hier erwachen die verschiedensten und verspieltesten Instrumente zum Leben: hingebungsvolle Streicher, klimpernde Xylophone, jammernde Schifferklaviere, singende Sägen, ein gemütlicher Bass hinter all dem und etliche andere Instrumente mit höchstwahrscheinlich schwer auszusprechenden Namen. Alles auf einmal so widerwärtig SCHÖÖÖN! Dazu noch passend zum eigentlichen Musée Mécanique, bei dem es sich tatsächlich um ein Museum in einem Flachbau am Hafen von San Francisco handelt. Hier kann man alte runzelige Musikinstrumente und Glücksspiele bestaunen – alle im Laufe des Lebens eines etwas schrulligen Musik-Liebhabers zusammengetragen. Die Bandmitglieder von Musée Mécanique teilen die Faszination für alte mechanische Instrumente. Ihr Debütalbum „Hold This Ghost“ vereint etliche davon und ruht dabei so sehr in sich, dass man tatsächlich auf den hohlen Gedanken kommt, die Musiker hinter diesem Album müssten mindestens schon uralt sein. Bedenkt man, dass der Kern der Band aus nur zwei Jungs besteht, die im Alter von 15 mit dem gemeinsamen Musiker-Dasein anfingen, werden aus den Stirnfalten noch ein paar mehr - obwohl Sean Ogilvie und Micah Rabwin aus Portland inzwischen immerhin ein Jahrzehnt älter sind. Wie man es dreht und wendet, es ist und bleibt unverschämt, mit einem solchen Debüt daherzukommen.
Schon so früh im neuen Jahr kommt eine dieser Platten, die eine unerschütterliche Ausstrahlung besitzen, so als hätte es diese Songs schon immer und ewig gegeben. Mark Oliver Everett aka E, Mastermind hinter Eels, nennt es sein „Scheidungsalbum“, und das ist in der Tat nichts anderes als die – oh Wunder – musikalische Aufarbeitung seiner langjährigen Beziehung zur jetzigen Ex-Ehefrau. Wohl vor allem durch die Tatsache, dass es in nur sieben Monaten entstanden ist, entwirft „End Times“ ein so beeindruckendes und direktes Abbild von Everetts Befindlichkeit. Niemand anders als Ausnahme-Comic-Künstler Adrian Tomine könnte diese traurige Geschichte passender bebildern, im Umkehrschluss würde es ebenso Sinn machen, wenn Everett eine Tomine-Novel vertonen würde – eine Traumpaarung. Spätestens im fünften Stück „A Line In The Sand“ schafft Everett anhand der Unmittelbarkeit der Beschreibung ein beeindruckendes Kopfkino – man kommt gar nicht umhin, sich einen schluffigen Bärtigen vorzustellen, der in den Garten pinkelt, während sich seine Frau im Badezimmer eingeschlossen hat. Die vierzehn Stücke sind spärlich und rau instrumentiert, pendeln zwischen Americana-beeinflussten akustischen Vorträgen und rauchig-düsteren Ausbrüchen, die in all ihrer Deprimiertheit genug Euphorie durchscheinen lassen. Everett könnte der verschrobene Schrottplatzbesitzer sein, dem Erstklässler leere Coladosen auf die Veranda werfen, der aber keinen Dobermann auf sie loslässt, weil er erstens nur einen kleinen Vogel im Käfig neben sich hat und zweitens in seiner Gelassenheit lieber an seinem Southern Comfort nippt und sich am Ende doch noch mit der Welt versöhnt.
Text — Aydo Abay
Text — Senta Best
Text — Kristof Künssler
30
Musik - (Reviews)
Hot Chip „ONE LIFE STAND”
(EMI)
Laut Presseinfo folgen Hot Chip angeblich dem roten Faden im Leben, wo immer er sie auch hinführe. Hört man „One Life Stand“, zweifelt man ein wenig an einer solchen Planlosigkeit. Dieses Album nimmt mit größter Leichtigkeit den direkten Weg in die Empfindungen des Hörers. Seine Zugänglichkeit ist beeindruckend. Naive Ruhe, Herzschmerzerei und Treibendes schmiegen sich so elegant aneinander, dass man vermutet, Hot Chip haben ihren eigenen roten Faden gestrickt. An diesem ziehen sie alle anderen durch die Stimmungen des Lebens oder eben einfach auf die Tanzfläche. Die Songs sind ein bisschen mehr Synthie, ein bisschen mehr Kommerz, ein bisschen mehr von allem eben. Dominiert durch den Gesang des Kernduos Alexis Taylor und Joe Goddard behält die Musik die Zuversicht, die man im Januar eines jeden Jahres so braucht. Minimale Affinität zu elektronischer Musik ist hier für den Erwerb dieses Wohlgefühls ausreichend. Damit führt der Faden für alle in eine gute Richtung. Text — Janina Friedhoff
Ido Govrin „MORAINE”
(Interval Recordings / A-Musik)
überrollt. Schade ist jedoch, dass sich „Moraine“ mit knapp 36 Minuten Spielzeit recht wenig Zeit nimmt, um die einzelnen Stücke voll zu entwickeln. Gut und gerne doppelt so lange hätte das Album ruhig sein können, damit es seine Kraft voll entfaltet. So wirken die sechs Stücke an manchen Stellen gehetzt – hier hätten Spannungsbögen mit GletscherGeschwindigkeit sicherlich Wunder vollbracht. Dennoch ein erhabenes und streckenweise zutiefst bewegendes Album. Text — (Nils Quak)
Neoangin „SAY HI TO YOUR NEIGHBORHOOD”
Text — Janina Friedhoff (neoangin.info)
Wenige Künstler sind wie Neoangin a.k.a. Jim Avignon Chronisten wie Protagonisten ihrer Zeit. Seine hört auf den Namen „Die Neunziger“ – und sie hält bis heute an. Damit ist keineswegs bloß eine in Raum und Zeit bestimmte Dekade gemeint – weder als Retro-Referenzhölle noch als Sicherheitszone ewig-adoleszenter Sehnsucht. Hier geht es vielmehr um eine Haltung, die unideologische Urbarmachung elektronischer Musik im Indie-Gitarren-Kontext – et vice versa. Eine Haltung, die durchaus überzeitlichen Anspruch hat. So kreuzt der Wahl-New Yorker auch auf Album Nummer 9 preiswertes Lo-Fi-Equipment mit mal stolpernden, mal 4/4-Beats, Gitarren und den wundersamsten Keyboardmelodien. Das klingt mal nach Lou Reed im Kinderzirkus, mal nach The Cure auf Trevilor. Mal niedlich, mal abgründig, zwischen Nähe und deren Unmöglichkeit balancierend, erzeugt Avignon ein ums andere Mal jene Ambivalenz, die auch seiner Kunst zu eigen ist. 15 Preziosen für gute und schlechte Zeiten. www.neoangin.info Text — Markus Göres
Unter den Titel gebenden Moränen versteht man die Schuttablagerungen bei Gletscherbewegungen und die daraus resultierenden Reliefformen. Der Titel ist Programm: Langsame, beinahe stehende Klangformationen driften gegeneinander, zerreiben ihre Sound-Strata zu granularem Klangstaub, der meist stoisch und zäh zwischen den Membranen der Lautsprecher liegen bleibt. Dichte, schwere Drones werden präzise von scharfkantigen Sound-Schlieren durchzogen, mit brettschwerer Stille geteilt und vermischen sich zu einem nicht mehr trennbaren Frequenzmassiv, das einen langsam
Sieben akademische Mädchen und Jungs finden sich an der Universität Cardiff, gründen eine Band, geben sich einen spanischen Namen und setzen ein Ausrufezeichen dahinter. Los Campesinos! wählen für ihr neues Album „Romance Is Boring“ nur die ganz großen Themen. Sie möchten vom Tod, dem Zerfall des menschlichen Körpers und von verlorener Liebe erzählen und davon, dass wahrscheinlich am Ende des Tunnels doch kein Licht ist. Im übersättigten Krach der Klänge von Geige bis Glockenspiel gehen diese Motivation und leider auch der hübsche britische Akzent von Sänger und Sängerin schier unter. Man möchte der Band das so gewollt Disharmonische mitsamt Satzzeichen im Namen entfernen und ihnen mit auf den Weg geben, dass weniger wie immer und überall mehr ist. 16 Songs lang findet man nur zwanghaft Melodien, die den Lärm durchbrechen, die die Schwere der Themen tragen und durch das Ohr dann doch noch ins Herz führen. Wirklich überzeugend bleiben am Ende solche Titel mit Wahrheiten wie: „The Sea Is A Good Place To Think Of The Future“. Dahinter gehört das Ausrufezeichen!
Los Campesinos! „ROMANCE IS BORING”
(Cooperative Music)
LOCAL NATIVES „GORILLA MANOR”
(Pias UK/Infectious)
Wir leben momentan in einer musikalisch sehr spannenden Zeit. Der letzte Trend liegt einige Zeit zurück und alle befinden sich in einer Phase der Neuorientierung. Die aktuelle Nicht-Trend-Phase führt zu einer Veröffentlichungsflut von vielen kleinen bezaubernden Bands, die einfach ihrem musikalischen Instinkt folgen, um schöne und zeitlose Musik aufzunehmen. Zu diesen kleinen Veröffentlichungsperlen gehören auch LOCAL NATIVES aus Kalifornien mit ihrem wundervollen Debüt „GORILLA MANOR“. Unprätentiöse und doch opulent arrangierte kleine SongWunder. Verspielt und stimmgewaltig. Über Kopfhörer wird einem erstmal klar, was da alles passiert: Hier eine schöne kleine Klaviermelodie, welche ungefragt von einem Streichersatz aufgenommen und weitergeführt wird, da der mehrstimmige Gesang, der dieses unbändige Urlaubsgefühl vermittelt, obwohl man mitten im Alltag steckt. Nicht selten finden sich kleine verirrte kleine Töne oder Geräusche in den 12 Stücken, die das Klangerlebnis mit Leben füllen. Glückwunsch! Text — Aydo Abay
First Aid Kit „THE BIG BLACK AND THE BLUE”
(Cooperative Music)
Das Folk-Revival ist in vollem Gange oder vielmehr immer noch nicht vorbei. Was Coco Rosie, Devendra Banhart oder Nina Nastasia schon vor einiger Zeit angetreten haben, wird nun von Bands wie Bon Iver, Fleet Foxes oder eben First Aid Kit weitergeführt. Was sich anfangs noch als seltsam verschrobene Brooklyn-Hipness gebärdete, ist unlängst in einem sehr konventionellen Songgerüst angelangt. Natürlich war Folk mit einem gewissen Hang zur Country-Melancholie nie wirklich weg, doch man darf definitiv von einer Rückkehr dieses traditionellen Singer/ Songwriter-Gestus’ sprechen. Darüber hätte man vor zehn Jahren noch müde gelächelt, doch heute trägt man wieder verstärkt Flanellhemd und Bart. Bartträger sind die Geschwister Johanna und Klara Söderberg glücklicherweise nicht, aber auch sie machen Musik, die harmonietrunken zwischen Simon & Garfunkel, Bright Eyes und der Carter Family hin- und herschwankt. Innovationspreise werden sie damit nicht gewinnen, doch in Anbetracht der Tatsache, dass die beiden gerade mal 16 und 19 Jahre alt sind, ist dieses Debütalbum eine beachtliche Ansage, die einen zuversichtlich und gespannt in die musikalische Zukunft der beiden Schwedinnen blicken lässt. Text — Matthias Rauch
Spoon „TRANSFERENCES”
(Anti)
Die in Austin beginnende Reise mit den vier sympathischen Amerikanern verläuft nicht ohne Startschwierigkeiten, denn Fahrer Britt Daniel muss sich erst mal orientieren, während seine drei Mitreisenden auf der Rückbank verschlafen die Augen öffnen. Das Getriebe läuft langsam warm, der Wagen ruckelt noch ab und zu. Am Sei-
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Musik - (Reviews) tenstreifen wird ein Teil der Instrumente aus dem Kofferraum geholt und nun gibt es eine teils sphärische, aber stets treibende Untermalung der an ein Roadmovie erinnernden Reise. Man schaukelt sich hoch, der Fahrstil wirkt nun ein bisschen schelmisch, als hätte Britt Daniel gerade erst seine Führerscheinprüfung bestanden – daher rührt aber auch der Drang, doch etwas zu wagen und der nun stets klare Blick nach vorne. Beim nächsten Halt werden alte Indie-Rock-Tapes hervorgeholt und alle Mitfahrer sind sich einig, dass es höchste Zeit für die Renaissance des 90er-JahreIndiesounds ist: Was für eine Fahrt! Text — Maximilian Römer
Motorpsycho „HEAVY METAL FRUIT”
Eine Platte über das Nichts, vier Jahre nach der bislang letzten, am Rand verbunden mit dem Mythos eines Anwalts mit einstweiliger Verfügung. Nach zwei Platten, einigen EPs und fulminanten Livekonzerten als Final Fantasy ist „Heartland“ das neue Album des Tausendsassas aus Toronto. Entstanden unter Mithilfe der Tschechischen Philharmoniker wirkt die Platte noch etwas orchestrierter. Owen Pallett schafft es weiterhin mit grandioser technischer Finesse und einem gewissen Knall, alleine eine ganze Band zu ersetzen. Schicht um Schicht Violine, Samples und Gesang in Schleifen auf-, um- und nebeneinander loopen, verstecken und wieder auftauchen zu lassen. Irgendwo an einer Schnittstelle zwischen barockem Gestus, 80s-Art-Kram, Steve Reich, Arcade Fire und einem GondryFilm-Soundtrack. „Heartland“ fließt erst verhalten, dann immer sprudelnder, wunderbar dynamisch mit direktem Übergang von Nacht-Autofahrt zu vorsichtig verzücktem Tanzen und angedeutet großer Geste, mit einer mitunter fast schon zu heftigen Dramatik und dann wiederum großartigen Brüchen. Wirklich schönes Nichts. Text — Jo Ruthenberg
(Stickman)
Stereo Total „NO CONTROLES”
20 Jahre Bandkarriere, 15 Studioalben, 13 EPs, unzähliges Live-Material und Nebenprojekte – Motorpsycho sind unermüdlich. Der erste Blick auf die neue Veröffentlichung der Trondheimer täuscht: Nur sechs Stücke auf „Heavy Metal Fruit“ bedeutet diesmal nicht EP, sondern ein 62-minütiger Epos-Brocken. Der fast anachronistisch erscheint – wären da nicht diese motorpsychoesken Spielereien, die auch diesen Output wieder zu etwas ganz Eigenem erheben. Dabei verschwurbeln sich die Musiker ins gefühlt Unermessliche, um dann doch wieder rechtzeitig auf den Punkt zu kommen. Sandelholz meets Mucker-Schweiß. Dumpfe Bassläufe paaren sich mit den unverkennbar melodisch-sehnsuchtsvollen Anleihen, die sich in orgelhaftem Getöse ereifern. Auf die Live-Umsetzung des 20Minüters „Gullible’s Travails (pt I – V)“, das wie eine Essenz des Schaffens Motorpsychos anmutet, kann man jetzt schon gespannt sein. Könnte abendfüllend werden. Text — Kathrin Gemein
Owen Pallett „HEARTLAND”
„TOURIST HISTORY”
(Kitsune)
Damals, in den Swinging Sixties, mussten Pop-Sänger und Chanteusen aus dem Ausland ihre Lieder noch auf Deutsch übersetzen, um hierzulande erfolgreich zu sein. France Gall versteht kein Wort deutsch, aber kam als süße Französin mit Titeln wie „Ich hab einen Freund in München“ ganz gut an. Dreißig Jahre später dudelte es hauptsächlich englisch aus dem Radio, als das Duo Stereo Total den französischen Chanson mit einem Augenzwinkern zu neuem Leben erweckte und auch in Deutschland bescheidene Erfolge feierte. Diese Franzosen, die können doch einfach alles singen, dachte man sich. Sogar auf deutsch. „Schön von hinten“, das klingt aus dem Munde von Francoise Cactus nicht nach Billig-Porno, sondern nach französischer Liebe. Zwölf Alben später nervt der ironische Electropop-Einheitsbrei aber. Und jetzt? Versuchen es Cactus und Bandkollege Brezel Göring auf Spanisch, machen aus „L'amour à trois“ „Amo amor a tres“. Abzuheften unter A wie Alben, die die Welt nicht braucht.
Oliver Blank „KARHU JA TIIKERINI”
Eigentlich fallen Bands mit Namen wie „Two Door Cinema Club“ oft in der Kategorie „Beschissene Bandnamen“ ungerechterweise ungehört durch das Gutfind-Raster. Ein verdammt glücklicher, nicht mehr nachzuvollziehender Zufall rettete die Herren aus dem schönen Irland in meinen CD-Player. Sehr wahrscheinlich wäre ich auch ohne dieses Stückchen tanzbaren Indie-Pop (mitsamt den sparsam eingesetzten elektronischen Appetithäppchen) einigermaßen froh geblieben. Aber ziemlich sicher ist, dass „Tourist History“ mir den übrig gebliebenen Winter ein bisschen wärmer zaubern wird. Halbwegs sicher bin ich mir allerdings auch, dass diese Band schneller wieder von der Bildfläche verschwindet, als die letzten hitverdächtigen Töne verklungen sein werden. Weil das nächste Album entweder floppt oder gar nicht erst erscheinen wird. Glücklicherweise bin ich keine Wahrsagerin und außerdem: Was bedeuten heutzutage schon Worte wie „wahrscheinlich“ und „sicher“? Einen Scheiß – na also!
Lightspeed Champion (Elefant)
tanzen und buhlen. Es pumpt, es erzählt, sucht Nähe, preist und verflucht die Liebe. Wenn ich jetzt leise rausgehe und eine Runde um den Block mache, wird es, kein Zweifel, die Wohnung neu einrichten und in meiner Handschrift ein wunderbares Gedicht für meine Liebste schreiben. Es kann alles. Es macht alles perfekt. Es geht mir wahnsinnig auf den Zeiger. Text — Sebastian Cleemann
Text — Senta Best
Text — Regina Lechner (Domino)
Two Door Cinema Club
„LIFE IS SWEET! NICE TO MEET YOU”
(Cocosolidciti)
Eigentlich ist es keine gute Idee, wenn das Platten-Cover des ersten Albums wie Eso-Meditationsgebimmel aus dem EineWelt-Laden aussieht. Aber im Grunde ist das auch vollkommen egal, denn hat man aber einmal diese Hürde überwunden, wird alles gut. Ornamentale Melodieskizzen aus Gitarren, Streichern und Glöckchen tanzen zwischen dezenten Elektronikfetzen und entfernten Fieldrecordings. Mal euphorisch, mal eher zurückhaltend pendeln die Stücke zwischen ruhig dahinfließendem Ambient, überbordender Hochstimmung und epischem Pathos – irgendwo zwischen Sigur Rós und den frühen ConstellationGeschichten. Das auf der CD vorgegebene Tempo wird auf der beiliegenden, knapp 30 Minuten dauernden DVD locker gehalten. Die dazugehörige Videoarbeit hingegen weiß leider nicht wirklich zu überzeugen und begegnet der Musik nur bedingt auf Augenhöhe. Nichtsdestotrotz eine große Platte. Text — (nq)
(Domino Records)
Dev Hynes ist ein hyperaktives Wunderkind: kann alles, macht alles, schläft selten, kann gar nicht anders, als immer Können zu können, und bewahrt sich durch Quirlig- und Schrulligkeit davor, den weniger Begabten irgendwann wahnsinnig auf den Zeiger zu gehen. Das zeigt ein Blick in sein Werk. Das singt und jauchzt jede Note auf seinem zweiten Soloalbum. „Life Is Sweet“ macht keine halben Sachen – und davon viel. Gnadenlos gekonnt, ohne Pause und Atemprobleme, spielt es mit Stilen, Zitaten und originellen Schlenkern. Es lässt Albernheit und niedliche Tristesse, Weltraumrock und Ukulele umeinander
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Mode – Easy like sunday morning
Text — JOSEPHIN THOMAS
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Großer Beutel: Herr Fuchs Zwillingsspiel: Streetart Hamburg Shirt/Tessa: marga.marina Traumtagebuch: the art of confusion Batik-Legging/Nella: pebelle Pullover & Schal/Nella: trikoton
Fotos — KLAUS EBERLBERGER
Leinenkissen: the art of confusion Handtasche: Gabriel&Schwan Shirt/Nella: Silberfischer Legging/Nella: trikoton
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Mode – Easy like sunday morning
ORIGINALTON + MIKROFON + STRICKMASCHINE = TRIKOTON
= Die Kommunikation anhand von Schriftzügen auf Brusthöhe wirkt meist zu banal, um einen zweiten Blick wert zu sein. Zu offensiv kommt hier der eine Spruch daher oder offenbart sich dort die kurz gefasste Einstellung zum Thema XY. Auch die Designerinnen Magdalena Kohler und Hanna Wiesener hinter dem Berliner Label Trikoton haben sich dem Tragbarmachen einer Aussage verschrieben. Ihre Methode stellt jedoch die Äußerung dermaßen subtil dar, dass sie eigentlich nicht verstanden, genau genommen sogar leicht übersehen und als bloßes Dekor gedeutet werden kann. Denn die Kommunikation nach Trikoton läuft nicht über Schriftzüge oder Symbole, die auf die Textilien gedruckt werden, sondern über die Nutzung jenes binären Codes, der durch die Umrechnung der Frequenzen von Audiobotschaften entsteht und als Strickmuster in dem Kleidungsstück sichtbar wird. Und dieses Strickmuster ergibt sich nicht nur durch die Codierung des jeweiligen Wortlautes, sondern auch durch die der jeweiligen Stimme, die einen Satz oder gleich einen ganzen Text durch den Generator schickt. Dadurch werden aus den Pullis, Leggings oder Pullundern von Trikoton einmalige und ganz persönliche Aufnahmemedien. Die Umwandlung von Text in einen Code bietet sich gut als Versteck an; man zeigt ein Geheimnis, ohne es zu offenbaren. Stellt sich die Frage, ob man dann überhaupt von Kommunikation sprechen kann, wenn es keinen Außenstehenden gibt, der in der Lage wäre, die gestrickte Botschaft zu deuten. Vielleicht ist es eher eine Art tragbare innere Stimme, mit der man sich selbst vor Augen halten kann, was bedeutend genug war, derart verewigt zu werden und, ganz schwärmerisch gedacht, den Körper zu schmücken und zu schützen.
Latz/Tessa: Silberfischer Pullover & Legging/Nella: trikoton
Gäbe es für all die ausgeleierten Motto- und Sprücheklopfer-Shirts die Chance heranzureifen, feinsinnig und beseelt zu werden, so wäre ihnen Trikoton das ideale Vorbild
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Mode – Easy like sunday morning
Wandkissen: the art of confusion Wärmflasche: marga.marina Pullunder & Legging/Nella: trikoton
Das Grundgerüst für Trikoton entstand im Jahr 2007 mit „Gelsomina – The Voice Knitting Machine“, die von Magda und Hanna erstmals auf dem Ars Electronica Festival in Linz vorgestellt wurde. Seitdem hat sich viel getan: Aus dem einstigen Semesterprojekt im Rahmen des Design Reaktor Berlin entstand ein Label, das mittlerweile vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert wird. Die alte Strickmaschine aus den Siebzigern wurde durch die feste Zusammenarbeit mit einer Strickerei in Apolda ersetzt und zum TrikotonTeam gehören nun auch Hannes Nützmann, Informatiker, und Achim Amman, Kaufmann. Das offizielle Lookbook, weitere Informationen und die Möglichkeit, auf einfachem Wege ein Trikoton-Teil mit persönlichem Strickmuster zu erwerben, gibt es unter: www.trikoton.com.
Mode – Easy like sunday morning
WIR MÜSSEN ABONNIEREN 5 Ausgaben für nur 18,- Euro
Ganz einfach: Adresse und gewünschte Aboprämie* an: abo@opak-magazin.de, Geld überweisen, in den Briefkasten gucken. *Solange der Vorrat reicht
Leinenkissen: the art of confusion Handtasche: Gabriel&Schwan
La Stampa — Pictures never stop (staatsakt.)
Michael Marano — Dawn Song (Suhrkamp)
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Zwischen Mode + Literatur - Zwischen Fischreiher am Morgen …
ZWISCHEN FISCHREIHER AM MORGEN UND WEINBERGSCHNECKE BEI NACHT Text — ULRICH HOLBEIN, Illustration — JIM AVIGNON Daß die übertechnisierte Welt besonderen existenziellen Momenten abträglich sei, erleuchtungsverhindernd, satori- und epiphanienfeindlich, diese meine Ansicht bekam eines Tages einen Knacks anhand einer technisch bedingten Epiphanie – oder war’s eher ein Satori? Und das kam so – und zwar im Jahr 2000, wo ich 18 Kilometer entfernt von Heidelberg auf dem mittelalterlichen Dilsberg wohnte, im Kommandantenhaus, drei, vier Monate lang, ursprünglich römische Signalstation, später Zwingburg, sehr geschichtsträchtig. Da hatte ich an einem Tag ständig extraordinäre Tierbegegnungen. Frühmorgens landete kurz ein Falke im verglasten Guckloch meines Wehrturms. Ich trat vor’s Haus, als mich ein Neufundländer, kaum vom beigefügten Frühaufsteher zurückgerufen, zentnerschwer ansprang und langzüngig anhauchte, und 25 Sekunden später lief an einem Natursteinmäuerchen ein Igel lang, seelenruhig, ohne jeden Seitenblick.
Zwischen Mode + Literatur - und Weinbergschnecke bei Nacht
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chen Epiphanie nicht möglich geworden. Echte Romantik also hätte hier alles verhindert. Also vermochte auch Hightech einem Technikkritiker irgendwas geben. Mit dieser Erkenntnis fuhr ich im Regionalzug nach Heidelberg rein. Vermutlich war ich in meiner (ökologischen) Technikabwehr nur auf einer (ephemeren) Modewelle mitgeschwommen. Den ganzen Tag klang dieses Erlebnis in mir nach, vor allem spätabends, so ab 22 Uhr 40, als ich an der Bushaltestelle auf den letzten Bus zurück nach Dilsberg wartete und es plötzlich unter meinem Fuß krachte – aber wieso? Plötzlich hatte ich aus Versehen eine Weinbergschnecke zertreten, zum allerersten Mal im Leben. Das ging mir durch und durch – das war schrecklich und falsch! Seit Jahren nirgendwo nochmal eine Weinbergschnecke gesichtet – und jetzt dies! Damals in Diez hatte ich Weinbergschnecken gesammelt, ihnen schöne Häuser gebaut, ihnen Gutes getan, sie beobachtet, sie geliebt – und jetzt dies! Oft schon lief ich in Allmuthshausen im Dunkeln barfuß und zertrat auch mal hierbei eine Nacktschnecke, spürte sie unter meiner Sohle platzen, äußerst eklig und schrecklich; aber eine Weinbergschnecke zwischen Herrenhalbschuh und Asphaltwüste zu zertreten – das haut nochmal ganz anders rein. Ich spürte sogar mein morgendliches Fischreiher-Erlebnis, jene metaphysische Kompaktsekunde, durch dieses nächtliche komplementäre Desaster irgendwie entwertet werden.
Als ich dann den Berg herabstieg und über den fjordartig erweiterten Neckar lief, in durchsonnten Morgennebeln über den metallisch silberngleißenden Fußgängersteg der Schleuse zwischen Dilsberg bei Heidelberg und Neckarsteinach … und durch’s freischwebend grobmaschige, schuhdreckabstreif- bzw. fußabtrittartige Gittergestänge aus eiffelturmmäßig verlöteten, vernieteten, sicher ingenieursmäßig, statisch höchst intelligent durchkonstruierten Stahlbauelementen, Schwermetallträgern, Pressblechgefügeteilen – oder wie sowas heißen mag: Normgitterroste? Maßgitterroste? Schweißpressroste? –, insgesamt durch und durch ekelhaft seelenlose, ausgenüchterte, stanzgitterdrahtgewebeartige Strukturelemente, garantiert ungeheuer rostfrei und korrosionsbeständig, an deren Zweckrationalität und rutschhemmender Edelstahl-PunktschweißgitterDesolatesse meine zuspätromantisch leidensfähige Seele auf Knopfdruck recht grenzenlos – nun ja: litt, während ich unter mir tödliche Gischtstrudel brausen sah ... da flog 7 Meter über mir ein Fischreiher über mich hinweg ... und sein Schatten völlig zeitgleich, synchron und simultan exakt 7 Meter unter mir durch, quer durch Strudelgischt, so daß für eine extrem ephemere Sekunde, genau in der geometrischen Mitte zwischen der Reihersilhouette über mir und dem japanisch assoziierbaren Reiherschatten, der unter mir dahinglitt ... einigermaßen geblendet – – mein zwischengeschaltetes Ich vorwärtsschritt … ich, als Schnittpunkt und Zentralkörperchen dieser frühmorgendlich leuchtenden Gesamtsituation im Schattenriss. Die Sekunde möchte ich durchaus unter der Rubrik „aufblitzende Sekunde“ abbuchen. Auf einer undurchlöcherten Holzbrücke wäre derglei-
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Literatur – Rückzug nach Brooklyn
Text — JONATHAN BLOWER
3f$,;6( /"$) #300,-:/ Fotos — FABIEN BAUDIN, LYNE FRIEDERICH Fabien Baudin (www.the-prism.ch) Lyne Friederich (whaa.ch/lyne,longhaulpapers.blogspot.com)
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Literatur – Rückzug nach Brooklyn
In der Literaturbeilage des New Yorker n+1 magazine monierte Elizabeth Gumport, es gebe zwar seit über vierzig Jahren Literatur, die Gentrifizierungsprozesse beschreibe – diese „gentrification novel“ bleibe jedoch unfähig zu einer kritischen Auseinandersetzung, solange ökonomische Faktoren zugunsten ästhetischer Argumente ausgeblendet würden. Ein Interview mit der Autorin über Literatur und Gentrifizierung, den Mythos New York und warum es nicht reicht zu sagen: „Ich wohnte aber schon hier, bevor das begonnen hat.“
— Wie kam es zu der Idee, so verschiedene Romane unter dem Genre „gentrification novel“ zusammenzuführen? Die Idee kam mir durch LJ Davies’ “A Meaningful Life“, das ursprünglich 1971 veröffentlicht wurde. Der Roman erzählt die Geschichte von Lowell Lake, der spontan ein Haus, ein baufälliges und versifftes Brownstone in Fort Greene, erwirbt. Interessanterweise ist er kein Einzelgänger, sondern Herdentier, Mitglied einer kleinen jedoch wachsenden Gruppe weißer Hauseigentümer, die als „gentrifier“ bekannt wurden. Das hat mich überrascht: Ich hatte immer gedacht, gentrification sei ein Projekt meiner Generation gewesen, dass das gentrifizierte New York das New York von heute war. Ich begann, mich mit der Geschichte von Grundbesitz und Urbanisierung in Brooklyn auseinanderzusetzen und damit, wie Stadien von Zerfall und Erneuerung in der Erzählliteratur dargestellt wurden. — Haben Sie auch mit den Autoren gesprochen? Ich hatte keinen Kontakt zu den Autoren. Was mich beschäftigte, waren ja nicht ihre „Erfahrungen“ mit gentrification, sondern wie sie den Prozess beschreiben: Teilweise dient gentrification als Metapher für künstlerisches Schaffen; in anderen Fällen werden Begriffe wie „real“ oder „authentisch“ idealisierend gebraucht. — Der Begriff oder das Genre „gentrification novel“ existiert hier in Deutschland nicht. Woher kommt er, was kann so ein Begriff leisten und was sind seine Schwächen? Als ich die Arbeit an dem Artikel begann, hatte ich keinen Sammelbegriff für die Romane, über die ich sprechen wollte: Ich glaube, ich benutzte erst die Phrase „real estate fiction“, um „A Meaningful Life“ und „Walking Small“, Davis’ vierten Roman, zu beschreiben. Zum ersten Mal habe ich die Kategorie „gentrification novel“ in einer Email der n+1-Redakteurin Carla Blumenkranz gelesen. Kritiker hatten die Bezeichnung schon vorher verwandt, aber niemand hatte die generellen Bedingungen definiert, die ein Roman aufweisen musste, um zu diesem Genre zu gehören oder was, neben der bloßen Beschreibung von gentrification, der Tenor dieser Romane war. Bei der Zusammenfassung dieser Bücher zu einem Genre und der Untersuchung, wie sich dieses Genre im Laufe einiger Jahrzehnte entwickelt hatte, ging es mir darum, die
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Literatur – Rückzug nach Brooklyn schaftsroman schreiben willst über die Zeit und den Ort, an dem du lebst, dann verarbeitest du, was du kennst, und was diese Autoren kennen, das ist die Erfahrung, in einem gentrifizierten Viertel zu leben. — In Ihrem Artikel ordnen sie dem Genre der gentrification novel drei Generationen von Autoren zu: Diejenigen, die in den 1960ern nach Brooklyn zogen, als der Prozess der gentrification gerade begann; dann Autoren wie Lethem, die in Brooklyn als Nachwuchs dieser ersten weißen Mittelklasse-Generation aufwuchsen; und schließlich die Autoren, die später nach Brooklyn zogen. Was verbindet ihre Geschichten? Gibt es wiederkehrende Methoden, Motive und Ideen?
Romane nicht einfach wie auf einer Checkliste nach thematischen Interessen oder formalen Techniken abzuarbeiten. Aber Abstraktion muss nicht zwangsläufig eine allzu starke Vereinfachung bedeuten: denn so wie wir das Allgemeine durch das Spezielle erkennen, kann das Allgemeine uns helfen, das Spezielle zu verstehen. In diesem Fall hoffe ich, dem Leser eine neue Kategorie an die Hand zu geben, um sich einzelnen Romane zu nähern und über sie zu sprechen.
Die erste Generation dieser Autoren bezieht sich stärker auf die handwerkliche Eigeninitiative der neuen Bewohner: Farbe von den Wänden kratzen, Dielen reparieren, EdelstahlWaschbecken installieren. Sie lassen bis zu einem gewissen Punkt die Bedeutung von ethnischer Zugehörigkeit und Klassenunterschieden in Brooklyn außer acht, eine Tendenz, die sich in der zweiten Generation noch stärker ausprägt. Für die Autoren, die in den Anfangsjahren der gentrification in Brooklyn aufwuchsen, ist die zentrale Frage, was cool ist und was uncool. Ob jemand eine Bindung an den Stadtteil empfinden dürfe, ersetzt die Untersuchung sozio-ökono-
— Gibt es in anderen Städten der USA ähnliche literarische Unternehmungen? Gibt es Unterschiede? Inwiefern spielt der „Mythos Brooklyn“ eine besondere Rolle? Andere Städte haben ihre eigenen gentrification novels: „The Beautiful Things That Heaven Bears“ von Dinaw Mengestu spielt in Washington DC, Nathan McCalls „Them“ in Atlanta. Jonathan Franzens Erzählung „Good Neighbors“, die kürzlich im „New Yorker“ erschien, handelt von einer gentrifizierten Gegend in St. Paul, Minnesota. Alle Städte schaffen ihren eigenen Mythos, aber mehr als alle scheint New York gefesselt von seiner eigenen Vergangenheit zu sein, wie eine alte Frau, die in den Spiegel starrt und ihrer verlorenen Jugend nachtrauert. Seine Geografie unterstützt diese Art von romantischer Selbst-Mythologisierung: Die Grenzen anderer Städte verschwimmen – wo in dem Lichtermeer beginnen die Außenbezirke? –, aber Manhattan ist eine Insel, klar konturiert in der Nacht. Als Bild betrachtet ist New York makellos: aufgeräumt, für sich stehend, leicht im Gedächtnis zu behalten, und aus diesem Grund besonders einfach zu romantisieren. Man kann es sich gedanklich vor Augen führen, die Skyline hebt sich ab vom Himmel wie eine Textzeile, etwas Festes und Beständiges, etwas, das eine bestimmte Bedeutung besitzt. In gewissem Sinne ist die gentrification novel einfach ein Ableger aller New-York-Romane, nur eben einer, der expliziter darauf angelegt ist, Stadt zu definieren und ihre Veränderungen zu beschreiben. Louis Auchincloss’ Kurzgeschichte „The Landmarker“ von 1964 ist ein schönes Beispiel dafür, wie Leute die Vergangenheit der Stadt zu einer Metapher ihrer eigenen Vergangenheit machen. Aber jenseits des Mythos gibt es auch ganz konkrete Faktoren, die sich im Schreiben über Stadt niederschlagen. Viele New Yorker Autoren wohnen in Brooklyn – und wenn du einen Gesell-
mischer Wirklichkeit von Gentrifizierung, gibt zugleich aber vor, genau das zu leisten. So wird der Autor wichtiger als der Roman: Die erste Autoren-Generation arbeitet bis zu einem gewissen Punkt in der selbst-reflexiven Tradition des amerikanischen Symbolismus und nutzt die Beschreibung von Sanierungsprozessen und der substantiellen Grundlagen von Gentrifizierung als Weg, Befindlichkeiten im Roman auszuloten. Die zweite Generation ist mehr am Lifestyle des Autors interessiert: Wo ist sein Appartement, wie lange wohnt er schon dort, ist es eine schäbige Miet- oder eine beschämend glänzende Eigentumswohnung? Die dritte Generation dieser Romanautoren ironisiert die Fetischisierung Brooklyns, aber auch bei Ihnen fungiert Literatur letztlich als eine Art von Wunsch-Erfüllung. In ihren Romanen besitzen die Leute Appartements oder finden mit viel Glück unverschämt günstige Wohnungen zur Untermiete. Wohneigentum ist ein Ziel, das niemand offen verfolgen mag. Es geht darum, möglichst plausibel abzustreiten: Jeder will in einem gentrifizierten Viertel wohnen, aber niemand will ein „gentrifier“ sein.
Literatur – Rückzug nach Brooklyn
41 Lethems Text gehört zu jenen Romanen, die Aspekte wie ethnische Zugehörigkeit und Klassenunterschiede in die Frage nach der Authentizität einer ursprünglichen BrooklynErfahrung umformen. Er beschäftigt sich zu einem gewissen Maße mit den sozialen und politischen Problemen; etwas anderes zu behaupten, wäre nicht fair. Aber viele jener Autoren vollziehen eine Art von rhetorischem Taschenspielertrick: Ohne dass es jemand merkt, wird „ethnisch“ gegen „echt“ ausgetauscht. Indem sie sich als Verteidiger von Brooklyns Authentizität darstellen, verteidigen sie in Wirklichkeit sich selbst. Angeblich vereine nicht ihre soziale Lage die von Gentrifizierung Betroffenen, sondern ihre besondere Wertschätzung für Brooklyn. So wird dann der Autor ein Opfer wie die anderen auch. Er stilisiert sich zum Bewahrer des Viertels im Kampf gegen geldgierige gentrifier. Es ist eine Art Fassade, hinter der die Menschen ihren Phantasien vom Wohneigentum nachgehen können: Wenn gentrifier nicht durch ihre Handlungen definiert werden, sondern durch ihre Einstellung, dann kannst du dich benehmen wie ein gentrifier – kauf dir das Reihenhaus, pflanz die Blumen – ohne einer zu sein.
Ob jemand eine Bindung an den Stadtteil empfinden dürfe, ersetzt die Untersuchung sozio-ökonomischer Wirklichkeit von Gentrifizierung, gibt zugleich aber vor, genau das zu leisten. — In Ihrem Artikel schreiben Sie, dass viele der Autoren von gentrification novels behaupten, als Letzte das „echte“ Brooklyn noch selbst erlebt zu haben. Dabei geht aus den Texten bereits hervor, dass diese angebliche Realität eigentlich immer eine Konstruktion ist. Woraus speist sich diese Sehnsucht nach Authentizität und was halten Sie davon? Sie kritisieren die Autoren von gentrification novels außerdem dafür, zu ästhetisieren, was im Grunde sozio-politische Angelegenheiten seien (die Frage nach der sozialen Schicht, der ethnischen Zugehörigkeit). Gibt es überhaupt Romane, die die negativen Seiten der Gentrifizierung beschreiben, die vielleicht sogar die Perspektive derer einnehmen, die am stärksten davon betroffen sind? Eigentlich beschreiben durchaus viele gentrification novels die negativen Seiten, aber sogar die, die den materiellen Kern von gentrification ansprechen – die Kluft zwischen denen, die die Mittel haben und sich aussuchen können, wo sie wohnen und denen, die verdrängt werden – legen häufig nahe, Gentrifizierung greife zuvorderst eine abstrakte und immer persönlich definierte Idee des „Authentischen“ an.
— Dem Phänomen gentrification scheint ein Widerspruch innezuwohnen: ein fast schon schizophrener Blick zurück, während man sich vorwärts bewegt. Die gentrifier demonstrieren eine ausgeprägte Nostalgie und Sorge um die „Authentizität“ ihres Bezirks, während der Prozess, den sie entfachen, unerbittlich fortschreitet: in Form von Stadtteilerneuerung, wachsendem ökonomischen Wohlstand, fallenden Verbrechensraten, hübschen Blumenkästen und so weiter. Wie zeigt sich diese Widersprüchlichkeit in den Romanen? Sowohl die gentrifier als auch ihre Gegner benutzen die Vergangenheit des Stadtteils, um ihre Positionen zu stärken. Es heißt, gentrification zerstöre das „wahre“ Brooklyn, da der Zuzug weißer, reicher gentrifier die Vergangenheit des Viertels unter sich begrabe und den Strassen und Gebäuden eine künstliche Geschichte übergestülpt werde. Wenn aber die Vergangenheit benutzt wird, um einen Ausgangspunkt und Maßstab für die Entwicklung festzulegen, muss die Frage gestellt werden: welche Vergangenheit?
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Literatur Politik – - Rückzug Highlights nach Brooklyn — Sie begreifen urbane Entwicklung als einen Teil des modernen Lebens. Gibt es konkrete politische oder gesetzgebende Maßnahmen, die ergriffen werden könnten, um die negativen Effekte von gentrification zu vermeiden? Festgelegte Höchstmieten, Mietgutscheine, aber das wären nur Tropfen auf den heißen Stein. Die Leute sagen, New York sei eine Stadt für die reichsten der Reichen und die ärmsten der Armen, aber die Stadt gehört mehr und mehr nur den ganz Reichen. Die Armen wurden schon immer an den Rand der Stadt gedrängt; das reiche Zentrum wächst und schiebt die Grenzen weiter und weiter nach außen.
Wenn gentrifier nicht durch ihre Handlungen definiert werden, sondern durch ihre Einstellung, dann kannst du dich benehmen wie ein gentrifier – kauf dir das Reihenhaus, pflanz die Blumen – ohne einer zu sein. Während des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wurden die Brownstones in den Vierteln, die man jetzt „gentrifiziert“ nennt, von einigen der reichsten Familien der Stadt bewohnt, insbesondere aus der New Yorker „gentry“. In Clinton Hill zum Beispiel baute der Öl-Magnat Charles Pratt eine Villa in der 232 Clinton Avenue. Dann baute er noch vier weitere, für jeden seiner Söhne eine. Die Strasse wurde als „Millionaire’s Row“ bekannt. Park Slope lockte reiche Familien an und in Boerum Hill lebte hauptsächlich die Mittelklasse. Brauereibesitzer bauten Villen in Bushwick, in denen unter anderem John Hylan, der Bürgermeister von New York City von 1918 bis 1925, lebte. Wenn das, was war, bestimmt, was sein soll – wie die Gegner der gentrification behaupten – dann könnte man argumentieren, dass Brooklyn den Reichen gehört, und dass die gentrifier eigentlich am gewissenhaftesten mit der Vergangenheit umgehen. In gentrification novels von Autoren, die sich gegen Gentrifizierung stellen, ganz besonders der zweiten Generation, ist es für gewöhnlich genau diese Geschichte, die unbeachtet bleibt. Sie unterstellen gentrifiern, die Vergangenheit zu fetischisieren oder zu ignorieren, aber eigentlich tun sie dasselbe. — Häufig scheint es, als seien die größten Gegner der Gentrifizierung unwissentlich zugleich ihr Katalysator. Ist das in Brooklyn auch so? „Unwissentlich“ wäre vielleicht verharmlosend. Ich denke, die Leute versuchen, das Thema lieber zu vermeiden: wenn du nicht darüber nachdenkst, kannst du auch nicht dagegen sein. Andere sitzen in ihrem bequemen Nest in gentrifizierten Vierteln und führen in großen Worten die Anklage gegen gentrification. Dann gibt es noch die, die Gentrifizierung anprangern, während sie ihre eigene Rolle als gentrifier leugnen: „Ich war schon früher hier, erst nach mir hat sich alles verändert“…
— Es ist anzunehmen, dass die meisten der Autoren, auf die Sie verweisen, selbst Teil des Gentrifizierungs-Prozesses sind. Inwiefern tragen vielleicht auch ihre Bücher dazu bei? Ich bezweifle, dass Romane als Werbung für bestimmte Viertel besonders effektiv sind: Lifestyle-Artikel in Zeitungen und Magazinen haben wahrscheinlich größere Auswirkungen. Aber zu der Attraktivität der Stadt für Fremde – die natürlich ein Ausgangspunkt für Gentrifizierungsprozesse sein kann – tragen diese Romane bei wie jedes andere Buch oder jeder Film über New York. Sie werden Teil des goldenen Mythos der Stadt, des schillernden, unverwüstlichen Traums von Millionen. Es gibt einen guten Aufsatz von Joan Didion namens „Goodbye To All That“. Als sie aus dem Flugzeug aus Sacramento kommend stieg, schreibt sie, „sagte mir ein Instinkt, programmiert durch all die Filme, die ich gesehen, und alle Songs, die ich gehört, und alle Geschichten, die ich über
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Literatur Politik – - Rückzug Highlights nach Brooklyn
New York gelesen hatte, dass die Stadt niemals mehr ganz dieselbe sein würde.“ All diese Geschichten fließen ein in die große „New York Story“. — Wenn die gentrification novel also nicht in besonderem Maße Teil der Gentrifizierung ist, kann sie dann anders herum in politischer Sicht „erfolgreich“ sein? Wenn ja, wie? Ich weiß nicht. Sie mag eine Anti-gentrification-Stimmung inspirieren, dann jedoch hauptsächlich durch den sentimentalen Bezug auf eine idealisierte Vergangenheit. Und Nostalgie ist eine gefährliche Grundlage für eine politische Bewegung. Aber würde man einen Roman, weil er eine politische Wirkung entfaltet, deshalb zugleich auch als gelungen bezeichnen?
Elizabeth Gumport ist Yale-Absolventin und derzeit MFA-Anwärterin an der Johns Hopkins Universität. Sie schreibt unter anderem für n+1 book review, The New York Observer, The Ecomonomist’s „More intelligent Life“ und The Believer. Geboren und aufgewachsen ist sie in New York City.
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Literatur – He, too, he would destroy…
„HE, TOO, HE WOULD DESTROY THE OLD WORLD WITH HIS PEN“ James T. Farrells monumentaler Großstadtroman „Studs Lonigan“ schildert mit soziologischer Genauigkeit das Leben in der Chicagoer South Side zwischen 1916 und 1931. Text — TILL WERKMEISTER, Illustration — MAX FRIELINGHAUS Wenn es eine Phase innerhalb der Kulturgeschichte der USA gibt, in welcher der Mythos des „American Exceptionalism“, die überaus wirkmächtige Vorstellung des Landes als großes Versprechen der Menschheit, breitenwirksam in Frage gestellt worden ist, waren es die Jahre der „Great Depression“. Der Börsencrash vom 29. Oktober 1929 und die folgenden einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen samt Massenarbeitslosigkeit haben dazu geführt, dass viele Amerikaner in verstärktem Maße das Heilsversprechen eines weitestgehend ungezügelten Kapitalismus' zu hinterfragen begannen und sich – zumindest zeitweilig – ein relativ breites Interesse an Alternativen entwickeln konnte. Viele Romane der Zeit sind geprägt von einem kollektiven Drang zur Dokumentation, zur Bestandsaufnahme zuvor vernachlässigter Bereiche amerikanischer Wirklichkeit mit dem Ziel, an konkreter gesellschaftlicher Veränderung mitzuwirken. So kann von der Entstehung einer genuin amerikanischen „proletarian novel“ gesprochen werden, in dessen urbaner Variante Chicago als bevorzugter Schauplatz zur Diskussion zeittypischer sozialer Konflikte und Probleme fungiert. Vielleicht noch stärker als jede andere Großstadt der USA ist die Metropole des Mittleren Westens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geprägt von beschleunigter Industrialisierung und Modernisierung, eklatanten ökonomischen Gegensätzen und rasantem Wachstum, vor allem durch permanente Immigrationsschübe. Die Chicagoer South Side ist das Setting der monumentalen, heute leider weithin in Vergessenheit geratenen, Romantrilogie „Studs Lonigan“ von James T. Farrell, der selbst in diesem Stadtteil als Kind proletarisch und katholisch geprägter irischer Immigranten der zweiten Generation aufwuchs. Der Blick, den er nicht nur in dem frühen Hauptwerk „Studs Lonigan“ auf dieses formative Umfeld wirft – als notorischer Vielschreiber hat er insgesamt über 50 Romane und Kurzgeschichtenbände verfasst –, ist in charakteristischer Weise geprägt durch seine Vertrautheit mit wissenschaftlichen An-
Literatur – …the old world with his pen sätzen und Ideen infolge eines Studiums am einflussreichen Chicago Institute of Sociology der zwanziger Jahre. Die „Studs Lonigan“-Trilogie ist ein Text von gewaltigem Umfang. Der Hauptplot der drei zunächst einzeln veröffentlichten Romane (1932 / 1934 / 1935) umspannt den Zeitraum von 1916 bis 1931 und folgt dem Protagonisten von dessen Adoleszenz bis zum frühen Tod im Alter von 29 Jahren. Die Benennung der Trilogie nach dem Namen der Hauptfigur erzeugt in gewisser Hinsicht eine Erwartungshaltung, die der Text nicht einlöst. Zwar ist Studs' Perspektive in weiten Teilen maßgeblich für die Darstellung, jedoch geht es Farrell gerade um die Demonstration des Ineinandergreifens von Figurenbewusstsein und gesellschaftlichem Umfeld. Unter spürbarem Einfluss von Dos Passos' „Manhattan Transfer“ führt der Autor dabei eine außerordentliche Vielzahl an Figuren ein, die ein Milieu repräsentieren, das in einem überaus detailliert geschilderten geografischen Bereich lokalisiert wird: einigen Blocks der Chicagoer South Side zwischen Michigan Avenue und Washington Park. Diese Darstellung Chicagoer Wirklichkeit hat wenig mit Vorstellungen von urbaner Größe und Glamour gemein, wie sie etwa die großstädtische Prosa Dreisers oder Fitzgeralds prägen. Hier knüpft Farrells Text an zeitgenössische soziologische Studien an, die die einzelnen Viertel von Metropolen als „cities within cities“ auffassen, als „little worlds which touch but do not interpenetrate“ (Robert Park). Dementsprechend sind Ausflüge einzelner Figuren in andere Stadtteile überaus selten; innerhalb des Viertels wiederum herrscht eine geradezu kleinstädtische Familiarität unter irischen Migranten aus der working class und lower middle class. Wenn diese ethnische Homogenität im Laufe des Handlungszeitraums durch den Zuzug anderer Gruppen zunehmend aufbricht, ähnelt der Schauplatz dann eher einem Kriegsgebiet als dem Ideal eines Schmelztiegels. Die auch von der Elterngeneration und den kirchlichen und politischen Autoritäten im Viertel vertretenen und in Farrells Text in ungewöhnlich umfassender Form sezierten rassistischen Vorurteile führen dazu, dass Studs und seine peers eigene Frustrationen in Gewalt, insbesondere gegen die Sündenbock-Figuren des Juden und des Schwarzen, umsetzen. In der Tradition naturalistischer Niedergangsnarrative werden Studs und die meisten seiner Mitstreiter zu Opfern ihres nahezu hermetischen Milieus. Während im klassischen Naturalismus jedoch häufig primär ökonomische Faktoren als Gründe des Scheiterns fungieren (die natürlich hier auch eine Rolle spielen, insbesondere wenn im dritten Teil die Konsequenzen der Depression in den Blick geraten), widmet sich Farrell in verstärktem Maße kulturellen Momenten. Die großen Erzählungen des amerikanischen Traums, der Glaube an die Möglichkeiten individueller und kollektiver Selbsterneuerung und sozialen Aufstiegs, erscheinen im Roman in Form von Zukunftsvorstellungen eines Protagonisten, der sein Selbstbild an klischeehaften, durch die Massenmedien verbreiteten Bildern von erfolgreicher Männlichkeit orientiert. Ihr
Einfluss auf Studs' Denken und Fühlen wird durch die klassisch modernistische Collage von Zeitungsschlagzeilen, Werbeslogans, Wochenschauen, Stellenanzeigen, Radionachrichten, Schlagertexten und insbesondere durch kinematografische Exkurse verdeutlicht. Immer wieder zerschellen seine phantastischen Selbstprojektionen als Boxchampion, Kriegsheld, Unternehmer, Womanizer oder romantisch Liebender auf schmerzliche Weise an einer überaus eintönigen und einengenden Realität, für deren Bewältigung diese internalisierten Erzählungen keinerlei Hilfe zu leisten vermögen. Entgegen der von Studs zunächst gehegten Hoffnungen, wonach die von ihm gesuchten Gemeinschaften der Straßengangs Fluchtmöglichkeiten bieten könnten vor dem erdrückenden Konformismus seines von irischem Katholizismus und amerikanischem Arbeitsethos geprägten, als bigott, heuchlerisch und steril empfundenen Elternhauses, erweisen sich diese als ebenso beengend und nicht weniger gleichmachend. In quälenden Dialogsequenzen untersucht der Autor umfassend und wiederum an Vorstellungen der Soziologen der Chicago School anknüpfend, wie sich die Einzelnen in diesen Zweckgemeinschaften ritualhaft der eigenen Vorurteile und Lebenslügen rückversichern, deviante Vorstellungen und Handlungen rhetorisch stigmatisieren und handgreiflich bestrafen. So ähneln Studs und seine verbliebenen Altersgenossen am Ende den Vertretern der Generation ihrer Eltern. Was ihnen im letzten Teil bleibt, sind Selbstmitleid, nostalgische Verklärung der eigenen Vergangenheit, Trauer um verpasste Chancen und – durch die Überzeugung, das Leben vergeudet zu haben, gesteigerte – Furcht vor dem Tod. Letztendlich stellt der Roman die Frage, wie sich die Energie und Vitalität, die den Protagonisten und seine Mitstreiter zu Beginn kennzeichnen, produktiver hätten umsetzen lassen. Hier eröffnet der Text eine Perspektive, indem er Studs' Scheitern einen gelungeneren Entwicklungsprozess gegenüberstellt: Demselben Milieu wie Studs entstammend, verschafft ein Stipendium Danny O’Neill die Möglichkeit, zu studieren und sich von seinem verhassten Umfeld zu emanzipieren. Bei dem von Danny in der betreffenden Passage formulierten Ziel handelt es sich um das Projekt der Romantrilogie selbst: „He, too, he would destroy the old world with his pen: He would help create the new world. He would study to prepare himself. “ Einer der von Studs, dessen Familie und Mitstreitern sowie den Autoritäten des Viertels geschmähten und diffamierten „Intellektuellen“ wird so zum eigentlichen Helden des Romans und rückt in die Nähe des Erzählers, der wie er das Ziel verfolgt, der Reflexion über den Status quo und dessen Überwindung mit dem Mittel einer dokumentarischen Schocktaktik Vorschub zu leisten.
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Literatur - Humoristin des Monströsen
HUMORISTIN DES MONSTRÖSEN
Text — LASSE KOCH Illustration — SINA MÖHRING
Literatur - Humoristin des Monströsen
Schlagartig berühmt wurde die damals 27-jährige Schriftstellerin Gisela Elsner mit ihrem Debütroman „Die Riesenzwerge“ aus dem Jahr 1964. Ihr „böser“ satirischer Blick auf die scheinheilige Welt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft faszinierte und entsetzte. Auch ihr extravagantes Äußeres, ihr „Kleopatra-Look“, sorgte für Aufsehen. Vielen galt Elsner in den 1960er Jahren als die bedeutendste Satirikerin der BRD, heute jedoch sind ihre neun Romane und zahlreichen Erzählungen kaum noch jemandem bekannt. Der Kinofilm „Die Unberührbare“ (2000) über den Selbstmord der Autorin im Jahr 1992 erfuhr zwar große mediale Aufmerksamkeit, was aber am Desinteresse gegenüber Elsners Werk nichts änderte. Die Aufsatzsammlung „Die letzte Kommunistin“ unternimmt nun den Versuch einer Wiederentdeckung Elsners. Ein Gespräch mit der Herausgeberin, der Hamburger Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel.
— Ursprünglich war die Aufsatzsammlung als Veröffentlichung der Reihe „Text und Kritik“ geplant, woran scheiterte diese Zusammenarbeit? Als ich mit Heinz Ludwig Arnold, dem Herausgeber von „Text und Kritik“, das erste Mal über das Projekt sprach und der Name Gisela Elsner fiel, wäre er mir wohl am liebsten durchs Telefon entgegengesprungen. Er hatte Elsner persönlich gekannt und sagte, er finde diese Frau so fürchterlich, dass er sich nicht vorstellen könne, dass man über sie etwas Gutes schreiben kann. Wir einigten uns auf den Kompromiss, dass Herr Arnold anhand des abgeschlossenen Manuskripts über eine Veröffentlichung entscheiden würde. Zwischenzeitlich hieß es dann aber aus der Redaktion von „Text und Kritik“, sie würden den Band in jedem Fall machen wollen und ich dachte, es geschehen noch Wunder. Im Juli 2009 sollte das Buch erscheinen. Wir waren schon dabei, Werbetexte zu verfassen, dann kam doch noch das Nein. Der Ton des Bandes gefiele nicht. Wir Autoren haben dann gemeinsam entschieden, dass man sich auf eine Zensur auf gar keinen Fall einlassen wolle. Somit wurde Elsner vorerst nicht in den literaturwissenschaftlichen Kanon aufgenommen. Das zeigt, dass sie noch heute polarisiert. Was ja auch sein Gutes hat, denn Kanonisierung bedeutet ja bis zu einem gewissen Grad auch Ruhigstellung.
— Inwiefern steht diese Absage stellvertretend für den allgemeinen literaturwissenschaftlichen Blick auf Elsner? Es sind vor allem Elsners Zeitgenossen, die ein massives Problem mit ihr haben. Peter O. Chotjewitz hat das in „Der Club der toten Dichter“ sehr schön beschrieben, indem er sagte, die Elsner sei ein Typ Frau gewesen, vor dem insbesondere Männer richtig Angst hatten. Ich glaube, da hat er es auf den Punkt gebracht.
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— In Ihrem Einleitungsaufsatz zitieren Sie Gisela Elsner mit den Worten: „Satiren galten wie Bordellbesuche ausschließlich als Männersache.“ Das war 1978. Glaubt man Elfriede Jelineks Beitrag in „Die letzte Kommunistin“, so hat sich an diesem Zustand bis heute nicht viel geändert. Ich denke, dass sich langsam etwas verändert. Dazu haben auch die Werke von Jelinek selbst beigetragen, wenngleich sie nach wie vor angefeindet wird. Die Satire ist eine Gattung, die mit einem aggressiven Duktus verbunden ist. Das passt natürlich nicht zu einer bestimmten Vorstellung von einer weiblichen Ästhetik, wie sie sich auch in Frauenliteratur und Frauenliteraturforschung finden lässt, die Schreibweisen dann als weiblich etikettiert, wenn sie sanftmütig, biografisch, subjektiv, wenn sie eher einfühlsam sind. Dem „harten Männlichen“ das Emotionale entgegenzusetzen – damit brechen sowohl Elsner als auch Jelinek sehr stark, indem sie jegliche Einfühlung, jegliche Empathie von vornherein unterbinden.
— Hans Magnus Enzensberger bezeichnete Elsner als „Humorist des Monströsen“. In „Die Riesenzwerge“ entpuppt sich die kleinbürgerliche Idylle der 1950er Jahre als Horrorszenario. Hinter der Heile-Welt-Fassade herrschen weiterhin Denkmuster vor, die ungebrochen aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommen wurden. Wie gelingt es Elsner, das Banale so eindrucksvoll ins Schreckliche kippen zu lassen? Die Erzählperspektive in „Die Riesenzwerge“ ist die eines Kindes im Vorschulalter, das ist gewissermaßen die satirische Maske, hinter der sich die Autorin versteckt. So wird alles vergrößert. Wenn der Vater den Mund aufreißt, dann erscheint das dem Kind als monströses riesiges Maul. Als würde man ein Objektiv vor eine Kamera setzen. Gisela Elsner hat einmal in einem Interview gesagt, Satire sei für sie eine Art Kameraeinstellung. Sie manipuliert die Optik, um eine Situation völlig anders darstellen zu können. Das ist dieser fremde Blick ...
— Der ethnografische Blick? Genau, das ist dieser ethnografische Blick. Elsner ist auch einmal als Ethnografin der Bundesdeutschen bezeichnet worden. Normalerweise stellt sich dieser Blick nur her, wenn man als Fremder auf eine Kultur blickt. Elsner und auch Jelinek sind beide in der Lage, den fremden Blick auf die eigene Kultur zu richten.
— Treten diese Strukturen, die sich hinter dem scheinbar friedlichen Verhalten der Menschen verbergen, bei Elsner auch deshalb so deutlich hervor, weil sie statt Charakteren eher charakteristische Typen schafft? Das ist ein Merkmal von Satire überhaupt. Es gibt keine Charaktere im umfassenden Sinne, mit einer psychologischen Tiefe, mit einer Geschichte, mit einer Innenperspektive. Man erfährt nichts über die Befindlichkeiten der Personen. Elsner betrachtet die Charaktere von außen, deren Oberfläche. So werden sie zur Karikatur, stehen für ganz bestimmte Personen und Positionen, für bestimmte Verhaltensmuster. Deswegen ritualisiert Elsner auch die Handlungen. Aus der Sicht des Kindes haben all diese Handlungen etwas Bedeutsames. Figuren werden zu Karikaturen, bei Handlungen wird das Rituelle hervorgehoben. Das sind die beiden Stilmittel, die alles so monströs erscheinen lassen.
— Das lässt auch größere Interpretationsmöglichkeiten zu. Genau. Ich war entsetzt, als ich die zeitgenössischen Rezensionen zu „Die Riesenzwerge“ las. Die Kannibalenszene, in der die übrigen Restaurantgäste den Vater des Erzählers zerfleischen, wurde von niemandem auf den Nationalsozialismus bezogen. Aber gerade die Fortschreibung
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Literatur – Humoristin des Monströsen, N.+,
bestimmter NS-Verhaltensweisen und Rituale hat Elsner so schockiert. Dabei hätte man das Kannibalische im NS-System, das Gefräßige und das Sündenbock-Prinzip kaum besser herausarbeiten können. Dass das von der Kritik nicht einmal wahrgenommen wurde, war meiner Meinung nach der Grund für Elsner, mit ihrer Schreibweise zu brechen. Weg von der Groteske mit ihren starken Verfremdungen hin zur Gesellschaftssatire. — Auch in ihren weiteren Romanen hat sich Elsner stark mit überkommenen Denk- und Verhaltensmustern aus dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Gibt es weitere zentrale Motive in ihrem Werk? In meinem Lieblingsroman von Elsner, „Das Berührungsverbot“ aus dem Jahr 1970, geht es beispielsweise um die Sexualität der Spießbürger. Sexualität ist hier ganz stark mit ökonomischen Begriffen belegt. Zwischen Ehe und Prostitution sieht Elsner eigentlich keinen Unterschied. Ehe und Sexualität funktionieren rein auf ökonomischer Basis des Tauschhandels. „Das Berührungsverbot“ wird ja rückblickend immer zusammengelesen mit Jelineks „Lust“, das allerdings erst 19 Jahre später erschienen ist. Ich denke, das „Berührungsverbot“ ist sogar noch vielschichtiger, räumt es doch gleichzeitig auch noch mit der Utopie der ’68er auf, wonach Sexualität eine befreiende Komponente habe. Bei Elsner wird Sexualität wie ein technischer Vorgang beschrieben, da bleibt nichts zurück. Das ist für die damalige Zeit natürlich sehr kühn.
— Warum konnte Elsner mit ihren nachfolgenden Werken nicht mehr an den Erfolg von „Die Riesenzwerge“ anknüpfen? Es gibt so etwas wie eine „Falle Riesenzwerge“, eben aufgrund des mit diesem Buch einhergehenden Erfolgs. Es hat niemanden interessiert, dass Elsner im Nachhinein gesagt hat, sie könne sich nicht mehr mit den „Riesenzwergen“ identifizieren, sie wolle sich weiterentwickeln. Von Sei-
/N. +, Nagel
ten der Kritik kam immer nur die ausgeleierte Platte: Aber es ist trotzdem nicht wie „Die Riesenzwerge“. Dennoch wurde Elsner in den 70er Jahren noch relativ gut rezipiert. In den 1980er Jahren nahm das Interesse dann kontinuierlich ab, was nicht zuletzt daran lag, dass Satire als Schreibweise überhaupt abgeschrieben wurde. Das zeigt auch ein Blick auf die literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen dieser Zeit: In den 1970er Jahren gab es noch sehr viele Arbeiten zur Satire, in den 1980er Jahren kam dann eher das Label der „Neuen Innerlichkeit“ auf, man beschäftigte sich mehr mit Autobiografischem, mit Befindlichkeiten. Die Rezensionen der 1980er Jahre waren dann auch gar nicht mehr in der Lage, mit satirischen Stoffen umzugehen. Das zeigt auch der Vorwurf an Elsner, sie sei nicht in der Lage, Innenansichten oder ein Mitfühlen zuzulassen. Die Herren und Damen Rezensenten haben nicht begriffen, dass Satire das gar nicht leisten kann und auch nicht leisten soll.
— Gisela Elsner hat sich selbst als Kommunistin bezeichnet, auch dann, als es nicht mehr als modern galt. Sie hat sich offen zur DDR bekannt, war Mitglied der DKP, hat aus ihrem Hass auf die BRD eigentlich nie einen Hehl gemacht. Natürlich hat man ihr das übelgenommen. Elsner selbst hat es auch in Briefen an Kollegen explizit formuliert, dass sie einen Zusammenhang sieht zwischen ihrem Untergang als Literatin, der Missachtung durch die Literaturkritik und ihrem Festhalten an politischen Grundsätzen. Gisela Elsner hat sich zwischen alle Stühle gesetzt und sich Zeit ihres Lebens viele Feinde gemacht. Nur von Feinden umzingelt zu sein, das macht sie natürlich unbestechlich, aber das ist eine höchst riskante Position, die niemand lange durchhält, glaube ich. Christine Künzel (Hg.) „Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner“ (KVV konkret) Die ungekürzte Fassung des Interviews auf: www.opak-magazin.de
VIELEN DANK FÜR DIE BLÜMERANZ Nagel über Individualtourismus.
Ich musste dringend mal weg von Kälte, Lärm und Stupidität des postweihnachtlichen Berlins, also buchte ich spontan einen Flug auf die Kanaren. Natürlich nicht Fuerteventura oder Teneriffa, nein, La Gomera sollte es sein. Dort gibt es keine Bettenburgen, sondern jede Menge „Individualtourismus“. Laut Reiseführer wird auf Gomera mehr gewandert als gebadet, gekifft als gesoffen, meditiert als gegröhlt. Am Flughafen Teneriffa lache ich über die dicken Pauschaldeutschen, die sich wie die Schafe zur Schlachtbank in ihre schäbigen Hotelanlagen karren lassen. Ich dagegen muss eine Fähre nehmen, weil La Gomera keinen internationalen Flughafen hat. Was ja schon mal total aussteigermäßig ist. Und natürlich gehöre auch ich zu der Sorte Touristen, die im Urlaub am liebsten über die „Scheiß-Touris“ herziehen. Mit der dringend ersehnten Entspannung ist es allerdings nicht weit her. Im Mietwagen stelle ich als Erstes fest, dass einer der zwei empfangbaren Radiosender nur deutschen Sexrock spielt. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn ihm die schöne Nachbarin gefällt ...“ Der Rest der Insel scheint ebenso fest in deutscher Hand. Im Supermercado werde ich wie selbstverständlich auf Deutsch bedient. Das vegetarische Restaurant nebenan führt die Speisekarte auf Deutsch und Englisch, nicht aber auf Spanisch. Alles deutet auf ein geheimes Abkommen mit den Spaniern hin: uns Gomera, euch das Berghain. Um sechs Uhr morgens weckt mich statt aus der Kneipe heimkehrenden Schnapsdrosseln nun ein krähender Hahn. Rein soundästhetisch ungefähr dasselbe, nur dass Betrunkene irgendwann müde werden. Auch dachte ich immer, der Buslärm auf meiner Straße wäre nervig. Nun er-
scheint er mir wie ein sanftes Rauschen gegen das Ziegengeblöke unter meinem Fenster. Von der klerikalen Ruhestörung der Kirchenglocken will ich gar nicht erst anfangen. Außerdem habe ich nicht gewusst, dass das spanische Weihnachtsfest erst am 6. Januar gefeiert wird. Es heißt Dreikönigsfest und ist eine Mischung aus Weihnachten, Karneval und Silvester. Am Vormittag werde ich von kanonenschussähnlichen Geräuschen geweckt. Hoffentlich wurden Hahn und Ziege endlich exekutiert, denke ich. Aber nein, es sind Raketen, die mit zunehmender Häufigkeit und Lautstärke in den wolkenlosen Himmel geschossen werden. Das Geboller schallt zwischen den Bergen hin und her wie das Trommelfeuer der Italiener in den Isonzoschlachten im Sommer 1915. Dagegen wirkt Silvester in Neukölln wie ein Yogakurs. Ich steige in meinen Wagen, einem Seat „Ibiza“, als Kraftfahrzeug optisch eigentlich nicht ernstzunehmen. Trotzdem ramme ich mit dem winzigen Gefährt auf dem Weg Richtung Hafen mehrere Individualtouristen, die viel zu relaxt sind, um mir rechtzeitig auszuweichen. Hässliches Geknirsche von Knochen und Nickelbrillen. Jetzt wird endgültig ausgestiegen. Das Blut läuft in dicken Schlieren über die Windschutzscheibe. Ein Wursthaartoupet verfängt sich in den Wischblättern. Im hohen Drehzahlbereich durchpflüge ich die Serpentinen der Insel. Ich erreiche die nächste Fähre, ohne einmal anzuhalten. Adiós Amigos, ich muss zurück in die Stadt, wo jedes Geräusch von einem anderen überlagert wird. Zurück zum urbanen Brei, der ultimativen Entspannung. Herrlich.
Literatur – (Gastexperten)
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(… von Leuten, die es besser wissen)
BELL IN L.A. MIT STARR & HEIMANN Jonny Bell ist Sänger und Bassist der Band Crystal Antlers aus Long Beach, Kalifornien. Er beurteilt das Buch „Los Angeles: Portrait of a City“ von Kevin Starr und Jim Heimann (Hrsg.) Text — JONNY BELL, Foto — PIXIE MOL
Mit „Portrait of a City“ liegt die wahrscheinlich bisher umfassendste Sammlung von Fotografien zur Geschichte der Stadt der Engel vor. Hunderte von Bildern führen durch jede Ära L.A.s: Am Anfang war Ciudad de Los Angeles eine Wüstensiedlung von Hispanics und Native Americans, dann kamen die „Roaring 20s“, das Aufkommen der Filmindustrie, das „Goldene Zeitalter“ Hollywoods, die Unruhen der 1960er Jahre sowie die Bevölkerungsexplosion und Ausdehnung der Stadt im späten 20. Jahrhundert, als Los Angeles zur Ecumenopolis wurde. Aufschlussreich wird jede Periode durch einen Essay eingeleitet. Wenn ich mit meiner Band unterwegs bin, werde ich naturgemäß mit fremden Städten und Kulturen konfrontiert. So ist jede Heimkehr mit einem neuen Blick verbunden: Ich nähere mich Los Angeles jedes Mal genauso wie anderen Städten auf Tour. In Long Beach geboren, dem Hafen an der südlichsten Spitze L.A.s, fasziniert mich die spezielle Entwicklungsgeschichte der Stadt seit jeher. Ich habe bisher einfach kaum eine andere Stadt gesehen, die sich weiter und weiter ausdehnt. In der Einleitung des Buches heißt es, dass ein Mann namens Charles Fletcher Lummis 1884 eine gewaltige Anstrengung unternahm, um sich von einer Krankheit zu erholen. Er ging ganze 3500 Kilometer zu Fuß von Cincinnati nach Los Angeles, wurde dann Redakteur der Los Angeles Times und gründete sein eigenes Magazin „Land of Sunshine“. Fletcher wurde zu einem frühen Botschafter L.A.s., er schrieb über die Stadt als Ort sonnendurchfluteten, gesunden Lebensstils – eine irgendwie ironische Perspektive auf diese Ansiedlung, die kurze Zeit später zum Synonym für Automobilkultur werden sollte. Tatsächlich weist „Portrait of a City“ ausführlich auf den Zusammenhang von Stadtentwicklung und der Geschichte des amerikanischen Automobils hin. Spektakuläre Fotos zeigen Drive-in-Theater, -Restaurants, -Liquor Stores und sogar eine Drive-inKirche. Dazu D. H. Lawrence: „Los A. is silly – much motoring, me rather tired and vague with it. California is a queer place – in a way, it has turned its back on the world and looks into the void Pacific.“ L.A. wuchs in alle Richtungen. Nach Norden bis ins San Fernando Valley, nach Osten bis Pomona und südwärts nach Long Beach. Der Wilshire Boulevard richtete die Expansion zur Pazifikküste bis Santa Monica, und der Arroyo Seco Parkway, einer der ersten Freeways des Landes, führte das Wachstum nach Pasadena. Die Entdeckung und Raffinierung von Öl in Südkalifornien tat ihr Übriges. „Portrait of a City“ zeigt viele Fotos, auf denen Häuser und Hauptstraßen von gigantischen Bohrtürmen umgeben sind – ein Anblick, der auch heute nicht selten ist, wenngleich die Ölproduktion generell an Bedeutung verloren hat.
Das „Goldene Zeitalter“ Hollywoods wird nicht ausschließlich durch den naheliegenden Rückgriff auf seine Ikonen porträtiert. Große Fotobeiträge von Schauspieler/Regisseur Dennis Hopper sowie dem Cover-Designer, Art-Director und Fotografen des „Life Magazines“ William Claxton verleihen der Hollywood-Thematik angemessene Tiefe. Das Buch thematisiert außerdem eindrücklich die Reinkarnationen der Stadt nach Erdbeben, Bränden, Riots und anderen Katastrophen. Zwar werden die Hintergründe der Watts Riots verkürzt beschrieben. Die Kraft der Fotografien aber zeugt vom Gewicht dieses Ereignisses, wie auch dem der Erdbebenschäden in Long Beach und Northridge, den Bränden in Bel Air und Santa Monica, die sich kaum mit Worten beschreiben lassen. Die besondere Fähigkeit der Stadt, sich zu erholen und neuen Herausforderungen gerecht zu werden, wird durch eines meiner Lieblingsbilder illustriert: In einem neuen Wohngebiet downtown wird eine Palme von einem Kran aufgerichtet – so funktioniert Problemlösung in Kalifornien. Wem ein Besuch dieser Stadt nicht möglich sein sollte, der möge zu diesem Buch greifen und es aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen. Ein Teil der Schönheit, des Sonnenscheins, der Exzentrik, und ein bisschen sogar der Duft von Orangenblüten sind hier eingefangen worden.
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Literatur – (Buch der Ausgabe)
MICHAEL MARANO
„Dawn Song“ (Suhrkamp) Text — LUCIA NEWSKI Foto — VILLE HILL
Am Rande lief das Faible für Fantastik immer mit. Jetzt aber wird es ernsthaft blutig im Hause Suhrkamp. Der US-amerikanische Autor Michael Marano wurde 1998 zum Shooting Star der Gruselszene. Von Kritikern gefeiert, räumte Marano mit seinem Debüt „Dawn Song“ sowohl den Bram Stoker Award als auch den International Horror Guild Award ab. Nun endlich, elf Jahre später, liegt die deutsche Übersetzung vor.
Die Handlung ist dort angesiedelt, wo der Koller ganz nah ist. Der Zweite Golfkrieg tobt und im Boston der Vorweihnachtszeit, dem bekanntermaßen ätzendsten Jahresabschnitt, dreschen zwei finstere Mächte aufeinander ein. Belial, der „Ungebeugte, Dämon des Tanzes und wortgewandter Anwalt der Hölle“, entsendet seine Tochter auf die Erde. Sie ist eine Sukkuba, eine dämonische Mörderin, die ihre männlichen Opfer in Akten fast liebevoller Grausamkeit tötet. Der gewaltige Gegenspieler mit Namen Leviathan, ist ein hirnloses Biest aus Fäkalien, das Menschen zu neurotischen Serienkillern macht. Michael Marano lässt uns Zeugen ungeheurer Machtübernahmen und Manipulationen werden. In vielerlei Hinsicht. Saddam Husseins Griff nach Kuwait reicht über die Bildschirme bis in jeden westlichen Haushalt hinein, der Operation Desert Storm steht kaum mehr etwas im Wege. Der Schauplatz des Romans, das im Zwielicht wabernde Boston, ist gezeichnet von einem Klima aus Aufgebrachtheit und Paranoia. Der Druck ist allgegenwärtig: Wer dem Taumel patriotischer Schlachtbegeisterung nicht verfällt, macht sich pauschal verdächtig. In seinen zahlreichen Handlungssträngen und zufälligen Begegnungen zeichnet Marano Boston als Gewirr chaotisch durcheinander plappernder Stimmen.
In den Erfüllungsgehilfen der beiden Dämonen wird das Gemurmel der verschiedenen Stimmen notwendigerweise freigelegt. Um an stofflicher Kontur zu gewinnen, praktisch „Selbst“ zu werden, muss die Sukkuba menschliche Seelen zerbrechen und in sich aufnehmen. Dazu greift sie auf das Innenleben der Menschen zu, auf deren Träume, Fantasien und Emotionen. Die „Pilgerreise“ der sinnlichen Tochter Belials führt uns damit nicht nur durch die nächtlichen Straßen einer Metropole. Wir erhalten parallel eine Zusammenschau unterdrückter, unerfüllter Leidenschaften, nach denen die Sukkuba ihre irdische Erscheinung zu formen weiß, um sich zum Objekt der Begierde zu machen. Im Kontrast agiert die Marionette des Leviathan, diesem Idioten mit gespaltenem Bewusstsein, als homophobes, rassistisches und nationalistisches Scheusal. Sein Motor heißt Intoleranz, befeuert wird das Ding zu allem Überfluss durch ätzende Reinheitsfanatik und Sehnsucht nach Ordnung. Ein Verlangen, dessen vermeintliche Notwendigkeit eben auch zu den zentralen Triebkräften des Krieges zählt. So verwundert es nicht, dass ausgerechnet Leviathan – wir erinnern uns an Thomas Hobbes’ „sterblichen Gott“, der die Menschen im Sinne der Selbsterhaltung „in Schrecken hält“ – als Verursacher des Zweiten Golfkrieges gegeißelt wird. Leviathan jedoch allein als Metapher des Bösen zu lesen wäre plump. Dawn Song ist (zum Glück) deutlich mehr als nur moralisch. Das Buch führt einen Begriff von Wirklichkeit an, der Imaginationen entscheidende Einflusskraft beimisst. Was da draußen vor sich geht, wird im wesentlichen durch Auffassungen und Interpretationen angeheizt. Maranos Welt ist deshalb keine aus Fakten und Objektivität. Zwar zeichnet er seine Figuren realistisch und detailliert. Vor allem aber präsentiert er profundes Wissen über Theologie, Alchemie, Dämonologie und nicht zuletzt auch Esoterik. Weil er spinnert ist? Nein. Sein Interesse gilt der Gravität von Vorstellungswelten, ihrer Unterschiedlichkeit und ihren, eben auch, handlungsleitenden Konsequenzen. Religion und Ästhetik gehen zusammen, genauso wie Sozialkritik und Horror. Man kann es sich schwer machen, und die Zusammenhänge zu ergründen probieren. Andererseits appelliert Dawn Song trotz des allgegenwärtigen Schreckens an den Schönheitssinn. Ich bitte sie, genießen sie. Vor allem den ausgewachsenen Kater nach der letzten Seite.
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Literatur – (Highlights)
Kornwolf
Die Reserven
Der Zeitplan
TRISTAN EGOLF
OSCAR HEYM
MICHEL BUTOR
(Suhrkamp)
(Siebenhundertzwanzig Grad)
(Matthes & Seitz Berlin)
Das lokale Käseblatt von Stepford versetzt seine Leser mit der Veröffentlichung eines Fotos, das ein absonderlich hässliches Wesen im Wald zeigt, in Aufruhr: „Etwas direkt von einer Müllhalde in Jersey. Oder aus den Tiefen eines DixiKlos.“ Andere meinen, es sehe eher aus „wie Richard Nixon, über und über mit Schlamm oder Kot bekleckert.“ Klar ist aber: Der Teufel von Blue Ball geht wieder um. Die alte Legende vom Werwolf, der im Landstrich sein Unwesen treibt, erwacht, und die Ereignisse spitzen sich zu, als „besorgte – also bewaffnete“ Bürger beschließen, das Ungeheuer zur Strecke zu bringen. Noch explosiver wird die Lage dadurch, dass hier eigentlich niemand den anderen leiden kann: Der Bevölkerungsanteil Amischer wird abfällig „Deitschis“ genannt, verachtet selbst wiederum die gottesferne Lebensart der verkommenen „Englischen“, und auch innerhalb der verfeindeten Lager brodelt es ordentlich. Elias, Amisch-Teenager mit geschätzter Körpertemperatur von dreiundneunzig Grad, der tierisch stinkt und gern Slayer hört, wird da jedenfalls schnell verdächtig … Egolfs „Kornwolf“ verkörpert den geschlagenen Underdog, der die Dummheit und Brutalität des wütenden Mobs provoziert und schließlich in ebenso über- wie ohnmächtiger Rache zurückschlägt. Wie dessen Debüt „Monument für John Kaltenbrunner“ zeichnet sich auch „Kornwolf“ durch Egolfs besonderes Vergnügen aus, skurril-drastische Eskalations-Situationen zu schaffen, in denen sich wenigstens kurz eine anarchische Störung der Verhältnisse Bahn bricht. Dass sich auf Dauer dennoch nichts ändert, ist pessimistischer Tenor in Tristan Egolfs Texten. Und so bleibt das Motto: Lang lebe der Underdog.
In „Die Reserven“ wird der junge Geologe Wenzel Hoffmann während der späten siebziger Jahre in ein Intrigenspiel um Ölfunde an der deutsch-deutschen Grenze verwickelt. Der Roman erscheint im neuen Themenbuchverlag Siebenhundertzwanzig Grad, dessen erste Themenreihe „Energie und Strategie“ hiermit ihren Auftakt erfährt. Ein obskures Buch von einem obskuren Autor in einem obskuren Verlag. Das Buch ist außerdem erstaunlich schlecht. Erstaunlich vor allem, weil das zu Bemängelnde von den sonst meist kritiksuffizienten Kategorien „Ästhetische Schwächen“ und „Inhaltliche Schwächen“ nicht ausreichend umfasst wird. Man muss schon die Kategorie „Handwerkliche Totalausfälle“ bemühen und sich zur weiteren Umschreibung des Problems ernsthaft überlegen, den passendsten Begriff aus der Reihe „Lektorat unter Opiumeinfluss“, „Demenz als Lektorat“ und „Wo war der Lektor?“ auszusuchen. Ein Beispiel muss hier genügen: „Seit dem Tod ihres Mannes … führe sie den Haushalt allein“, wird Wenzel Hoffmann von einer ach-so-bösen Baulandspekulantin mit dem ach-so-symbolischen Namen Frau Krieger aufgeklärt, und drei Zeilen später fragt Hoffmann die Dame, ob ihr Mann verstorben sei. Ansonsten jammert, zweifelt und vögelt sich Hoffmann durch ein klumpiges Gewirr an Geschäftsintrigen, klischeehafter Kalter-KriegRhetorik und Gewissenskonflikten – das heißt, er merkt, dass es irgendwie doof ist, Ölarbeiter auszubeuten, steigt aber trotzdem nicht aus dem Geschäft aus. Stilistisch ist das Ganze auf halbem Wege zwischen Bastei-Lübbe und einer Schreibwerkstatt für Zwölfjährige anzusiedeln. Schade, denn das Verlagskonzept versprach einiges. Und der Buchumschlag sieht auch ganz ordentlich aus. Aber, wie der Engländer sagt, „Never judge a book by its cover“.
Wie in einem Labyrinth irrt der Franzose Jacques Revel, der für ein Jahr als Korrespondent bei der Handelsfirma Matthews & Sons tätig sein wird, durch die nordenglische Stadt Bleston, die ihm so feindlich, monoton und erstickend scheint, dass er bereits bei seiner Ankunft spürt, wie sie seinen Geist durchdringen und Stück für Stück zersetzen wird. Es scheint als läge ein Bann über Bleston, ein grausames Verbrechen, dessen Auflösung Revel in der richtigen Entzifferung der Stadt und ihrer Geschichte sieht. Er beginnt damit, Bleston Stück für Stück zu erkunden und seine eigenen vergangenen und gegenwärtigen Erlebnisse aufzuzeichnen. Die komplexe Struktur der Stadt spiegelt sich in den immer wirrer werdenden, teils rückläufigen, teils Monate auseinanderliegenden Aufzeichnungen Revels wider, die sich langsam zu einem wuchernden, jegliche Rationalität verschlingenden Gebilde formieren. Michel Butors erstmalig 1957 erschienener Roman schafft durch seine mythologischen, literarischen und historischen Spiegelungen eine Erforschung des Phänomens Stadt. Für seine Erzählung nutzt er die grundlegenden Strukturen der Polyphonie. In Anlehnung an die literarische Moderne werden die Aufzeichnungen Revels zu einzelnen Stimmen, rückläufig und in gleicher Bewegung nach einander einsetzend. Die wirklich sehr, sehr, sehr, sehr, sehr langen Sätze und unnötig blumigen Ausschmückungen Butors lassen einen leider oft verzweifeln, so dass man sich alle vier Seiten einen Kamillentee kochen muss, um nicht ins Buch zu beißen.
Text — Niklas Dommaschk
Text — Johannes von Weizsäcker
Text — Stephanie Piehl
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Film - Stadtcollage, Hadeslandschaft, Städtische Frenetik
45"%5$0--"(& )"%&4-"/%4$)"'5 45`%5*4$)& '3&/&5*, Bilder — Fahrstuhl zum Schafott: Alamode, AL!VE Blade Runner: Ulf Ayes Casshern: I-ON New Media M - Eine Stadt sucht einen Mörder: PRAESENS-FILM AG, Kinowelt Der Mann mit der Kamera: Lizenzfrei bei Archive.org Berlin Calling: © 2007 Pola Sieverding / sabotage films / stoehrfilm Playtime: DVD von Universum im Handel erhältlich An der Nordbruecke: les films du losange
Film - Stadtcollage, Hadeslandschaft, Städtische Frenetik
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ie alle Tatis, wie alle großen Komikerfilme, zeigt „Playtime“ das Funktionieren der modernen Zeiten in Situationen des Nichtfunktionierens. Hier in solchen stadträumlicher Art, in einem Ballett jenes Urbanismus,
Das Kino hat viele Geschichten zu erzählen. Auch über Stadt oder durch Stadt. Es hat sie in Bilder aufgelöst und neu zusammengesetzt. Dabei wird Stadt Ausdruck, Figur, wird wieder Ort, manchmal Kulisse. Acht Autoren über acht Filme. Fragmente unterschiedlicher Bildwelten nebeneinander gestellt.
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chon der Titel sagt es: Hauptdarsteller in der Kindermörderjagd von Fritz Lang ist die Stadt selbst. In „M“ ist die Stadt ein organisches Gebilde, in dessen Häuserschluchten,
der Tatort befindet und um den konzentrische Kreise gezogen werden, die das Fahndungsgebiet anzeigen. Das Herz der Stadt ist die Mitte einer Zielscheibe; die Stadt muss sich selbst treffen,
M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931) Räumen und Kellern die verschiedenen Schichten der Bevölkerung sich abgeschottet voneinander bewegen. Die beiden eigentlichen Gegenpole Polizei und organisierte Kriminalität durchschreiten – zwar getrennt, aber mit gleichem Ziel – die Stadt, um den Kindermörder zu finden. Die Planungen der Polizei finden auf einem Stadtplan statt, in dessen Herzen sich
um sich von ihrer Geißel zu erlösen. Die Dekadenz des Urbanen fordert die Stadt heraus, wehrhaft zu agieren, um die Verrohung ihrer Sitten zu bekämpfen – eine feine Ironie, wenn schlussendlich ausgerechnet die Unterwelt und die ärmsten Mitglieder der Stadt dazu am ehesten fähig scheinen. (Christian Ihle)
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vor, in Wahrheit terrorisiert so das Innen das Außen. Durchsichtigkeit ist keine Transparenz, und Reflexion führt in die Irre, wie die Postkartenmotive, die immer wieder raum-unlogisch im Glas aufscheinen und an die Virtualität
PLAYTIME (1967) der Paris in den Fünfzigern erneut umpflügte, zum entfremdeten Ameisenhaufen umdachte. Folgerichtig ist Monsieur Hulot in seinem dritten Film nirgends und überall. Das Subjekt wird zum Vektor. Schwarzweiße PersonenAttrappen sind platziert wie in einem Architekturmodell. Glasflächen spiegeln Durchlässigkeit
dieses Paris’ erinnern, und auch an die des andern. Doch dass es einen Weg dorthin zurück gebe, behaupten weder der anarchische Schlussakt noch das märchenhafte Finale, der Musette-Reigen eines Verkehrsstaus, tapfere Allegorie vergangener Dorfidyllik. (Jakob Hesler)
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gar nicht gegeben, die Bilder seien der Zeit zehn Jahre voraus. Diese Diskrepanz zeigt sich in den beiden Autoszenen zwischen fast dörflicher Behäbigkeit und städtischer Frenetik.
lorence Carala läuft durch die nächtliche Stadt, auf der Suche und dabei merkwürdig entkoppelt von ihrer Umwelt, die wie ein Film im Film hinter ihr abläuft. Plötzlich kommt es zum Beinah-
FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT (1958) Unfall, das Auto kann gerade noch bremsen. Die Geschwindigkeit des Vorfalls wirkt gering, kaum großer Dramatik fähig. Als die Suchende die nächste Straße überquert und die Autos vielspurig in hohem Tempo an ihr vorbeigleiten, wirkt die Stadt endlich, wie Louis Malle sie zeigen wollte: modern, futuristisch und schnell. Der Regisseur sagt, das Paris seines Films habe es zur Zeit des Drehs
Einerseits sehen wir die von Jeanne Moreau gespielte Figur wie traumwandlerisch durch großstädtische Anonymität sich bewegen – und doch hofft sie auf das hier Aussichtslose: den Gesuchten per Zufall zu treffen. Dass dieser zur gleichen Zeit im Fahrstuhl festsitzt, ist die bittere Pointe, die der Zufall in der Szene setzt. (Niklas Dommaschk)
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Film - Stadtcollage, Hadeslandschaft, Städtische Frenetik
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iriya Kazuakis „Casshern“, die Realverfilmung einer AnimeSerie aus den 1970er Jahren, zeigt Stadt als Komposition aus russischer Revolutionsarchitektur, deutschem Nationalsozialismus und italienischem Faschismus.
scher Architektur: In die digitale Kulisse sind u.a. der Petersdom und die Fassade des Kolosseums eingefügt. Faschistisch besetzte Symbolik auf den Straßen, Menschen schwenken wehende Fahnen, kyrillische Parolen neben
L CASSHERN (2004) Nach 50 Jahren erbitterter Kriegsführung bekämpfen nur noch in der sogenannten Zone 7 des eurasischen Kontinents Rebellen das faschistische Regime. Die Umwelt ist verseucht. Krankheiten und Mutationen sind außer Kontrolle geraten. Das Stadtbild dieses Settings ist geprägt von Zitaten klassi-
os Angeles, 2019. Noch vor der Stadt sieht man die Feuer über ihr, rhythmische Glutbälle, Stichflammen, ein böser Atem. Dann jagt eine Flugmaschine vorbei. Ein Blitz entlädt sich über der Stadt, dem „antwortet“ ein neuerlicher
aus Herrschafts- und Tempelarchitekturen quer durch die Zeiten. So wie Metropolis eine Stadt ist, die nur als Bild funktioniert, so funktioniert das L.A. von 2019 nur in der Bewegung. In sich selbst, wir werden das sehen, ist diese Stadt
heroischen Monumentalstatuen – die Position von Militarismus und Diktatur in der Staatsstruktur wird durch historische Zitate manifestiert, eine politische Dimension der Handlung greifbar gemacht. Eine Stadtcollage wird zum vielfältigen Symbol eines totalitären Staates. (Jochen Oppermann)
BLADE RUNNER (1982)
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n „Le Pont du Nord“ („An der Nordbrücke“) von Jacques Rivette bewegen sich zwei Frauen (gespielt von Mutter und Tochter Bulle und Pascale Ogier) durch eine Stadt, die unverkennbar Paris ist. Sie folgen dabei bald einem
und Zahlen an der Wand. Die Spielphantasie nistet sich in die Stadt und ihre Straßen, Häuser und Brücken ein. In der zentralen Szene des Films wird der Plan buchstäblich ausgebreitet und erklärt, und es werden die Regeln
AN DER NORDBRÜCKE (1981) ihnen zugespielten Plan, der die reale Stadtlandschaft mit einem Spielfeld überblendet. Name des Spiels: „jeu de l'oie“ – „Gänsespiel“; aber das homophone „loi“ („Gesetz“) konkurriert als „règle du jeu“ mit dem Zufall des Würfelwurfs. Die beiden begegnen im Spiel/Plan der Stadt männlichen Widersachern, einem Drachen
festgelegt, denen die beiden folgen bis ans bittere Ende. Ein essenzieller Rivette, der situationistische Dérive, abenteuerliche Umbesetzungen der Realität und paranoische Verschwörungstheorien ebenso ins Stadtbild bringt wie den freien Flug der Phantasie. (Ekkehard Knörer)
Feuerball. Ein anderes Luftfahrzeug in entgegengesetzter Richtung. Dann bricht eine überraschende Einstellung den Fluss dieser Bewegung: Die Stadt und das Feuer spiegeln sich in einem Auge. Hinter den heißen Feuern der vermutlichen Fabrikanlagen werden zwei kalte gigantische Lichter sichtbar. Die Pyramiden des Tyrell-Komplexes: Eine Mischung
schon verschwunden. Ridley Scott nennt das „Hadeslandschaft“. Es ist die Hölle, in der nach griechischer Vorstellung der Mensch nach seinem Tod als „scheuer Schatten“ lebt. In der Eingangssequenz von „Blade Runner“ bringt uns ein Film in die Stadt, in der nur scheue Schatten leben können. Unter einem bösen Gott. (Georg Seeßlen)
Film - Stadtcollage, Hadeslandschaft, Städtische Frenetik
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apitel 1: Die Stadt im Stillstand. Der Film als Diashow. Das Auge als Fenster. Vertov legt hier ganz trocken ein filmisches Prinzip offen: Über das Aneinanderfügen von Details die Ganzheit verdichten.
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neben einer Spindelmaschine. Alles befindet sich nahezu im Stillstand, wird über stumme Blicke von Fenstern, Plakat- und Schaufensterpuppen beobachtet, mal nach innen, mal nach außen. Die Herausforderung, die Bilder
DER MANN MIT DER KAMERA (1929) Der Halsansatz einer schlafenden Frau steht neben einer leeren Caféterrasse, eine Reihe Kinderbetten mit Neugeborenen neben leeren Parkbänken, die Fassade eines Opernhauses neben der Hand einer Schaufensterpuppe, eine Rechenmaschine neben einem Fahrstuhl, Schreibmaschinentasten neben einem Straßenzug, das Rad eines Autos neben einem Rohrsystem, Zahnräder
selbst miteinander verbinden zu müssen, lässt Kapitel 1 als eine Art Aussaat erscheinen. Sobald der Kameramann von einem Auto aufgesammelt wird, tropft filmische Bewegung in die Fotografie, die Stadt als Ganzes und das Wesen des Films sind da schon längst die Protagonisten. Sie sollten nun bald erwachen. (Daniel Matzke)
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aul Kalkbrenner steht als Martin aka DJ Ickarus auf dem vergitterten Balkon einer Berliner Nervenklinik. Nach seinem letzten Auftritt ist er hier gestrandet ein getriebener Partykeiler, der auf dem Weg nach oben den
DJ Ickarus mit Kopfhörern am Fenster seines Krankenhauszimmers über das Stadtpanorama blicken. Der Bass setzt erlösend ein, im Fokus Ickarus, der sich für eine Weile gegen das Treiben der urbanen Kulisse absetzt - ein
Berlin Calling (2008) Halt gänzlich verloren zu haben scheint. Er ist blass, wirkt apathisch und gebrochen. Ruhe ist Leere, wenn das restliche Leben ein Trip ist. Doch der Sonnenuntergang in satten Farben deutet eine Zäsur an. Erst verabschiedet sich sein Bruder, kurz darauf sehen wir
Moment fast spürbarer Entlastung stellt sich ein. Dann wechselt der Schärfebereich auf die industrielle Landschaft draußen. Es ist wie eine Prophezeiung: Ickarus verwischt, die Grenzen seines Körpers lösen sich auf, er zergeht. Die Stadt gehört zu ihm, wie er zu ihr. (Manuela Neskoda)
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Film – Des Hehlers Deutungshoheit
DES HEHLERS DEUTUNGSHOHEIT Im Herbst 2009 bat die Regisseurin Birgit Schulz für ihren Film „Die Anwälte“ Schily,
Ja, gewiss, die Baader-Meinhof-Gruppe hat sich durch unrechtmäßiges Tun mediale Aufmerksamkeit verschafft, aber auch fremdes Vermögen. Aber kommen wir jetzt zu denen, die von diesem Mehrwert profitieren, und das sind die Hehler. Die nicht besser sind als die Stehler, wenn man dem Volksmund glauben will. Ich habe zwei Fälle rausgepickt, über die ich in „Konkret“ geschrieben habe. 1986 nahm ich mir den Stammheim-Film von Reinhard Hauff und Stefan Aust vor („Wie der Baader den Prinzing zu Fall brachte und andere lustige Streiche aus der Festung Stammheim“). Der Baader, ein junger Siegfried, schiebt sich die blonde Tolle zurück. Da steht er, strahlender Held, in Jeans und offenem Hemd und schaut auf das Publikum. Die Männer in den schwarzen und roten Roben haben ihre Gewänder sorgsam in Falten gelegt. Und hinten, hinter der Barriere, drängen sich die jungen Turniergäste. Kerls in Leder und Frauen mit der kunstvoll frisierten blonden Mähne. Baader, wie ihn Ulrich Tukur spielt, ist einer der ihren. Tukur-Baader, Produkt modernen Stylings, lässt sich zweifellos bestens vermarkten. Auch als Held eines Popsongs hätte Baader Aussicht, in die Charts zu kommen. Historisch war Baader zusammen mit seinen Mitgefangenen in Stammheim reduziert auf seine Rolle als Angeklagter, vorgeführt zwecks Ablieferung von Material für die Urteilsfindung. In der Rolle für einen Schauspieler wird Baader abermals vorgeführt, diesmal einem für Sprechkünste aufgeschlossenen Theaterpublikum. Und in der Filmvorführung reduziert sich Baader schließlich auf eine ästhetische Figur. Aber was für die Quote ist drin. Stefan Aust: „Es war Jagd, Krimi, Bonnie und Clyde“. 22 Jahre später war Gröbaz Stefan Aust zum größten Baader-Meinhof-Ermittler aller Zeiten aufgestiegen. Und er beansprucht die Deutungshoheit. Ich war von Hoffmann und Campe zur dritten Auflage seines Buches („Der BaaderMeinhof-Komplex“) geladen. Stefan Aust lässt die Presse wissen: „Ich bin der einzige“, nämlich derjenige, „der alle Ermittlungsakten durchgesehen hat.“ Mehr noch: „Ich habe die Wortprotokolle gefunden.“
Ströbele und Mahler zum Gespräch über deutsche Geschichte und die RAF. Wir finden, sie hätte dazu auch ruhig mal Dietrich Kuhlbrodt, Oberstaatsanwalt a. D., zu Wort kommen lassen. Hat sie aber nicht. Deswegen Kuhlbrodt, jetzt, hier: Text — Dietrich Kuhlbrodt, Foto — Wolfgang Unger
Was sollen wir vom Buch halten, äh, von der RAF? Aust lässt uns nicht im Unklaren. Unter einem der in die dritte Auflage aufgenommenen Fotos wird erklärt, was am BubackAttentat heimtückisch war. Das Motorrad! Der Rücksitz! „Heimtückisch vom Rücksitz eines Motorrads erschossen.“ Die Todesschützen hat auch Aktenleser Aust nicht ermitteln können. Das ist bitter. Feiglinge sind das, keine Bekenner. „Die Todesschützen haben sich niemals zu ihrer Tat bekannt.“ Wo bleibt die Moral? Empörend. Für einen Mann wie unseren Autor. Hatten sich doch Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin zu Herren gemacht. „Zu Herren über Leben und Tod“, angetreten gegen den alten und neuen Faschismus, wobei der neue laut Aust nur „angeblich“ ist. Sein Resümee: Jetzt seien sie, die RAF-Herren, „schuldig geworden wie viele aus der Generation ihrer Väter“. Bäh! Selber Nazi, diese Terroristen! Bewundern müsste ich die komplexe Vermarktung. Das Produkt BMK geht. Es findet reißenden Absatz. Der BaaderMeinhof-Komplex als Buch, als Printwerk, als Hörbuch, als Film, als TV. Der NDR steckte viel Geld rein. Frau Eichinger schreibt „ein Buch zum Film zum Buch“. Der NDR lässt Selbstdarsteller Aust sich selbstdarstellen. Die Zeitung „Die Welt“ meldet falsch: „Zum Start des gleichnamigen Films hat Stefan Aust sein Standardwerk ‚Der Baader-MeinhofKomplex‘ völlig neu bearbeitet.“ Stimmt zwar nicht, ist aber für die dritte Auflage gut. Die Produktionszahl der beiden Vorauflagen hat die 300.000 erreicht. Die neu aufgelegten 40.000 finden ihre Konsumenten bei den alten Käufern nur, wenn sie was Neues erwarten können. Also, was gibt’s Neues? Wir sagten es schon. Aus den Taten der Baader-MeinhofGruppe lässt sich Nutzen ziehen.
Film – Niemals in ihrem Kino
NIEMALS IN IHREM KINO — TRAILERPARODIEN IM INTERNET Von der Kunst, Filme zu bewerben, die es so nie zu sehen gibt Text — LILI HARTWIG, Collage — FLABBYHEAD Demnächst in Ihrem Kino: Die rührende Familienkomödie „SHINING“, in der Jack Nicholson als resignierter Autor brilliert, der durch die Freundschaft mit dem jungen Danny seine Probleme überwindet. Das schicksalsvolle Liebesdrama „BROKEBACK TO THE FUTURE“ über die zeitreisenden Cowboys Marty McFly und Doc Brown garantiert Herzschmerz und Lagerfeuerromantik. David Lynchs neustes Meisterwerk „DIRTY DANCING“ unterlegt Babys bizarre Erlebnisse in Kellermans Sommercamp mit gewohnt jazzigem Soundtrack. Demnächst im Kino? Nein, aber einen Trailer gibt es für jeden dieser Filme – und die wurden teilweise millionenfach gesehen und übertreffen damit so manche Zuschauerzahlen im Kino. Entscheidend ist aber nicht nur, dass die beworbenen Filme gar nicht existieren, sondern dass es sich um sogenannten User-Generated Content und eben nicht um Produkte der kommerziellen Filmindustrie handelt. Vielmehr leben die Trailerparodien gerade vom inhaltlichen und stilistischen Kontrast zum Ursprungswerk und legen subversiv die Konventionen von Hollywoods Marketingstrategien offen. Zu finden sind diese kurzen Meisterwerke der Filmmontage vornehmlich auf Onlinevideoplattformen und kursieren von dort als Links und Clips durch die filmaffinen Internetcommunitys. Die Aneignung von Populärkultur begann (abseits des Kunstdiskurses) jedoch nicht erst mit YouTube, sondern findet ihren Ursprung in verschiedenen Film- und Fernsehfankulturen, die spätestens seit Einführung von Super-8-Kameras und VHS-Rekordern transformative Arbeiten produzieren. Aber anders als Songvideos und Best-Of-Zusammenschnitte, welche die Masse der Fanfilme dominieren, sind es gerade Trailerparodien, die eine intertextuell verfremdete Neukontextualisierung von ganzen Kinofilmen ermöglicht.
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Waren Trailer zunächst nur Programmankündigungen am Ende der Filmrolle (wodurch sich ihr Name erklärt), so etablierten sie sich ab den 1920er Jahren als eigenständige Filmform, welche die Schauwerte des eigentlichen Films vermittelt. Die modernen Trailer zeichnen sich durch eine extrem kompakte Montagepraxis aus: Die Erzählung wird auf der Tonspur durch ein Voice-Over vermittelt, während den Bildern eine vornehmlich illustrative Funktion zukommt. Als Folge basieren Trailer auf der Assoziationsfähigkeit der Zuschauer, welche das Gesehene als mentale Vorstellung des Films zusammenfügen. Ebendies machen sich Trailerparodien zunutze. Sie entwerfen eine spielerisch vom Original abweichende Variation eines oder mehrerer bekannter Kinofilme. Der Spaß der Zuschauer besteht darin, Altbekanntes in neuer Kombination zu sehen und die entsprechenden Verweise auf das Ursprungsmaterial zu erkennen. Der Erfolg einer Parodie hängt folglich von der Identifizierbarkeit der Referenzen ab, weshalb meist Kultfilme, aktuelle Blockbuster oder Filme mit hohen Nostalgiewerten als Quelle für diesen cinephilen Remix dienen. Liebe zum Film scheint es auch zu sein, welche die Macher dieser transformativen Trailer – Schüler, Filmstudenten, Blogger und unabhängige Cutter – miteinander verbindet. Und der Traum vom großen Durchbruch, der natürlich viel zu selten kommt. Aber wie viele Filmemacher können schon behaupten, dass ihr Film bereits ein Millionenpublikum gefunden hat?
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Film – (Film der Ausgabe)
LOVE EXPOSURE
Text — JAN-EIKE MICHAELIS
(Rapid Eye Movies)
Der Film selbst nennt die folgende Szene das „miracle“: Der 17-jährige Upskirt-Fotograf Yu verliebt sich in das ihm noch unbekannte, schlagkräftige Schulmädchen Yoko, während er ihr gegen einen Trupp Schläger zur Hilfe eilt, den die intrigante Drahtzieherin Koike auf sie angesetzt hat. Yu sieht in Yoko die Personifikation der heiligen Maria, die zu finden ihm seine Mutter am Sterbebett einschwor. Allerdings ist er zu diesem Zeitpunkt gerade in die Rolle der Miss Scorpion geschlüpft, Dragqueen-Kriegerin der Gerechtigkeit, und trägt ein enges, schwarzes Kleid, den mondänen Hut einer Diva und eine riesige Sonnenbrille. Ein kurzer Kuss besiegelt das Schicksal der beiden Liebenden: Yoko kommt zu dem Schluss, sie habe lesbische Gefühle, Yu muss seines Lebens erste Erektion vor ihr verbergen, da seine Verkleidung auf keinen Fall auffliegen darf und Koike freut sich darüber, dass ihr Plan aufgeht. Zu diesem Zeitpunkt hat das 237 Minuten lange, äußerst unterhaltsame Ausnahmewerk des japanischen Regisseurs und Autors Sion Sono gerade seine erste Stunde erreicht und wir haben zum Beispiel erfahren, dass Yus Vater, ein katholischer Pfarrer, seinem Sohn unerbittlich die tägliche Beichte abverlangt. Yu beginnt daraufhin, tatkräftig zu sündigen, um seinem Vater auf verquere Weise Beichtstoff bieten zu können. Dazu gehört, jungen Frauen unter ihre Röcke zu fotografieren, wobei er sein voyeuristisches Treiben erfolgreich mit KungFu-Techniken anreichert und so schließlich „seine Maria“ findet, die von diesem Tun natürlich nichts wissen darf. Eine unwahrscheinliche Heirat später sind Yu und Yoko auch noch Stiefgeschwister, was das Drama verkompliziert, zumal Yoko immer noch in Miss Scorpion verliebt ist und nichts von der doppelten Identität ihres liebestollen Bruders ahnt.
Bilder — Rapid Eye Movies
Was in Schrift und Wort übersetzt, platt klingen mag, entpuppt sich als vielschichtiges, funkenschlagendes Melodram, dessen zahlreiche Ebenen Sono so virtuos wie leichtfüßig miteinander verwebt. Fällt ein Regisseur allein schon auf Grund der schieren Länge eines solchen Werks schnell unter den Verdacht der Megalomanie, leidet Love Exposure in keiner Sekunde an seinen epischen Ausmaßen. Vielleicht ist es der kurzen Drehzeit von nur drei Wochen verschuldet, dass der Film bei all seinem barocken Pathos dennoch völlig unprätentiös daherkommt. Mit einer wahnwitzigen Häufung abstrusester Plottwists und einem Humor, der zwar häufig charmant aber auch eindeutig unterhalb der Gürtellinie angesiedelt ist, überschreitet Love Exposure mit Freude immer wieder geschmäcklerische Grenzen und fordert seine Zuschauer so heraus, die eigene Moral zu überprüfen und sich zu fragen: Wer ist hier der Perverse und (wie) urteile ich über ihn? Was wirklich überrascht, ist das große emotionale Potential, das er entwickelt und die tiefe Aufrichtigkeit, die der Autor und Regisseur seinen Figuren entgegenbringt. Denn trotz intensiver Bemühungen so ziemlich aller Japan-Film-Klischees (literweise Blut, prügelnde Schulmädchen, eine schier endlose Zahl an ‚Panty-Shots’ und Mangafrisuren) schafft Sono es, seiner Geschichte eine universelle Bedeutungsebene zu verleihen. Diese dreht sich um sexuelle Begierde und Moral und begibt sich auf die Suche nach einer Möglichkeit auch ohne Scham an einem vermeintlich perversen Verlangen festhalten zu können. Es geht um die spirituelle Sehnsucht nach Vergebung, Glauben und der seltsamen Einheit von Trieb und Schuld und schließlich um – natürlich – die Liebe. Pures Seelenkino.
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Film – (Highlights)
Empire St. Pauli
Avatar
Soul Kitchen
IRENE BUDE UND OLAF SOBCZAK
JAMES CAMERON
FATIH AKIN
(GWA St. Pauli)
(20th Century Fox)
(Pandora Filmverleih)
Einer der ältesten und mit vielen kulturellen Facetten ausgestatteten Stadtteile Hamburgs ist Sankt Pauli. Durch die Auswirkungen des Partytourismus auf die Amüsiermeile mittlerweile zur Sonderrechtszone erklärt, werden dort derzeit Gentrifizierungs-Maßnahmen ergriffen, um das Viertel städteplanerisch aufzuwerten. Der Dokumentarfilm „Empire St. Pauli“ greift dieses Thema und dessen Folgen auf und zeigt, wie „Stadt als Ware“ fungieren und das bunte Viertel als Markenzeichen des hiesigen Tourismus’ weiter etabliert werden soll. Die Autoren überlassen die Erklärungen über den Wandel des Viertels komplett den Anwohnern und Investoren, diese strenge Interviewform geht allerdings ein wenig auf Kosten des gestalterischen Gehalts. Die Filmemacher beziehen trotz dieser Darstellung von Meinungspluralität jedoch eindeutig Position und zeigen, wie in dem identitätsstiftenden Stadtteil große Veränderungen der Lebensumstände stattfinden, wodurch das Stadtteilporträt einen aktivistischen Grundton erhält. So ist es nur konsequent, dass den Film, dank seiner Creative-Commons-Lizenz, praktisch jeder öffentlich vorführen darf. Das macht ihn in einer Stadt, in der das Demonstrationsrecht teilweise eingeschränkt ist, zu einem Demonstrationsobjekt. Die Form der Abwehr, die der Film dabei den Investoren und Städteplanern entgegenbringt, ist deren Selbstdarstellung. Ihre von außen mitgebrachten Perspektiven, die sie dem Herzen von St. Pauli überstülpen wollen, erweisen sich innerhalb des Films als fehl am Platze. Und auch der Humor geht dabei nicht verloren, denn die Fakten dieses informativen Zeitdokuments werden oft mit hanseatischem Schnack und nordisch trockenem Charme vermittelt.
Zwölf Jahre nach „Titanic“ ein neuer Spielfilm von James Cameron: „Avatar“ ist ein entfesselter Drogentrip im Fantasy-, Sci-Fi-, Westernund Kriegsfilmgewand, ist Romanze, Mythos und Moralkeule, Kindergeburtstag und Philosophieseminar gleichermaßen, ein technisches Meisterwerk. Mehr Pop geht nicht. Damit diese Mixtur aufgeht, muss die Geschichte eine einfache sein: An den Rollstuhl gefesselter Ex-Marine gerät mithilfe eines ferngesteuerten biologischen Körpers – der titelgebende Avatar – auf fremdem Planeten mit vielsagendem Namen Pandora in Kontakt mit Eingeborenenstamm, der in tiefstem Einklang mit wundersamem Ökosystem lebt. Ex-Marine verliebt sich in Stammestochter und wird nach diversen Prüfungen in selbigen aufgenommen. Kapitalistische Auftraggeber planen Vernichtung der Eingeborenen zum Zwecke kolonialer Erzgewinnung, und epische Schlacht führt unausweichliche Entscheidung zwischen Gut und Böse herbei. Noch Fragen? Im Widerspruch zu diesem simplen Plot steht die Vielfalt der plotinhärenten Mythen: Sie sind es, die das Spektakel an Dimension gewinnen lassen. Mit großer Freude arbeitet Cameron sich an ihrer Ikonografie ab; eine wild-motivische Versatzstückelei, deren immanente Diskurse über Themen wie Körper, Technologie und Religion, Politik, Ökologie und Moral desto spannender und farbenfroher schillern, je tiefer man sich in Pandora fallen lässt. Die Metaebene, die diese Diskurse in ihrer Summe formen, manifestiert die eigentliche Narration von „Avatar“. Camerons Werk will ein schizophrener Film sein, gleichermaßen Popcorn-Bollwerk und semiotischer Selbstbedienungsladen. Es darf bezweifelt werden, ob diese Konzeption künstlerisch aufgegangen ist. Unbestreitbar Spaß machen, das tut sie. Mehr Pop jedenfalls geht nicht.
Wenn man wollte, könnte man viel Gutes an Fatih Akins neuem, in den Medien hochgelobten, dirty „Heimatfilm“ über den Restaurantbesitzer Zinos sehen. Zinos, der mithilfe von Freunden, Familie und einem experimentierfreudigen Koch aus der im Hamburger Wilhelmsburg gelegenen, bodenständigen Kaschemme einen hippen Gourmet-Tempel zaubert, ihn dann aber unter den Schmerzen eines Bandscheibenvorfalls und dem Bruch mit der in China flügge gewordenen Freundin wieder verliert. Schuld daran ist auch noch sein eigener Bruder, gespielt von Bleibtreu. Also, viel Gutes eben, wenn man will. Die allbekannten Akinischen Schauspieler glänzen auf ein Neues – jeder für sich – in ihren Rollen, doch ein gutes Zusammenspiel gelingt diesmal dabei leider nicht. Der sonst so ins Schwarze treffende Regisseur rutscht öfter in die Slapstickfalle, und beim Drehbuch fragt man sich auch mal, ob es nicht noch andere Möglichkeiten hätte geben können, als sich einer durchs Essen induzierten Swingerparty zu bedienen. Das Restaurant ist dank der tollen Freunde auch bald wieder gerettet und eine neue Lebensgefährtin durch den – OHO – Bandscheibenvorfall schnell gefunden. Am Ende wird eben alles, auch wenn vorhersehbar, gut. Es ist ein Film über Freundschaft, über Zusammenhalt. Dass dies den Hamburger Flair einfängt, mag möglich sein, vielleicht muss man aus Hamburg stammen, um den Kontext richtig zu verstehen, aber mit solcher Erwartungshaltung geht man nicht ins Kino. Ein ausgezeichneter Fernsehfilm, für die Leinwand jedoch zu dünn. Vielleicht schafft ja genau an diesem Punkt das gleichnamige Buch zum Film Abhilfe. Geschrieben wurde es von Akins guter Freundin Jasmin Ramadan. Mit Verweis im Abspann. Schön, wenn es noch so einen Zusammenhalt gibt!
Text — Jesper Petzke
Text — Lisa Cordes
Bild — © 2009 Twentieth Century Fox
Bild — Gordon Timpen
Text — Tina Rentzsch Bild — Steffen Jörg
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Draußen – Wer bewohnt Arkadien?
Text — ANDI SCHOON
8&3 #&80)/5 "3,"%*&/ Zur Zielgruppe utopischer Architekturen (1919 – 1959 – 2009)
Illustration — BAUKUNSTARCHIV, AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN
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Draußen – Wer bewohnt Arkadien? Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts hatten ein stolzes Thema: die Annäherung von Kunst und Alltag. Ihre Manifeste richteten sich mit Vorliebe an das gesamte Volk, denn schließlich ging es um den „Bau der Zukunft“. Dafür bedurfte es der Architektur, die seit jeher ein Schlachtfeld utopischer Projektionen gewesen war. Nur, dass die eigentliche Zielgruppe – die graue Masse, die Arbeiterklasse – sich nicht immer für die luzide erdachten Behausungen begeistern, geschweige denn sie beziehen mochte. Die „Gläserne Kette“ hatte dieses Problem nicht, denn sie war ein Architektenkollektiv ohne Bauten. Nicht ein einziger Entwurf der 14-köpfigen Gruppe wurde verwirklicht. Dafür ist die kurze Zeit ihres Bestehens – November 1919 bis Dezember 1920 – durch zahlreiche Zeichnungen und einen geradezu schwärmerischen Briefwechsel dokumentiert. Ihren Ausgangspunkt nahm die „Gläserne Kette“ während der Novemberrevolution 1918. Als am Übergang zwischen Monarchie und Weimarer Republik für einige Wochen die Möglichkeit einer sozialistischen Räterepublik im Raum stand, reagierte der erfolgreiche Jungarchitekt Bruno Taut prompt mit der Gründung des Berliner Arbeitsrats für Kunst. Dieser sollte das Medium sein, einer Kunst für die Masse in der Politik Gehör zu verschaffen. Als kurze Zeit später der Weg für Parlamentswahlen frei gemacht wurde, trat Taut umgehend vom Vorsitz des Arbeitsrats zurück. Die Mission schien gescheitert, noch bevor sie begonnen hatte. Dennoch wurde der Arbeitsrat zum Ausgangspunkt der „Gläsernen Kette“, über den Umweg einer „Ausstellung für unbekannte Architekten“, in deren Ausschreibung es folgendermaßen hieß: „Der Arbeitsrat für Kunst Berlin ladet alle in der Öffentlichkeit unbekannten Architekten mit ausgesprochener künstlerischer Begabung – auch Dilettanten – ohne Rücksicht auf Lebensalter und Vorbildung ein, charakteristische Proben ihres Könnens in Form von kleinen Skizzen und Photographien nach ihren Entwürfen beliebiger Art (Idealprojekte!) bis zum 31. Januar 1919 im Brief einzusenden.“ Zur Eröffnung der Ausstellung im April 1919 war das Graphische Kabinett J.B. Neumann am Kurfürstendamm voll staunender Journalisten, die so etwas noch nie gesehen hatten: fantastische Architekturentwürfe, die sich – der Ausschreibung entsprechend – keinen Deut um die eigene Umsetzbarkeit scherten und stattdessen über wünschenswerte Gebilde aller Art sinnierten. Tags darauf schrieb Bruno Taut 14 Briefe, in denen er ausgewählte Teilnehmer der Ausstellung einlud, an der „Gläsernen Kette“ mitzuwirken. Bis auf einen erklärten sich alle Angeschriebenen bereit, weitere Entwürfe und Gedanken in Rundbriefen auszutauschen und sich zu diesem Zweck ein geeignetes Pseudonym zu suchen. Als „Zacken“ firmierte fortan Wassily Luckhardt, als „Prometh“ Hermann Finsterlin, und der junge Hans Scharoun war schlicht „Hannes“. Walter Gropius, spätestens seit der Bauhaus-Gründung im gleichen Jahr kein Unbekannter mehr, wollte „Maß“ genannt werden. Taut selbst wählte als primus inter pares das Pseudonym „Glas“ – der Baustoff der Zukunft, der die Architekturvisionen schon Ende des 19. Jahrhunderts in pathetische Höhen getrieben hatte.
„Monument des neuen Gesetzes“ Am 23. Dezember 1919 schrieb Bruno Taut an seinen verschworenen Kreis einen Brief, der neben Zitaten des ermordeten Karl Liebknecht und des verstorbenen Dichters Paul Scheerbart nur einen einzigen eigenen Satz enthielt: „Fürch-
tet nicht den Schmerz – und fürchtet auch nicht den Tod! WEIHNACHTS GRÜSSE.“ Anbei heftete er die einfarbige Skizze eines gewaltig anmutenden Turmes: Kristallin geformt sollte er sein, aus weißem Marmor mit türkisblauer Keramik und gläsernen Schrifttafeln versehen, die wie überdimensionale Laternen hervorragten. „Man liest gegen den Himmel“, vermerkte Taut in den Fußzeilen, „nachts gegen den von oben kommenden Lichtkegel.“ Der Titel sagt es, dies ist ein „Monument“, und wer es zu lesen vermag, wird zum Teilhaber des „neuen Gesetzes“. Worin aber besteht dieses Gesetz? Schwer zu sagen, denn die Texte, die Taut für die leuchtenden Tafeln vorgesehen hatte, wollen nicht recht zueinander passen. Der Reigen beginnt mit einer Passage von Martin Luther, setzt sich fort mit Karl Liebknecht, führt über Friedrich Nietzsche und Paul Scheerbart bis zur Offenbarung des Johannes. Biblisches neben Religionskritik? Sozialismus neben Glaspoesie? Dazu muss man wissen, dass die „Gläserne Kette“ zwar aus dem Arbeitsrat für Kunst hervorgegangen, jedoch als wesenhaft andersartiger Zusammenschluss gedacht war, als Geheimbund nämlich, der die Fragen nach der architektonischen Zukunft in einem elitären ‹think tank› abzuhandeln gedachte. Das gängige Selbstbild innerhalb des Kollektivs entsprach dem des leidenden Genies, wie Nietzsche es in „Also sprach Zarathustra“ beschrieben hatte. Es galt, ungeheure Leistungen zu vollbringen, stellvertretend für die Uneingeweihten sich selbst immer wieder zu überwinden und dafür den Hohn und Spott des Pöbels zu ernten. Die ursprüngliche Sehnsucht nach kollektiver Gemeinschaft – sei sie religiös oder politisch motiviert – verschwand unter einer erhabenen Selbstvergewisserung. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass zumindest die oberen Stockwerke von Tauts babylonischem Turmbau nicht für das Volk reserviert waren. Wie verhält es sich hinsichtlich dieser Frage mit einer zweiten Ikone der unverwirklichten Architektur des 20. Jahrhunderts, mit Constants „New Babylon“?
„New Babylon“ Als Constant Nieuwenhuys, stets nur beim Vornamen genannt, 1959 die ersten Skizzen zu einer revolutionären Architekturlandschaft entwickelte, hatte er eben seine Mitgliedschaft in der Situationistischen Internationalen aufgekündigt. Damit gehörte er zu den wenigen, die das aktionistische Kollektiv in den Jahren 1957 bis 1972 aus freien Stücken verließen – die meisten wurden hochkant gefeuert, weil sie nicht den strengen Vorstellungen des Gründers und Vordenkers Guy Debord entsprachen. Dieser Choleriker erster Güte legte 1967 mit „Die Gesellschaft des Spektakels“ eine brillante Analyse der Medienmacht vor und entwarf schon vorher die Prinzipien, nach denen sich das eigene Leben den Tentakeln des Kapitalismus entreißen ließe. Dazu zählte er das ziellose Umherschweifen (dérive) durch die urbane Landschaft, das gleichwohl ein Ziel hatte: herauszufinden, wo und wie die Stadt auf die Gemütslage des Menschen wirkt. Verzeichnet wurden die Ergebnisse auf „psychogeographischen Landkarten“. Mancher Hinterhof kam darauf als ‹ hot spot › zur Geltung, während blutleere Verkehrsadern nicht der Nennung wert waren. Die urbane Utopie des Situationismus (und die Constants) bestand in der fortwährenden Herstellung von „Situationen“, also zufälliger Begegnungen außerhalb der Konvention. Keinerlei Abhängigkeiten sollten das freie Spiel der immer neuen Möglichkeiten stören, weder von der Arbeits- noch von der Umwelt. So ersann Constant eine hermetisch abgeschlossene, bedeckte Stadt von veränderlicher Größe. Was
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Bruno Taut: Das Monument des neuen Gesetzes
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„Not In Our Name, Marke Hamburg!“ die NASA mit dem Projekt ‹Biosphere 2› Anfang der 1990er Jahre als zukünftige Mond- oder Marsbasis lancierte, steht bei Constant im Dienste des „unitären Urbanismus“: „Die zukünftige Stadt soll als eine kontinuierliche Tragpfeilerkonstruktion verstanden werden, in denen Wohnungs- und Vergnügungsräume aufgehängt werden; der Boden bleibt frei für Verkehr und öffentliche Versammlungen. (...) Regelmäßig und bewusst werden die Umgebungen mit Hilfe aller technischen Mittel durch Gruppen von schöpferischen Spezialisten – also Berufssituationisten – verändert.“ Da sich in dieser modularen Architektur hinter jeder Tür stets schon wieder etwas anderes befinden könnte als noch vor zwei Stunden, stellt sich keinerlei Routine ein. Die Bewohner dieser Welt sind ultraflexible Nomaden, sie MÜSSEN es sein, denn ihnen bleibt keine andere Wahl. Auch wenn Constants Entwürfe von „New Babylon“ in ihrer visionären Kraft so sehr beeindrucken, dass Okwui Enwezor sie noch 2002 auf seiner hochpolitisierten Documenta11 zeigte, stellt sich schon die Frage: Wer soll das eigentlich aushalten? Sicher ist Constants Babylon keine segregierte Stadt, aber menschenfreundlich ist sie dadurch nicht. Sie ist ein komplett auf sich selbst bezogener Irrgarten, eine ‹gated area› ohne jegliche Verbindlichkeit. Bestimmt nicht langweilig – damit wäre immerhin das erste Ziel des Situationismus erreicht – aber doch so stressig, dass der Alltag wohl keinen vernünftigen Gedanken zu fassen erlauben dürfte. Wer also hätte in einem verwirklichten „New Babylon“ gewohnt? Zunächst einmal braucht es den Zutritt, man muss also die richtigen Leute kennen. Dann will die permanente „Situation“ ertragen werden. Schließlich darf Guy Debord einen nicht rausschmeißen, und das heißt im Zweifelsfall: bedingungslos mitmachen. Dies klingt und ist wohl ungerecht geurteilt. Doch der progressive Alltag der Situationisten hat noch einen weiteren Haken. Seit Michel Foucault den Begriff der „Biomacht“ einführte, wissen wir, dass die individuelle Kreativität, von deren (Wieder-)Herstellung der Kreis um Debord träumte, kommerziell verwertbar geworden ist. Was die Situationisten als Nomadentum verherrlichen, ist längst zur begehrten Ressource für Standortpolitiker geworden. Die superflexiblen Mitglieder der creative class, von deren Aufstieg der Politikwissenschaftler Richard Florida geschrieben hat, stellen nach dessen Theorie das symbolische Kapital urbaner Regionen dar, deren wirtschaftliche Stärke er auch nach Kriterien wie „Bohemian Index“ und „Gay Index“ bemisst.
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23.01. 26.01. 27.01. 06.02. 13.02.
Hinsichtlich des gegebenen Themas fällt auf, dass es in dieser linken Utopie gar nicht um den Bau von etwas Neuem geht – ganz im Gegenteil, das „Leuchtturmprojekt“ der Elbphilharmonie gehört mit zum Feindbild. Stattdessen soll etwas Altes erhalten bleiben, eine gewachsene Substanz. Trotzdem zum dritten Mal in diesem Text die Frage, wer da mutmaßlich wohnt, diesmal bezogen auf den unsanierten Altbau. Den (ungenannten) theoretischen Hintergrund des Manifests bilden die Arbeiten von Toni Negri und Michael Hardt seit 2000, in denen sie den Begriff der „Multitude“ lancieren. Dieser ersetzt die selbstidentische Masse durch nicht repräsentierbare „Singularitäten, die gemeinsam handeln“. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass sich die Multitude selbst im Zustand höchster Selbstreflexion aus eben jener kreativen Klasse zusammensetzt, die Richard Florida beschreibt. Aus den genialischen Künstlern, den postmodernen Nomaden, den „Kleine-geile-Läden-Betreibern“, sprich: der Avantgarde. Da gibt es keinen von Negri/Hardt geforderten Exodus, weil am Ausgang gerade der Bürgermeister spricht oder Roger de Weck über das Miteigentum der Arbeiter am Kapital deliriert. Im historischen Arbeiterviertel logiert die kreative Klasse. Nur sie wäre in das „Monument des neuen Gesetzes“ eingezogen, und nur sie streift imaginär durch „New Babylon“. Im foucault’schen Gefängnisturm (und seinen vielen Varianten) sitzt weiter ein Wächter, mit scharfem Auge auf die, die nicht dazugehören.
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KEVIN DEVINE
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Über all dies sind die Verfasser des letztjährigen Manifests „Not In Our Name, Marke Hamburg!“ bestens informiert, es ist der Gegenstand ihrer Abhandlung. In der Kritik steht die städtische Politik, die künstlerische Kreativität als Marketinginstrument einsetzt, um Investoren anzulocken. Da will man nicht mitmachen, und das versteht und unterstützt sogar die bürgerliche Wochenzeitung „Die Zeit“, die den Text im November 2009 als Feuilleton-Aufmacher abdruckt. Schon dies ist ein gewaltiger Erfolg. Fast unglaublich zudem, wie das öffentliche Echo dieser neuen Subversion rückwirkt auf den eigentlichen Auslöser des Manifests: die Besetzung des historischen Gängeviertels, das bereits an einen Investor verkauft und damit dem Abriss preisgegeben war. Auf die Proteste hin zahlt die Stadt den Investor aus, der Bürgermeister bedankt sich öffentlich für das Engagement und die Beharrlichkeit der renitenten Kulturschaffenden. Als Nebenresultat verscherbelt schon die nächste Pressemeldung genau diesen Vorgang als Zeugnis einer pulsierenden Kulturmetropole. On and on and on.
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Draußen - Vertical Railway
VERTICAL RAILWAY Die Geschichte des Fahrstuhls ist eng verbunden mit der Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Aufzug ermöglicht die „Besiedlung der Lüfte“ und krempelt ganze Häuser um. TEXT — NIKLAS DOMMASCK, FOTO — STEFANIE MÜLLER
Irgendwo in Amerika stapft im Jahr 1859 ein Tüftler namens Otis Tufts in ein Büro, um ein Patent anzumelden: „Ich nenne es die vertikale Eisenbahn!“ oder so ähnlich mag Herr Tufts seine Erfindung verkündet haben. Die „vertical railway“, auch „vertical screw elevator“ genannt, ist der erste Personenfahrstuhl mit vollständig geschlossener Kabine. Aufzüge gibt es allerdings schon viel länger – Archimedes’ Schriften berichten von ähnlichen Hebevorrichtungen bereits in der griechischen Antike. Der Jenaer Mathematiker Erhard Weigel bewegte sich in seinem 1670 fertiggestellten Haus mit einer beweglichen Plattform zwischen den Etagen auf und ab – man mag darin damals eine Entsprechung zum Klischee des wunderlichen Professors gesehen haben, aber der Mann wusste bescheid: er hatte auch eine Weinleitung direkt aus dem Keller nach oben. Und im Bergbau sind aufzugartige Förderanlagen längst gang und gäbe, wenn auch nicht zur Personenbeförderung. Von Beginn an ist die Geschichte des Fahrstuhls mit der Frage der Sicherheit der vertikalen Beförderung verknüpft. Unfallrisiko barg zunächst die architektonische Einpassung der Aufzüge ins Gebäude. Weder waren die Fahrstuhlkabinen geschlossen – es handelte sich eher um schmiedeeiserne Käfige –, noch waren die Zugänge besonders gesichert. So kam es zu mancher Quetschung, Amputation oder gar Enthauptung, wenn Passagiere sich während der Fahrt aus der Kabine lehnten oder von außen in den Schacht spähten, um nachzusehen, wann er denn endlich käme, der Fahrstuhl. Dieses Problem erledigte sich, als der Fahrstuhl im geschlossenen Schacht verschwand, mit Türen, die sich während der Fahrt nicht öffnen ließen. Paul Virilio zufolge verbindet sich mit jedem neuen Verkehrsmittel auch eine neue Art von Unfall: das Schiff bringt den Schiffbruch hervor, die Eisenbahn das Entgleisen, das Flugzeug den Absturz – und der Fahrstuhl nun die neue Unfallvariante „Steckenbleiben“ und die damit verbundene Angst vor dem Eingeschlossensein. Während der Hochphase der Urbanisierung im 19. Jahrhundert, als sich auch der Aufzug als Mittel des Personentransports durchsetzt, beschrieben Mediziner erstmals neuartige „nervöse Krankheiten“. Zu den sogenannten „Topophobien“ gehört neben der Platzangst auch ebenjene Klaustrophobie. Ihr paradigmatischer Ort wird in zahllosen Erzählungen und Filmen der steckengebliebene Fahrstuhl werden: Die Großstadt produziert ihre eigenen Ängste. Das Verschwinden des Fahrstuhls im geschlossenen Schacht bedeutet aber auch, dass seine Abbildbarkeit an ein Ende kommt, denn fortan ist ein Aufzug erst einmal nicht viel mehr als zwei Türen in der Wand und das Innere einer Kabine ohne sichtbares Außen. Blind fährt die Kabine rauf und runter (bis zur Erfindung der „gläsernen“ Variante jedenfalls). Der Aufenthaltsort im Gebäude lässt sich nunmehr lediglich indirekt über die Stockwerksanzeige ablesen. So verliert mit der Etablierung des Aufzugs die vertikale Bewegung im Haus ihre Koordinaten. Richtung und Geschwindigkeit lassen sich in der Kabine vielleicht noch spüren, es wird aber unerheblich, ob man hoch in den vierzigsten Stock möchte, oder sieben Etagen nach unten – eine Anstrengung verbindet sich für die Passagiere nicht mehr mit der Bewegung. Fortan werden Grundrisse, besonders in Bürogebäuden, um das bestimmende Element des Fahrstuhlschachts entworfen. Die neuartige Stahlskelettbauweise und modernere Fahrstühle machen immer höhere Gebäude möglich, um 1875 lassen sich bis zu zehn Etagen übereinanderstapeln, 1890 sind es bereits zwanzig, das Woolworth-Building von 1913 hat 55 Stockwerke. „Die Besiedlung der Lüfte“ (Rem Koolhaas), in der jedes Stockwerk seine Besonderheit verliert und nicht mehr als die bloße Vervielfachung der Grundfläche bedeutet, hat begonnen. Welche Rolle der Fahrstuhl für die neuen Hochhäuser („elevator buildings“) spielt, versinnbildlicht der von Koolhaas beschriebene Abriss des Waldorf-AstoriaHotels, der mit dem an gleicher Stelle beginnenden Neubau des Empire State Building minutiös koordiniert wird. Eine Zeitlang ragen nur die für das neue Gebäude übernommenen Aufzugskerne empor, wie ein Rückgrat, um das sich erst ein neuer Körper bilden muss. Der Aufzugsschacht ist zum Gebäudekern geworden und das Gebäude selbst wird zur zerstückelten Schichtung voneinander getrennter Ebenen, die alle gleichermaßen zugänglich sind.
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Draußen - Vertical Railway, J.B, Zugleich krempelt der Aufzug die Hierarchie im Gebäude um. Vor der Verbreitung des Fahrstuhls liegen die teuren und prestigeträchtigen Stockwerke unten: Wer es sich leisten kann, wohnt in der Beletage, ohne Treppen steigen zu müssen. Wer dagegen arm ist, haust in der Dachkammer, oder ganz unten, im Keller (Souterrain). Um die soziale Distinktion auch räumlich aufrechtzuerhalten, und damit niemand aus der Beletage mit den armen Leuten von oben zusammentreffen muss, gibt es häufig eine gesonderte Treppe auf der Gebäuderückseite, die zum Beispiel das in der Dachkammer wohnende Dienstpersonal zu benutzen hat. Oder wie Rem Koolhaas pointiert formuliert: „Im Zeitalter der Treppen galten alle Stockwerke oberhalb des ersten als für kommerzielle Zwecke ungeeignet und alle über dem vierten als unbewohnbar.“ Erst der Fahrstuhl macht die oberen Geschosse attraktiv. Fortan werben Immobilienmakler für luxuriöse Wohnungen mit Dachterrasse und besonderer Aussicht. Hieß vordem jeglicher nachträgliche Anbau („Appendix“) auf dem Dach „Penthouse“, so bezeichnet der Begriff nun ein begehrtes Luxusobjekt in privilegierter Höhenlage, das gehobenen sozialen Status ausdrückt. Mit dem Einzug des Fahrstuhls in die Häuser findet die „Gesellschaftspyramide“ als Bild sozialer Hierarchie konkreten räumlichen Ausdruck: denn wer es „nach oben geschafft hat“ sieht nun von seiner Dachterrasse oder durch das Panoramafenster seines Büros in der „Chefetage“ auf die anderen hinab.
Dabei steht diese Form der rechnerischen Gleichmachung viel eher im Zusammenhang mit dem, was Max Weber als Grundlagen „kapitalistischer Gesinnung“ „die rationale Dauerunternehmung, …die Rationalisierung der Lebensführung, das rationale Wirtschaftsethos.“ genannt hat. Denn, dass es im Fahrstuhl keine erste Klasse gibt, heißt noch lange nicht, dass jeder dieser 75-Kilo-Menschen mit dem Aufzug direkt in die Chefetage oder in sein Penthouse mit Swimming-Pool düst.
Andreas Bernard: „Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne“ (Fischer Taschenbuch) Rem Koolhaas: “Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan“ (Arch+ Verlag)
Tendenzen, die noch durch Haupt- und Nebentreppenhäuser und Personaleingänge räumlich reproduzierte soziale Trennung auch auf die Aufzugarchitektur zu übertragen, haben sich nicht durchgesetzt, so Andreas Bernard. Er mutmaßt, der Charakter des Aufzugs als Gleichmacher der Etagen wirke auch in sozialer Hinsicht egalisierend, denn die Bresche, die der Fahrstuhlschacht durch das Gebäude schlägt, „demokratisiert den Zugang“. Bernard geht noch einen Schritt weiter und sieht die Rolle des Fahrstuhls als Gleichmacher darin bestätigt, dass der Aufzug allen Passagieren gleich begegne: bereits 1908 legt eine preußische Aufzugsverordnung mit 75 Kilogramm das noch heute gültige Durchschnittsgewicht fest, auf dem die Berechnung der maximalen Fahrgastzahl basiert – Im Aufzug haben alle das gleiche Gewicht.
/J. B, Jenna Brinning
Foto — Joachim Zimmermann
Sex und Haushalt Über Verzweiflung im tiefsten Winter Neulich meldete ich mich bei einer Online-Dating-Site an. Draußen war es saukalt, die Feiertage standen bevor und die Stadt schien nur noch Paare zu beherbergen. Ich war einsam und wollte auch heiraten. Oder zumindest vögeln. Innerhalb kürzester Zeit lernte ich viele neue Menschen kennen. Habibi83 zum Beispiel, einen Studenten der Biochemie, der „ein mädschen mit den er ferde stellen kann“ suchte. Oder SingelDad (sic!), der in seinem Profilfoto mit elektrischer Gitarre posierte (ein auf Flirtseiten höchst beliebtes Requisit unter Herren jeglichen Alters) und wissen wollte, ob ich Kinder mochte. Denn er hatte schon vier. Und dann war Lutz69, ein fescher Rentner, der unsere Beziehung schnellstmöglich vorantreiben wollte und mich prompt zum privaten Chat einlud. Ich bin aber nicht so eine, die mit Fremden chattet. Er klickte mich nie wieder an, der oberflächliche Gerontenarsch. Schließlich schrieb mir Pierre. Er sah sexy aus, machte einen überaus interessierten Eindruck und setzte immer extraviele Ausrufezeichen am Satzende ein, um seinen Enthusiasmus zu vermitteln. Eigentlich war er mir zu klein
aber die Vorstellung einen von meinem schwulen Nachbarn empfohlenen peruanischen Callboy namens Rico aus Notgeilheit anrufen zu müssen setzte mich in Bewegung. Ich zog meine flachsten Schuhe an, stampfte bei Minus 16 Grad los und traf mich spontan mit Pierre. Er entpuppte sich als perfektes Date, wartete schon draußen auf mich als ich ankam, hielt mir die Türen auf, lud mich ein und hörte aufmerksam zu. Ich wollte ihn. Bis ich den klischeehaftesten aller Flecken plötzlich bemerkte: Hinten an seinem Kragen war Lippenstift. Ob er liiert war, direkt vor unserem Treffen bei seiner Mutter gewesen war oder sich doch mit zwei Damen am denselben Abend verabredetet hatte, fragte ich nicht. Es war mir auf einmal alles zu blöd. Und so lief ich alleine durch den Schnee nach Hause. Die Straßen waren leer und bei der Singlebörse war niemand mehr online. Ich ging ins Bett und träumte von Liebe2010. Jennas Haushaltstipp: Lippenstift lässt sich mit Reinigungsalkohol entfernen. Fleck betupfen und mit kaltem Wasser ausspülen. Anschließend etwas Waschmittel einreiben und ab in die Waschmaschine.
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Comic â&#x20AC;&#x201C; Arne Bellstorf (bellstorf.com)
FRÖHLICHE WISSENSCHAFT BEI MATTHES & SEITZ BERLIN ANTONIN ARTAUD Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft GEORGES BATAILLE Henker und Opfer JEAN BAUDRILLARD Im Schatten der schweigenden Mehrheiten JEAN BAUDRILLARD Warum ist nicht alles schon verschwunden MAURICE BLANCHOT Die uneingestehbare Gemeinschaft THIERRY DUFRÊNE Masken und modernes Portrait. Giacometti – Genet WOLFRAM EILENBERGER This is not America LÁSZLÓ F. FÖLDÉNYI Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDT Des Pudels Kern BÉLA HAMVAS Die Melancholie der Spätwerke VLADIMIR JANKÉLÉVICH Satie und der Morgen DANIEL KEHLMANN, SEBASTIAN KLEINSCHMIDT Requiem für einen Hund PAUL LAFARGUE Die Religion des Kapitals PAUL-LUDWIG LANDSBERG Die Erfahrung des Todes ALEXANDER PSCHERA (HG.) Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht HORST DIETER RAUH Nächtliche Muse MICHAEL ROES Perversion und Glück GERHARD RÜHM Aspekte einer erweiterten Poetik WARLAM SCHALAMOW Über Prosa WILFRIED F. SCHOELLER, HERBERT WIESNER (HG.) Widerstand des Textes HANS-MARTIN SCHÖNHERR-MANN Der Übermensch als Lebenskünstlerin PIERRE TEMKINE Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte JULIEN TORMA Euphorismen PETER TRAWNY Adyton. Heideggers esoterische Philosophie ERIC VOEGELIN Realitätsfinsternis WOLFGANG VON WANGENHEIM Ponderation. Skulptur und Schwerkraft
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JENSEITS DER STADT: GEGEN URBANITÄT / GENTRIFICATION NOVEL: RÜCKZUG NACH BROOKLYN / TOCOTRONIC: EIN SCHLEICHENDES GIFT / STADT UND SOUND: DETROIT / GISELA ELSNER: HUMORISTIN DES MONSTRÖSEN / STADT UND FILM: HADESLANDSCHAFT / UTOPISCHE ARCHITEKTUR: WER BEWOHNT ARKADIEN?
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