okt, nov 2009
#03
Wir müssen reden
Reflexionen aus dem verrückten Leben — Schorsch Kamerun: Plötzlich neue Positionen — Tannhäuser Sterben & das Tod: Wie das Fleisch durch den Wolf — Emo ist das neue Schwul — Harry Graf Kessler: Akuter Kriegswahnsinn — Meine Geistig Umnachteten — Keine Reise ins Hirn der Finsternis
Vier / 4 Euro
Wahnsinn
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(Editorial), Analogien — )))
Abb. 1
Luftschrauber
Abb. 2
Ein monumentales Gewürz!
„Das ist der Wahnsinn!“, sagte er und konnte sich nichts als allgemeiner Zustimmung sicher sein. Niemand hätte in dieser Situation nach der Bedeutung des Satzes gefragt. Und wahrscheinlich dachte gerade auch keiner aus unserer Runde darüber nach. Es ist, wie so häufig: Wir wissen genau, was es ist, bis uns jemand danach fragt. (OK)
Was ist unter Wahnsinn zu verstehen? „Wahnsinn ist jetzt das, was heftig oder krass mal waren“, schreibt Nagel in dieser Ausgabe und hat natürlich vollkommen recht damit. Als Chiffre ist der Begriff längst in den alltäglichen Sprachgebrauch eingesickert – eine Definition gibt es nicht. Das Wort spannt vielmehr ein Feld auf. Es reicht von „crazy“ bis „übergeschnappt“, von „abgedreht“ bis „schizophren“, von „hysterisch“ bis, ja, „normal“. Der Wahnsinn hat im Laufe der letzten Jahrhunderte einen langen Weg hinter sich gebracht, um in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Roger Behrens verweist in dieser Ausgabe nicht nur auf den „Extremismus der Mitte“, er geht einen Schritt weiter und behauptet, der Wahnsinn bringe die heutige Gesellschaft überhaupt erst hervor! Gerade im Zusammenhang mit Pop stellen sich Fragen der Salonfähigkeit von Wahnsinn. Schorsch Kamerun hat Erfahrungen gesammelt, die aufgrund der Vielschichtigkeit des Themas nur schwerlich einzuordnen und zu begreifen sind. Ist der Künstler von heute der Narr von gestern? Oder ist das Abseitige, das diese Narrenfiguren einst verkörperten, heute aufgegangen in einem Einheitsbrei, in dem jeder versucht, sich möglichst „durchgeknallt“ zu geben? Tannhäuser Sterben & das Tod komponieren Musik, die von Schwarzen Löchern inspiriert ist – ihre Erzeugnisse wären am leichtesten im Fach mit dem W-Wort einzusortieren; Jan Süselbeck beschäftigt sich mit den Tagebüchern von Harry Graf Kessler, einem intellektuellen Kosmopoliten, der trotz besseren Wissens während des 1. Weltkrieges plötzlich ins Horn der Kriegseuphorie bläst; der Neurowissenschaftler Jonas Obleser stellt zur Diskussion, ob sich Filmemacher überhaupt schizophrenem Erleben annähern können. Liebe Leserin, lieber Leser, den Artikel über die Band „Madness“ müsst ihr euch dazu denken. Viel Spaß mit dieser Ausgabe.
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((( – Inhalt
06 (Abseitsorte) – Fukengrüven 07 (Reality Check) – Der heilende Kreislauf POLITIK 08 Reflexionen aus dem verrückten Leben (Roger Behrens) 12 Plötzlich neue Positionen (Lasse Koch, Niklas Dommaschk) 16 Kartographie der Macht (Anton Landgraf) MUSIK 18 Wie das Fleisch durch den Wolf (Björn Bauermeister) 22 Emo ist das neue Schwul (Martin Büsser) 25 Ohren auf und durch (Jan Paul Herzer) 26 Dämonenzupfer (Björn Bauermeister) 27 Der rote Kanister (Maria Luther, Christoph Schwarze) 28 Berlin Festival 2009 (Jenna Brinning) Der Klick nach vorn? (Jan Schimmang) 29 (Keine weiteren Fragen an …) Herman Dune MODE 32 The Flowers in the Backyard, they all die when you go away LITERATUR 38 Akuter Kriegswahnsinn (Jan Süselbeck) 42 Meine Geistig Umnachteten (Michael Weber) 46 (Gastexperten) – Bornhöft in der Küche mit Paul 47 Buchform und Buchwurm (Hanno Plass) 48 Ein schizophrener Brief zum Thema Inkarnationspädagogik (Ulrich Holbein) 49 Das dreigelappte flammende Auge (Lucia Newski) FILM 52 Keine Reise ins Hirn der Finsternis (Jonas Obleser) 56 Give me a Second (Eva Erdmann) 58 Nor Gods nor Men his Neighbors (Ronnie Vuine) 62 (Wir spielen …) Verkleiden mit Ari Gold DRAUSSEN 64 Amok auf Kambodschanisch (Michael Kleinod, Maren Freudenberg) COMIC 66 Sagen Sie, geht es Ihnen nicht gut? (Arne Bellstorf)
Wahnsinn
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– Contributers, Impressum
SINA MÖHRING
ROGER BEHRENS
EVA ERDMANN
JONAS OBLESER
Sina Möhring studierte visuelle Kommunikation in Düsseldorf und Barcelona. Seit 2006 ist sie als Illustratorin und Grafikdesignerin tätig und zeigte ihre Arbeiten bereits in verschiedenen Ausstellungen. 2007 arbeitete sie für sechs Monate in London. Zurzeit ist ihre Wahlheimat Berlin. Mit Vorliebe zeichnet sie Menschen oder ihre Katze Manfred. Wenn sie nicht gerade am heimischen Computer sitzt, ist sie häufig mit ihrem Skizzenbuch im Café um die Ecke anzutreffen oder man sieht sie mit ihrer Kamera durch die Stadt streifen.
Roger Behrens, nun auch schon fast vor einem halben Jahrhundert geboren, in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Hamburg aufgewachsen, dort die meiste Zeit verbracht. Hat sich bisher ohne erwähnenswerte Zwischenfälle als Kritiker, Autor, Dozent und Musiker durchgeschlagen. Fester Wohnsitz, aber keine feste Arbeit; dabei sind eine Reihe von Büchern herausgekommen. Demnächst erscheint eine kleine Einführung in die Cultural Studies. Ansonsten: permanente Beschäftigung mit Pop, Gesellschaft und der Möglichkeit des Kommunismus. Hält sich am liebsten nicht in Deutschland auf und wird eh bald wahnsinnig, wenn sich nicht absehbar grundsätzlich etwas ändert.
Eva Erdmann studierte Romanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Paris, Heidelberg und Genf und unterrichtet seitdem Literaturwissenschaft. Sie interessiert sich für das Fremdsprachige in der Literatur, für Komik im Film und für narrative Kindheitsperspektiven; derzeit schreibt sie in den Schnittmengen ihrer Schwerpunkte: über Kinderhorden im italienischen „Neorealismo“, zu Filmen über fatal verkehrtes Lesen und über die lexikographische Arbeit der Coen-Brüder an Wörterbüchern, in der Pariser Metro. Obwohl sie auch in der Stadt das Mountainbike dem Hollandrad vorzieht, hält sie Überholen auf der Fahrradspur, mit Klingelsturm als Lichthupenersatz, für eine Unsitte. Auf dem Radweg müssen auch Teilnehmer mit Laufrad eine Chance haben.
Jonas Obleser, 34, ist promovierter Neurowissenschaftler und forscht über Hören und Sprache in Leipzig. Das hindert ihn nur unwesentlich daran, einem sowohl Außenstehenden als auch ihm selbst oft erratisch anmutenden Masterplan nachzujagen. Dabei nehmen das Betreiben der Posthistoire-Fibel „Walloftime.net“, das Schlagzeug– und Ukulelenspiel, unter anderem für das Improvisationskollektiv „Schlauchboot”, sowie ein milde fetischistisch übersteigertes Verhältnis zur Typographie maßgebliche Rollen ein. Zurzeit ist er sehr verliebt und möchte sich in Zukunft mehr für die Gemeinschaft engagieren. In dieser Ausgabe schreibt Jonas Obleser über Schizophrenie im Film.
Kontakt OPAK Magazin Oliver Koch (V.i.S.d.P.) Bürknerstraße 5 12047 Berlin (redaktion@opak-magazin.de) www.opak-magazin.de
Design, Layout & Satz (Print) Floyd Schulze (www.wthm.net) Adeline Mollard (www.fageta.ch) Verwendete Schriften: Simplon von Emmanuel Rey (www.emmanuelrey.ch) Romain BP von Ian Party (www.bpfoundry.com)
Hrvoje Goluza, Helene Hecke, Lars Herzog, Ville Hill, Martina Hoffmann, Julia Keutner, Michael Kleinod, Sina Möhring, Stefanie Müller, Josephin Thomas, Philipp von Mummenhoff, W//:THEM, Zoyd Wheeler, Nina Witjes, Hannes Woidich, Joachim Zimmermann und Pressefotofreigaben
Redaktion Björn Bauermeister (Musik) Niklas Dommaschk (Literatur) Maike Hank (Online) Lasse Koch (Politik) Oliver Koch (Chefredaktion) Stefanie Müller (Bild) Elisabeth Rank (Online) Josephin Thomas (Mode) Daniel Windheuser (Film) Joachim Zimmermann (Bild)
Lektorat / Korrektorat Maike Hank
Dommaschk, Eva Erdmann, Maren Freudenberg, Kathrin Gemein, Helene Hecke, Jan Paul Herzer, Ulrich Holbein, Dennis Kastrup, Jörg Kleemann, Moritz Körner, Michael Kleinod, Lasse Koch, Kristof Künssler, Anton Landgraf, Maria Luther, Nagel, Lucia Newski, Jonas Obleser, Hanno Plass, Nils Quak, Johannes Ruthenberg, Jan Schimmang, Ulf Schütte, Jan Süselbeck, Christoph Schwarze, Kasper Thomas, Ronnie Vuine, Michael Weber, Daniel Windheuser, Julia Winter Fotografien & Illustrationen dieser Ausgabe Markus Bachmann, Arne Bellstorf, Jenna Brinning, Anna Cieplik, DLA - Marbach, Maren Freudenberg, Max Friehlinghaus,
Druck Druck und Werte GmbH Härtelstr. 27 04107 Leipzig www.druckundwerte.de
Titelbild der Ausgabe Markus Bachmann (www.kombinat-augenzeuge.de) Texte dieser Ausgabe Björn Bauermeister, Roger Behrens, Senta Best, Lutz Bornhöft, Jenna Brinning, Martin Büsser, Niklas
Anzeigen Michael Kolepke +49 (0)221 27070999 | +49 (0)173 7790940 michael.kolepke@opak-magazin.de
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((( – (Abseitsorte)
(… von Spezialregionen, Außenstellen, Schauplätzen, Geheimverstecken)
FUKENGRÜVEN Wo Muttersprache fremdgeht, kriegt sie neue Locken gedreht. Oder exotische Implantate. Westküsten-Deutschtum „uber alles …“ Text, Fotos — HELENE HECKE
Total angesagt. Ort und Name. Naja, geht so … denkt sich die Zugereiste. Das „Zeitgeist“-Wörtchen stinkt für uns nach Herrenmagazin der 1980er Jahre. Amerikaner mögen deutsche Wörter, die ordentlich im Mund explodieren. Andere deutschtümelnde Läden um die Ecke heißen „Walzwerk“ und „Suppenküche“, englisch prononziert und auf Soljanka spezialisiert. Oder „Schnitzelhaus“, dort allerdings brüllt es spanisch aus der Schnitzelküche. Asiaten-Disco in der Folsom, schwarze Clubs drüben in der Eastbay. Die Ethnien bleiben unter sich. Nur ins Zeitgeist verlaufen sich keine deutschen Touristen. Auch keine süßen Hipster mit suppentellergroßen Sonnenbrillen oder Honecker-Hütchen. Das Zeitgeist rockt rustikaler. Zielgruppe: Bekiffte Kaukasier, tätowiert oder wenigstens das T-Shirt tätowiert. Gemütliches Draußensitzen ist schon ziemlich unkalifornisch. Rauchen erst recht. Es wird viel geraucht im Zeitgeist zwischen den Dixieklos und Fahrradständern und dem franziskanischem Nebel. Dazu setzt es Rammstein und Bier. Wenigstens nicht aus der braunen Papiertüte, sondern liebevoll schalgerührt in Krügen. Dixieklos heißen hier manchmal „honey bucket“. Deutsches auswärts klingt kaltschnäuzig, smart und gewalttätig wie Hans Landa. Der war seit diesem Kinosommer überall, wo man nur hinkommt. Hans Landa bringt Klischees wieder auf Tour. Berlin ist ultrahip, wo immer man hinkommt. Alle wollen da mal hin, aber wissen nicht genau, warum. Bei irgendeiner kinky Party in der Mission Street begegne ich gleich zwei jüdischen Männern in Nazi-Kostümen. Adolf Hitler ist höchstens 35 und sieht authentischer aus als Bruno Ganz oder Helge Schneider. Der andere Typ trägt einfach nur SS-Uniform. Der jewish Adolf ist sehr nett und möchte mich gern Deutsch reden hören. Ich mich nicht. Bin zu umerzogen, um solchen Fetisch zu bedienen. So was hätten wir auch in Brandenburg. Aus erster Hand.
Ganz ohne Wiedererkennungswert erscheinen die beliebtesten deutschen Wörter in Amerika: „Fukengrüven“ steht als Aufschrift auf einigen Autos. Qualitätsvokabular mit schickem Umlaut. Die Jungs können mir nicht sagen, was das bedeutet. „It’s German, isn’t it?“ -- „No, it’s just the sound of German.“ Wie der VW-Käfer mit den eisernen Kreuzen unter Palmen. „Fukengrüven“ steht nicht im Duden, aber im Netz. Die amerikanisierte Variante von „Fahrvergnügen“ klingt wirklich deutscher als Deutsch. Wär ich nicht drauf gekommen. Unsere Diskussion unter Freunden geht dazu über, ob Chaplin in „Der Große Diktator“ Deutsch spricht oder nur Dada. Brillantes Dadasprech, aber das glaubt mir niemand. Explodiert so schön in den Ohren. Fucking groovy Fukengrüven! Tarantino läuft synchronisiert. Im Zeitgeist lasse ich für die Deko einen Aufkleber da. Zufällig noch in der Tasche gehabt. Einen verschwurbelten Aufruf vom Friedrichshainer Bauwagenplatz zur geistigen Befreiung im besonders bauwagigen Sinne. „Great!“, freut sich der Barkeeper. Will den ganzen Unsinn aber gar nicht übersetzt haben. Hauptsache, es klingt german. Wie Rammstein. Wenn man mich fragt, bin ich aus Europa. Oder Berlin meinetwegen.
((( – (Reality Check)
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(… von Orten der Kultur- und Ideengeschichte — Altes neu besehen, überprüfen, gutfinden, verwerfen)
DER HEILENDE KREISLAUF Gefängnis, Zuchthaus, Psychiatrie – die Institution ist die Krankheit! Oder doch nicht? Der Wiener Narrenturm steht am Anfang einer historischen Linie von Einrichtungen, wie wir sie kennen Text — LUCIA NEWSKI, Foto — NINA WITJES Die Welt des Papillon hatte aus fünf Metern zwischen den Zellenwänden bestanden. Bei seiner Entlassung aus der Isolationshaft versagt Steve McQueens Körper ihm jeden weiteren Schritt – er bricht auf dem Gang zusammen. In Stefan Zweigs Schachnovelle will Dr. B. dem Wahnsinn eines hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen Zimmers entgehen – seine Strategie mündet in eine Persönlichkeitsspaltung. Architektur kann krank machen. Auch heute noch wird sie als Instrument von Folter und Unterdrückung eingesetzt. Aber kann sie auch Gegenteiliges bewirken? Das Mittelalter pflegte bekanntlich keinen besonders einfühlsamen Umgang mit Wahnsinnigen. Die Gefängnisse der Stadttürme waren, genauso wie die Narrenkäfige und feuchten Keller der Irrenanstalten, kaum in Hinblick auf einen Heilungsanspruch angelegt worden. Auch beim festungsähnlichen Wiener Narrenturm mag menschenfreundliche Raumgestaltung nicht das alleinige Anliegen gewesen sein. Die Aufklärung ließ denjenigen, die sie als irre ausmachte, im ausgehenden 18. Jahrhundert einen besonders brutalen Humanismus angedeihen. Wer sich auf einen Flirt mit den bestrickenden Kräften der Unvernunft einließ, fand sich schnell in Räumen wieder, die keine Fenster, nur Gitter hatten; die Zellen des Narrenturms waren klein, 11 Quadratmeter für nicht selten drei Personen; man fand Vorrichtungen für Ketten, die den „Tobenden“ angelegt wurden. Wie das Verhältnis zwischen Verwahrung und Therapie war, lässt sich heute kaum mehr bestimmen. Dennoch geht die Konzeption dieser ersten gro-
ßen Spezialinstitution für psychisch Kranke auf Überlegungen zum Mensch-RaumVerhältnis zurück. Man machte sich also Gedanken, möglicherweise nicht ausschließlich schlechte. Seine kreisrunde Form verdankt der Turm nicht zuletzt dem medizinischen Denken der Zeit. Demnach standen Wahnsinn und Welt in einer unmittelbaren Beziehung zueinander, Natur und Klima wirkten direkt auf Vorstellungskraft und Leidenschaft des psychisch Kranken ein. Für Frischluft musste gesorgt werden – es zog wie Hechtsuppe. Die Gedanken des Narren drehten sich im Kreis? Er sollte sich entweder auf den runden Gängen gesund tanzen oder darauf vertrauen, dass die äußere Ordnung, d.h. die Form des Gebäudes, seine innere wiederherstellte. In diesem Sinne war der Narrenturm die europäische Antwort auf Feng Shui in brachial. Station 15X, Psychiatrie der Berliner Charité, irgendwann 2007. Die Fenster vergittert und immer offen, die Tür zum Garten wird auf Wunsch aufgesperrt. Im Aufenthaltsraum steht ein verstimmtes Klavier, hinter der Wand eine mit Gurten versehene Trage zur Fixierung. Immer wieder der Hinweis auf die entlastende Wirkung der Abgeschlossenheit. Eine autoritäre Insitution, die als disziplinierende Vollzugsanstalt dem Narrenturm ähnlich ist? Mit Mühe kann man es so sehen. Man kann die Station aber auch nach Wochen fühlbaren Schutzes vor der Außenwelt als neuer Mensch verlassen. Draußen ist dem Boden dann kaum zu trauen, die Gefahr eines Sturzes ist dennoch nicht gegeben.
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Politik – Reflexionen aus dem verrückten Leben
„Crazy“, „irre“, „durchgeknallt“ — Der Weg des Wahnsinns in die Gesellschaft Text — ROGER BEHRENS, Illustration — MAX FRIEHLINGHAUS
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Die Geschichte des Wahnsinns, die Michel Foucault geschrieben hat, endet mit dem 19. Jahrhundert, als die Geschichte selber dem Wahnsinn verfällt. Foucaults These: Es gibt keinen Wahnsinn an sich; vielmehr existiere der Wahnsinn nur innerhalb einer Gesellschaft und wird von dieser definiert. Es handelt sich dabei um eine Geschichte der Ausgrenzung, in deren Verlauf erst um 1800 der Wahnsinn zum Gegenstand der Medizin wird und als Geisteskrankheit bestimmt wird. Sofern der Geist sich in der Vernunft manifestiert, wird sie zum eigentlichen Gegensatz des Wahnsinns. Als Nerven- und Gehirnkrankheit gilt der Wahnsinn paradox gleichzeitig als Schwäche der psychischen Tätigkeit und Hypersensibilität des Nervensystems: „Das Wesen“ des Wahnsinns besteht „in einer krankhaft gesteigerten Einbildungskraft mit den daraus hervorgehenden ausschweifenden Wahnvorstellungen“, wie ein Konversationslexikon 1885 definiert. Doch schon damals steckt der Wahnsinn weitaus tiefer in der Dialektik der Aufklärung fest, als Foucault es mit seiner Studie darzustellen vermag: Die Vernunft selber wird zur Wahnidee, schlägt in Unvernunft um. Und zwar nicht nur als klinischer Diskurs, sondern als ‹soziales Verhältnis›. Ende des 19. Jahrhunderts kann man sich auf die Sinne nicht mehr verlassen und in der Unterscheidung zwischen
Wahn und Wirklichkeit nicht mehr allein dem „gesunden Menschenverstand“ vertrauen. Okkultismus, Aurafotografie, Film, Röntgenstrahlen, Elektrizität, Telegrafie und die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse – das „nervöse Zeitalter“: die Wirklichkeit scheint buchstäblich verrückt geworden, die Gesellschaft nachgerade dem Wahnsinn anheim gefallen zu sein. Roosevelt soll in dieser Zeit den Ausdruck „lunatic fringe“ als Schmähwort eingeführt haben: als Diffamierung der Anarchisten in den USA.
Mit der Inkriminierung der ‹verrückten Spinner am Rande der Gesellschaft› geht es um eine andere Form des Ausschlusses als die, die Foucault beschrieben hat: Der Wahnsinn erscheint jetzt als Extremismus – im Verhältnis zu einer Normalität, die nicht allein einem, wie Foucault es nennt, Diskurs der Normierungsmächte unterworfen ist. Die Normalität als das Zentrum der Extreme ergibt sich aus der Logik der kapitalistischen Produktionsordnung: als Standardisierung. Solche Standards entwickeln sich für sämtliche Maßverhältnisse – von der Konfektionsgröße bis zur Türgriffhöhe, von der Eisenbahnspurbreite bis zum Schulmöbel, vom Filmformat bis zur Verkehrsregelung etc.; von den industriellen Schlachthöfen (Cincinnati, Chicago) bis zur modernen Waffentechnik im Ersten Weltkrieg; von der
Politik - Highlights
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„Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft …“ Walter Benjamin, Das PassagenWerk, [N 1, 4] Fließbandproduktion in Fords Automobilwerken seit 1913 bis zur Einführung der DIN-Normen 1917: Die technologische Rationalität, die sich hier durchsetzt, kann ihren irrationalen Charakter kaum verbergen. Der Wahnsinn umkreist die Normalität, wie es in der Alltagskultur der zwanziger Jahre deutlich zum Ausdruck kommt: Die Welt spielt verrückt – die Tillergirls und Josephine Baker, Buster Keaton und Hugo Ball, Emma Goldman und Mickey Mouse, die Neue Sachlichkeit und der Surrealismus, die Oktoberrevolution und der weiße Sozialismus in Amerika … Insgesamt ist dies eine Verrücktheit, die als ein ZurechtRücken erscheint, ein In-Ordnung-Bringen. Inwiefern die Normalität nicht nur den Wahnsinn erzeugt, sondern eben umgekehrt der Wahnsinn die Normalität, ist eindrucksvoll in der Literatur – man denke an Kafka – beschrieben worden; auch, dass diese Dialektik von Wahn und Norm zunächst in der Krise mündet, und dann im blanken Terror kulminiert. Und dennoch ist die verrückte Welt nicht auseinander gefallen, sondern verdichtete sich zum universellen Verblendungszusammenhang. Adorno und Horkheimer haben das in der „Dialektik der Aufklärung“ (1944/47) mit dem Begriff der Kulturindustrie beschrieben. Zugleich haben sie in materialistischer Fassung kritisch antizipiert, was Foucault später in „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) fröhlich-positivistisch diagnostizierte: der Umschlag von Mythos in Rationalität und ‹vice versa› als geschichtslogische Verschränkung von Wahnsinn und Vernunft. Zwar findet die Dialektik der Aufklärung als menschenverachtender Wahn instrumenteller Vernunft in Auschwitz seinen bisherigen Höhepunkt, aber keineswegs sein Ende. Das Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft nimmt nach 1945 lediglich (und auch nur tendenziell) demokratische Formen an; und das lässt sich auch nur unter Absehung der Zustände im stalinistischen und maoistischen Realsozialismus und im militär-faschistischen Realkapitalismus der 50er bis 70er Jahre behaupten. Eine gleichwohl schöne Allegorese über Wahnsinn und Gesellschaft, nämlich science-fiktionale Adaption von Shakespeares „The Tempest“ kommt 1956 als „Forbidden Planet“ in die Kinos: auf dem Planeten Altair finden sich Überreste einer bereits vor mehreren hunderttausend Jahren untergegangenen, allerdings technologisch dem Menschen weit überlegen gewesenen Zivilisation, die Krell. Zurückgelassen haben sie Zeugnisse ihrer Vernunft: Gewaltige unterirdische Maschinen der reinen Vernunft. Ausgegrenzt wurden hier die Gefühle – sie geistern nunmehr als Wahnsinn über den Planeten: ein riesiges Energiemonster, eine Art elektrischer Werwolf, der sich – ganz im Gegensatz zur Krell-Zivilisation – überhaupt nicht unter Kontrolle hat. Indes sind es die Menschen (Kapitän Adams & Crew) und Robby the Robot, die mit Witz und Verstand die Einheit von Wahnsinn und Vernunft wieder herstellen.
Politik – Reflexionen aus dem verrückten Leben
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Dieser Film ist auch deshalb interessant, weil er – neben „Blackboard Jungle“ – als erster kinografischer Einblick in eine neue Welt gesehen werden kann: Wir sind im Pop angelangt, der sich Mitte der fünfziger Jahre mit Rock ’n’ Roll und Soul, vor allem aber mit der Pop-Art begründenden Ausstellung „This is Tomorrow“ (1956 in London) etabliert. In gewisser Weise wird ab jetzt, zumindest ideell, der „lunatic fringe“ wieder in das gesellschaftliche Zentrum zurückgeholt, der Extremismus der Mitte setzt sich durch. In der perfektionierten Normwelt der Fünfziger und frühen Sechziger, die im Stromliniendesign ihren Ausdruck findet, sollen Emotionen nichts exklusives sein; die Welt wird sichtbar (Farbfilm, Kino, Fernsehen), die Welt wird hörbar (Plattenspieler, Radio, Musicbox) – aber sie wird auch ‹fühlbar›, sinnlicher, sinniger und eben ‹wahnsinniger›. Das heißt zum Beispiel: Die Ton- und Bildwelt ist jetzt voller Liebe; und wenn die Liebe scheitert, dann führt der Wahnsinn nicht wie dereinst bei Werther in den Tod oder bei Hölderlin in den Turm, sondern in die Charts. Vor Liebe verrückt zu sein, „Crazy for Love“ (Lionel Richie) und „Crazy in Love“ (Beyoncé) – das gehört zu den gängigsten Stereotypen des Pop-Hits. Anders gesagt: Nicht nur wird fortan der Wahnsinn konsumierbar, sondern die Konsumgesellschaft selbst funktioniert in ihrer psychologischen Rationalität als Zugeständnis an die Normalität des Wahns. Im Zeitalter des Pop kehrt nun der Wahnsinn als das wieder, was er ursprünglich einmal war: Ekstase, also ein Außer-sich-Sein, ein Aus-sich-Heraustreten, eine Selbst-verrückt-Werdung, die aber kein Wegtreten ist, sondern eben höchste Sensibilität, Wahnsinnlichkeit. Anders als in der fordistischen Arbeitsgesellschaft ist der Wahnsinn in der postfordistischen Konsumgesellschaft nicht Störung, sondern Bedingung: Gerade das, was den Wahnsinn dereinst als Geisteskrankheit definierte, nämlich ein „Exaltationszustand“ von „krankhaft gesteigerter Einbildungskraft“, gilt nunmehr als notwendige Phantasie, sich dem Spektakel der Normalität einzufügen. Im Geburtsjahr des Pop haben
legorisch rahmen: 1960 kommt Hitchcocks „Psycho“ in die Kinos, 1969 wird die erste Folge von „Monty Python’s Flying Circus“ im Fernsehen ausgestrahlt. Dazwischen versuchten tausende von zumeist jugendlichen Wahnsinnigen die Welt ein wenig zum Guten zu verrücken. Konterkariert wird diese verrückte Geschichte durch den Wahnsinn selbst, Stichwort Vietnamkrieg. Als ‹kulturelle› Strategie wird der Wahnsinn in seinen harmlos konsumierbaren Varianten allerdings zum Leitmotiv des gesellschaftlichen Mainstreams in den Siebzigern: In der Wohlstandsgesellschaft, deren Krise sich bereits abzeichnet, wollen alle ein wenig verrückt sein. Waren die Sechziger noch weitgehend grau, sind die Siebziger bunt, das erste Jahrzehnt, in dem dann vollständig in Farbe gesendet wird. Auch hier wird das Extreme wieder ins Zentrum geholt. Und genau im Zentrum wird allerdings die Wirklichkeit wieder verrückt und verrückt gemacht: Disco & Punk steigern den Wahnsinn auf Fieber-Temperatur. Entscheidend an Disco & Punk ist die Gewissheit, dass der wirkliche Wahn-
„Der Mensch … – halbtolle Kreatur in verrückter Welt.“ Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung
Zum Beispiel 1983: Wolfgang Petry singt „Wahnsinn“, Rainald Goetz schreibt „Irre“. Petry ist 1951 geboren, Goetz drei Jahre später; Petry hat Fachabitur und eine FeinmechanikerLehre gemacht, Goetz hat Abitur, studierte Geschichte, Theaterwissenschaft und Medizin. Wolfgang Petry trägt Freundschaftsbänder („Hobby: Mit Fans sprechen, Schwimmen“), Rainald Goetz schneidet sich die Stirn auf (Promotion in Medizin über Hirnfunktionsstörungen). – Die Zukunft, die der Punk für beendet erklärt hatte, hat begonnen. Jeder ist jetzt auf sich selbst gestellt, die Gesellschaft im Individualismus zersplittert. Alles dreht durch: New Wave, die Mode ist schrill, das Make-Up bunt, die Jugend verkleidet sich, der Hedonismus nimmt unkontrollierbare Formen an, MTV, Yuppies, „Zelig“, Friedensbewegung und Public Enemy, Madonna bekennt ein „Material Girl“ zu sein, Lyotard kuratiert die Ausstellung „Les Immatériaux“: Ein Jahrzehnt im Rausch, ein Jahrzehnt der Ekstase. Die Welt ist jetzt völlig verrückt geworden, der Kapitalismus endgültig pop; mit den Neunzigern und dem Phyrrussieg des Kapitalismus wird der Wahnsinn schließlich global. „Wahnsinnig sein“ kann jetzt fast ein Schutz vor Ausgrenzung, Isolation, Abschiebung sein. Ohnehin werden die Wahnsinnigen nicht mehr zu Patienten, also zu „Geduldigen“ gemacht; jetzt werden sie ausgestellt, vorgeführt: Freakshow im Fernsehen. Auch dadurch normalisiert sich aber der Wahnsinn ein weiteres Mal. Schließlich verflüchtigt sich der Wahnsinn in der Beliebigkeit: Weil alles so wahnsinnig, irre und verrückt ist, hat man nun keine Begriffe mehr, mit denen die Normalität als Wahnsinn erklärt werden kann. Stattdessen kippt die Erklärung selbst in den Wahn um. So offenbart sich am Ende der verrückten Geschichte unseres Zeitalters schließlich genau das Gegenteil von Foucaults These: Dass nicht die Gesellschaft den Wahnsinn hervorbringt, sondern umgekehrt der Wahnsinn die Gesellschaft.
Herbert Marcuse (in „Triebstruktur und Gesellschaft“, 1955) und Erich Fromm („Wege aus der kranken Gesellschaft“, 1955) kritisch analysiert, inwieweit wir es mit einer „Pathologie der Normalität“ zu tun haben. Pop erklärt den Wahnsinn zum Lebensstil; doch es bleibt dies ein Lebensstil, dem nur als bloße Ideologie die Anpassung an die bestehende Ordnung gelingt. Der wirklich gelebte ‹crazy lifestyle› lässt sich mit der nivellierten Normalität eben doch nicht vereinbaren: Vorbehalten bleibt deshalb eine wenigstens teilweise Einlösung dieses hoch-emotional geladenen Glücksversprechens allein der Jugend. Sie wird nicht nur zum Testobjekt um auszuprobieren, wie viel Wahnsinn notwendig ist, um die Normalität auszuhalten, sondern auch zum Testsubjekt, das seine Ich-Schwäche solange mit allerhand Verrücktheiten kaschiert, bis ein kontrolliertes, normales Exemplar herauskommt, das am anderen Ende der Konsumgesellschaft, nämlich in die Produktion problemlos eingespannt werden kann. Dass dies jedoch ein fragiles System ist, zeichnete sich schon in den sechziger Jahren drastisch ab. Die „crazy days“ der wilden Sechziger lassen sich einmal mehr mit Filmen al-
„Macht verrückt, was euch verrückt macht.“ Blumfeld, Eine eigene Geschichte (L’État et Moi, 1994) sinn ‹da draußen› ist. Doch auch dies findet schnell seine Rückkopplung mit den sozialen Verhältnissen: Die kulturelle Ideologie, dass alles ein bisschen verrückt ist, wird schließlich in den achtziger Jahren postmodern überformt. Wahnsinn wird gleichsam zur postmodernen Allegorie schlechthin, das plurale Universalsymbol für alles.
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Politik – Plötzlich neue Positionen
Foto — Hrvoje Goluza
Politik – Plötzlich neue Positionen
PLÖTZLICH NEUE POSITIONEN Ein Gespräch mit Schorsch Kamerun, Sänger der „Goldenen Zitronen“, über Wahnsinn und Kunst, den Stillstand und das Rasen und das Aufscheinen neuer Positionen, wie es sich auch auf der im Oktober erscheinenden Platte „Die Entstehung der Nacht“ finden lässt. Interview — LASSE KOCH, NIKLAS DOMMASCHK, Fotos — PRIVAT, HRVOJE GOLUZA Nach einem Konzert der „Goldenen Zitronen“ gegen die kommerzielle Umstrukturierung des Hamburger Stadtteils St. Pauli, unweit der ehemals besetzten Häuser der Hafenstrasse – und nach einer dementsprechend konsequent harten Nacht, kommt der Sänger der Band zum Frühstück reingeschneit. Ein Gespräch, das nicht zuletzt aufgrund seiner Begleitumstände den Beteiligten alles abverlangt. Vor ein paar Jahren seid ihr mit dem schizophrenen Musiker Wesley Willis erst durch Europa, dann durch die USA getourt. Ich könnte mir vorstellen, Wesleys Touralltag entsprach nicht unbedingt dem einer Punkband … Wenn wir Konzerte spielen, dann wissen wir, man kriegt schon irgendwie was in den Magen, man kommt schon irgendwie an und gemeinsam werden wir schon wieder in diesen Bus steigen, danach. Wesley musste auch auf Tour strikt nach einem Plan leben, hat diese starken Medikamente nehmen müssen und es gab einen präzisen Ablauf. Das ist für ihn zum Teil schwierig gewesen, er hat in den Staaten ja immer einen Begleiter gehabt, der auch Fahrer war und Betreuer, irgendwie die Anlage und auch das Geld gemacht hat. Den „Cash“ musste der immer ganz genau vorzählen und jeden
Schein einzeln hinlegen: „Wesley, you are a rich man“. Und dann wurde das klar, und Wesley sagte: „Yes. I’m a rich man.“ Aber das war nicht so ironisch, wie wir es vielleicht machen würden, sondern „serious“, wie der Profi sagen würde. Das ist wichtig, dass die Kohle da ist, man das Dasein damit sichern kann. Bei allem, was man daran merkwürdig oder komisch oder künstlerisch findet, ging es dabei um etwas Existentielleres als bei uns. Hattet ihr ein bestimmtes Interesse an Wesleys Kunst? Ja klar haben wir uns damit beschäftigt. Das ist schon aufregend, also wie das so greift, dass er als Schwarzer seine Konzerte fast ausschließlich für Weiße gegeben hat, also die viel zitierte „White Trash-Generation“, eine jüngere meistens, die sich da dann etwas abholt, was sie anscheinend vermisst. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich das nicht völlig zu Ende verstanden habe. Meistens geht man doch zu was, wo man selber Teil von ist. Hier schien das erstmal umgekehrt. „Golden Lemons“ heißt der Film, der die US-Tour der „Goldenen Zitronen“ mit Wesley Willis dokumentiert. Ihr habt diesen Film stark kritisiert, unter anderem, weil er gezielt „volle Konzertsäle, differenzierte Diskussionen und rauschende Partys“ ausspare, um im Sinne eines „filmschulischen Spannungsbogens“ alles einer „bleiernen Tristesse“ unterwerfen zu können. Die Auftritte von Wesley werden im Film wiedergegeben als Freakshow, eine voyeuristische Meute, die sich am Verhalten des „Irren“ da auf der Bühne …, naja, belustigt. Dieses Bild greift wesentlich zu kurz. Da war eine echte Liebe zwischen dem Publikum und Wesley. Ein warmes Showspiel, ein merkwürdiger Rollentanz. Das Publikum respektiert, dass Wesley eine ganz andere Herkunft hat als es selbst. Man will etwas von Wesley und der gibt das einem auch, und wenn er schlecht drauf ist, dann eben nicht. Im Ring war Wesley der Chef. Es wäre zu einfach zu sagen, da gibt’s diesen „durchgeknallten“ schwarzen Sänger, der diese simplen, immer sehr ähnlichen Songs hat, mit diesen vorprogrammierten Preset-Sounds auf seinem Keyboard. Interessanterweise holt er da mehr Unterschiedliches raus, als man aus dem Gerät eigentlich rausholen kann. Ein wirkliches Umdeutungswunder. Für uns war es trotzdem befremdlich, dass es erstmal so wirkt, also, dass da jemand „Rock’n Roll Mac Donalds“ singt, in diesen einfachen, immer in sehr direkte Signale übersetzten Bildern, über vermeintlich oberflächliche Verkümmerungs-Kultur und über die Schwierigkeiten in dem Spätkapitalismus, der so end-degeneriert erscheint. Das hat Wesley ja total auf den Punkt gebracht mit seiner gesamten Vorführung. Ist es vielleicht dieses Direkte, Unvermittelte in Wesleys Kunst, was die Leute interessiert? Ja, es muss so sein. Sein Auftreten kann als ein Spiegel des Verletzten gesehen werden und die Leute denken: Wir sind hier in diesen Suburbs und finden das auch falsch im Falschen. Da braucht man Adorno überhaupt nicht mehr heranzitieren. Und dann kommt da einer wie Wesley und sagt einem das auch noch. Mit einer entwaffneten Naivität. Trotzdem ist da dann auch eine Art überhöhter Unterhaltung drin, „I’m a rock star“. Das wiederum wirkt dann wie Persiflage … Erst mal ja. Aber, wie er es gelebt hat, ist es eben nicht reine Persiflage. „I’m a rock star“ und ich trete heute auf und das ist auch für’s Geld und sonst komme ich auch nicht weiter mit dem, was ich bin. Trotz dieser Irre, in der Wesley gelebt
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Politik – Plötzlich neue Positionen
hat, hatte er sich ein paar Verhaltensweisen zugelegt, die ganz auf dem Boden, völlig unwahnsinnig sind. Weil es eben nötig ist. Da gibt es Bedürfnisse, die völlig unabstrakt sind. Er stellt also ganz direkt und unvermittelt bestimmte Mechanismen aus, andererseits scheint in seiner Kunst ja aber auch etwas zu stecken, das sich überhaupt nicht einordnen lässt. Man kommt vielleicht dahinter, was da auf diesen Konzerten bedient wurde. Was ich nicht so ganz begreife, ist, warum das gerade dort passiert ist. Man hätte sich dieses Erlebnis ja auch woanders abholen können. Also dieses Geben und Nehmen ist in diesem Fall ganz schön absurd, weil es so denkbar weit voneinander entfernt ist. Das ist ja fast tragisch, dass da zwei Positionen aufeinandertreffen, die beide „erledigt“ sind, wenn du so willst. Das Publikum, das von sich weiß, wir sind hier mit all unserem Schrott und was der Typ da gerade gesagt hat, was hier so Schrott ist an uns, stimmt leider auch noch. Da gibt es gar keine Dialektik mehr und merkwürdigerweise gar nichts mehr, was daran noch zu verbessern wäre. Es ist einfach an einem Ende angekommen und wir stecken mitten in dieser Soße. Wenn da jetzt „Kid Rock“ auf der Bühne stehen würde und so eine ironische Pseudo-Rock’n Roll Show machen würde, dann wäre das noch ein gängiges Abbild. Der sich als ach so durchgeknallt produzierende Künstler gehört ja zu dieser ganzen kulturindustriellen Suppe, zur Gesellschaft, unbedingt dazu. Eben, das sind wir sowieso selber schon. Mit SpringbreakParties etc., das ist dann wirklich so ein Publikum. Aber Wesley Willis ist das nicht, weil er macht keinen einfachen, nur
„Ich glaube nur an den gemeinsamen Moment und an die gemeinsame Formulierung, an den kollektiven Gedanken, an die Utopie.“
ironischen Trash. Die Songs sind das nur scheinbar, aber er selbst handelt gegenteilig, also auch von unserem Dasein. Anscheinend erkennt das Publikum, dass dieser beleibte, schwarze, „durchgeknallte“ Mann da mit seinen simplen Songs genau das ist, was wir nicht sind, obwohl die Situation das herbeischreit. Und die Liebe, die dieser Typ ausstrahlt, die haben wir ganz schön nötig. Es ist einfach archaisch, gänzlich unintellektuell in dem Moment, es ist wie ein Phantomschmerz, eine gemeinsames Restempfinden, das wir noch haben. Eigentlich ist es eine kryptische Sehnsucht nach blankem Humanismus. Das scheint der Korken zu sein, der da im Meer erkennbar ist, in dem ganzen Plastikmüllmeer sozusagen. Auch so ein ganz grundlegender Wunsch: in diesem Müllmeer endlich etwas zu finden. Fragt sich nur, was das bringt. Der Zynismus ist schon überreizt. Ich habe das Gefühl, dass man hier vordergründig ein ultrazynisches Bild hat, das sich letztlich herausstellt als die Windstille mitten im Sturm. Man guckt sich das grelle Konzert an und will doch nichts anderes als haltbare Freundschaft. Aber man muss eben nicht wirklich Freundschaften eingehen, das macht es wieder so angenehm ungefährlich. Das ist wie einem Fetisch zujubeln, der einen nicht berühren kann. Man muss nicht sagen: was für eine Scheißwelt und das ist ja eigentlich ein totaler Scheißevent hier. Das macht es so unbegreifbar. Wenn es so deutlich ist, was für ein Quatsch das alles ist, warum handelt man dann nicht? Man geht nach Hause und macht einfach so weiter. Das ist dieses Weitermachen-Ding, das ich bei Rolf Dieter Brinkmann, wenn auch ganz anders in der Form, so toll beschrieben finde. Das eigene Empfinden der Feindseligkeit der äußeren Umgebung, des „Schreckens des Normalen“ und das gleichzeitige Wissen, dass die Worte das nicht wirklich fassen können. Alles, was ich jetzt aufschreibe, ist in diesem Gedicht schon wieder ad absurdum geführt worden, weil die Sprache auch nicht reicht. Du sprichst Rolf Dieter Brinkmann an. Wenn man sich eure neue Platte „Die Entstehung der Nacht“ anhört, hat man das Gefühl, dass da ordentlich Brinkmann drinsteckt. Die verhandelten Motive, die Perspektiven des Erzählers, das Collagenhafte der Texte. Auf der Platte gibt es dieses Stück „Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter“. Das ist ja so eine Collage. Man rennt durch diese Wirklichkeit und muss anhalten und empfindet irgendetwas Globales, dann rückt man aber doch wieder das Private in den Vordergrund, das aber genauso schrecklich beängstigend sein kann und das muss man dann auch genau so zugeben. Das ist vielleicht eine Fortführung der Collagenhaftigkeit, die Brinkmann auch hat, wenn er durch die Straße geht und ein Aufnahmegerät hat und sich als Freak vorkommt, aber natürlich weiß: Ej Mann, ihr seid die Freaks! Sonst würdet ihr mich nicht so behandeln. Genau diese Umkehrung steckt ja auch in euren Liedern. Der Film „Bierkampf“ von Herbert Achternbusch hat ja auch diese tolle Umkehrung. Achternbusch läuft in „Bierkampf“ wie irre über das Münchner Oktoberfest der 70er Jahre, umarmt und betatscht die Leute, klaut ihnen ihr Essen und ihr Bier, spuckt es wieder aus. Irgendwann knallen die dann durch, schlagen auf Achternbusch ein. Der Mob will den Freak auslöschen. Aber das ganze Fest ist das größte Freakfest der Welt. Es ist grandios, wie Achternbusch das herausprovoziert.
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„Eigentlich ist es eine kryptische Sehnsucht nach blankem Humanismus. Das scheint der Korken zu sein, der da im Meer erkennbar ist, in dem ganzen Plastikmüllmeer sozusagen.“ Man hat das Gefühl, dass die Personen, die in euren Liedern beschrieben werden, ich weiß jetzt nicht, ob ich das richtig interpretiere … Keine Ahnung, ich weiß es auch nicht. … man hat das Gefühl, als wären sie aufgrund des sie umgebenden Wahnsinns selbst kurz davor, irre zu werden. Das ist das Empfinden, da ist man ja wieder bei Brinkmann. Ich kann allerdings schwer von mir behaupten, dass ich an einem ähnlichen Punkt bin. Also ja, ich finde es schwer zu ertragen. Aber da bin ich ja nicht alleine. Das gibt es ja aus den unterschiedlichsten Erwäggründen. Der eine hält es nicht aus, weil er keinen Job hat, der andere, weil er alles hat und trotzdem irgendwie nicht klarkommt und sich darüber auch noch wundert. Ich lese gerade von Oskar Maria Graf „Wir sind Gefangene“. Da geht es ja auch zum Teil wirklich ums Überleben und diese Problematik hatte ich nie konkret. Also, wir haben da auch Monate von Haferflocken und Marmelade gelebt, da am Fischmarkt in Hamburg, aber ich würde mal sagen, wenn ich Omi angerufen hätte, dann hätte Omi wahrscheinlich auch noch einen Korb geschickt. Diese Körbe sind bei Oskar Maria Graf auch geschickt worden, irgendwann dann aber nicht mehr. Und es war klar, dass die irgendwann nicht mehr geschickt werden. Das ist einfach ein völliger und totaler Unterschied. Das Existentielle ist ja bei uns verschoben, das Feindbild ist einfach weiter weggerückt und deswegen ist es vielleicht nicht ganz so greifbar, wenn wir diese Themen in unseren Songs beschreiben. Das wäre zu einfach zu sagen: Scheißgesellschaft, Scheißkapitalismus, ihr bringt mich dazu, dass ich nichts zu fressen habe. Stimmt ja nicht. Ihr bringt mich aber trotzdem dazu, dass ich irgendwie verarme, dass ich leide und die Ängste sich auch noch steigern. Das zu beschreiben ist natürlich wesentlich komplexer und komplizierter als zu sagen, dass Omi jetzt echt keinen Brotkorb mehr geschickt hat. In „Wir sind Gefangene“ beschreibt Oskar Maria Graf herrlich unprätentiös seine erste Kontaktaufnahme mit den in der Illegalität werkelnden Münchner Revolutionären. Als sehr junger Mann, das muss so wenige Jahre vorm Ersten Weltkrieg gewesen sein, fragt er einen Polizisten auf der Straße nach dem Tagungsort der Anarchisten. Die Geschichte zeigt ja: so komisch der Weg Einzelner zu ihr war, da gab es eine Utopie. Naja, ok. Aber das hat ja auch in unserer Geschichte eine Rolle gespielt. Die Utopie haben wir schon gelebt, das war ja noch der glückliche Moment, den man eben heute kaum noch kriegt. Also das aus seinem Kaff da ausbrechen, mit einem klaren Wunsch und einer deutlichen Vorstellung: Leute, das ist wirklich falsch und da ist eine inakzeptable Autorität und die breche ich auch. Das halte ich nicht aus und ich werde da mit vollem Risiko rausgehen und auch versuchen,
da ist man dann beim Begriff „Alternativ“, mit Gleichgesinnten zu einer Struktur zu kommen, die eben eine Gegenkultur behauptet. Den Begriff Revolution braucht man gegenwärtig wirklich nicht mehr zu benutzen, das ist albern, aber Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hat man den diskutiert. Heute, auf einer Scherbendemo, deren Protest ja legitim sein kann, haben die, die da mitmachen, noch etwas weniger das Gefühl, dass uns das einen entscheidenden Schritt weiter bringt in Richtung einer besseren Welt. Ohne die Möglichkeit, sich in einer Gegenkultur zu positionieren – führt das nicht dazu, dass man als Teil des ganzen Wahnsinns diesen nur noch von innen heraus beschreiben kann? Ist es nicht so, dass sich alles durchgeknallt gibt, aber trotzdem kalt weitermacht? Mein Empfinden ist eher, dass man die Neurose sogar schon ein bisschen hinter sich hat, also dass man jetzt am Anfang von dieser Wesley Willis Geschichte steht, dass man irgendwie das Bild hat: Ok, was für ein falscher Abend, mit diesem Sänger mit diesem Publikum, und trotzdem haben wir es verstanden und es gibt auch gar keinen anderen Ausweg. Aber daran ist gar nichts mehr irre, das bildet den Irren komplett ab, deutlicher geht’s gar nicht, aber wir machen das mit einem Verständnis, das zu unserer gängigen Realität gehört. Trotzdem singt ihr auf eurer neuen Platte von neuen Positionen, neuem Anspruch. Ist das dann Ironie oder Wunsch? Der Wunsch ist absolut da und ich glaube an nichts anderes. Ich glaube nur an den gemeinsamen Moment und an die gemeinsame Formulierung, an den kollektiven Gedanken, an die Utopie. Ich habe auch nichts anderes parat. Und ich muss das dennoch ständig in Frage stellen, wenn ich die Realitäten betrachte, aber das macht ja auch nichts. Trotzdem darf man ja, ohne zynisch zu sein, sagen: hier, plötzlich neue Positionen. Als formulierter Wunsch. Und auf einmal ist es Wahrheit. Momentan scheint alles in so einer Art Windstille stattzufinden. Dass das so rast – und es gab noch nie ein größeres Rasen – und trotzdem halten wir irgendwie inne und verstehen eigentlich ganz gut in dem Tumult. Merkwürdigerweise kann man sich das trotzdem ganz gemütlich angucken. Und wenn man was dagegen macht, dann muss man sich dem Rasen gar nicht so anpassen, um selber schneller zu werden. Die Reflektion der Revolution ist ja eigentlich, dem Rasen etwas entgegen zu setzen, das es dann erschlägt. Der physische Kampf würde momentan dabei kaum lohnen, aber im Hintergrund sollte er immer seine Übungen machen, um sich, wenn nötig, ordentlich aufzuführen. Die Goldenen Zitronen „Die Entstehung der Nacht“ erscheint am 16.10.2009.
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Politik – Kartographie der Macht
die erde die in ALLES zerfällt (weil die wissenschaft sie anschaut) — Dieter Roth
Politik – Kartographie der Macht
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KARTOGRAPHIE DER MACHT Karten, nichts als Karten. Auf über 200 Seiten gibt es im neuen „Atlas der Globalisierung“, herausgegeben von der Zeitschrift „Le Monde Diplomatique“, wieder Graphiken und Schaubilder zu bewundern. Sei es der „Düngereinsatz pro Hektar“ oder die „Wertschöpfung pro Arbeitskraft“ – fast alle erdenklichen Aspekte der Globalisierung erscheinen dort hübsch aufbereitet, kreisförmig, tabellarisch oder linear. Text — ANTON LANDGRAF, Foto — MARKUS BACHMANN Die graphische Darstellung komplexer wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge ist sicherlich einer der Gründe für den großen Erfolg des Atlas, der 2003 zum ersten Mal erschienen ist. Nicht zufällig fällt die erste Veröffentlichung in eine Zeit, in der sich auch die globalisierungskritische Bewegung Attac besonders großen Zuspruchs erfreute. Für sie lieferte der Atlas wichtige Argumente. Dabei ist die Idee nicht gerade neu. Bereits seit Jahrzehnten gibt es Versuche, eine Art alternativer Kartographie zu etablieren. Zu den Pionieren gehört der britische Kartograph und Trotzkist Michael Kidron, der in den 1980er Jahren mehrere Atlanten über Rüstung, Hunger und internationale Wirtschaftsbeziehungen veröffentlicht hat. In dieser Zeit etablierte sich in den USA auch die kritische Geographie, deren theoretische Grundannahmen stark auf postkolonialen und marxistischen Theorien beruhten. Karten, die nicht nur Fakten darstellen, sondern die zugrunde liegende Machtstrukturen offen legen – mit dem Ziel, sie dadurch verändern zu können. Dieser Kartographie der Macht hat sich auch der „Atlas der Globalisierung“ verschrieben. Karten allein liefern jedoch noch keine ausreichende Orientierung, deshalb gibt es zu jedem Thema auch jeweils eine zweiseitige Analyse. War es in den früheren Ausgaben noch relativ einfach, den Überblick zu behalten, so hat sich das Bild in den vergangenen sechs Jahren rapide gewandelt. Lag bislang der Focus auf den USA, deren wirtschaftliches und militärisches Engagement eine (negative) Orientierung bot, skizziert der Atlas 2009 Machtstrukturen, die sich spätestens seit dem Ende der BushRegierung abzeichnen. So wird der Aufstieg Asiens thematisiert, der relative Erfolg der BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China) und der „next eleven“ – Nationen wie Mexiko, Südkorea oder die Türkei, die wegen ihrer hohen Zuwachsraten in absehbarer Zeit die alten G8-Staaten überholen könnten. Wegen der Finanzkrise und den katastrophalen Kriegen im Irak und Afghanistan wird zwar mehrfach über das „womöglich letzte Kapitel in der Geschichte des Imperium Americanum“ spekuliert. Ob die viel beschworene „multipolare Weltordnung“ unbedingt eine hoffnungsvollere Perspektive bietet, scheint indes zweifelhaft. Die interessanten Ausführungen über den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens lassen schließlich den Schluss zu, dass durchaus Alternativen zum neoliberalen US-Model existieren. Eine autoritäre Politik lässt sich erfolgreich mit Massenkonsum und einer gewissen kulturellen Freizügigkeit kombinieren: Der Kapitalismus funktioniert auch ganz gut ohne bürgerliche Rechte. Die Schwäche des „Atlas“ findet sich dort, wo er vor allem ideologische Bedürfnisse bedient. Manche Passagen erwecken den Eindruck, als seien sie aus Flugblättern des Lutte Ouvrière abgeschrieben, einer derzeit erfolgreichen trotzkistischen Partei in Frankreich. Sätze wie „Der Fordismus (…) fand die Zustimmung der Kapitalisten, solange die Profitraten hoch waren“ demonstrieren eine eher schlichte Gesellschaftsanalyse, die an das Klischee dickbäuchiger Fabrikbesitzer mit Zylinder erinnert. Analysen wie „Der Druck auf Werktätige und Manager stieg, um die Rentabilität (…) für die gesichtslosen Aktionäre zu steigern“ sind unfreiwillig komisch —
als gebe es die grauen Herren von der Zeitsparbank aus Michael Endes Märchen „Momo“ tatsächlich. Andere Thesen sind wiederum im besten Fall naiv. So wird beispielsweise behauptet, dass „Nordkorea nur deswegen die Atombombe will, um sie gegen Lebensmittel für seine eigene Bevölkerung eintauschen zu können“ – als wenn sich Diktator Kim Jong-Il um nichts anderes sorgen würde als um eine ausgewogene Ernährung seiner Untertanen. Der Wirklichkeit näher kommt die gegenteilige Aussage: Die nordkoreanische Bevölkerung hungert, weil ihre Generäle unbedingt die Bombe bauen wollen. Bei aller Liebe zum Detail kommen immer wieder Ungenauigkeiten vor – etwa, wenn Somalia wiederholt als Prototyp eines „gescheiterten Staates“ bezeichnet wird. Tatsächlich sind in weiten Teilen des Landes die zentralstaatliche Autorität und die Infrastruktur zerfallen. Doch in den Provinzen Somaliland und Puntland ist die Situation relativ stabil und friedlich. Dort setzen sich lokale und dörfliche Gemeinschaften verhältnismäßig erfolgreich für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ein. Dies wird mit keinem Wort erwähnt – vielleicht, weil es einfach nicht ins Konzept des Artikels passt. Dabei gibt es gerade zu Afrika ansonsten interessante und spannende Texte. In deutschsprachigen Medien erscheint der Kontinent, wenn überhaupt, meistens in Form von Katastrophenmeldungen. Dass die Entwicklung dort sehr dynamisch verläuft, dass sich im Sudan und Nigeria neue Machtzentren etablieren und China immer mehr an Einfluss gewinnt, darüber kann man im Atlas viel erfahren. Trotz einiger ärgerlicher Fehler und manchen merkwürdigen Interpretationen liefert der Band dennoch einen interessanten Überblick zu den wichtigsten sozialen, ökologischen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre. Seine Stärke liegt darin, dass er zumindest versucht, die verschiedenen Aspekte der Globalisierung – ökonomisch, medial und technologisch – aufzuzeigen und miteinander in Beziehung zu setzen. Daraus resultiert ein oft widersprüchliches Bild der Globalisierung – und ein Bild, das vor allem die Sicht linker französischer Intellektueller aus dem Umfeld von Attac widerspiegelt. Der „Atlas der Globalisierung“ erscheint am 13.10.2009.
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Musik – Wie das Fleisch durch den Wolf
Musik – Wie das Fleisch durch den Wolf
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8*& %"4 '-&*4$) %63$) %&/ 80-' „Ich könnte jetzt auch in die nächste Galerie gehen, dort die deutsche Nationalhymne furzen und das als Kunst verkaufen. Vielleicht sagt dann irgendjemand sogar: Wow, damit kommst du ins Guinness-Buch der Rekorde, das hat ja noch niemand geschafft! Dann setze ich einen drauf und kacke dort noch mal rein. Was auch immer so eine Aktion ist – ich brauche diesen Begriff nicht mehr.“ Schwer zu überhören, hier geht es um Kunst – und das, was sie so anders macht, wenn man ihr um ihrer selbst willen folgt. Ein Gespräch mit Thomas Mahmoud und Gerald Mandl über mehr. Text — BJÖRN BAUERMEISTER, Bilder — JOACHIM ZIMMERMANN, Illustration — LARS HERZOG
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Musik – Wie das Fleisch durch den Wolf
In Berlin, am Schlesischen Tor und gegenüber vom zur Touristenattraktion mutierten „Burgermeister“ unter den SBahn-Schienen, warten Mahmoud und Mandl in einer provinziell miefigen Eckkneipe. Sie sind pünktlich – also doch keine Verhuschten? Das wäre fast verwunderlich, machen diese beiden Typen doch eine konsensunfähige Form von Musik, beleben sie doch eine Art von penetranten Sounds, die in ihren Endprodukten Titel wie „Urschleim“, „Endfilm“ oder „Freischwimmer“ bekommen. Mit bewegten und durchweg verstörenden Bildern werden diese minutenlangen Exposés komplettiert und dann 101 mal auf DVD gepresst, individuell gestaltet und auf dem eigenen Weg handverlesen verteilt. Klingt schon schwer nach Kunst und der Vermeidung jeglichen kommerziellen Erfolges. Mitnichten, denn diese Herrschaften ärgern sich, wenn ihnen dieser begriffliche Sack über den Kopf gezogen wird und freuen sich, wenn sie mit dem, was sie anrichten, Geld verdienen. Normalos also, wenn auch nur fast. Denn ihr grundlegender Ansatzpunkt liegt woanders begraben, Nähe Hund sozusagen. „Es wäre doch purer Wahnsinn“, so wienert Mandl, „nur etwas nicht zu machen, weil es sich ökonomisch nicht rentiert. Es geht uns um kreativen Output, um Entfaltung und nicht zuletzt den Spaß an der Sache.“ Mit Verlaub: Tannhäuser Sterben & das Tod, so der übergreifende Name des besagten Ansatzes, kann sicher alles, nur nicht eines: mit Spaß in Verbindung gebracht werden. Zumindest für den Hörenden, der weder irgendetwas im Tanzbein spüren, noch gute Laune bekommen dürfte, wenn der erwähnte „Urschleim“ aus den morsch-morbiden Tannhäuser-Boxen sifft. Allen Ernstes: Wie kommt man auf solch einen Trichter? Was spielt sich ab, in den Köpfen von Menschen, die in dieser Welt auf diese Art und Weise Töne von sich geben? „Jeder von uns hatte Bilder im Kopf, mehr nicht“, erklärt Thomas Mahmoud. Genau er, der sich in der Vergangenheit eigenmächtig und in voller existentieller Konsequenz mit The Oliver Twist (Kooperation), Aggro Cologne, Ives#1, Von Spar und diversen anderen Kultur schaffenden Austausch- und Spartenarbeiten auf dem harten Boden der hiesigen Musik- und Soundlandschaft wälzte. Neben ihm der Andere, das zweite Gesicht namens Gerald, dem eher gemütlichen und besonnenen Sounddesigner und gleichzeitig besseren Hälfte der Mediengruppe Telekommander. Beide haben ihren Nenner in einem Raum gefunden, in dem sie sich gegen die Stagnation bewegen können. Dem Raum, den sie mit jedem weiteren Mal von Grund auf für sich gestalten, indem sie Fassaden einschlagen, Wände einreißen und selbst an jedem kleinsten Stützpfeiler noch nagen und sägen. Tannhäuser ist eine vermeintliche Figur, die entstand, als Mahmoud und Mandl ohne Hintergedanken an Musik herantraten und etwas außerhalb von ihr suchten: Formen des Unförmigen. Etwas, das nur wenige da draußen Musik nennen würden, weil sie aus jenem Muster, wie man sie hört, entwachsen ist. Sie ist eben mehr. Sie ist als ein assoziatives Mosaik, als Loop-Stückwerk und Lärm-Raumgestaltung zu verstehen. Tannhäuser kitzeln alles aus den Klangkörpern heraus. Sie dekonstruieren Musik, fleddern sie auseinander und lassen sie zerhackstückelt liegen. Dadurch wird ein riesiger Raum neu hergerichtet. Er liegt brach vor ihnen und kann neu bestückt werden. Mit anderen Klängen, ungleichen Momenten, heftigen Phasen, eigenen Sounds und kranken Bildern. All das wird mit Pedalen getreten, aus dem fiebrigen Körper gestoßen und in den Raum geschickt, um in den nächsten zu gelangen. So entsteht gewollt Neues, selbst wenn es bei Tannhäuser im Grunde um Kreise und Wiederholungen in Echtzeit geht, um Manipulationen im Hier und Jetzt – diese Spontaneitäten des erlebten Moments. Mit der Respektlosigkeit als essentielle Grundlage für ihr kreatives Schaffen, mit der Struktur der Strukturlosigkeit
als Konzept, bringen sie mehr Farbe als Klang in ihr Spiel. Obwohl: „Mein Bild hatte eine sehr dunkle Grundästhetik“, erinnert sich Mandl an die Initialsession, kommt aber nicht lang zu Wort, weil Mahmoud sofort einsteigt. „Ein schwarzes Loch. Ich hatte einfach nur ein dickes, fettes schwarzes Loch vor Augen, verdammte Scheiße!" Thomas lacht los und meint es trotzdem ernst: „Dann guck’ ich da rein in dieses Loch und denke nur: Was soll ich dazu sagen!? Gerald, spiel doch noch mal nen Mollton! Aber was soll ich dazu denn dann eigentlich noch singen? Wen interessiert es denn, in wen ich verliebt oder auch nicht verliebt bin? Wen interessieren schon meine Befindlichkeiten? Was soll ich Politisches von mir geben, das nicht schon mehrfach gesagt wurde? Deshalb habe ich mir gedacht, ich singe einfach irgendeinen Quatsch.“ Punkt. „Irgendein Quatsch, den nur der kranke Kopf versteht, der auf meinem Körper herumbaumelt.“ Der ergibt den Sinn. Vier Tage und Nächte haben Mahmoud und Mandl sich in diesem Sinne weggesperrt und gehen lassen. Sie haben dem logischen Taktverständnis abgeschworen, wollten dem Arhythmischem eine Chance geben und im Hier und Jetzt Sound als Momente einfangen. Der Gesang dient als weitere Klang- und Beatquelle. In einer Chopin’schen freirhythmischen Vokalornamentmelodik entwickeln sich Stimmlaute zu einem Organ, einem klingenden Körperteil, der durch Effektgeräte gescheucht wird wie das Fleisch durch den Wolf. „So sind da Momente entstanden“, erzählt Gerald, „die einzigartig sind. Weil es irgendwann ein rauschhafter Zustand ist, in dem du kreist. Irgendwann bist du total durch und erschaffst Momente, die du so niemals wieder erzeugen kannst. An diesen Punkten verliert man sich in der Musik,
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Räumen treffen, um weitere zu öffnen. So haben Tannhäuser nicht nur mit ihren Tonträgern und Liveauftritten unterschiedliche und eigene Räumlichkeiten geschaffen, sondern auch auf einer anderen Ebene diese Freiheit gesetzt: Edition Mutation, ihr eigenes Label und ihre autarke Plattform, auf der sie etwas so ausstellen und herausbringen können, wie sie es wollen. Oder auch ihr Mutations-Klub, eine in regelmäßig unregelmäßigen Abständen an verschiedenen Orten zu differierenden Themen initiierten Eventreihe ohne ökonomischen Rahmen, sondern nur mit der Last des großen Freiraums über den Köpfen. Also doch ein Kollektiv elitärer Künstler, die sich gegenseitig aufgrund der Zusammenkunft mehr inhaltliche Dichte und Schwere ihres eigenen Schaffens in die Tasche lügen? „Künstler ist ein prätentiöser und überheblicher Begriff“ für Thomas. „Es sind Menschen, die wir verbinden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es gibt keinen Überbau, denn das würde nur Probleme der Selbstwahrnehmung mit sich bringen. Ich kenne das. Da hast du als Band im Studio deine 3:30 konstruiert. Dann gehst du 30 Tage auf Tour und auf der Bühne wird ein vermeintlicher Wahnsinn rekonstruiert. Uh, schau mal, jetzt wälze ich mich auf dem Boden! Und: Hoch, Mensch, jetzt dreh ich aber voll durch, bin voll freaky, ey! Damit der Betrachter auch ja denkt, dass hier Genie und Wahnsinn zusammenkommen. Das ist totaler Quatsch, echt jetzt! 30 Tage kann das keiner durchziehen; nur Ausnahmen, die eh schon pathologische Bilder des Wahnsinns haben. Wahninnig ist heute aber eigentlich doch der, der noch Musik oder welche Form von Kunstkram erschafft. Es ist ganz viel Arbeit und nichts kommt rum. Aber: Es macht absolut Sinn. Für mich, für den Moment – für uns, für diese Momente.“ Wie lange die Räume, in denen diese Momente sich ausleben, bestehen bleiben? „Keine Ahnung, aber wenigstens entsteht er, wenigstens gibt es ihn. Es ist doch auf dem Zeitschriftenmarkt ganz genauso. Wenn ihr euch nach fünf Ausgaben auf dem Markt nicht halten könnt, waren diese fünf Ausgaben trotzdem gut. Ich habe kein Problem in diesem Sinne zu scheitern.“
bekommt gleichzeitig aber auch einen Blick über das Ganze, worin man sich gerade befindet.“ Mehr Field als Form also. Kein Schema, keine Grenzen. Keine Strophe, kein Chorus und keine Bridge, die etwas verbinden könnte. Denn hinter jedem Raster wartet doch nur das Loch, in dem die Einmaligkeit verpufft und sich das Verlangen nach der Unmöglichkeit der Reproduktion in Luft auflöst. Diese Un-Reproduzierbarkeit ist aber keine Beschränkung, sondern Erweiterung und klar definierter Pluspunkt dieses Ganzen. „Klar, du bist abhängig und reglementiert von den Begebenheiten wie Raum, Anlage, Budget und so weiter. Wenn es nach mir ginge, könnte ich da mit einem kompletten Orchester, 25000 Plasma-Bildschirmen, Sensoren und einem Haufen Tänzerinnen auf die Bühne gehen. Studio und Bühne sind zwei unterschiedliche Orte und das muss man auch nutzen. Live darf nicht bloße Rekonstruktion sein. In der freien Improvisation beruht im Grunde alles auf einem Wahn, dem Sinn für das völlige Ausleben in Grenzenlosem.“ Und damit nennt Thomas einen essentiellen Aspekt im Ansatz und zum Verständnis dessen: Tannhäuser ist ein kollektiver Ansatz.1 In einer Gesellschaft kreativer Querköpfe wird gemeinsame Sache gemacht, formt sich aus der Offenheit ein fokussierter Ansatz im Austausch von Versatzstücken. Auf diesem Wege spielen Tannhäuser niemals ein kakophonisches Wunschkonzert! Weil Tannhäuser als Projekt bei all seiner Absurdität und Spartigkeit auch konkrete Arbeit bedeutet, die geplant, konstruiert und gesetzt wird. Technisch, strukturiert und gezielt wird mit den gesammelten Momentaufnahmen hantiert und distanziert das Beste aus den Momenten herausgearbeitet. Hat man dies, wird es zurückgestellt, zwischen die Menschen, die sich in neuen
Diese Musik mag pathologische Wurzeln haben. Sie mag von der Welt nicht als solche bezeichnet werden, sie mag unverstanden bleiben – aber das scheint ihrem Ansatz auch am nähsten zu kommen: „Ich mache Musik, bin aber kein Musiker“, sagt Thomas über sich selbst. „Eigentlich bin ich ein Mensch, der am liebsten irgendwo herumsitzt, Kaffee trinkt und Leute beobachtet. Eigentlich bin ich ein fieser Voyeur! Das ist inspirierend, aber auch lähmend zugleich. Denn das Leben ist so irrsinnig, dass es zwangsläufig den Wahnsinn impliziert." Aber Kunst als hohle Form ist kein Ausweg, wenn sie für sich alleine steht. Nur die Dekonstruktion, der Austausch und das Ausleben im Neuanfang, den es wieder gemeinsam zu demontieren gilt, kann weiterführen. Und so erschließen sich „Urschleim“ oder auch der "Freischwimmer" – vielleicht: Die Spinne schlüpft aus der Pfütze, taucht in eine Landschaft mit explodierenden Eiern ab und baut sich eine Stadt aus Streichhölzern auf. Dann tanzt sie auf dem Mond. Bis sie die heranwachsende Stadt wieder eigenmächtig der Pfütze gleich macht und in der Ursuppe verschwindet.
1 Tannhäuser ist mehr als das, was diese Herren alleine schaffen könnten. Als komplette Band spielen sie mit den beiden Schlagzeugern Chris Imler (Driver) und Sebastian Vogel (Kante) zusammen. Mahmoud und Mandl arbeiten eng mit Daniel Berwanger (Media Artist und Mitbegründer Mutationsklub und Editionmutation) zusammen, der das gesamte Graphik-Design und Artwork aller Veröffentlichungen (Plakate, Flyer, Tape, DVD) macht. Er hat u.a. die 100 DVDs entworfen und per Hand gefertigt. Live verwenden Tannhäuser einen von ihm entwickelten und auf sie maßgeschneiderten Max/
MSP Patch zur Steuerung der Visuals. http://editionmutation.de An der DVD haben folgende Filmemacher und Medienkünstler mitgearbeitet: Markus Wambsganss (Urschleim), Martin Sulzer (Endfilm), Ian Ritterskamp (Freischwimmer), Sébastien Wolf (Freischwim mer), Christian Heilig (Freischwimmer), Daniel Berwanger (Plätschern), Emmanuelle Wilhelm (Grafik-Design in Zusammenarbeit mit D.Berwanger) Eine Auswahl der teilnehmenden/auftretenden Künstler und Musiker beim Mutationsklub findet man hier: http://editionmutation.de/klub.html
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Musik –– Emo ist das neue Schwul
"It’s Gonna Rain" Steve Reich "Idiotenmusik" Felix Kubin
"Tiny Little Cloud" Holger Hiller
"Castle of Blood" Wm Berger
"Spectral Hand" John Wiese
"T h Mu e Te s De ic o ars er ho f Lo and f ve "
"Forbidden Zone / Hercules Family Theme" Mystic Knights of the Oingo Boingo
SUNNY GAY REAL ESTATE
"Look at You, You’re Ugly" Nora Keyes
E–NO!
"It's Easy-eeeee to be Full of Shit and Look Good in Black" Giraffes? Giraffes!
"Flip your Face" Contortions "Forty'd out and Felling Gay" Assfactor 4
"Do the Fleischwurst" S.Y.P.H. "Useless Child" Fat Worm of Error
"All Is Loneliness" Moondog
"Pink Flag" Wire "A Tell-Tale Penis" Joan of Arc "Murder the Sons of Bitches" Born Against
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Musik – Emo ist das neue Schwul
EMO IST DAS NEUE SCHWUL Der subkulturelle Kampf um das ‹richtige› Männerbild Text — MARTIN BÜSSER, Illustration — W//:THEM Im Stadtbild fallen sie kaum auf, sind meist nur in kleinen Grüppchen zusammengerottet – die Emos. Sie sind meist sehr jung, zwischen 13 und 15, brutal Pubertierende also. Und obwohl man Menschen in diesem Lebensabschnitt eigentlich so einige Peinlichkeiten verzeihen sollte, ist der Hass, der ihnen entgegenschlägt, enorm. Keine andere Jugendbewegung zuvor hat es geschafft, von so vielen unterschiedlichen Gruppierungen abgelehnt zu werden, von Eltern und Lehrerverbänden ebenso wie von Gleichaltrigen, ganz egal, ob diese sich als Hip-Hopper, Punks oder Skater verstehen oder überhaupt keiner speziellen Gruppe zugehörig fühlen. In Mexiko City wurden Emos bereits in spektakulären Straßenschlachten aus den Innenstädten vertrieben, in der russischen Duma diskutierte man im letzten Jahr einen Gesetzesentwurf, der vorsieht, den Emo-Style in Schulen und öffentlichen Gebäuden zu verbieten. Auffällig ist, dass diese Abneigung, die hierzulande vor allem in Internet-Foren die wildesten Blüten treibt (Stichwort: „Emo ist das neue Schwul“), fast ausschließlich den Jungs in dieser Szene gilt. Deren Androgynität ist zur Zielscheibe einer neuen, so innerhalb popkultureller Auseinandersetzungen nie gekannten Homophobie geworden, während den (zahlreich vorhandenen) Mädchen innerhalb der Emo-Szene kaum Beachtung geschenkt wird. Das muss nicht verwundern, denn Emo steht in einer langen Tradition homosozialer Subkulturen, die gerade aufgrund ihrer männerbündlerischen Strukturen ihre eigenen Schutzmechanismen ausgebildet haben, den Vorwurf der Homosexualität abzuwehren. Alleine, dass Emo diese Schutzmechanismen nicht mehr benötigt und genau dafür angefeindet wird. Man muss kein Emo-Fan sein, man muss sie nicht einmal verstehen, diese neue Jugendbewegung, die zwar in einem deutlich erkennbaren Modestil auftritt, sich aber an keinen klar umrissenen Musikstil rückbinden lässt. Doch selbst wenn man diesem Phänomen ratlos gegenübersteht, regt es doch an, darüber nachzudenken, wie es um das Verständnis von Männlichkeit in der Punk- und Indie-Welt bestellt ist.
Homosoziale Gemeinschaft Der neuseeländische Musikwissenschaftler Matthew Bannister hat in seinem Buch „White Boys, White Noise“ herausgearbeitet, dass die meisten Subkulturen homosozial geprägt sind. Bannister legt dabei seinen Schwerpunkt auf die Szenen, aus denen auch Emo im weitesten Sinne hervorgegangen ist, auf Punk, Hardcore, Indie und Grunge. Weiße, männliche Mittelschicht-Musik also. Homosozial be-
deutet, dass es sich um Gemeinschaften handelt, die fast ausschließlich aus Männern bestehen und in denen sich Männer sehr nahe kommen. Man denke zum Beispiel nur an gemeinsame Tourneen und das enge Zusammenleben im Tourbus. Dadurch entstehen andauernd homoerotisch aufgeladene Situationen. „Homosozialität bedeutet eine männlich definierte soziale Hierarchie“, so Bannister, „die darauf aufbaut, dass man jederzeit der Homosexualität bezichtigt werden kann“. Es ist ein wenig wie beim Fußball: Männerkörper reiben einander, prallen aufeinander, sie duschen gemeinsam, doch gerade wegen dieser Nähe wird homosexuelles Begehren zum größten Tabu. Latent ist dieses Begehren jedoch immer vorhanden, wie Bannister am Beispiel der frühen US-amerikanischen Hardcore-Szene festmacht, für die nicht nur Virilität, sondern auch der Ausschluss von Frauen charakteristisch war. Bannister zitiert Joe Carducci, den Chronisten der kalifornischen Hardcore-Szene, der sich negativ darüber auslässt, dass Henry Rollins bei Black Flag zum körperlich begehrten Star avancierte: „Als die Groupies plötzlich nach den Konzerten beim Sänger Schlange standen, waren die anderen Musiker angepisst – sie hatten schließlich die Stücke geschrieben und auf der Bühne gespielt.“ Carducci will damit nicht sagen, dass die anderen Musiker auf Rollins neidisch waren, weil auch sie gerne Groupies gehabt hätten, sondern vielmehr, dass das Eindringen von Groupies in das homosoziale Gefüge eine Beschädigung der Reinheits-Vorstellungen von Hardcore darstellte. Der „Star“ und das Begehren des „Stars“ waren dieser Szene, die radikal antikommerziell und frei von Hierarchien sein wollte, suspekt. Deshalb passte Sexualität nicht ins ebenso paramilitärische wie puritanische Konzept von Hardcore. Sowohl schwules wie weibliches Begehren stellte eine Gefahr für das diffizile homosoziale Gefüge der Szene dar. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Bob Mould, Sänger der legendären Hüsker Dü, erst Mitte der 1990er Jahre sein Coming-out hatte, lange nach Auflösung von Hüsker Dü. „Der bis dahin im Privaten offen schwul lebende Mould fürchtete nach einer Umarmung durch die homosexuelle Öffentlichkeit als Musiker marginalisiert zu werden“, schrieb Thomas Winkler seinerzeit auf „Spiegel online“. Das Comingout hat ihm zwar weder geschadet noch merklich Fans gekostet, die Angst davor zeigt allerdings, wie wenig Toleranz Bob Mould der Szene zutraute, in der er sich bewegte.
Street Punk vs. Art Punk Das Wort „Punk“ geht unter anderem auf eine Slang-Bezeichnung aus dem Gefängnis zurück und bezeichnet junge Männer, die von anderen Gefängnisinsassen vergewaltigt wurden. Ihrem Selbstverständnis nach waren die ersten Punks Opfer; Opfer einer als autoritär und brutal empfundenen Gesellschaft. Eine solche Haltung, sollte man meinen, muss sich automatisch auch gegen die patriarchalen, heteronormativen Strukturen dieser Gesellschaft richten. Wie vereinbart sich das mit Homophobie innerhalb der Szene? Und stimmt das überhaupt, ist die Punk-Szene denn homophob? – Das Hauptproblem beim Nachdenken über Punk und Geschlechterrollen besteht darin, dass es ‹den Punk› nicht gibt. Punk hat sich innerhalb nur kürzester Zeit komplett ausdifferenziert und in (mindestens) zwei völlig verschiedene Richtungen hin entwickelt. Auf der einen Seite kam es mit Punkrock zu einer Wiederbelebung des männlich geprägten, aggressiven Rock’n’Rolls mitsamt dessen wertkonservativen Mythen von Echtheit, Glaubwürdigkeit, Szene-Zusammenhalt und antiintellektueller Schlichtheit. Homophobie findet sich vor allem in diesem Segment von Punk. Aus diesem Grund hat die Deutschpunk-Band Terrorgruppe den Titel ihres schwulenfreundlichen Songs „Homosexuell“ in letzter Minute in „Neulich Nacht“ (auf: „Keiner hilft euch“, 1998)
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Musik – Emo ist das neue Schwul
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umbenannt und gegenüber „Rock Hard“ erklärt: „Die ach so tolerante Punk-Szene ist beim Thema Homosexualität nämlich völlig konservativ und krampfig.“ Auf der anderen Seite existiert aber auch seit den ersten Punk-Tagen ein ganz anderes Selbstverständnis von Punk, das Punk als eine Haltung begreift, die sämtliche Normen, Grenzen und Regeln – gesellschaftlich, musikalisch und sexuell – in Frage stellt. Obwohl also zum Beispiel Sham 69 mit ihrem Hooligan-Rock und die libertären The Slits zur selben Zeit unter dem Begriff „Punk“ nebeneinander her existierten, handelte es sich um unvereinbare Gegensätze. Denn gerade aus dem offenen Punk-Ansatz sollte Anfang der 1980er Jahre eine der queersten Pop-Szenen aller Zeiten entstehen: Von Orange Juice bis Frankie Goes To Hollywood, von Soft Cell bis Bronski Beat eroberten so viele nichtheterosexuelle Künstler wie nie zuvor die Charts. Dogmatische Punks stempelten diese Musik schon früh als „Popperkram“ ab, was faktisch falsch ist, da dem Synthiepop die Punk-Sozialisation vorausgegangen war. Allerdings eine andere als die von Exploited.
Anti-Emo „Wir fanden heraus“, ist in einem „Yahoo“-Forum zu lesen, „es gibt prozentual berechnet mehr Emos, die sich von dem gleichen Geschlecht angezogen fühlen, als normale Menschen. (…) Emos denken auch, dass sie ‚Rock‹-Musik‘ hören, das stimmt aber nicht, es sind nur Möchtegernrocker. In der Rockerszene sind diese Art von Lebewesen recht unbeliebt.“ Homosexualität ist nach Ansicht der Emo-Hasser etwas Defizitäres und damit genauso ‚unecht‘ wie die Musik, die von den Emos gehört wird. In diesem reaktionären Zusammenspiel vom Beharren auf eine wie auch immer umrissene Normalität und Rock-Authentizität drückt sich die typische männliche Angst vor Brüchen und Ambivalenzen aus, vorm Ungenauen und Nicht-Definierten. Diese Angst ist zudem an einen diffusen Hass auf alles Intellektuelle gekoppelt, was darin zum Ausdruck kommt, dass im Zusammenhang mit Emos stets von „verwöhnten Muttersöhnchen-Gymnasiasten“ (Eintrag auf der Satireseite www.stupidedia.org) die Rede ist: Das Zusammenspiel von Androgynität, Weichheit und vergleichsweise hohem Bildungsstand stellt für die
Gegner ein Maximum an Bedrohung ihrer männlichen Hegemonialität dar. “Überall Schwuchteln im Drag-Queen-Dress, es ist Stress für meine Augen, langsam glaube ich, ihr testet mich echt, wie lange ich brauche, bis ich austick’ (…) / Scheiße, Jungs stehen auf Jungs und die Girls stehen auf Schwule, ich schwör’ es: Es gab noch nie eine verstörtere Jugend“, heißt es im „Anti Emo Lied“ von Rapper GinTonik. Aus all dem spricht sehr viel Neid. Neid darüber, dass Emo-Jungs keine Probleme damit haben, sich gegenseitige Zuneigung einzugestehen. Diese wird nicht, wie in homosozialen Gefügen üblich, unterdrückt oder in Coolness kanalisiert. Und Neid darüber, dass so etwas bei vielen Frauen besser ankommt als Mackertum. Obwohl Homophobie immer schon latent in männlich geprägten Jugendkulturen vorhanden war, tritt sie in der Allianz gegen Emo mit bislang nicht gekannter Brutalität zu Tage. Das mag unter anderem daran liegen, dass sich die sozialen Rahmenbedingungen geändert haben: Jugendbewegungen zeichneten sich lange Zeit gerade dadurch aus, dass sie sich dem kapitalistischen Diktat, ‚zu funktionieren‘, also gesellschaftlich anerkannte Leistung zu erbringen, zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten verweigert haben. Insofern sind die Emos ein scheuer, aber wirkungsvoller Widerhall dieses alten Verständnisses von Jugend- und Subkultur: Sie nehmen sich das Recht zum Tagtraum, zum Grübeln und Schwelgen. Dass den Emos ihre Verträumtheit inzwischen von Gleichaltrigen geneidet wird, hat mit einem veränderten Selbstverständnis von Jugendkultur zu tun: Coolness wird nicht mehr mit Verweigerung, sondern mit Disziplinierung und Leistungsbereitschaft gleichgesetzt – zwei Jahrzehnte Hip-Hop-Battles sei Dank! An der Welt zu leiden, was den Emos ebenfalls permanent vorgeworfen wird, gilt als nicht mehr zeitgemäß, ist ein Zeichen von Schwäche, und also – so die Logik – schwul. So gesehen müssten auch Jim Morrison, Ian Curtis und Kurt Cobain nachträglich zu „schwulen Emos“ erklärt werden. Die Emos befinden sich also in bester Gesellschaft. Martin Büsser ist Mitherausgeber des soeben im Ventil-Verlags erschienenen Buches „Emo – Porträt einer Szene“ (Ventil Verlag 2009).
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Musik – Ohren auf und durch, J.K,
OHREN AUF UND DURCH Für eine bewusstere Auseinandersetzung mit der Klangwelt Text — JAN PAUL HERZER Musik schallt aus einem benachbarten Café auf den Gehweg. Autos lärmen, Menschen sprechen, schreien und lachen. Aus Mobiltelefonen schwappen einem nur aufs Notwenigste destillierte Hits entgegen und produzieren durch wiedergekäute Formen und Strukturen enervierende Ohrwürmer. Irgendwo in der Ferne jault eine Polizei-Sirene und unter allem brummt die Stadt ihren stetigen, nur mit der Tageszeit leicht schwankenden Bordun. Es ist laut um uns. Die Ortung von Schallereignissen in unserer unmittelbaren Umgebung mag, folgt man der evolutionsbiologischen Argumentation, der ursprüngliche „Zweck“ der auditiven Wahrnehmung gewesen sein. Mit der Zeit aber haben sich Bedeutung und Funktion des Mediums Klang immens gewandelt. Vor allem ist die
/J. K, Jörg Kleemann
Dichte an zu verarbeitender akustischer Information stetig angewachsen. Und hier gerät die Wachsamkeit des Gehörs mitunter zum Fluch – geblieben ist dem Hörenden im Laufe der Evolution bekanntlich die Tatsache, dass man sich dem akustischen Umfeld nicht oder nur eingeschränkt entziehen kann. Die Augen kann man schließen, die Ohren aber nicht. Das Hirn (ver)arbeitet fleißig. Es rattert und verdaut, es verknüpft und kategorisiert, es rotiert und dreht nicht selten völlig durch. Aber es macht seinen Job am Ende eines jeden Tages doch gut, nicht zuletzt deshalb, weil der Hörsinn ein komplexes und erstaunlich funktional arbeitendes System ist. Das selektive Hören zum Beispiel, die Fähigkeit, selbst bei einer Vielzahl von gleich lauten Schallquellen die für den Einzelnen relevante Information zu fokussieren, rettet uns immer wieder vor einer völligen Überlastung des auditiven Wahrnehmungskanals. Trotz all dem: Es fällt auch dem vermeintlich aufgeklärten und geschulten (Musik-)Hörer immer wieder äußerst schwer, die Informationsflut – nichts anderes ist ja in letzter Konsequenz diese Wolke aus Klang – von sich fern zu halten. Ebenso wenig gelingt die konsistente Auseinandersetzung mit dem Medium und dessen Rezeptionsprozess. Die den Menschen unausweichlich umgebenden Klänge macht man sich vielleicht noch bewusst; die Ermüdung des Sinnesorgans und die damit einhergehende Gewöhnung an diese Reizflut machen es einem aber leicht, diesen Ansturm von Eindrücken zu verdrängen. Ein analytischer Umgang mit dem Medium Klang bleibt folglich oft auf die gesonderten Momente von bewusstem Klanggenuss beschränkt, bei denen man sich ohnehin von der akustischen Umwelt zu entkoppeln versucht. Und gerade aus diesem Grund beeinträchtigt einen diese Reizflut dann doch immer wieder – und sei es nur in der Form, dass man
am späten Abend seine musikalische Neuentdeckung nicht mehr auf den Plattenteller legt, sondern die Fenster verriegelt und einfach nur die Stille genießt. Der Gedanke, sich sein eigenes Hörverhalten öfter und intensiver bewusst zu machen, ist nicht neu. Murray Schafer zum Beispiel versucht im Rahmen seiner schon in den 1960er Jahren initiierten Soundscape Studies zu einer bewussten Gestaltung der akustischen Umwelt anzuregen, um im Umkehrschluss auch das Klangerleben des Einzelnen neu zu formen und zu schärfen. Ebenso gewinnt das wissenschaftliche Feld der Klangökologie zunehmend an Ansehen, und gleichzeitig wächst schon seit Langem das Bewusstsein für physiologische Beeinträchtigungen und den durchaus fragwürdigen ästhetischen Wandel als Folge des Lautheitswahns in den Medien. Aber warum nicht auch im Kleinen anfangen? Indem man sich der Klangwelt bewusster aussetzt, sich auch dem Lärm und stellenweise substanzlosem akustischem Müll weniger verschließt, kann die Habituation vielleicht in Grenzen gehalten werden, die einen abstumpft und den auditiven Kanal verstopft. Die Diskrepanz zwischen dem einerseits präsenten Wunsch nach einem geschärften Gehör und der gleichzeitigen Abschottung gegen den Klang um einen selbst lässt sich nicht wegdenken und beide Faktoren scheinen manchmal in völlig gegensätzliche Richtungen zu ziehen – aber vielleicht sollte man sich einfach öfter mit offenen Ohren diesem akustischen Wahnsinn aussetzen und somit den Spieß umdrehen und die Tore öffnen für all das, was die Luft in Schwingung versetzt. Und wer weiß – vielleicht sieht man die Platte, die man sich abends zu Gemüte führt, tatsächlich plötzlich mit anderen Ohren – oder man lässt die Fenster offen und hört mal einen Abend lang einfach nur der Stadt zu.
NEUES AUS DER SCHÄFERSTRASSE Über eine Herzensangelegenheit. Unbestochen, ungeschmiert
Eine schreckliche Zeit liegt hinter mir: der Sommer. Ich fühle mich jedes Jahr wie damals, als ich mein Panini-Sammelalbum schon fast voll hatte, und mir nur noch Lothar Matthäus, Horst Hrubesch und Toni Schumacher fehlten. Gegen jede Vernunft kaufte ich einfach noch mehr Tütchen, besessen von dem Plan, mein Album vollzubekommen. (Das Bestellen der fehlenden Bildchen war selbstredend grob unsportlich.) Die Folge dessen: Ich war völlig pleite und blieb auf gefühlt hunderttausend Doppelten sitzen, bis ich endlich am Ziel war. Und genauso verhält es sich mit den Platten im Sommer. Obwohl ich seit etwa 20 Jahren weiß, dass im Sommer keine guten Platten erscheinen, suche ich nach der Ausnahme, die die Regel bestätigt und kaufe noch mehr Platten. Halten wir uns also nicht lange mit den Doppelten auf, sondern kommen wir zur Toni-Schumacher-Platte des Sommers, die Mitte September erschienen und für mich schon eine klare Herbstplatte ist: „Yonder“ von Sometree. Um beim Fußballvergleich zu bleiben, sind Sometree so etwas wie meine Lieblingsmannschaft, die ich schon bei unzähligen Heim- und Auswärtsspielen als Fankurve begleitet habe. Aber sie machen es einem nicht leicht. „Yonder“, um es vorwegzunehmen ist nichts weniger als ein Meisterwerk – und ich geh mit solchen Wörtern wahrlich nicht hausieren! Allerdings braucht dies eine Weile. Noch beim ersten Hören hatte ich zwei Gedanken: Das ist keine typische Sometree-Platte. Und: Wie sag ich’s
meinen Freunden, meinen ehemaligen Mitbewohnern zu 96-Zeiten!? Beim vierten Durchlauf dann hat sie mich gepackt, um nicht zu sagen, zerrissen. Angry Young war gestern und an die Stelle von Wut und Projektion der vorherigen Alben tritt die Trauer und Reflektion, aber als ein lebensbejahender Prozess, der solch neuen Gefühlslagen zulässt. „A New Low“, um es mit dem Titel des vorletzten Stücks zu sagen. Bezeichnend ist der Name des ersten Songs „Sink Or Swim“. Mann steht auf der Kreuzung und der Weg ist das Ziel. Typische Noise-Elemente stehen im Kontrast zu gezupften Streichern und Bläsern. Es gibt nur zwei Möglichkeiten und Sometree entscheiden sich für das Weiter. Und sie stoßen dabei ungeahnte Türen auf, musikalisch unterstrichen unter anderem von einem Klavier, das sich wie ein roter Faden durch das Album zieht. Es geht nicht ums Siegen, es geht um die Schönheit des Moments bei sich zu sein. Und irgendwann begreift man, dass diese Platte ohne die vorherigen nicht möglich gewesen wäre, dass aus dieser Veräußerung der Wut eine Verletzlichkeit folgen muss, wenn man weiterkommen will. Sink or swim. Mit „Yonder“ heben Sometree ihre Fragilität und Sehnsucht auf eine neue Stufe und das Gute daran ist: Man ist nicht allein, sondern bekommt eine Menge Trost und eine Art Gefühlskatalysator an die Hand. Chapeau und vielen Dank.
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Musik – Dämonenzupfer
DÄMONENZUPFER Psycho – Doc – Musiker. Der Fall William Fitzsimmons ist kein normaler Text — BJÖRN BAUERMEISTER, Foto — JOACHIM ZIMMERMANN
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Musik – Dämonenzupfer, Der rote Kanister Wenn Schnapspromoter zu Konzertwettkämpfen aufrufen oder Mobilfunkanbieter zu Specialeventquatsch einladen, wundert man sich heute gar nicht mehr über deren Einfallsreichtum. Alles ein großes Halligalli, immer und immer wieder! Da sollte man die Poweraktion eines Blumenlieferanten mal positiv hervorheben. Jener Dienstleister nämlich rief in diesem Sommer dazu auf, den ultimativen Hit jener Jahreszeit zu wählen. Ohne viel Tamtam gab es eine schnöde Rundmail mit der Bitte um einen Klick für seinen Lieblingshit. Was es dem Unternehmen wohl bringt, wenn die Kids auf seiner Website den Song von Daniel Schuhmacher zum Sommerhit 2009 küren? Werden die wie wild Wählenden dann bald Nelken rauchen und Primeln schnüffeln? Schön sinnfrei alles, von Schnaps bis Blume, aber natürlich auch völlig normal. „Normalität ist aber auch eine richtig beschissene Idee. Eine Idee, die mir Angst bereitet.“ Und wenn sich hier jemand sowohl mit Normalität als auch mit Ängsten auskennen sollte, dann dieser Typ, der so leise redet wie er singt und zupft. William ist gelernter Psychotherapeut. Professor Fitzsimmons zuckt; nicht mit den Schultern, sondern hin und wieder mit der Oberlippe respektive Nase, wie ein Speed-wuschiges Torrett-Kaninchen. Über so etwas macht man sich hier natürlich nicht lustig, außer William selbst, der sich sofort auf die Schippe nimmt und erzählt, dass er eigentlich nur zu jenem Seelenklempner-Job gekommen ist, weil er „selbst nicht ganz rund lief“. Er war von bestimmten Sachen besessen, jede Handlung wurde zur Lähmung, jeder Gedanke zur Frage. Und so, wie der Autofreak eben Mechaniker wird, weil er nur seine Karre im Kopf hat, so wird der Psycho Doc. „Ich hatte ein paar Dinge, von denen ich wissen
wollte, wie ich mit ihnen umgehen soll. Also legte ich los, in der Hoffnung herauszufinden, was eigentlich nicht normal bedeutet.“ Schnell hat die kranke Rübe aber realisiert, dass dieser Job der falsche Weg ist. Nicht, weil die Murmel plötzlich völlig rund lief und keine Ängste, keinen Wahn und keine Ticks mehr auf dem Schirm hatte, ganz im Gegenteil. „Ich weiß nicht, ob ich verrückt oder wahnsinnig bin. Ich weiß nur, dass ich nicht ganz normal, sondern etwas anders bin. Mein Hirn hat nämlich ein paar Leitungen, die etwas verdreht sind. Ich grüble über Dinge, die es nicht wert sind; manchmal auch über Dinge, über die ich wirklich nicht mehr grübeln sollte.“ Diese Kreisläufe verbinden ihn mit nicht wenigen interessanten Menschen, sie sicher auch einst über ein Dasein als Psychotherapeut nachdachten, dann aber doch zur Gitarre und anderen Schädlingen griffen. Wie viele Runden musste ein Nick Drake zum Beispiel zu seinen Dämonen in den eigenen Ring treten!? Tag für Tag, Song für Song. „Wenn du dieselben Dinge ständig wiederholst und dann bei jedem Mal ernsthaft ein anderes Ergebnis erwartest, dann könnte man dir schon eine Form von Wahnsinnigkeit attestieren. Aber die, die aufstehen, frühstücken, arbeiten und zu Bett gehen, genau die bewegen sich im Kreis der eigentlich Verrückten.“ So sind Williams Zwänge auch in seinem „neuen Job“ nicht abzuschütteln. Hände muss er öfter mal waschen. Und den Tourbus kann er nicht verlassen, ohne jede Tür zu kontrollieren – nicht immer, aber wenn dann mehrmals natürlich. „Ist dicht, lass’ gut sein“, denkt er sich. Im Normalfall glaubt er sich dann selbst nicht, geht aber und zuckt und zupft.
DER ROTE KANISTER Auf Bernd Hofmanns Arbeiten können wir uns einigen – keine Frage. „Senor Burns’ Camping Academy & The One Man Red Can Show“ scheint dennoch zu polarisieren Text — MARIA LUTHER, CHRISTOPH SCHWARZE Pro „Der kommunikative Kreis zwischen mir und den anderen Musikern schließt sich am Ende mit meiner bildnerischen Umsetzung der entstandenen Musikstücke als Artwork“, sagt Bernd Hofmann. Seine erste, längst überfällige Werkschau, stellt das Schaffen eines Künstlers vor, der das Feld zwischen Optik und Akustik mit einer Leidenschaft bearbeitet, die hierzulande ihresgleichen sucht. Man denke nur an „Red Can Records“, ein ursprünglich als konzeptionelle Arbeit angelegtes Projekt, das längst zu einer Marke geworden ist. Alle Veröffentlichungen des Labels sind aufwändig gestaltet, die Verpackungen überwiegend im Siebdruckverfahren unter Verwendung verschiedener Papiersorten hergestellt. Was die Mühe soll? Man muss erst einmal durchs Cover hindurch, bevor man die Musik wirklich fassen kann! Die außergewöhnliche Haptik der Red CanErzeugnisse vermittelt Intimität. Tatsächlich bildet eine unmittelbare, fast familiäre Beziehung zwischen Label, Musiker und Veröffentlichung die Arbeitsgrundlage des in München ansässigen Hofmann. „Senor Burns’ Camping Academy & The One Man Red Can Show“ zeigt darüber hinaus persönliche Arbeiten, eine Reihe lesenswerter Beiträge und ist eine wahre Pub-
likation des „Roten Kanisters“: Wer sich durch das dicke Papier geblättert hat, findet am Ende eine 10“, die allein schon wegen des Walter Schreifels-Songs unerlässlich ist!
Kontra Nicht die Kunst selbst ist das Problem, sondern das Medium! Besonders deutlich wird dies in Büchern, in denen Sticker, Street Art oder gar Videoclips als Standbild präsentiert werden. Das sieht natürlich bunt, zeitgemäß und gut aus, ist aber rausgeschmissenes Geld. Es verfehlt einfach seine Wirkung! Ziel eines Portfolios sollte es ja sein, den Künstler und sein Schaffen zu dokumentieren und vorzustellen, doch kann ein klassisches Buch dies kaum leisten. Mit diesem Umstand hat auch „Señor Burns‘ Camping Academy & The One Man Red Can Show“ schwer zu kämpfen –
und scheitert streckenweise daran. Besonders deutlich wird dies in zwei Kapiteln: Den CoverAbbildungen und der Zusammenstellung ausgewählter Postersiebdrucke. Besonders letztere leben ja von haptischen Erlebnissen, dem Anfassgefühl, dem Geruch, den Farben. Aber all das vermisst man. Collagen von ohnehin schon zu kleinen Alben-Artworks wirken dann umso weniger. Die Highlights verschieben sich deswegen erheblich: Nicht die tollen Plakate von Gorilla Biscuit oder This City Has No Seasons bleiben am meisten hängen, sondern die vielleicht persönlichste Arbeit – die Hommage an Leipzig. Denn auch ohne Olaf, Anna und Co. zu kennen, das kleine bebilderte Gedicht trifft den Charme der Stadt exakt: Freundschaftlich, abgerockt, ohne Bedeutung, aber immer wieder gerne. Immer wieder interessant zu lesen sind auch die Gespräche über den angeblichen Zwiespalt von Kunst & Musik, zwischen Vinyl & MP3 sowie Selbstausbeutung & Geldverdienen – deren Fazit immer das Gleiche ist: Vinyl ist Gott, Selbstausbeutung freiwilliges Übel und Kunst & Kommerz geht gar nicht zusammen.Das ist der Indiehauptnenner – den Gestalter Bernd Hofmann eigentlich hinter sich gelassen hat. Portfolios sind eben doch nur Querschnitte.
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Musik – Berlin Festival 2009, Der Klick nach vorn?
BERLIN FESTIVAL 2009 Chillen auf dem Betonboden Text — JENNA BRINNING, Foto — VILLE HILL
Es scheint, als könnte das Tempelhofer Feld zu seinem ursprünglich gedachten, jedoch nie umgesetzten, Verwendungszweck als Messegelände zurückkehren. In seiner diesjährigen Auflage war das vierte Berlin-Festival nach zwei Jahren im Havelland und einem Abstecher ins Poststadion zum wiederholten Mal umgezogen, diesmal auf das Gelände des drittgrößten Gebäudes der Welt. Insgesamt kamen über 10.000 Leute zum stillgelegten Flughafen Tempelhof, manche davon hatten sogar eine Karte gekauft. Die Organisatoren des zweitägigen Berlin-Festivals müssen aber einiges mehr an Kritik weg-
stecken, als nur die lächerlich lange GästelisteSchlange. In einen Hangar mit subtropischen Temperaturen verlegt worden, war allen voran die Hauptbühne an beiden Tagen von akustischer Trübseligkeit enorm ohrenschmerzenden Ausmaßes geplagt. Die Getränkepreise waren übertrieben, der Bauzaun einpferchend, es gab keine gemütlichen Rückzugsorte im Freien, wo man entspannt abhängen konnte. Nicht mal Armbändchen wurden für zahlende Gäste organisiert – wer einmal das Gelände verließ, blieb für den Rest des Abends draußen. Technische und logistische Pannen dieser Art sind jedoch
gut behebbar und in Wirklichkeit liegt das wahre Alleinstellungsmerkmal des Festes in genau dessen viel kritisiertem Mangel an FestivalFlair. Statt Zelten im Schlamm gab‘s hier mitten in der Stadt ein eklektisches Line-Up mit Schmankerln wie Health, Jarvis Cocker, Junior Boys, The Thermals, eine fast kraftwerk-anmutige Show von Moderat und einem erstaunlich überpünktlichen Pete Doherty obendrauf. Dazu noch eine nette Afterhour dort, wo einst die historischen 2+4 Gespräche geführt wurden. Das Berlin-Festival ist in Tempelhof angekommen und soll hier sesshaft werden.
DER KLICK NACH VORN?
ren: Jeder User kann mittels des sogenannten „Vequalizer“ seine Lieblings-Genres auswählen, nach Zeiträumen (z.B. 80er Jahre) spezifizieren beziehungsweise bestimmte Künstler und Stile vollkommen ausschließen. Sieht auf den ersten Blick recht formal aus und mutet nicht unbedingt open minded an. Auf den zweiten Klick erfolgt jedoch die Akzeptanz, schließlich ist nur durch Tools wie
diese eine gewünschte Individualisierung des Programms möglich. Außerdem ist man natürlich nicht genötigt, die Filter-Optionen anzuwenden: Wer sich weiterhin über Beyoncé & Co. echauffieren möchte, der wird nicht zwangsläufig daran gehindert. Das Portal ist quasi als TV-Kanal konzipiert und man möchte sich über Fernsehwerbung finanzieren. Ein großer Pluspunkt ist die einfache Usability, die das Portal von der oft kompliziert strukturierten Konkurrenz absetzt. Doch wo liegt nun der Unterschied zu Playlisten via YouTube? Die Betreiber von Putpat argumentieren, dass das Angebot vollkommen passiv konsumiert werden kann und für den regulären TV-Monitor geeignet ist. Wurden gewisse Einstellungen einmalig vorgenommen , kann man es einfach im Hintergrund laufen lassen – wie damals, als Ray Cokes noch Haare hatte und Madonna noch sexy war. Trotzdem, alles gewöhnungsbedürftig. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht an der Performance, sondern viel mehr an den vollkommen veränderten Determinanten des Musikkonsums. Ein zu weites Feld, um es anhand eines Portals für Musik-Videos zu analysieren. Putpat ist Eines jedoch schon jetzt gelungen: Nämlich dafür zu sensibilisieren, dass man sich endlich aus der nostalgischen Verklärung des guten alten MTV lösen und sich eben nicht auf das vermittelnde Medium konzentrieren sollte, sondern auf dessen Inhalte. Denn Sinéad O‘Connors Träne berührt immer noch, egal ob nun offline oder online.
Putpat.tv löst aus der nostalgischen Verklärung Text — JAN SCHIMMANG Die Liste der Start-ups, die sich die Zukunft des Video-Clips ins Programm geschrieben haben, ist lang. Ehrlich gesagt: so lang, dass die Behauptung „Putpat ist das neue Musikfernsehen. Hier gibt es nur das, was Du wirklich sehen willst“ erst einmal kritisch hinterfragt werden muss. Das Angebot von putpat.tv verspricht Großes. Geschäftsführer und Mitbegründer Tobias Trosse kündigt das „personalisierte Musikfernsehen“ an. Konkret soll das dann so funktionie-
Musik – (Keine weiteren Fragen an …) (… von Reaktionen, Antworten, Gesprächen. Keine Interviews, keine Verhöre)
HERMAN DUNE Text — DENNIS KASTRUP, Foto — JOACHIM ZIMMERMANN
Sängers, mit einem Unterschied: Das Covern ist nicht unbedingt das Hauptaugenmerk von Herman Dune. Sie schreiben die Songs selber. Das Gespräch bleibt bei den großen Namen des Musikgeschäfts hängen. Elvis, Leonard Cohen und die Rolling Stones seien auch bewundernswerte Künstler. Die Musik ihrer Eltern also, gebe ich zu bedenken. Moderne Einflüsse sehen anders aus. David-Ivar hat damit kein Problem: „Ich hatte keine Konflikte mit meinen Eltern. Ihre Platten waren auch meine. Ich habe das gehört, als ich aufgewachsen bin und mache das immer noch. Alle, die ich kenne, die die Rolling Stones live gesehen haben, waren beeindruckt. Wenn du enttäuscht werden willst, dann geh nicht zu einem Konzert von ihnen.“
Epilog „Ich mag jede Art von Wetter, besonders wenn es warm ist.“ Tusch! Eine Aussage für die Ewigkeit. Mehr Smalltalk passt wohl nicht in die Antwort von David-Ivar Herman Düne. Zusammen mit Neman Düne sitzt er an einem sonnigen Tag vor einem Club in Kreuzberg. Am Abend werden sie dort ein bezauberndes und begeisterndes Folk-Konzert spielen. Beide tragen Slipper und bis kurz über die Oberschenkel reichende, abgeschnittene Jeanshosen. Um es noch banaler zu sagen: dem Wetter entsprechend. „Ich mag es, über das Wetter zu reden,“ sagt David-Ivar. „Es ist eine tolle Sache, über die man sich unterhalten kann. Das ist doch unser tägliches Leben. Ich habe großen Respekt davor, was uns das Wetter jeden Tag bietet.“ Er schaut in den Himmel und schwärmt von der Fröhlichkeit, die ihm Sonnenstrahlen jeden Tag bringen und denkt in diesem Moment fast schon traurig an seine Familienangehörigen in Schweden. Denn dort oben im Norden würden sie sehnsüchtigst ein kleines bisschen mehr Sonne erflehen. „Sie haben da so einen Frisör, der aber eine Art Sonnen-Salon ist. Man bekommt dann täglich seine Dosis UV-Strahlen. Ich bin kein Wissenschaftler, aber man muss wohl ein wenig Sonne haben, um zu merken, dass man lebt.“ Das Thema Wetter lässt uns nicht los. Ich gebe zu bedenken, dass es heute Morgen ja noch geregnet hat. David-Ivar unterbricht: „Deshalb hole ich mir die Sonne ja auch in Form von Musik jeden Tag. „Cosmos Factory“ von Creedence Clearwater Revival, „Lookout Mountain, Lookout Sea“ von den Silver Jews und „Blood On The Tracks“ von Bob Dylan sind für mich Sonnenstücke. Die helfen. Die habe ich heute gehört.” Popmusik hilft also gegen die trübe Stimmung. Michael Jackson war ja auch so einer, der mit seinen Stücken die Welt erleuchtet hat. Pop ist also mit seinem Abgang tot und es ist dunkler geworden, lautet meine provozierende These. David-Ivar sieht das anders: „Als er starb, fand ich es schade für die Person Michael Jackson. Aber ich habe es ehrlich gesagt nicht als den Tod einer musikalischen Kultur empfunden. Als James Brown starb, wusste ich, dass eine Ära an Künstlern weg ist. Er war wohl der letzte Soulman. Gerade ist der letzte Mensch, der den ersten Weltkrieg miterlebt hat, gestorben. Das ist das Ende einer Ära! Dieser Mensch war der letzte, der sagen konnte, wie schrecklich der Krieg war.“ Neman unterstreicht die Einstellung seines Bandpartners: „Das ist doch nur der Körper, der jetzt weg ist. Außerdem hat Michael Jackson in den vergangenen Jahren gar keine Musik mehr gemacht.“ Doch dann fällt ihm auf, dass all diese Aussagen auch falsch verstanden werden könnten: „Natürlich ist er ein großartiger Künstler gewesen. Wir mögen ihn. Ich habe die „We Are The World“-Dokumentation gesehen und fand es großartig, als all diese Musiker zusammen gesungen haben. Und Michael hat sie zusammen getrommelt. Wenn Michael singt, ist das Wahnsinn!“ Ich werfe ein, dass „We Are The World“ doch einer der kitschigsten Songs überhaupt ist. David-Ivar Düne ist entrüstet: „Kitschig? Das ist ein wunderbarer Song! Da singen die besten Sänger der Welt zusammen. Da ist nichts kitschig dran. Das ist eine der besten Aufnahme überhaupt.“ Er beginnt alle aufzuzählen, die mitgemacht haben. Bei dem Namen Harry Belafonte gerät der Bartträger ins Schwärmen. Belafonte sei einer der wichtigsten Sänger überhaupt. Ein Symbol! Er habe Folk-Musik aus allen Ländern gesungen, von Israel bis hin zu China: „Er hat ein großes Herz. Ich liebe Harry Belafonte.“ Nach dieser Liebeserklärung können beide auch gut mit dem Vergleich leben, dass ihre Musik an manchen Stellen ähnlich klingt wie die des großen
Nach dem Gespräch kommt Neman noch einmal zu mir und grinst: „Wahnsinn. Wir haben uns am Anfang zehn Minuten lang über das Wetter unterhalten. Toller Einstieg, oder?“ Er lacht. Wir lachen. Die Sonne scheint.
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Musik – (Album der Ausgabe)
NURSES „Apple’s Acre“ (Dead Oceans) Text — NIKLAS DOMMASCHK, Foto — VILLE HILL
Professor Lucifer Gorgonzola Butts ist Erfinder hochkomplexer Apparate zur Bewerkstelligung einfachster Aufgaben, so zum Beispiel des vollautomatischen Serviettenautomats: Wenn er den Suppenlöffel zum Mund hebt, löst diese Bewegung eine Art Minikatapult aus, das einen Keks in Richtung eines Papageien schleudert, der prompt nach dem Keks schnappt, woraufhin ein Becher umkippt, aus dem nun Körner in ein anderes Behältnis rieseln, bis durch dessen steigendes Gewicht ein Arm einer Waage sich senkt und der andere Arm ein Feuerzeug aktiviert, das die Lunte einer Sylvesterrakete entzündet, an deren Stiel eine Sichel befestigt ist, die beim Start der Rakete einen Faden durchtrennt, der ein Pendel auslöst, das besagte Serviette in schwingende Bewegung Richtung des Professors Mund und Schnauzbart versetzt, so dass etwaige Suppenspritzer prompt abgewischt werden. Ziemlich umständlich, letztendlich aber effektiv, und vor allem herrlich bekloppt. Professor Lucifer Gorgonzola Butts selbst wiederum wurde von Rube Goldberg erfunden, der kein Erfinder war, sondern vielmehr Comiczeichner. Die irrwitzigen Apparate des CartoonProfessors sind nach dessen Erschaffer als Rube-Goldberg-Maschinen bekannt geworden und 1961 erstmals per Wörterbuch dokumentiert. Und um nach diesem umwegartigen Einstieg selbst Richtung Punkt zu rumpeln: Nurses aus Portland haben eine phantastische Platte gemacht, die so eine Art musikalische RubeGoldberg-Maschine ist, aber von der filigranen Sorte, denn zu leicht entgehen uns die vielen Umwege und Kleinigkeiten, die hier zum Resultat führen. Oft klingen die einzelnen Stücke eigentlich ganz einfach, bis man plötzlich auf bisher nicht gehörte Details stößt und merkt, dass zum Beispiel gerade das akustisch kaum zu entziffernde Gewirr aus mumpfigen Stimmfetzen und verzerrten Pfeiftönen, das in „Mile
after Mile“ hinter der allzu präsenten Stimme und der merkwürdig mächtigen Orgelei plus Bollerpercussion im Hintergrund vor sich hin werkelt, eigentlich essentiell ist für die Atmosphäre des Lieds. Das große Ganze wirkt so stimmig und rund, dass die vielen kleinen Details und Spielereien im einzelnen erst hörbar werden, wenn man meint, die musikalische Apparatur, die hier am Werk ist, längst kapiert zu haben. Aber irgendeinen Kniff haben Nurses immer noch in petto, wie sich zeigt. Dabei hat die Band seit ihrem Erstling „Hangin’ nothin’ but our hands down“ einen großen Schritt gemacht und per Vereinfachung alles herrlich verkompliziert: Wirkten die Songs des Debuts trotz des bereits aufblitzenden Ideenreichtums und hoher Eigenständigkeit teilweise noch etwas bemüht verschroben und seltsam, so klingen die Stücke auf „Apple’s Acre“ auf Anhieb viel eingängiger, obwohl sie eigentlich vielschichtiger und komplexer sind. E-Gitarren sowie Rockband-Schlagzeug sind fast vollständig verschwunden, dafür dominieren jetzt Klavier und Rumpelpercussion; irgendwo im Hallraum (und mit Hall wird nicht gespart) verorten sich hier und da akustische Gitarren. Über allem aber, und das wirklich beeindruckend gut, liegen vielstimmige Stimmtexturen und Aaron Chapman’s charakteristisch quäkiger Gesang (der der Band eher nicht so treffende Vergleiche mit den langweiligen American Apparel-Hippies von MGMT einbrachte). Tauchten die RubeGoldberg-Maschinen in den 60er Jahren erstmals im Wörterbuch auf, so scheint die Dekade auch für Nurses einen gewissen Bezugsrahmen darzustellen und es lassen sich Parallelen zum ebenso experimentell wie eingängigen Pop, den die Beach Boys mit „Surf’s Up“ perfektionierten, oder dem British-Psychedelia-Meisterwerk „Odyssey and Oracle“ der Zombies herstellen. Die große Kunst ist, das Schwierige und Komplizierte einfach und zwangsläufig wirken zu lassen und genau das vollführen Nurses auf dieser Platte absolut vortrefflich. In Japan heißen Rube-Goldberg-Maschinen übrigens „Pythagoras-Schalter“ und haben eine eigene TV-Show. Deren charakteristische Erkennungsmelodie ist auch auf der Nurses-Platte zu hören, zu Anfang und Ende des Titelstücks. Noch so ein Umweg.
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Musik – (Highlights)
Mika Vainio
Polvo
BLACK TELEPHONE OF MATTER
IN PRISM
(Touch)
(Merge)
Pete The Pirate Squid Grave, Shovel … Let’s Go! SPLIT 12" / TAPE (Asymmetrie Records)
Die Welt von „Black Telephone Of Matter“ von Mika Vainio – eine Hälfte des Elektronik-Duos Pan Sonic – scheint auf den ersten Blick ein unwirtlicher Ort. Beinahe willkürlich sind SoundFragmente aneinander montiert, als hätte Pierre Schaeffer seine Hände mit im Spiel gehabt. Wo andere auf sanfte Übergänge setzen, finden sich hier schroffe Wechsel und kantige Brüche. Sinus-Horizonte zerbersten in digitale Noise-Partikel. Brummende Pulswellen kippen in kratzende Distortion-Wände. Stille zerreißt feste Frequenzoberflächen, oszilliert in den Zwischenräumen und bricht sich an den Rändern staubiger Hallsedimente. Ohne ausreichende leistungsstarke Boxen wird man hier um die Hälfte des Vergnügens gebracht. Zwischen subsonischem Wummern und fein ziselierten Oberflächen, deren Splitter sich beinahe jenseits des menschlichen Hörvermögens bewegen, gibt es kaum eine Frequenz, die nicht präzise ausgelotet und teilweise mikroskopisch vergrößert wird. So überraschend es klingen mag, „Black Telephone Of Matter“ ist eine Platte, die trotz der harten Zäsuren und der schroffen Oberfläche nicht abweisend wirkt. Im Gegenteil – vielmehr offenbart sie eine Erhabenheit, eine unausweichliche Massivität, der man sich nur schwer entziehen kann. Gleichzeitig ist sie so sehr Geräusch, dass sie zwischen Kühlschrank, Waschmaschine und dem Lärm abendlicher Großstädte beinahe verschwindet. „Black Telephone Of Matter“ schafft es Ambient zu sagen, ohne Wohlklang zu meinen. Mika Vainio präsentiert ein beeindruckendes Statement sowohl im Umgang mit Sound als auch Struktur, die beide auf dieser Veröffentlichung so nicht mehr voneinander zu trennen sind. Ein imposanter, streckenweise verstörend schöner Klangmonolith. Text — Nils Quak
Die Sache mit den flirrenden, verstimmt scheinenden Gitarren, dem Reverb-Effekt, der mitunter beinahe versteckten Stimme unter dem Mitt-Neunziger-Lärmen, das doch oft viel von verdrehten Sonntag-Nachmittagen hatte. Großartige Verschrobenheit im Herbst. Dass nun zwölf Jahre nach der letzten Platte auf Touch & Go noch einmal was von den vier unscheinbaren Typen aus Chapel Hill, North Carolina, kommen würde, hat mich mindestens ebenso überrascht wie die acht Grad neulich nachts Ende August. Einfach machen sie es einem wirklich nicht. Störrischer Beginn, irgendwo, zwischen Indie, Math und Post. Das Feld der Dissonanzakkorde, der sägenden Repetition, der teilweise doch auch banalen Texte, schrittweise gebündelt mit Verwirrung über mehr rockige Direktheiten und eine viel höhere Präsenz der Stimme. Aber, und ein „Aber“ gehörte bei Bands wie Polvo immer mit dazu: Wer hier erwartet, dass es einfach werden würde, ist vermutlich auch schlicht im falschen Bus. Langsam und verhalten entfaltet sich aus den acht Liedern auf „In Prism“ eine gewisse Grandesse, die mit spröder Eleganz, souveränen Schrägen und der leisen Größe eines Herbstnachmittages auftrumpft und damit selbst im Jahr 2009 noch immer verdammt viel richtig macht. Text — Johannes Ruthenberg
Pete The Pirate Squid sind allein deshalb schon wahnsinnig, weil sie, seit sieben Jahren über bis zu vier Städte in zwei Ländern verteilt, auf inzwischen elf Releases kommen, nebenher selber in Veranstalter-, Label- und Wasweißichnochalles-Kram involviert sind/waren, und dabei immer die Mutter des Understatements blieben. Hier sind zwei Mädels und zwei Jungs, die unheimlich aufblühen, sobald sie sich – trotz der damit verbundenen Leiden – wochenendweise in den Proberaum einsperren, sich zu Draufzahl-Touren zusammenwürfeln, und doch immer wieder neue, überraschende Stücke hervorzaubern. Input is the output: Kein oberflächlicher, larmoyanter Rock-Scheiß, dafür schlauer, vielschichtiger, sophisticated Punk, dem man anmerkt, wie zahllos die Einflüsse sind. Die hier versammelten Songs sind ein perfekter Querschnitt durch die 36 Chambers of Post-Hardcore, so gar nicht hip, so gar nicht anbiedernd, aber schön schroff und herzlich. Grave, Shovel... Let´s Go! (benannt nach einem Ten-Grand-Song) sind so etwas wie deren kleine (bayrischen) Brüder, musikalisch etwas näher am Washington D.C. der letzten 10 Jahre, und man würde sich wünschen, dass andere Bands – vor allem so junge – nur ein Zehntel so viel Elan versprühen könnten und würden. Das Glänzen in den Augen eines 19-jährigen spielenden GSLG!-Schlagzeugers öffnet einem doppelt das Herz mit dem Wissen, dass sich das alles so unfassbar weit von Rockzirkus-Ambitionen, Jazz-Schule und Muckertum abspielt. Text — Kristof Künssler
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Mode – The Flowers in the Backyard,
Nele Shirt / Schwarzwaldkirsch Kette / Alex Monroe
Pierre Jacke, Hose / artificial happiness
Mode – they all die when you go away
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5)& '-08&34 */ 5)& #"$,:"3% 5)&: "-- %*& 8)&/ :06 (0 "8": Fotos — JOSEPHIN THOMAS
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Mode – The Flowers in the Backyard, Nele Kleid / Fornarina Pierre Shirt / starstyling Hose / artificial happiness
Nele Kleid / Motel Schuhe / Vintage Pierre Kette / starstyling Hose / artificial happiness
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Nele Kleid / Chandelier Legging / starstyling Schuhe / Adidas Pierre Shirt / starstyling Hose / artificial happiness Schuhe / Puma
Pierre Tuch / starstyling Hose / artificial happiness Schuhe / Puma
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Mode – The Flowers in the Backyard,
Pierre Tuch / starstyling Hose / artificial happiness Schuhe / Puma
Mode – they all die when you go away Nele Bluse / Schwarzwaldkirsch
Nele und Pierre Pullover / starstyling
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Literatur – Akuter Kriegswahnsinn
Literatur – Akuter Kriegswahnsinn
",65&3 ,3*&(4 8")/4*// Harry Graf Kesslers fesselndes Tagebuch von 1914 – 1916 belegt, wie virulent spezifische Kolonialpläne fßr die deutschen Kämpfe im Osten Europas waren
Text — JAN SĂœSELBECK, Fotos — DLA – MARBACH
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Literatur – Akuter Kriegswahnsinn
Zu Beginn des „Kriegstagebuchs eines Stoßtruppführers“, das 1920 unter dem Titel „In Stahlgewittern“ erschien, schreibt Ernst Jünger: „Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen.“ Von dem intellektuellen Kosmopoliten und kritischen Beobachter Harry Graf Kessler, dessen ab 1880 konsequent geführtes Tagebuch bei Klett-Cotta ediert wird, hätte man Dummheiten wie diese weniger erwartet. Präsentiert ihn doch der 2009 erschienene Band, der Kesslers Aufzeichnungen von 1923-1926 versammelt, als noblen „roten Grafen“. So nannte man den Dandy während der Weimarer Republik. Rastlos ist Kessler hier in der ganzen Welt unterwegs, mal auf dem Atlantik zwischen Madeira und den Kanaren umherschippernd, mal als möglicher Reichstagskandidat in Westfalen im Wahlkampf – und dann auch schon wieder als tapferer Botschafter eines neuen, demokratischen Deutschlands auf Vortragstour in den USA. Doch der fünfte Band der Edition, der die Notizen Kesslers von 1914-1916 zugänglich macht, stellt uns einen ganz anderen Diaristen vor. Am 23. August 1914, während des Vormarsches deutscher Tuppen durch Belgien, bei dem es zu Massakern an der Zivilbevölkerung kam, sinniert der Rittmeister der Reserve, das Gefecht komme ihm „aufregend und aufpeitschend wie Champagner“ vor. „Die Beklemmung ist viel geringer als auf der Rutschbahn.“ Auch noch am 17. November 1915 gibt sich der elitäre Kunstkenner angesichts der Auswirkungen des Lebens im modernen Krieg optimistisch: „Eine wunderbare tiefe Fröhlichkeit ist eines der verbreitetsten Resultate. Jeder Augenblick ist eine Lust, weil jeder Augenblick ein Geschenk ist. Niemand lacht so leicht wie ein Mann im Schützengraben. Die Fröhlichkeit sprudelt dort hervor wie ein Quell unter dünnem Moos, bei der leisesten Berühung.“ Wie so viele Intellektuelle und Schriftsteller seiner Zeit lässt Kessler zu Beginn des Ersten Weltkriegs auch keinerlei kritische Distanz gegenüber der deutschen Propaganda erkennen und scheint die Erschießungen belgischer Zivilisten als notwendige Vergeltung für halluzinierte ‚Heckenschützen‘-Attacken hinzunehmen: „Also Anstiftung dieses teuflischen Franctireurkriegs durch die belgische Regierung; ebenso wie wir es in Namur feststellten“, ist sich der wackere Stratege aufgrund verschwörungstheoretischer Räuberpistolen, die ihm ein schneidiger Oberst Otto Wilhelm von Klewitz am 17. Oktober 1915 beim Frühstück in Luczk auftischt, gleich sicher. Dennoch – oder gerade wegen solcher haarsträubender Einträge – ist dieser Band der Tagebuchedition eine besonders aufschlussreiche Quelle, deren Lektüre viel Neues über das „Augusterlebnis“ von 1914 und seine furchtbaren Folgen verrät. Bereits der erste Eintrag vom 5. August 1914 fesselt den Leser mit bürgerkriegsähnlichen Szenarien. Fassungslos schildert Kessler, wie ungebetene Zivilisten mit der Flinte in der Hand auf den Straßen des Berliner Umlands auf ‚Spionenjagd‘ gehen. Es gibt Verletzte und Tote: Die wild gewordenen Bürger stoppen selbst deutsche Soldaten, die auf dem Weg zu ihrem Feldzugsquartier sind, weil sie nicht glauben wollen, dass deren Papiere echt seien. So auch Kessler, der nach mehreren solcher Vorfälle auf seiner Fahrt nach Beeskow entnervt notiert: „Die ganze Bevölkerung von Berlin bis hier macht den Eindruck, als ob sie vollkommen den Kopf verloren hätte, die wilde Mär von den ‚russischen‘ Autos, die mit achtzig Millionen französischen Goldes nach Russland unterwegs sind und Bomben zur Zerstörung von
Telegraphenleitungen und Bahnübergängen mitführen, hat ihre Phantasie und ihre Angst auf das Äusserste gereizt.“ Doch auch Kessler selbst gerät zusehends in den Bann dieses akuten Kriegswahnsinns. Vor allem belegen dies seine Berichte von der Ostfront, an der er schließlich bis 1916 im Einsatz ist. Nicht nur für die Historiografie, die diesen ‚vergessenen‘ Kriegsschauplatz seit geraumer Zeit neu entdeckt und die dort stattgefundenen Gräuel erstmals aufzuarbeiten beginnt, sind Kesslers Beobachtungen und Analysen von geradezu sensationeller mentalitätsgeschichtlicher Aussagekraft. Es wird immer deutlicher, dass auch die Kämpfe gegen Russland und auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg bereits Charakteristika des späteren nationalsozialistischen Vernichtungskriegs annahmen, bis hin zu exzessiven Massakern an der Zivilbevölkerung. Zwar ist von Letzteren bei Kessler nichts zu lesen, doch der rassistische und koloniale Blick auf die Polen, Juden und Ruthenen, der in den Feldzugsbeschreibungen des Grafen manifest wird, spricht Bände. In der Karpatenregion fallen Kessler die blonden „Ruthenen“ wegen ihres edlen Wuchses wiederholt positiv auf, und gefangengenommene Deutsch-Russen taxiert er als „gutes Material“ für seine Kolonialpläne. Dabei wundert er sich, dass sich ihre „Naturalwirtschaft trotz der Juden, die in jedem Dorfe zahlreich wie Läuse sitzen, gehalten hat“. Die eroberten polnischen Gebiete dürften niemals zurückgegeben werden, verlangt Kessler in seinen Aufzeichnungen apodiktisch, und artikuliert dabei spektakuläre Projektionen auf die angegriffenen Anderen, die von ihm kurzerhand als „Russenpest“ bezeichnet werden. Schon Kesslers Zeitgenosse Karl Kraus dokumentierte in seinem während des Ersten Weltkrieges entstandenen „Journaille“-Collage-Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, dass es tatsächlich vor allem die deutschen und die österreichischen Truppen waren, die jene Gräuel verbrachen, die der Graf hier allen Ernstes seinen ‚Feinden‘ anlastet: „Wer die scheussliche Barbarei die teuflische, den irrsinnigen Fleiss gesehen hat, mit der die Russen dieses Land verwüstet haben, kann als anständiger Mensch, oder blos als Mensch, eine Rückgabe an so viehische, schmutzige und grausame Verbrecher garnicht ins Auge fassen. Es giebt Handlungen, die selbst in der Politik nicht erlaubt sind. Hier ist die Grenze erreicht, wo man sich zum Teilnehmer an einem so abscheulichen und ausgedehnten Verbrechen, an einer solchen Summe von neu hereinbrechenden vermeidbaren Morden, Schändungen, Brandstiftungen, viehischen Mishandlungen Unschuldiger machen würde, dass selbst der kälteste Politiker vor der Mitschuld an solchen Greueln Halt machen muss.“ Doch damit nicht genug. Auf seinen Märschen bis tief nach Russland hinein, die ihn am 16. Januar 1915 übrigens auch an einem gewissen, unscheinbaren Ort namens Oswíecim – Kessler ergänzt: „(Auschwitz)“ – vorbei in Gefechtsregionen führen, die im Folgekrieg zu zentralen Schauplätzen der Shoah werden sollten, beginnt der Graf, hochfahrende geopolitische Überlegungen anzustellen. Selten wurde der spezifische deutsche Kolonialismus, der traditionell eben nicht nur in Richtung Afrika, sondern vor allem nach Osten strebte, so schlagend belegt wie mit den Weltmachtideen, die Kessler hier beseelen. Polen solle zu einer deutschen Kolonie nach dem Vorbild der britischen Enklaven in Australien und Kanada werden, fordert der eifrige Stratege immer wieder, und wähnt seine Truppenteile dafür in den Sümpfen Wolhyniens bereits in einer „Art von Buschkrieg“. „Nach dem Kriege können wir auf diesem Wege über Aegypten und Uganda dann eine zusammenhängende Landverbindung mit unsrem Zentral- und
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Literatur – Akuter Kriegswahnsinn
schen Schutzstaat“ einen „Judenstaat“ an, in den sich dann die Berliner Kolonialherren wie in ein „Schlaraffenland zurückziehen“ könnten, um „fürstliche und gräfliche Dynastien“ zu gründen, formuliert Kessler am 25. August 1915 nahe Brest-Litwosk. Dass diese Gegenden im Zweiten Weltkrieg aufgrund vergleichbarer Wunschträume zu einem veritablen Planeten der Vernichtung mutieren sollten, ahnte Kessler noch nicht. Sein Tagebuch demonstriert jedoch auf bestürzende Weise, wie verführerisch ein Eroberungskrieg selbst auf jene Intellektuellen zu wirken vermag, die es wirklich besser wissen müssten.
„[…] Niemand lacht so leicht wie ein Mann im Schützengraben.“ Immerhin – Kessler lernte nach 1918 dazu. Bereits 1916, zurück an der Westfront vor Verdun, vertraut der seinem Notizheft plötzlich, inmitten widerstrebener Formulierungen, doch schon einmal an: „Den Wahnsinn dieses Massenmords sieht bei uns jeder ein.“ Doch die antisemitischen Großmachtphantasien, von denen sich Kessler später um so engagierter distanzierte, sind auch heute noch lange nicht aus der Welt. Auch deshalb ist sein Tagebuch von 1914-16 für uns ein so mahnendes und wichtiges Dokument.
Südafrikanischen Kolonialreich herstellen“, träumt Kessler am 18. Oktober 1915. „Es ergiebt sich für uns so aus eigenem Besitz und angegliederten und verbündeten Staaten ein zusammenhängendes Weltreich von Hamburg, Riga und Antwerpen fast bis nach Kapstadt; militärisch durchaus ebenbürtig den russischen und englischen Weltreichen.“ Euphorisch beobachtet Kessler auch die Entwicklungen im deutschen Heer: „Der Typus des jungen Front Offiziers, der sich allmählich herausbildet, vom Hauptmann abwärts, ist neu u. gar erfreulich. Durch die stete ihn umgebende Lebensgefahr [...], durch die Umsicht, Kaltblütigkeit, Entschlossenheit und Todesverachtung, die er Tag für Tag üben muss, [...], bekommt er Ähnlichkeit mit einem Seemann. [...] Alle haben Rasse, oder bekommen sie; ihr Leben härtet sie zu Stahl, auch die weichsten und die jüngsten.“ Immerhin dämmert es dem militärischen Sozialdarwinisten in diesem Tagebucheintrag vom 16. November 1915, dass diese Schule auch nach dem Krieg Folgen haben könnte: „Was wird aus diesem Typus im Frieden werden? Ich kann mir nicht denken, dass er wieder ganz verschwindet; dazu haben sich seine Züge, seine Haltung in den letzten Kriegsmonaten (bald wird man sagen können Kriegsjahren) zu sehr ausgeprägt und gehärtet.“ Da die Juden, die er dagegen für „militärisch minderwertig“ hält, in den östlichen Regionen Europas die Gesellschaft dominierten, strebt der Graf dort trotz allem „als deut-
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880 – 1937. Fünfter Band 1914-1916. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008. 820 Seiten, 63,00 EUR. ISBN 9783768198158 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880 – 1937. Achter Band: 1923-1926. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 1000 Seiten, 63,00 EUR. ISBN 9783768198189
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Literatur – Meine Geistig Umnachteten
MEINE GEISTIG UMNACHTETEN „I use my own work to subsidize my work; in other words: I`m crazy. But I`m not crazy enough to pretend that I`m free.” — Orson Welles Text — MICHAEL WEBER, Fotos — ANNA CIEPLIK
Als Kind bekam ich von einer Tante, einer Studienrätin aus West-Berlin, das Quartett-Spiel „Deutsche Dichter“ geschenkt. In zehn Abteilungen zu je vier Karten war die deutschsprachige Literatur bis ungefähr Gerhard Hauptmann untergebracht, etwa so: A1 – Goethe, A2 – Schiller, A3 – Wieland, A4 – Kleist. Zack! Nach welchen Kriterien die Dichter zu Quartetten gruppiert waren und welche genaueren Angaben unter den jeweiligen Portraits mitgeteilt wurden, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass ich mit Freunden versuchte, die Karten nicht nur zum öden Hin- und Hertausch zu verwenden, sondern so wie die zeitgleich aufkommenden Auto-Quartetts, bei denen man mit Füllmengen, Höchstgeschwindigkeiten, Baujahrangaben und Hubraumzahlen punkten konnte. Also haben wir bei den deutschen Dichtern wohl mit Geburtsdaten und Lebensjahren operiert, um herauszufinden, welche Karte eine andere stechen könnte. Aber viel war da nicht zu holen. Allerdings ergab sich ein Trumpf wie von selbst, sozusagen die Turbo-Auszeichnung der Dichter, nämlich die Erwähnung „starb“ oder „lebte seit ... in geistiger Umnachtung“. Diesen Begriff – Geistige Umnachtung – gab`s nur bei den Dichtern. Dumpf vermuteten wir einen dämmernden, hoffnungslos erschlafften Zustand großer, erwachsener Männer (Frauen kamen in dem Spiel kaum vor), die mit offenem Mund und blicklosen Augen in weite Fernen starrten, in neblig lichtschwachen Umgebungen hockten und gefüttert werden mussten – auf jeden Fall war uns klar, dass diejenigen unter unseren QuartettKandidaten, die so viel gedichtet und gedacht hatten, bis sie dieses Stadium erreicht hatten, alle anderen schlagen mussten, dass ebendiese besonders „dolle“ Dichter waren, also: Trümpfe. Friedrich Hölderlin, ein blassgesichtiger Jüngling, Friedrich Nietzsche (der wurde in diesem Spiel als Dichter geführt) mit einem beängstigenden Schnurrbart, Nikolaus Lenau mit irgendwie feurigen Augen und Jakob Michael Reinhold Lenz mit zu einem Knoten gebändigten, wirren Haaren – die Turbo-Dichter. Einige Jahre später, in der Schule, Gymnasium-Mittelstufe, wurde diese erste, recht naive Gedankenverbindung, die meine kindliche Phantasie durchaus noch mit Figuren wie den verrückten Erfindern und Mad Professors, mit Daniel Düsentriebs und Professor Bienleins anreicherte, erweitert und vertieft oder vielmehr ersetzt durch eine andere, ernstere, geheimnisvollere und angeblich erwachsenere: Genie und Wahnsinn! Kunst sei Risiko, sich geistig weit hinauszuwagen, auf die Gefahr hin, nicht mehr zurück zu können (wohinaus und wohin zurück eigentlich?)
So eine Art intellektuelles Survival-Training galt als faszinierend, und auch mir liefen Schauer über den Rücken: Dichten und Schreiben, Malen, Musizieren, Komponieren, überhaupt künstlerische Tätigkeit – das war also nicht ohne, dem konnte man also durchaus sein Leben widmen, daran konnte man allerdings dann auch zerbrechen und zugrunde gehen. Genie und Wahnsinn, hieß es, lägen nahe beieinander, fast schien es, als bedinge das eine das andere – „Ich sage nur van Gogh!“. Hier hatte nun Daniel Düsentrieb deutlich nichts mehr zu suchen, das war nicht mehr Quartett-Spiel, das war das Leben selbst! Aber gesteigertes Leben, Dichter-Leben, Künstler-Leben, intensiveres Leben, eben wahnsinnig intensiv! So wurde auch ich der ebenso allgemein verbreiteten wie flachen und dumpfbackigen Auffassung teilhaftig, dass Kunst und Geisteskrankheit irgendein besonderes Verhältnis zueinander hätten. Nur gut gemeint, natürlich, nicht abfällig, nur gut gemeint – Hochachtung, Respekt, Bewunderung und Mitleid für die Menschen, die unter ihrer Genialität derart leiden, die mit ihren kreativen Kräften, mit den letzten Fragen ringen – um dann zu scheitern, irgendwie, geistig zusammenbrechen, rettungslos in zunehmender Umnachtung versinken. Eine Szenerie wie aus einem Monumental-Film, jeder kennt wohl das dumpfe Genie-und-WahnsinnGeraune. Es ist ungefähr so läppisch und so zählebig wie die Behauptung, es gäbe Kapitalismus ohne Arbeitslosigkeit. Und so wurden die ehemals vertrauten Quartett-Heroes zu weit entrückten geistigen Meistern, dunkel und verschlossen. Aber, so hörte oder las man bei Autoritäten, die sich nahezu ein ganzes Leben lang mit deren Texten beschäftigt hatten, außerordentlich tief und reich. Doch nach nicht allzu geraumer Zeit trat renitentes Desinteresse und tiefes Misstrauen an die Stelle des anfänglich respektvollen Erschauerns. Warum redeten die nicht mit mir? War das so ein Elite-Club, der unter sich sein wollte? Aber sie waren ja Große – zu Große für meine Welt. Oder war ich einfach zu dumm? Na dann eben nicht! Das Quartett-Spiel war schon lange auf dem Dachboden verschwunden, die Dichter wurden jetzt ebenfalls eingemottet. Wer hat diesen Unfug bloß in die Welt gesetzt, diesen Genie-undWahnsinn-Quatsch? Und warum? Und warum hält sich dieser Blödsinn so frisch? Obwohl doch bekannt ist, dass Begriffe wie Wahnsinn, Verrückung, Verrücktsein oder Geisteskrankheit vollkommen willkürlicher Auslegung anheimgegeben sind, dass sie zu jeder Form von Beleidigung, Ausgrenzung, Verfolgung, Demütigung und Stigmatisierung taugten und
Literatur – Meine Geistig Umnachteten noch heute dazu gern bemüht werden? Dass unliebsame Intellektuelle immer wieder psychiatralisiert wurden und werden – von der ehemaligen Sowjetunion bis hin zur tief empfundenen Logik der sogenannten freien Welt, dass in marktwirtschaftlichen Verhältnissen eine Tätigkeit, die nicht dazu angetan ist, aus einem Taler zwei zu machen, per se als vernunftwidriger Irrsinn zu gelten hat. Friedrich Hölderlins Einstieg in die zweiten 37 Jahre, die angeblichen „Jahre der Umnachtung“ seines langen Lebens, war sein Zwangsaufenthalt im Authenriethschen Klinikum in Tübingen im Herbst 1806 bis ins Frühjahr 1807. Eingewiesen, um sich einer drohenden Verhaftung zu entziehen – seinen republikanischen Genossen wurde gerade ein Hochverratsprozess gemacht – wurde er nach fünfeinhalb Monaten als unheilbar entlassen. Wie unheilbar? Unheilbar was? Eingedenk dessen, was bis dahin schon in seinem Leben gescheitert war, die Beziehung zu seiner Geliebten, der Frau seines Arbeitgebers, sowieso verboten und unlebbar, schließlich ihr früher Tod, seine beruflichen Pläne, seine politischen und künstlerischen Ideen; eingedenk dessen, dass er zu dieser Zeit sozusagen vollkommen down and out als übrig gebliebener Anhänger der Französischen Revolution im bigotten Württemberg festsaß, während viele seiner Kollegen sich bereits gewinnbringender eingeordnet oder abgefunden hatten; eingedenk dessen, dass ihm dann die damals von Herrn Authenrieth gerade neu entwickelten Behandlungsmethoden in dessen hauseigener Klinik, die Zwangsjacke, die Gesichtsmaske und die Wechselbäder, den Rest gegeben haben müssen; all dessen eingedenk, sind Hölderlin-Scardanellis folgende 37 Lebensjahre im Turm ein bewundernswerter Ausdruck des Widerstands, des störrischen Durchhaltens, des Versuchs, sich treu zu bleiben und sich eben nicht aufzugeben, wenn auch zähneknirschend und in der Defensive. Wo soll denn da Umnachtung sein? Und was soll damit eigentlich gemeint sein, mit dieser Vokabel, von schlechten Dichtern für bessere „geschöpft“, die in einem Streich Hölderlins Authenriethsche Qualen, Lenz` Hungerjahre, Lenaus und van Goghs Syphiliserkrankung und die elenden und demütigenden Lebensverhältnisse so vieler anderer Quartett-Kollegen posthum in mildes, poetisches Licht taucht oder zum intensivierten Leben verklärt? Sie alle hatten vielfältige Gründe zu verzweifeln, sich abzuschießen – mit Alkohol, Drogen oder wirklichen Kugeln, unterzutauchen – in sich selbst oder irgendwo anders, in trostlosen Exilen, sich zu verkriechen oder „verhaltensauffällig“ zu werden (das nette Unkonventielle rührt ja daher).
… dass ihm dann (…) die Zwangsjacke, die Gesichtsmaske und die Wechselbäder, den Rest gegeben haben müssen Hyperion von F. Hölderlin mit Peter Grund und Michael Weber, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 1999
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Literatur – Meine Geistig Umnachteten, N.+,
Ganz wirkliche, darstellbare Gründe, gar nicht entrückt und ganz erklärlich. Da ist doch zum Beispiel das Vergessen einer SS-Mitgliedschaft über 60 Jahre bei einem Literatur-Preisträger unserer Tage viel erstaunlicher, viel unerklärlicher – haben wir es also bei Günter Grass endlich mit Genie und Wahnsinn zu tun? Also, warum hält sich dieser Unsinn? Warum fasziniert er, warum lässt sich mit ihm immer wieder dieses Gemisch aus Nebel- und Räucherkerzen um Künstler, Dichter und Schriftsteller herum abfackeln, das sie so unverständlich und uninteressant, so öde „besonders“ und langweilig „auserwählt“ erscheinen lässt? Erste Antwort: Banale Bequemlichkeit. Hölderlin zum Beispiel ist umnachtet viel verdaulicher, als wenn man ihn ernst nimmt. Und geheimnisvoller. Und schillernder. Zweite Antwort: Meine frühe Quartett-Vorstellung, dass, wer zuviel denke, schließlich verrückt würde, war der immer gut gefüllten Angst-Vorratskammer des Spießers entnommen, aus dem Regal “Intellektuellen-Hass”. Ich wusste es leider nicht besser. Aber das ganz große Genie-und-Wahnsinn-Theater haben Intellektuelle selbst tatkräftig mit hochgezogen, die es allerdings besser wussten. Allen voran Johann Wolfgang Goethe, also: A1 im Quartett. In seinem Schauspiel Torquato Tasso reflektierte er seine eigene Position als Künstler und Schriftsteller im Dienst einer aristokratischen Hierarchie zwischen Anpassung, Unterwerfung und Ehrgeiz auf der einen Seite und persönlicher Integrität und künstlerischer Aufrichtigkeit auf der anderen. In seinem Leben hatte er versucht, diese Widersprüche auszugleichen, indem er sich einerseits zum Hofrat ernennen ließ und andererseits so etwas wie „Tasso“ publizierte. Aber wie löste er diesen Konflikt im Modell auf, wie ließ er Tasso enden? Simsalabim! Im Wahnsinn: „Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht / Das Schiff an allen Seiten, berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf!“ Drei Zeilen noch, dann ist Stückschluss. Unlösbare Widersprüche, Wahnsinn, Krankheit, Unzurechnungsfähigkeit, Ende, Aus (Blackout, wie bei Helmut Kohl). Mit dem edlen Zerbrechen verstummen alle Fragen in den Wogen der Ergriffenheit. So haben Gene-
/N. +, Nagel
rationen von Literaturfunktionären Dichter und ihre Texte eingemottet, entschärft, befriedet, umnachtet und umnebelt. Um sie sich vom Leib zu halten, so wie der Geheime Rat Goethe sich Hölderlin und Lenz vom Leib zu halten wusste. Die Umnachtungen der Dichter haben sehr wenig mit ihnen selbst und ihren Texten, aber sehr viel mit der Inszenierung ihrer Interpreten und ihrer Verwalter zu tun. Als das durchsickerte, habe ich sie nach und nach wieder ausgemottet, meine Quartett-Helden, einen nach dem anderen, Hölderlin, Lenau, Lenz. Sie sahen anders aus als auf den Kärtchen – unauffälliger, durchschnittlicher. Und neulich meinte Hölderlin, sie werde ihm doch noch irgendwann gelingen, die Erfüllung seines großen Wunsches: „Eines zu seyn mit Allem, was lebt!“ Ich sagte, auch ich sei da zuversichtlich, gab aber auch zu bedenken, dass immer noch viele ihn für düster und unverständlich hielten. Er schüttelte den Kopf und lachte: „Verrückt!“
Michael Weber ist Schauspieler und arbeitete unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Wiener Burgtheater, Schauspiel Bochum, zur Zeit am Schauspiel Köln. Filme, Texte und andere eigene Projekte unter: www.blacktrash.org
VIELEN DANK FÜR DIE BLÜMERANZ Über The Offspring in Wiesbaden
Neulich war ich in Wiesbaden auf einem Konzert der Band The Offspring, die für mich ein Synonym sind für alles, was ich an den 90er Jahren gehasst habe, mehr noch als die Cranberries, H-Blockx oder die Four Non Blondes. Ich werde mit der Band für immer die Gymnasiumfrisur verbinden (Jungs mit langen, blonden Haaren, zum Zopf gebunden), und dass sie und ihre Kollegen von Green Day den mediokren Pfeifen aus meinem Jahrgang damals die Möglichkeit gaben, sich als „alternativ“ oder sogar „Punk“ zu stilisieren, ohne dafür nur ein Mal die Schule schwänzen oder etwas ähnlich Subversives leisten zu müssen. Beim Gesang von Dexter Holland spüre ich die Haare in meinen Ohren wachsen. Seine gequält hohe Stimme, die sich in Oktavbereiche vorwagt, von denen man sich wünscht, dass nur Hunde sie wahrnehmen können, ist vielleicht das verklemmteste Geräusch, das ich je gehört habe. Allein dass ich seinen Namen kenne, verursacht bei mir schon ein schlimmes Gefühl von Fremdscham. Wobei er vermutlich ein ganz feiner Kerl ist. Was es nur noch schlimmer macht. Das Konzertpublikum war von der Sorte „zwei Konzerte im Jahr, plus ein Mal zu Rock am Ring, dann habe ich alles gesehen“, also mit wenig Stilbewusstsein und umso mehr Kaufwut ausgestattet. Beides Faktoren, die für den Erwerb dieser hässlichen Offspring-T-Shirts unerlässlich sind, die palettenweise über die Merchandise-Theke gingen. Aber die Wiesbadener haben´s ja. Man könnte sagen, der Stadt geht es zu gut. An den blank geputzten Karossen auf den Straßen hätte das Anti-Gentrifizierungs-Bombsquad in Berlin seine helle Freude, und auf dem Weg zum Schlachthof kam mir die Buslinie 8 Richtung Eigenheim entgegen, ein nobler Vorort, in dem auch das BKA residiert und dessen
Name zu dieser Stadt passt wie der Baseballschläger in die Magengrube. Die Menschen sahen aus, als seien sie in ihrer Kindheit zu oft gebadet worden, und zwar nicht in Wies, sondern in Henkell Trocken. Gebadet wurden sie auch beim Konzert, in der Halle lief die Kondenssuppe in Sturzbächen von den Wänden. Während der ungefähr 25 Sekunden, die ich mir von The Offspring ansah – weniger zur Urteilsbildung als zur Vorurteilsbestätigung – fiel mir der gute Satz wieder ein, von dem ich jetzt einfach mal behaupte, dass ich ihn mir selbst ausgedacht habe: You know what I like better than Offspring and Green Day? – A green spring and an offday. Ein junger Mann in einem Shirt meiner eigenen Band kam vorbei und fragte mich, was ich denn hier machen würde, und ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich zufällig in der Gegend gewesen war und nur die Vorband Rival Schools sehen bzw. ihren Sänger treffen wollte. Ich kam mir vor wie jemand, der im Pornokino erwischt wird und behauptet, nur zu Recherchezwecken da zu sein. Also setzte ich mich vors 60/40, der Kneipe am Schlachthof, in der gerade die „Fresh Fruit For Rotting Vegetables“-LP der Dead Kennedys lief, und ich dachte einen Satz, von dem ich gehofft hatte, ihn niemals denken zu müssen: Früher war alles besser. Ich war übrigens vier Jahre alt, als diese Platte erschien. Und weil ich in dieser Kolumne immer versuche, einen Bezug zum Thema der aktuellen Ausgabe zu finden, möchte ich noch hinzufügen: Ich habe mich selten weiter vom Wahnsinn entfernt gefühlt, als an diesem Abend. Was auf eine Art ja schon wieder Wahnsinn ist. So wie alles, wenn man will. Denn Wahnsinn ist jetzt das, was heftig oder krass mal waren. Alles, und gar nichts.
Literatur – Write down your Town
WRITE DOWN YOUR TOWN
Advertorial
Text — KASPER THOMAS, Illustration — ZOYD WHEELER Erinnern Sie sich an folgende Szene? Irgendwo im Mittleren Westen am Rande der großen Seen drängt sich ein Umzug durch die Straßen der Stadt. Plötzlich sehen wir den Protagonisten des Films auf einem Wagen des Festzuges stehen. Er greift das Mikrofon und schmettert die Lieder „Danke Schön“ und „Twist and Shout“. Die Rede ist natürlich von Matthew Broderick, der in „Ferris
Bueller's Day Off“, inszeniert vom kürzlich verstorbenen John Hughes, eine ganze Generation von Schulschwänzern begeisterte. Hughes ließ diesen Akt mitreißender Spontaneität in Chicago stattfinden. Weil der Regisseur die Stadt so liebte? Vielleicht. Möglich ist allerdings auch, dass die „Windy City“ zur Kulisse dieser unmittelbaren Lebendigkeit wurde, weil sie seit jeher eine besonders kreative Dynamik mit Hang zur Improvisation pflegt. Denken wir an Louis Armstrong und die wüsten Break-Improvisationen von King Oliver’s Creole Jazz Band. Oder an Jim O’Rourke, Sam Prekop, Bobby Conn, John McEntire, Wesley Willis oder den großen Jeff Tweedy – Chicago scheint ein Soziotop zu sein, ein Ort, der die Entwicklung unterschiedlichster neuer Ausdrucksformen begünstigt. Auch der Ursprung des Poetry Slams liegt in dieser Stadt. Marc Kelly Smith brachte 1984 (zwei Jahre, bevor „Ferris“ in die Kinos kam) zum ersten Mal diese Art von Open-Mike-PerformanceKunst auf die Bühne. Und er denkt gar nicht ans Aufhören. Auch heute noch werden im Traditions-Jazzclub „The Green Mill“ jeden Sonntag unter seiner Obhut Poetry Slams abgehalten. Doch was passiert eigentlich genau an diesen Abenden, wenn der „Slam Papi“ persönlich anwesend ist?
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Dies herauszufinden, lädt in diesem Jahr die Plattform Mobile Sessions (www.mobile-sessions.com) von Sony Ericsson ein. Im Rahmen des Wortwettbewerbs „Stadtgeschichten“ wird dazu aufgerufen, Geschichten zu erzählen. Beobachtungen, Erlebnisse, Gespräche – 500 Zeichen müssen genügen, um der eigenen Stadt ein Gesicht zu verleihen. Als Orientierungshilfe schreiben bekannte Autoren, Musiker und Designer, die als Beispiele dienen. Maximilian Witzigmann (Drehbuch „Tramitz & Friends“), Jens Hoffmann (Regie „9to5 – Days in Porn“), Dennis Lisk (aka Denyo von „Absolute Beginner“) und Jens Teutsch-Majowski (Drehbuch „Isch kandidiere – Horst Schlämmer“) sind einige unter vielen, die die Teilnehmer mit ihren Beiträgen inspirieren. Die hochgeladenen Geschichten treten ab 15. Oktober gegeneinander an, die User entscheiden. Die zwanzig Einsendungen mit den meisten Stimmen stellen sich im Finale der Jury, die den endgültigen Sieger kürt. Als Abschluss des Wortwettbewerbes wird Anfang Dezember in zwei Lesungen eine Auswahl der Einsendungen präsentiert. Der Gewinner darf nach Chicago fliegen und kann es im „The Green Mill“ genauso machen, wie Ferris: einfach rauf auf die Bühne!
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Literatur – (Gastexperten)
(… von Leuten, die es besser wissen)
BORNHÖFT IN DER KÜCHE MIT PAUL Lutz Bornhöft (33) ist Koch und Mitinhaber des Restaurants und der EspressoBar „Juwelier“ in der Hamburger Weidenallee. Er beurteilt Stevan Pauls Buch „Monsieur, der Hummer und ich“, in dem es um Erzählungen vom Kochen geht.
bergarten von der Fraktion „Kenn ich nicht, mag ich nicht“. Und genau das ist das Besondere: Es ist eine Notwendigkeit, um die man nicht herum kommt, aber man bekommt mit diesem Beruf die Gelegenheit, aus etwas Alltäglichem für andere einen Genuss zu machen. Wohl bemerkt: für andere!!! Denn beruflich zu kochen bedeutet Gastronomie, bedeutet Dienstleistung am Gast! Gastgeber zu sein heißt: sich selbst reduzieren, arbeiten wenn andere feiern, mit seinem eigenen Geschmack den anderer treffen, kommunizieren, teamfähig sein, Disziplin und Ausdauer zeigen, mit Kritik umgehen und eine mal schlechte Laune verstecken. All das geht aber nur, wenn man sein Handwerk mit viel Freude und Leidenschaft ausübt und spiegelt sich für mich in diesem Buch wider. Es macht mich glücklich und stolz zugleich, diesen Beruf gewählt zu haben und ob ich nun für Fremde in einem Restaurant, für Freunde oder für die Familie koche, sobald ich für andere koche, bin ich Gastgeber und das muss perfekt sein, denn dafür bin ich viel zu gerne selber Gast. Fazit: Stevan Paul beschreibt amüsant, aber auch ernsthaft, was es mit dem Kochen auf sich hat, wie es uns beeinflusst, was es uns vermittelt, an was es uns erinnert und woher es kommt bzw. welche Fingerkuppe oder welches andere Opfer es gekostet hat. Ich kann jedem, der Spaß am Essen und Kochen hat, dieses Buch wärmstens empfehlen und hoffen, es bereichert.
Text — LUTZ BORNHÖFT, Foto — PHILIPP VON MUMMENHOFF Erzählungen vom Kochen...? Ich hätte es mit „Erzählungen eines Kochs“ umschrieben. „Vom Kochen“ hört sich etwas seltsam an, was um Gottes Willen dieses Buch gar nicht ist. Ganz im Gegenteil erzählt es in vollem Umfang davon, was es bedeutet, ein Koch zu sein. Von Situationen, die man nur erlebt, wenn man seinen Beruf mit Neugier, Disziplin und Leidenschaft ausübt. Wie zum Beispiel die Geschichte von dem Fischmenschen, der trotz seiner abgeschnittenen und nicht wiedergefundenen Fingerkuppe seine Kollegen nicht im Stich lässt und fast an einer Blutvergiftung draufgeht. Oder die Begegnung mit „Gott“ in Form von keinem Geringeren als Paul Bocuse, der sich als eine lüsterne und amüsante Person entpuppt, die am Ende aufgrund grenzenloser Völlerei und Trunkenheit schnarchenderweise am Tisch einschläft. Ein ganz großes Highlight ist aber die Geschichte „Männer wie wir“, die zeigt, welche Nebenwirkungen dieser Beruf auch haben kann, dass er einem viel Privates raubt und man nicht immer so gesellschaftsfähig ist, wie andere es von einem erwarten. Nach dem Lesen dieses Buches wurde mir mal wieder klar, was dieser Beruf für mich bedeutet und was das Schöne am Kochen ist. Kochen tut man, um zu essen, und Nahrung muss schließlich jeder täglich zu sich nehmen, ob nun Feinschmecker, wie Wolfram Siebeck, oder die Böhmes aus dem Schre-
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Literatur – Buchform und Buchwurm
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BUCHFORM UND BUCHWURM Dass Bücher ihre eigene Geschichte und ihr Schicksal haben ist kaum von der Hand zu weisen. Es bedarf emsiger Arbeit, um sie der Vollstreckung des Urteils der gesellschaftlich organisierten Zeit, dem Vergessen zu entreissen. Text — HANNO PLASS, Foto — JULIA KEUTNER Diese Intention des Bewahrens geht nicht nur Privatpersonen etwas an, denn letztlich reflektiert sich in den Büchern auch ein Gedächtnis der Gesellschaft. In ihren Waren verdinglicht die kapitalistische Welt nicht nur Arbeitskraft, sondern auch Historizität. Dass diese aufgedeckt werden kann, verdankt man oftmals den Ambitionen und dem Geschick von Antiquaren. Dieser Wechselgang von privat und öffentlich, Schnittstelle von Mäzenen, Sammlern, Bibliotheken, weist auf die Dialektik des Buches als Träger von historischer Wahrheit und zeitlicher Ware hin. Einerseits fördert die antiquarische Tätigkeit Schätze zutage – vor allem gilt dies für die Bücher aus Deutschland, die dem Autodafé von 1933 kaum entkamen. Dem Antiquar kommt derart eine Rolle als Instanz der Wahrung der Möglichkeit von materialisierter Erinnerung zu. Er bewahrt die Gegenstände auf, an denen sich Geschichte und Gedächtnis noch anheften kann, nachdem ihre Besitzer, die Subjekte des historischen Prozesses, vernichtet wurden. Die andere Seite der antiquarischen Tätigkeit ist davon schroff geschieden: Die Aufbereitung und Auffindung von Büchern, Antiquitäten und anderem Material zur Zuführung auf den Markt. Der Lauf der Zeit erhöht den Tauschwert der Dinge mitunter noch vielfach. Vom Gebrauchsgegenstand sind die Bücher zu begehrten Sammlerobjekten geworden. Der Akt der Aneignung über den Markt ist dennoch (derzeit) die einzige Möglichkeit, diese Objekte, an denen Geschichte sich anhaftete, wieder zu Bewußtsein zu bringen. Vorausgesetzt ist aber, dass jemand um die Dinge weiß, wissen will, nach ihnen sucht.
Die Suche des Antiquars Jürgen Holstein führte Dinge in nicht nur unfreiwillig komischen Ereignissen zutage, wie mit der Tochter des Architekten Erich Mendelsohn während einer Autopanne auf die Highway Patrol zu warten. Sondern Holstein weist auch auf Grenzen einer Vermarktung hin. Bei besagtem Zusammentreffen mit Esther Mendelsohn findet Holstein im letzten Winkel ihrer Garage alte Kartons ihres Vaters. Darin lagerten seit Jahrzehnten Architekturmodelle für jüdische Gemeindezentren in den USA, die ausgeführt wurden, und eine in New York geplante Gedenkstätte an die in der Shoah ermordeten europäischen Juden. Alle Modelle sind inzwischen, über den zwischenzeitigen Besitz Holsteins, Eigentum der Kunstbibliothek Berlin. In der Diskussion um ein „HolocaustMahnmal“ in der neuen deutschen Hauptstadt trat niemand für die mögliche Erwägung des Entwurfs Mendelsohns auf. Nie wurde der Entwurf der Öffentlichkeit präsentiert – auch dies ist nun Teil ihrer Geschichte. Holsteins Kommentar: „Wer Kulturgüter im nationalen Auftrag verwahrt, diese aber nicht präsentiert, gibt sie dem Vergessen preis – und das mit allen Konsequenzen.“ Holstein selbst hat sich bemüht um eine systematische Erhaltung von Erinnerung. Seine über Jahre erstellte Dokumentation über jüdische Bibliophile, Sammler und Antiquariate von 1883 bis 1933 befindet sich heute in der Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin. Nach der „Wende“ von 1989/90 fuhr Holstein in die ehemalige DDR, aber nicht auf der Suche nach bestimmten Exemplaren von antiquarischem Wert. Die Nachricht, dass tonnenweise
Bücher aus Verlagen des sozialistischen Deutschlands auf dem Müll landeten, rief bei ihm die Bilder der Bücherverbrennung 1933 in Gedächtnis. Angesichts der Fülle der Druckerzeugnisse wie auch der Makulatur des neuen Deutschlands, beschränkte Holstein sich auf Literatur zur Kunst der DDR. Berge von Papier der unterschiedlichsten Form häuften sich während der jahrelangen geradezu obsessiven Tätigkeit des Berliner Antiquars an. Für diese große Sammlung suchte er eine öffentliche Institution, die sich der Objekte annehmen sollte. Aber weder in (West-)Deutschland noch im europäischen Ausland war es Holstein möglich, jemanden zu interessieren oder zu begeistern. Zu seiner Erleichterung nahm sich sein langjähriger Bekannter Mel Edelstein des kalifornischen Getty Research Institutes der Sammlung an. Dort wurde sie nicht nur verwahrt, sondern auch – dies war Holsteins einzige Verkaufsbedingung – katalogisiert und Interessierten online zugänglich gemacht. Holstein stellte nach über zwanzig Jahren im Beruf eine Sammlung von Erinnerungen und Begebenheiten rund um seine Tätigkeiten zusammen. „Bücher, Kunst und Kataloge“ erschien anläßlich des vierzigjährigen Jubiläums seines Antiquariats. Er entwickelte seit den sechziger Jahren weitreichende geschäftliche Kontakte, die durchaus freundschaftlich wurden. So gelangte Holstein an Sammler und Institutionen in den USA und betrieb bis 2001 gemeinsam mit seiner Frau Waltraud das Antiquariat mit dem Schwerpunkt auf Kunstwissenschaft und Literatur zur Kunst des 20. Jahrhunderts.
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Literatur – Ein schizophrener Brief … Autor Ulrich Holbein, angeregt von Dierk Höpfners Brief über Inkarnationspädagogik, sinnt über die Schuld der Welt nach …
EIN SCHIZOPHRENER BRIEF ZUM THEMA INKARNATIONSPÄDAGOGIK Dierk Friedemann Höpfner, ein sog. schizophrener Mitmensch, der gern Rudolf Steiner las, schrieb mir Hunderte Briefe, von denen ich nur diesen einen mal abtippte, zum Thema Inkarnationspädagogik, ein Begriff, den die Wissenschaft nicht kennt und der sich bisher auch dem Google entzog, exempflifiziert an dem Labrador Willi, den ich damals in Obhut hatte. Text und Foto — ULRICH HOLBEIN Lieber Ulrich! Ausgehend vom Begriffe Inkarnationspädagogik vernehmt im Nebel der schwülen Persönlichkeiten von dem, was sich in mir zu diesem Begriff durchgerungen hat. Nun aber ist es ein Widersinniges, wenn der Lehrmeister vom Schüler eine Lehre empfängt, doch lasset mich am Beispiel Eures treuen tierischen Dieners Willi, dessen Domestizierung um Wesentliches vorangeschritten ist, nämlich also dass an ihm der Gehorsam und eine Ordnung ablesbar ist. Im Innern wie im Äußeren ist eine höhere Stufe der Gepflegtheit erkennbar. Dieses aber ist in meinem Verständnis ein Kompliment an die Tatsache der Erziehung auch niederer Wesen hin in die Richtung einer Erzeugung von Konzentration auf Kulturnahes. So aber die Annahme gilt, dass eine stete Verfeinerung der Wesen in verwunderlicher Weise sich durch jede Generation führt, so wandelt sich mein Erstaunen über Willi im Verstehen insofern als ein gezieltes Vorgehen mit ihm, ihn in der Stufenleiter bis schließlich zur Menschwerdung vorwärts bringen könne. Es mag lästig zu sein von der Vision zu lesen, die ich von Willis Wesen hatte als ich mich von Euch verabschiedete und wir, also Ulrich und ich nach der Küche redeten jedoch es erschien mir das Bild eines schlitzäugigen sehr dickbäuchigen Menschenfressers dessen Oberleib positiv sichtbar war also weiß erschien, dessen Unterleib allerdings noch nicht entwickelt war, also einer Entwickelung bedürfte. So die Erscheinung des Wesen Willis.
Jetzt haben meine Sätze außerdem noch einen erweiterten Sinn, wie folgt: Ein verantwortungsbewusster Umgang mit solch einer unvollständigen Inkarnationsstufe fordert dieses Wesen in den Zustand der Besinnung zu führen, um ihn in die Lage zu versetzen sich zu erinnern. Denn die Erinnerung ist die Pforte zu Niederkunft aller Wesen, es sei damit auch die Ahnung an ein Vorleben gemeint. Empörend und hier möchte ich Euch wie auch mich ermahnen, wäre es aber nun, sich zu erdreisten solch ein Tier hinter einem Auto herlaufen zu lassen über 7 km. Zwar wäre solch ein Abenteuer eine Stärkung der Muskeln, aber es wäre wahrlich eine unfreundliche Manier gegen das Tier denn es würde sich üben dass Willi unwillig sein könne, freundliche Ratschläge zu befolgen. Es würde ein Tier in den Zugriff der Natur vertiefen. Dieser war mir auch aus dem Denken gewesen da ich ihn in den Keller einsperren wollte, da er mir in jenem Augenblicke lästig war. Unwesentlich erscheint diese Ansammlung von Wortmyriaden wenn man nicht im Auge hätte eine theoretische Verallgemeinerung dessen was man unter Inkarnationspädagogik zu verstehen habe, denn darunter fällt all jenes was förderlich ist ein Tier zu erreichen und ihm den Zustand der Christianisierung näher zu führen. So sollte täglich ein ermahnendes Wort in würdevoller Aussprache ihn an seine Zukunft erinnern. Zumal ja im Wort die Kraft lebt die schließlich in uns Menschen den Samen des Verständnisses sät, warum sollte es beim Tiere vergessen werden. Ich glaube gar und hier fühle ich bei Willis
Wesen Bestätigung dass er aus einem fernen Land kommt, einer asiatischen Gegend wo einstmals Kannibalismus zur Schmach der Kultur vernichtend existierte. Willi aber hat die Möglichkeit unter warmen Herzen ein neues Leben zu beginnen und er ist da um den Willen zu entwickeln dieses ist seine Aufgabe hier in seinem diesseitigen Leben, also er soll und dieses wird wiederum bejaht, er soll seine Unterleibsregion entwickeln und ihn dann in schmeichelnde weitere Leben zu tragen wo er dann begierig nach Beseelung sein wird. Dieses wird die Aufgabe eines übernächsten Lebens bei ihm sein. Denn hoffentlich wird er in der richtigen Pflege einst als Menschenwesen geboren. Ja an so etwas glaube ich. Mit Recht, denn während ich dieses formuliere spricht eine Stimme zu mir aus dem Himmel die es befürwortet und außer diesem Wunder und Wohltat sehe ich Visionen mit einer untrüglichen inneren Sicht, sodass meinem inneren Blicke kaum etwas verborgen ist und ich durch Menschen oft hindurchschaue und in den verborgensten Ecken Wahrnehmungen von insgeheimen Gefühlsregungen habe. Manchmal bilde ich mir sogar etwas darauf ein, dass ich nämlich denke ich sei der wiedergeborene Messias, aber bitte nehmt diesen Größenwahn der mich zur – ja so habt ihr erfahren von meinen Sensibilitäten ins Gebildete und Eingebildete und verzeiht dass ich Euch die Aufmerksamkeit beanspruchte. Freundliche Grüße Euer Dierk Von Ulrich Holbein just erschienen im Marix Verlag „Dies meer hat keine Ufer. Klassische Sufi-Mystik“.
Literatur – Das dreigelappte flammende Auge
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DAS DREIGELAPPTE FLAMMENDE AUGE Er kannte den Leuchtenden Trapezoeder, in jeder seiner Geschichten brach der Wahnsinn sich Bahn. Der Misanthrop H.P. Lovecraft ließ vieles offen und verursachte damit den größten Schrecken Text — LUCIA NEWSKI, Illustration — MARTINA HOFFMANN Shub-Miggurath? So heißt doch kein furchtbares Wesen! „Das einzige wirkliche Grauen in den meisten dieser Erzählungen ist das Grauen schlechten Geschmacks...“, soll der angesehene amerikanische Kritiker Edmund Wilson über Lovecrafts „geschwätzigen und gewöhnlichen Stil“ einmal gesagt haben. Tatsächlich sind die Zeiten, in denen der Fürst Unheimlicher Phantastik ernsthaft polarisierte, auch in Deutschland vorbei. Arno Schmidt bekannte in den 70er Jahren offen seine Bewunderung für Lovecrafts Werk. Metallica komponierten Klassiker über Lovecrafts „Cthulhu-Mythos“, Computerspiele wie „Alone in the Dark“ verwalten sein Erbe, Houellebecq war von Lovecrafts Pessimismus begeistert, und Tocotronics Dirk von Lowtzow erzählt in „Das Böse Buch“ vom Nekronomicon und den Älteren, einem immer wiederkehrenden Motiv in Lovecrafts Literatur. Einen Kultstatus hätte man dem Außenseiter aus Providence, Rhode Island zu Lebzeiten kaum zugetraut. Bis zu seinem Tode 1937 erschien neben ein paar Geschichten in kommerziellen Pulp-Magazinen einzig der Kurzroman „Schatten über Innsmouth“ in einer Auflage von ca. 200 Exemplaren. Howard Philips Lovecraft wollte drei Dinge: 1. Kein Schriftsteller sein, Angebote von Verlagen wies er zurück; 2. Die Lebenshaltung eines „Gentleman“ kultivieren, ohne Rücksicht auf seine desolate ökonomische Situation; 3. Briefe schreiben, möglichst viele. Seine postalischen Korrespondenzen mit der Außenwelt werden auf nicht weniger als 100.000 Briefe geschätzt, die manchmal bis zu
100 Seiten lang waren. Nach kurzer Ehe schrieb er sie im Haus seiner beiden Tanten, mit denen er seit 1926 zusammen lebte. Dass Lovecraft mittlerweile Leser in sämtlichen Schichten der Gesellschaft findet, wird nicht an seinem Stil liegen. Er pflegt eine Beschreibungsroutine aus schmalem Repertoire: alles ist immer „grauenvoll“, „gotteslästerlich“, „unfassbar“ oder „wahnsinnig“. Auch sein Pandämonium grobschlächtiger Monster wirkt bei expliziter Beschreibung manchmal lächerlich. Zum einen ist es Lovecrafts Technik, die ihn so einmalig macht. Die Art und Weise, wie der Erzähler sich unter höchsten Anstrengungen aufrafft, in nüchternem Ton darüber zu berichten, was ihn in den Wahnsinn getrieben hat. Zum anderen ist es das ehrfurchtgebietende und archaische, das „äußere Böse“, dem Lovecraft zu größter Faszinationskraft verhilft. Denn seine Literatur handelt von dem, was die menschliche
Auffassungsgabe überfordert. Die Stadt in „Berge des Wahnsinns“ oder jene Insel in „Ruf des Cthulhu“ beispielsweise, vermitteln gerade deshalb ein Gefühl des Schreckens, weil ihre detailreichen Darstellungen die Grenzen des Verstandes einreißen. Unmögliche Geometrie, kultiviertes Leben auf der Erde vor Milliarden von Jahren – wir können uns den Erscheinungen des vollkommen Anderen, das sich nebenan abspielt, nur durch ungute Spekulationen annähern. Wer keine geistige Anstrengung unternimmt, um diese sonderbare Erzählwelt zu betreten, für den ist Lovecraft nur ein kurzer Ritt mit der Geisterbahn. Wer sich hingegen auf Lovecrafts Phantastereien einlässt, dem öffnet sich eine ganz wunderbar durchgedrehte Welt aus Monstergrusel, Wahn und Spinnerei. Man muss den Irrwitz nur zulassen: Lang lebe Yog-Sothoth!
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Literatur – (Buch der Ausgabe)
NORBERT ZÄHRINGER „Einer von Vielen“ (Rowohlt) Text und Foto — SENTA BEST
Wer leicht schizophren ist oder dies noch werden möchte, sollte sich mit Zähringers neustem Roman, äh, Epos, und dessen liebenswerten, gefühlten 184 Charakteren beschäftigen. Ich als bodenständige Leserin hatte jedenfalls so meine Probleme – aber nichtsdestotrotz sehr viel Spaß: Edison Frimm und Siegfried Heinze werden beide an einem Morgen im September 1923 geboren, Edison während eines Erdbebens UNTER einem Tisch, Siegfried in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik und AUF fünf Millionen Reichsmark. Besagter Tisch trägt ein Schild mit der Inschrift „Julius Raabe Möbelfabriken, Berlin“ und sollte vorerst das einzige Verbindungsglied der beiden Jungs bleiben. Siegfrieds Erzeuger nämlich ist gar nicht Papa Heinze, sondern heißt Heinrich Raabe und dessen Vater – tatatataaaa – ist der Julius vom Schild unter dem Tisch. Um das Geheimnis des Kuckuckskindes weiß allerdings nur Siegfrieds Mutter und auch für die Geschichte spielt diese Tatsache keine große Rolle – oder etwa doch? Siegfrieds Vater wird am Tag der Geburt während einer Sauftour erschossen. Damit beginnt ein Kriminalfall, der den Leser im Laufe des Buches begleiten wird – und mich vollends verwirrt hat. Wer letztendlich der Mörder war? Ich habe es beim besten Willen nicht begriffen. Aber darum geht es letztendlich ja auch gar nicht... Der Mordfall wird untersucht von Kommissar Mauser, dessen prall gefülltes Leben jeder andere Autor mit ziemlicher Sicherheit in einen zweiten Roman gepackt hätte: Beruflich jagt Mauser jahrelang den ominösen Serienkiller, der u. A. Siegfrieds Vater auf dem Gewissen hat, privat versucht er sich als Oppositioneller zwischen dem ganzen Haufen Nazis möglichst bedeckt zu halten, muss aber gleichzeitig ein von ihm im Suff ersponnenes Attentat auf Hitler innerhalb der Kanalisation Berlins verhindern. Kein Wunder also, dass er bei dem Stress plötzlich von der Stimme eines imaginären Füchsleins verfolgt wird. Bebo Globodajarian, Mausers Nachbar, den der Leser an anderer Stelle besser kennen lernt, wird schließlich als KanalisationsAttentäter verdächtigt, weil ihm – ebenfalls im Suff – fünf Mark in den Gulli fallen. Beim GeldRettungsversuch landet Bebo versehentlich in Berlins Unterwelt und wird dort prompt erwischt – den Rest kann man sich denken. Doch Mauser sorgt dafür, dass er verschwinden kann. Allerdings bricht auf Bebos Überfahrt nach Amerika der Zweite Weltkrieg aus und alles kommt doch wieder anders ... Mauser rettet außerdem einem verwaisten jüdischen Jungen das Leben. Dessen Enkel wiederum verhindert am Anfang bzw. Ende des Romans den Selbstmord des inzwischen 80jährigen und lebensmüden Edison Frimm. So laufen doch wieder alle Fäden zusammen, wo man als Leser zwischendurch so manch einem verloren geglaubten Sinn zum Abschied nur noch schwach zuwinken wollte. Vielleicht hätten es zum besseren Verständnis des Romans auch ein Drittel der Hauptfiguren, Schauplätze und Jahrzehnte getan, aber mit der Menge an Charakteren wird der Autor 1.
zu 150 % seinem Titel gerecht und 2. bekommt die Geschichte durch die Verschlungenheit der Personen und deren schicksals- oder zufallsträchtige Begegnungen durchaus ihren ganz eigenen Reiz. Zähringer nimmt allerdings tatsächlich nicht den kleinsten Funken Rücksicht auf den Leser. So springt er, teils frecherweise ohne den Ansatz eines Absatzes, von einer Figur zur nächsten, gleichzeitig von einem Jahrzehnt ins Übernächste und von Filmszenen in die reale Romanwelt. Dies gibt dem sowieso schon verwirrten Leser den Rest, zeugt aber wiederum von der Genialität des Autors. Der behält auf mysteriöse Art und Weise immerhin irgendwie den Überblick über seine Figuren, deren Zusammenhang zueinander und ihre zum Bersten gefüllten Schicksalsbeutel. (Jedenfalls vermute ich das.) Ich ziehe also ehrfürchtig meinen Hut und bestelle doch glatt bei amazon.de die beiden Vorgänger-Romane. In der Hoffnung auf ähnlich verquere Figuren, weitere unfassbare Zufälle und eine Menge Verwirrungen, die hoffentlich neuen Schwung in meine verkalkten Hirnwindungen bringen.
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Literatur – (Highlights)
Brigitte Kronauer
Terézia Mora
Thomas von Steinaecker
ZWEI SCHWARZE JÄGER
DER EINZIGE MANN AUF DEM KONTINENT
SCHUTZGEBIET
(Klett–Cotta)
(Luchterhand)
(Frankfurter Verlagsanstalt)
Sie alle treibt das Verlangen nach einem Gegenentwurf an: Die Zahnärztin Stefania sucht in dem Maler Fritz Grosse „die leuchtend strenge Welt der Künste“, ihr Ehemann, ein Sinologe, hingegen will den „staublosen Glanz“ der Prostituierten Uschi. Und der provinzielle Kulturveranstalter Schüssel braucht die Visionen der Autorin Rita Palka, um „nicht zu zerfließen im Chaos seines Elends.“ Die Protagonisten aus Brigitte Kronauers episodenhaftem Roman „Zwei schwarze Jäger“ erleben mal mehr, mal weniger tragische Versuche, sich aus oder in die eigene Geschichtsschreibung zu retten – je nach subjektiver Notwendigkeit. Andere Menschen als Fluchtlinie, sich selbst als Erzählstrang, dessen Tonfall austariert werden muss. Und was sind die Saugnäpfe, mit denen sich jeder Einzelne an seiner Realität festhält? Kronauers zwischen Pragmatismus und Romantik, Empathie und Ironie changierender Erzählstil überrascht in jedem Winkel mit einer neuen Klangfarbe und lässt den nie zur Ruhe kommenden Leser ständig auf der Hut sein vor all zu schnellen Urteilen. Denn Kronauer fühlt sich der Pluralität verpflichtet. Und lässt deshalb ein enormes Gewirr von Stimmen entstehen, die sich wie Tonspuren übereinander legen. Arrangiert werden die Spuren von Rita Palka, die anfänglich mit einer Vermischung von Realität und Fiktion spielt, um später selber in einzelne Charakterbruchstücke zu zerfallen. Existentielle Begründung des Splitter-Ichs: „Für die Nachtangst ist die fetteste Beute immer noch die Einzelperson.“ So hat die Büchner-Preisträgerin einen erleuchtenden Roman geschrieben, der mit einer präzisen Sprachgewalt den Zusammenhang zwischen Literatur und Literarisierung, Schicksal und Kalkül erforscht.
Eine Woche aus dem Leben eines Informatikers – ein erstmal unspannend klingender Stoff, den Mora für ihren neuen Roman gewählt hat. Die Hauptfigur, Darius Kopp, ist ein IT-Fachmann aus der DDR. Nach der Wende stand man „gerade am Anfang eines wirtschaftlichen Booms, später die New Economy Blase genannt, und Darius Kopp war nach eigenem Empfinden mittendrin.“ Mittlerweile ist Kopp Vertreter eines US-amerikanischen Konzerns für WLANs im mittel- und osteuropäischen Raum. Eines Tages hinterlegt ein zahlungsunfähiger Kunde in Kopps Büro einen Karton mit Bargeld und verschwindet. Aber auch Kopps Firma, die er darauf zu erreichen versucht, scheint plötzlich nicht mehr zu existieren. Kopps Welt liegt zwischen zwei Polen: Job und Ehe. In diesem Feld bewegt er sich ohne zu verweilen – und ohne einem dieser Pole gerecht zu werden. So löscht Kopp in seinem beruflichen Alltag hauptsächlich Emails oder er geht essen, betrinkt sich, „wiehert“ mit seinem Freund Juri. Kaum verwunderlich also seine eher miserable Geschäftslage. Auch Risse in der Ehe mit seiner großen Liebe, der hypersensiblen Flora, werden nicht zuletzt sichtbar durch „die Momente, in denen man – unter Umständen – aufmerksam sein müsste, aber er nickt nur: Der Lack ist ab.“ Seiner Welt droht das Ende. Kunstvoll erzählt Mora die Woche aus dem Leben Kopps. Der Erzähler unternimmt gehäuft Exkurse in Kopps Vergangenheit und schärft so die Konturen des Protagonisten. Auch wird das Erzählen zum Teil von den Figuren selbst übernommen, sodass sich eine mehrstimmige Erzählweise entfaltet. Jedoch an keiner Stelle – und das ist die große Kunst – kippt die Erzählweise ins Prätentiöse. Sie ist sehr einfallsreich, wirkt angenehm schlicht und fesselnd zugleich. Ein unspannendes Buch? Mitnichten!
„Die Verrückten meinen es ernst.“ So geht’s los und wir sind mitten im „Schutzgebiet“, das Thomas von Steinaeckers drittem Roman den Namen gibt: die abgelegene Festung Benesi in der fiktiven deutsch-afrikanischen Kolonie Tola im Jahr 1913. Illustres Personal versammelt sich hier: Ein Architekt, der hofft, in der Steppe seinen Traum von der perfekten Reißbrett-Stadt verwirklichen zu können. Ein Forscher, der noch unentdeckte Stämme aufzuspüren sucht, um diese für die „zivilisierte Welt“ abzulichten: „Hier die Ohren, wirkliche Prachtdinger, sehen Sie nur. Das markiert ihre Stammeszugehörigkeit. Wer die nicht hat, gehört nicht dazu.“ Dazu der durchgedrehte Offizier Schirach, der seiner „Schutztruppe“ brutal deutsche Soldatentugenden einzuprügeln versucht. Der morphiumsüchtige Arzt Brückner wiederum erträgt den Festungsalltag nach Erschöpfung seiner Vorräte nur, indem er sich halluzinogene Suppe aus Tannennadeln kocht: Einmal davon genascht, schon hebt er ab und unternimmt im Vollrausch imaginierte Rundflüge durch die Festung, über den Wald bis in die Steppe. Und allen voran der Festungsverwalter mit seinem ehrgeizigen Projekt: Der Holzhändler Gerber plant, die Steppe aufzuforsten und den deutschen Wald nach Afrika zu bringen. Keine Frage: Die Geschichte muss im Chaos enden. Von Steinaecker schildert den deutschen Kolonialwahn als Farce. Mitunter erscheinen allerdings die durchgekrachten Kolonialherren recht harmlos, fast wie liebenswürdige Trottel, die von den Schwarzen gutmütig belächelt werden. Seine besten Momente hat „Schutzgebiet“ aber genau dann, wenn sich in all dem Irrsinn plötzlich als leider gar nicht so überzeichnet zeigt, was wirklich brutaler Kolonial-Wahnsinn ist, denn: „Die Verrückten meinen es ernst.“
Text — Ulf Schütte
Text — Niklas Dommaschk
Text — Kathrin Gemein
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Film â&#x20AC;&#x201C; Keine Reise ins Hirn der Finsternis
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Film – Keine Reise ins Hirn der Finsternis
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Immer wieder machen sich Filmemacher auf, meist im Verbund mit einigen Hirnforschern als Consultants, endlich mal den einen, richtigen Film über den Wahnsinn, die Schizophrenie, abzuliefern. Aber kann man sich so, in diesem Medium, überhaupt schizophrenem Erleben annähern? Text — JONAS OBLESER, Fotos — HANNES WOIDICH
Ich weiß nicht, ob der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler uns und sich einen Gefallen getan hat, als er zum ersten Mal vom „Spaltungsirresein“ schrieb. Weil er noch ein paar griechische Silben reinmogeln wollte, nannte er das ganze nach ‹Hirn› und nach ‹Spaltung›, und fertig war einer der Klassiker des (damals noch sehr jungen) zwanzigsten Jahrhunderts; die ‹Schizophrenie›. Bleuler war ein feiner Mann. Er trug wie viele bedeutende Nervenärzte einen lustigen Bart und er hat uns dieses drastische Krankheitsbild schon ziemlich in seiner heute noch gültigen und diagnostizierten Form geliefert. Doch der unerwartet erfolgreiche PR-Schachzug in eigener Sache mit dem Schizophrenie-Terminus sollte sich noch rächen. Denn leider findet ja ziemlich genau hundert Jahre später jeder alles „schizophren“ was er nicht kapiert (‹Dass Ernst Jünger sich katholisch hat beerdigen lassen, finde ich echt schizophren›), und jede fühlt sich ‹schizophren›, wenn sie sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden will. Gerade das Medium Film hat seinen Teil dazu beigetragen, dem Wahnsinn in seiner kinotauglichsten Variante, der ‹paranoiden Schizophrenie›, zu erheblicher Bekanntheit zu verhelfen. Aber haben wir deshalb irgendetwas darüber verstanden? Wissen wir nach diesen Filmen besser, wie es sich anfühlt und andenkt in einem so grundlegend durcheinander geratenen, sich selbst entgleitenden Gehirn? Am schönsten ist es aus Produzentensicht natürlich immer, wenn zuerst unheilsschwanger die CIA und ähnliche Gespinste vorbeischauen, aber am Ende wundergleiche Heilung eintritt und zum Beispiel der große Mathematiker John Nash, gespielt vom australischen Grobian Russel Crowe, in innerem Frieden und geistiger Gesundheit leben kann. „A Beautiful Mind“ heißt das dann, und den Filmtitel fand sogar der deutsche Verleih ganz prima rätselhaft und behielt ihn bei; ‹beautiful› ist in Wahrheit natürlich nicht viel an der Schizophrenie, aber die filmenden Ästheten schaffen es meist, dieser Ödnis des Faktischen niemandem weh tuende, magische Bilder entgegenzusetzen. Das Kino sollte ich eigentlich in diesem Zuge auch gleich dafür verantwortlich machen, die Schizophrenie (F 20 im Diagnosenkatalog der WHO, dem ICD-10) mit ihrem zugegebenermaßen sehr irreführenden Namen so nachhaltig mit dem ziemlich schlecht verstandenen und vermutlich völlig überschätzten Zustand der ‹multiplen Persönlichkeitstörung›
(F 44.8) vermischt zu haben. Ich erinnere mich mit Grauen an einen hilflos durch ein Drehbuch irrlichternden John Cusack als zehn verschiedene Facetten seiner (natürlich wahnsinnigen) selbst; dann doch aufrichtiger „Didi und die Rache der Enterbten“? An solchen Stellen jedenfalls rollt es der Minderheit von Psychologen oder Psychiatern im Kinopublikum natürlich die sprichwörtlichen Zehennägel auf; ‹déformation professionelle›. Schön für unsere Berufsgruppe also, wenn gesunde Filmemacher dann zur Kamera greifen und, meist im Verbund mit einigen Koryphäen als ‹consultants›, endlich den einen letztgültigen Film über die Schizophrenie abliefern wollen. Und hier beginnen die Probleme leider erst: Wie soll oder wie kann sich überhaupt ein Filmemacher dem schizophrenen Erleben annähern? Diese Annäherung versucht hat auch der österreichische Regisseur Hans Weingartner. Weingartner hat einmal kognitive Neurowissenschaft studiert, und während das allein noch nicht die mannigfaltigen ästhetischen Probleme erklärt, die seine Filme aufwerfen, ist es doch ein immer wieder ins Feld geführtes, gewichtiges Argument für seine, nun, ‹Ernsthaftigkeit›. Der Film „Das Weiße Rauschen“ aus dem Jahre 2001, mit einem noch ganz flaumigen, ‹prä-Lenin› Daniel Brühl und einer wirkmächtig Authentizität simulierenden Handkamera in den Hauptrollen, wird oft als einer der sehr wenigen der Problematik gerecht werdenden Filme zum Themenkomplex der Schizophrenie angeführt. Aber ist dem so? Der Versuchsaufbau ist also denkbar einfach: Ein kognitiver Neurowissenschaftler, der für sich in Anspruch nimmt, über den ästhetischen Tellerrand seines Fachs zu blicken, schaut sich endlich den Film eines kognitiven Neurowissenschaftlers an, welcher sich wiederum mit diesem Erstlingswerk unter den wahrgenommenen deutschsprachigen Regisseuren etablierte. Es gibt erstmal eine erstaunlich große Menge guter Dinge zu sagen, und ich denke: Ah, vielleicht wird es doch funktionieren. Daniel Brühl weiß, was er tut. Die Schicksalsschläge, die den jungen Lukas tiefer in die sogenannte ‹floride Phase› seiner Schizophrenie driften lassen, sind angenehm zurückhaltend gestaltet. Die zarte Bande, die er knüpfen will, kommt eigentlich bereits zu spät, um stabilisierend zu wirken; man spürt als Zuschauer von Anfang an, dass es mit diesem Burschen kein gutes Ende nehmen wird. Pilze werden gegessen, Eimer werden geraucht, und es bleibt unklar,
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Film – Keine Reise ins Hirn der Finsternis
ob diese Auslöser der schizophrenen Symptome oder nicht eher schon eine implizite Form der Selbsttherapie darstellen. Das alles erscheint: realistisch. Aber: Will man das? Ist das nicht schon wieder Teil des Problems, wie hier alles so wahrhaftig aussehen soll? Ich höre sofort das Rascheln des Lehrbuchs statt das Rattern des Projektors; ah, das Diathese-Streß-Modell: ‹Veranlagung trifft Krise provoziert Dekompensation›. — Der Oswald Kolle der Psychiatrie, denke ich, und mag diesen Aufklärungsfilm gar nicht weiter anschauen, wenn Weingartner nicht genau dann einige wirklich schöne, und endlich cineatische, Tricks aufböte. Das rätselhafteste und zugleich spezifischste Symptom, die akustischen Halluzinationen – diese setzt der Film um wie kein anderer zuvor; er betritt, endlich, Neuland, und nutzt die Möglichkeiten des Mediums. Die „Stimmen“ sähen Misstrauen in unserem jungen Helden. Dass dies zuvorderst ein Misstrauen den eigenen Sinnen gegenüber sein muss, das macht die Montage der Tonspur wunderbar deutlich. Wir können als Zuschauer kaum noch dem Dialog, den Lukas’ Schwester mit ihm führen möchte, folgen. Das Signal–zu– Rausch Verhältnis in Lukas’ Kopf wird zunehmend schlechter, und wir können kaum noch seine eigene Stimme von den vielen anderen unterscheiden: Uns – wie Lukas – täuschen unsere Sinne. Die beiden Figuren sitzen scharf im Bild, und hören können wir sie wohl, nur verstehen inmitten des vielstimmigen Gemurmels kaum noch. Entweder, denke ich, werde ich genau jetzt gerade völlig schwerhörig und mache den Ton hilflos lauter, oder, wahrscheinlicher: ich ahne, wie diese akustischen Halluzinationen (die immerhin fast 70 Prozent aller als schizophren Diagnostizierten erfahren) mein normales Funktionieren und Kommunizieren dramatisch einschränken und verändern würden. Titelgebend ist denn auch Lukas’ Versuch, für sich genommen völlig rational und zielführend, seine Ohren dauerhaft unter dem breitbandigen („weißen“) Rauschen des Wasserstrahls aus der Dusche unterzubringen, auf dass die derogativen, bösartigen Kommentare, die sich so heimtückisch auch noch der Umgebung anpassen, dem Draußen, dem Drinnen – auf dass diese endlich nicht mehr zu hören wären. Es sind diese Montagen, die mich das Leiden körperlich spürbar machen, das eine derart tiefgreifende Erkrankung des Seins und des Erlebens mit sich bringen muss. Das könnte ich jetzt als Verdienst bezeichnen, wenn dieser Film im Ganzen nicht so offensichtlich als Verdienst um die Schizophrenie-Edukation und Mythenreduktion geplant aussähe. Und die bildlichen Mittel dafür, diese Handkamera, dieses von Weingartner in den begleitenden Interviews doch allen Ernstes beschworene ‹Dogma›, diese mit jedem groben Korn „Wahrheit“ rufenden Bilder, helfen die uns weiter? Der große österreichische Psychiater Leo Navratil (den man vor allem wegen seines Namens lieben muss, der vage an ein noch zu erfindendes Psychopharmakum erinnert) schreibt in seinem Klassiker „Schizophrenie und Kunst“ (1965) vom Manierismus, der dem bildgebenden Schaffen vieler schizophrener Patienten anhafte. Solche ziellosen Zuspitzungen der ästhetischen Mittel sieht Navratil – und hier spricht er plötzlich eher über Kunst als über Schizophrenie – am Ende jeder Epoche am Werk, und so kann man auch Weingartners Film schnell als von solchem Manierismus durchzogen empfinden: Die vorgebliche Authentizität des Dogma ist bereits schal geworden, wird nur noch simuliert, und die oben beschriebene kunstvolle Ausgestaltung der Tonspur führt den ‹No-Nonsense›Ansatz der Dogma-Bewegung bereits ad absurdum. Es lag wohl auch, aber nicht nur an dieser immer etwas verlogen wirkenden Ästhetik, dass Menschen mit sichererem Geschmack und kritischerem Geist „Die fetten Jahre sind vorbei“ und „Free Rainer“ kaum noch ausgehalten haben.
Aber vieles von diesem Sendungsbewusstsein, das die kontemplative Kraft jedes Bildes hinter die argumentative Kraft eines vor Moral eh kaum laufen könnenden Films zurückstellt, ist im „Weißen Rauschen“ schon angelegt. Am Ende des Films wird es sogar regelrecht unlauter, als der Held allein irgendwo in Spanien zurückbleibt, nachdem er mit einem Trupp von Aussteigern durchgebrannt war. Lukas sitzt am Strand, in der Brandung, alles sieht nach „Quadrophenia“ (1979) aus, dem anderen mühsam gehegten Schindlunder mit dem Wahnsinn (der aber das Soundtrack-Duell mühelos gewinnt; „Love Reign O’er Me“). Die große Freiheit des Einzelnen, die Weingartner mit seinen folgenden Filmen thematisiert hat, klingt da an, als der lonesome cowboy allein am Lagerfeuer sitzt, und sie wird durch Lukas’ Schlussmonolog implizit der Aussicht auf ein Leben als von schweren psychoaktiven Medikamenten dauerhaft abhängiger Patient gegenübergestellt. Als wäre das, bei dieser Erkrankung, für ihn eine frei zu wählende Alternative. Ein ganz anderer Weg, den Wahnsinn darzustellen, könnte, so denkt man, darin bestehen, sich selbst erstmal mit einem Haufen LSD und vielen Amphetaminen an die drogeninduzierte Psychose heranzudosieren und dann mal die Kamera einzuschalten. Schizophrenie, diese leidvolle, weil normales Leben oft so wirksam verhindernde, früh beginnende und meist chronisch verlaufende Erkrankung, lässt sich so
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kaum simulieren und nach einem Wochenende in der Psychiatrie hätte der Spuk vermutlich ein Ende. Aber ein paar wirre Kurzfilme könnten dabei durchaus entstehen, und vermutlich kämen sie in ihrer ungeplanten, dem Moment und sich selbst ausgelieferten Unmittelbarkeit dem schizophrenen Erleben näher als Hans Weingartners gelungenere Szenen. Die Künstlerin Antje Majewski beschreibt ein Grundproblem mit dem Wahnsinn, wenn sie zu ihrer Videoinstallation „Dekonditionierung“ (2008), die den Teil „Psychose“ beinhaltet, schreibt: „Psychosis makes communication very difficult.“ Und so ist es vielleicht nicht sehr überraschend, dass sowohl den Künstlern als auch den Erkrankten selbst die Kommunikation und Kennzeichnung schizophrenen Denkens und Erlebens nur schwerlich gelingt. Auch wollen mir keine schizophrenen, also wirklich im Wortsinne ‹wahnsinnigen› Filmkünstler einfallen. Nicht zu unterschätzen ist eben der Bruch, den die schizophrene Entwicklung für den Geist und das Selbst darstellt. Depressive, suizidale Musiker, Dichter, Filmschaffende, Maler – alles bekannt, und Süchtige sind Legion. Aber schizophren, ‹spaltungsirr›, waren sie eben nicht. Ich mag hier einzelnen schizophrenen Künstlern unrecht tun, und meine Überlegungen bleiben auch ganz abseits der von Navratil bereits lesenwert geführten Diskussion, ob die Kunst von Schizophrenen je als Kunst Geltung haben kann. Alles resultiert aber in einem Mangel an Filmkünstlern, die in der Lage wären, unter der Bürde einer solch tiefgreifenden, womöglich akuten Geisteskrankheit ganze Filmprojekte zu realisieren. So fehlen uns die bewegten Bilder aus dem Hirn der Finsternis. Vielleicht wäre also der beste Film über Schizophrenie ‹kein› Film über Schizophrenie. Vielleicht ist es ohnehin viel besser, wenn über viele schwierige, undurchdringliche, opake Themen eben ‹kein› Film versucht wird. Die traurigsten, schwierigsten und damit besten Geschichten über Schizophrenie sind keine Filme. Sondern es sind die Geschichten unsere Freunde und Verwandten, die, an Schizophrenie erkrankt, ihre Eltern sehr unglücklich und uns sehr ratlos, sehr wortlos, sehr unkreativ hinterlassen. Wenn man derart fremde und gleichzeitig vielschichtige, vexierartige Geisteszustände wie eine schizophrene Erkrankung in bewegte Innenansichten gießen könnte, wäre es Anderen, Größeren als Hans Weingartner, längst gelungen.
Vielleicht ist es ohnehin viel besser, wenn über viele schwierige, undurchdringliche, opake Themen eben ‹kein› Film versucht wird.
So hat dieser Text dann auch seinen eigenen Nachspann, eine dieser kleinen Geschichten, die noch zu Ende erzählt werden, wenn die „production credits“ schon durch und die meisten Besucher schon gegangen sind: Als ich an diesem Text im Heimaturlaub in der Provinz schreibe, begegne ich völlig unerwartet in der Fußgängerzone meinem vor etwa 12 Jahren an Schizophrenie erkrankten alten Kinderfreund Peter, jenem für immer veränderten Freund, der mir beim Verfassen meiner Suada gegen die filmischen SchizophrenieKarikaturen stets über die Schulter schaute. Wir freuen uns beide. Er sieht erstaunlich gut aus, und er berichtet von den Segnungen des neuen, aber leider sehr teuren Medikaments „Seroquel“. Wie in jedem höflichen Gespräch umschiffen wir die vielen ihm wie mir peinlichen psychotischen Episoden der vergangen Jahre und sprechen stattdessen lieber über die alten Hardcore-Platten, die Jugendhelden und die gemeinsamen Bekannten, aus einer Zeit vor der großen, alles für immer verändernden Krankheit. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er „Das Weiße Rauschen“ kennt.
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Film – Give me a Second
GIVE ME A SECOND Das Kino entziffert das Problem der Sprachwiederholfrequenz. Aviator, 2004 – Martin Scorsese Text — Eva Erdmann, Illustration — Sina Möhring Aviophobie, also Flugangst, äußert sich bei Passagieren in Anzeichen von Panikattacken, die mit der Angst vor Kontrollverlust erklärt werden. Kontrolle worüber, fragt sich der Laie? Angst vor Verlust der Kontrolle über die Maschine? Das kann es nicht sein. Die Steuerung eines Flugzeugs erfordert derart differenzierte Kenntnisse, welche kaum ein Passagier sich zutrauen wird, auch wenn er sich zutraut, mit einem Flugzeug zu reisen. Angst vor dem Verlust der Kontrolle der subjektiven Körperbefindlichkeit, die bei jeder Art von Transport und Verkehr bestimmten Unwägbarkeiten ausgesetzt ist, auch beim Fahrradfahren? Das heißt Ohrensausen, Übelkeit, jäher Schlaf, im Falle des Fliegens? Oder bezieht sich diese Floskel von der Angst vor Kontrollverlust auf den Verlust von Zeit (etwa: beschaulicher Reisezeit an der Reeling eines Überseeschiffes) durch überhöhte Geschwindigkeit? Dann muss von einer Veloziphobie die Rede sein. Unter Aviophobie litt der Flugzeugbauer und Kinoproduzent Howard Hughes, dem Martin Scorsese einen biographischen Film im Stile der 30er und 40er Jahre gewidmet hat, nicht. Hughes war kein Passagier, er flog die Maschinen, die er konstruierte, selbst, liebte Fahrwerke und Propeller, wusste Hydraulik und Ladedruck zu berechnen. Gleichwohl mag die psychische Krankheit von Hughes, die ihn dazu zwang, seine letzten Lebensjahre ausschließlich bettlägerig zu verbringen, auf eine Veloziphobie zurückgehen. So behauptet es der Film Aviator. Erstaunlich an der Hollywood-Produktion über den Wahnsinn des dynamisch-obsessiven Milliardärs, in Gestalt des Leonardo di Caprio, ist, dass die Filmbiographie weder die gigomanischen Leinwandphantasien des realen Hughes, noch seine verheerend traumatischen Flugabstürze, die seinen Körper ruiniert haben, zum zentralen Auslöser macht. Zwar ist Scorseses Rekonstruktion der historischen Farbkonstellation den Filmbildern ein sichtbares Anliegen und irritiert als türkiser Blaustich. Das Screenplay von John Logan entfernt sich allerdings von dem Dutzend detaillierter Biographien und führt die Ticks von Hughes auf kein motorisches, noch auf ein neurologisches, noch auf ein imaginäres oder kineastisches Problem zurück. Sondern auf ein philologisches: auf eine Alphabetisierungsstörung, die mit dem Tempo des Überfliegers erst kollidiert, als sich Hughes als Erwachsener mit dem Fliegen beschäftigt. Sieht das Kino selbst, wenn nicht sein Publikum, von der Bildermanie ab und entdeckt die Sprache, das Lesen, das Buch neu? Hier: das Alphabet.
Jüngere Filme, die das Wörterbuch ins Bild setzen (siehe die Coen-Szene der „Tuileries“ in Paris, je t'aime, 2006) und die Kinohelden als genüsslich-naive Leser zeigen (siehe Into the wild, 2007) würden dies belegen. Der Beginn des Aviator will eine Urszene des Wahns des Fliegers Hughes zeigen und diese schließt den Film gleichzeitig ab, besser, bricht ihn ab, biographisch an der Stelle, an der Hughes aus seiner Paranoia nicht mehr herausfindet: Eine junge Mutter wäscht ein Kind, das in einer Wanne steht, mit einer makellosen Seife und flüstert ihm die Gefahren des Schmutzes und der Ansteckung ein. Sie flüstert ihm bei dieser eschatologisch inszenierten Waschung auch die Lösung der diseases ein. Diese heißt „Q-U-A-R-A-N-T-IN-E“, womit die Mutter das Kind auf den doppelten Weg der Krankheit und der Isolation schickt, glaubt man den Bildern des Kinos. Was aber macht diese Film-Mutter falsch? Ihre Elementarerziehung erteilt sie auf eine vorbildliche Weise. Sie ermahnt nicht nur zur Sicherheit eines Lebens jenseits der gesellschaftlichen Masse, in der Isolation. Sie tut auch, was sie vorschlägt. Sie isoliert. Im Buchstabieren zertrennt sie das Wort in seine Einzelteile, isoliert die Lautelemente. Sie spricht langsam, für ihr Kind. Sie produziert eine NichtGeschwindigkeit, ein Stocken in der Sprache, die einem jung aufstrebenden Philologen zur Tugend hätten werden können, weniger aber einem technikversessenen Visionär am Beginn des 20. Jahrhunderts, der sein Fahrrad im Alter von zwölf Jahren (1917 sic) selbständig mit einem Elektromotor ausstattete. Die langsame Kamera dieser initiativen Rückblende ergänzt die mütterliche Mahnung an den Stillstand. Den erwachsenen Hughes aber beeindruckten velozile Bewegungen („a top speed of around 340 … son of a bitch“), in denen das Buchstabieren unterging. Damit auch sein Erziehungsprinzip. Die Film-Mutter bestätigt, quasi zeitgenössisch, die These Walter Benjamins vom bedauerlichen Ende des Erzählens. Statt ihrem Sohn ein ganzes, komplexes, vielleicht auch fürchterlich grausames Märchen zu erzählen, bringt sie ihm bloße Buchstaben bei, die noch dem Erwachsenen eine verriegelte Abgeschiedenheit als Verheißung erscheinen lassen. So sitzt er im Paradiesgärtlein seines privaten Kinosaals, göttergleich und einsam, nackt und verwildert und thront vor den laufenden Bildern als leibhaftige Wiedergeburt. Quarantäne wird in Aviator als Raum cinephiler Naturwildnis vorgeführt, niemand kann rein, niemand geht raus, alles wuchert, die Sonne der Filmprojektion strahlt. Quarantäne wird aber auch als Technik vorgeführt: Pausen lassen. Das rät Hughes persönlich seinem Ingenieur, der im Großprojekt der XF-11 unter finanziellem und technischem Druck die Nerven zu verlieren droht: „Have a break! See your wife.“ Gerät der Zeitdruck aller zur Entscheidung anliegenden Fragen im Tagesgeschäft, zwischen dem drohenden Verlust von 18 Millionen Dollar und der Auswahl eines Steuerrads unter 8000 Modellanfertigungen selbst Hughes zu turbulent, bittet er sich genau dieses aus: „Give me a second“ – Zeit für einen Buchstaben. Hughes/di Caprio aber versteht es nicht, die anerzogene spelling-control für sein Leben fruchtbar zu machen. Er bleibt, nicht im Alphabet, aber in der Syntax der Sprache stecken. Das Drehbuch malt diesen Sprach-Tick von Hughes mehr aus als den Waschzwang, als seine Kontrollsucht über seine Liebhaberinnen, die er mit Wanzen überwacht, oder als die rigide Ordnung, die zwingend um ihn notwendig ist und dem Chef von seinen Mitarbeitern verschafft wird (im Restaurant heißt das: eine genaue Anzahl exakt angeordneter Erbsen auf dem Teller). Es ist die Sprache, an der seine Krankheit im Film symptomatisch wird. Verdoppelungen fallen dabei zunächst kaum auf: „Ok, what have you got for me?“ – (Räuspern) – „hm?“ – „Ok, what have you got for
Film – Give me a Second me?“ / „spies in my midst“, „spies in my midst“. Das kann schon mal vorkommen, Wiederholung muss ja sein, wissen wir von Krapp, von Deleuze, von Kierkegaard. Was aber, wenn die Wiederholung sich wiederholt, wenn es nicht bei einem zerstreuten Nachsprechen eines Satzes bleibt, wenn die Zerstreuung sich in der Pathologie verselbständigt? Wenn der Angesprochene längst das Bild verlassen hat und die Anweisung sich, ohne Adressaten, immer weiter artikuliert: „give me the blueprints“, „show me the blueprints“, „show me the blueprints“, „show me the blueprints“ … . Dem Wahnsinnigen ist klar, woher sein Problem kommt. Als er sich nach seiner ersten Satzwiederholungskaskade in das parkende Auto zurückzieht, Hände am Steuer, und verzweifelt sein Lebensmotto „Q-U-A-R-A-N-T-I-N-E“ buchstabiert, hat ihn die Isolation, das Prinzip der Trennung, schon eingeholt. Der Wahnsinn nimmt bis zur fanatischen Rassentrennung seinen Lauf. Wäre eine frühkindliche Erziehung zur Buchstäblichkeit der Geistesgesundheit tatsächlich ebenso wenig zuträglich wie die Idee des Fliegens in einer Holzkiste, wenn in Kriegszeiten und unter im kapitalistischen Konkurrenzgroßkampf kein Aluminium zu haben ist? Der Satz „The way of the future ... “ besiegelt am Ende des Films den veloziphoben Wahnsinn Hughes/di Caprios. In diesem Satz muss jeder hängen bleiben, dem der Glaube an die Buchstäblichkeit in die Wiege gelegt wurde. „The way of the future“ meint etwas, was die Buchstäblichkeit nie können wird. Aus ihr gibt es deshalb keinen Ausweg, insbesondere nicht in eine Vorwärtsrichtung, weil die Buchstaben erst dann einen Sinn ergeben, wenn sie in eine lineare Verbindung zueinander gebracht werden, ja wenn sie überhaupt in einer Vielfalt und Beziehung zueinander auftreten. Dass Geschwindigkeit kein absolutes Kriterium ist, dies fällt dem Produzenten von Hell’s Angels (1930) im ScorseseFilm erst spät auf: Er braucht die Wolken, um die Bewegung der Flugzeuge am Himmel zu zeigen, die Bilder benötigen eine Beziehung, in der die Dinge – Flugzeuge und Wolken – innerhalb bewegter Zeit stehen und betrachtet werden können. Hätte Hughes diesen Einfall von der Beziehung der Dinge oder der Laute nicht ebenso auf sein Sprachproblem anwenden können? Anstatt dazu verdammt zu sein, der Krankheit der endlosen Wiederholung eines Satzes zu erliegen? „Das Dasein ist nicht syntaktisch.“ Dieses Motto entleiht Joseph Vogl Samuel Beckett für seine Studie über den Bewegungsmodus des Zauderns, die die Dromologie, die Wissenschaft des Rennens, von Paul Virilio rückwärts ausbuchstabiert. Das Beckettsche Zauder-Motto könnte für den Film-Fall Hughes als therapeutisches Fazit gelten. Das Dasein ist aber auch kein Bildflug, antwortet das Drehbuch. Die Utopie einer „Transzendenz durch Fliegen” scheitert an den Sinnen, auf die selbst Hughes/di Caprio angewiesen bleibt, denen er sogar gerne vertraut, sei es, wenn er nach dem taktilen Steuer greift („feel the vibration of the motor with the finger tips“), sei es, wenn er aufmerksam, sei es Freund, sei es Feind, zuhört, durch verschlossene Türen, obwohl er doch schwerhörig ist.
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Film – Nor Gods nor Men his Neighbors
„(…), NOR GODS NOR MEN
HIS NEIGHBORS!“
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Orson Welles, lautet der Konsens, war der Größte. Die Größe seines Werks aber, ach, war sein Verhängnis in den späten Jahren, und daher, so endet das kitschige Märchen von Genie und Wahnsinn, vollendete er keine seiner späten, monumentalen Arbeiten. Erzählt wird diese Geschichte von Leuten, die sein wirkliches Verhängnis waren: von Langweilern mit ausgesprochen öden Vorstellungen von Größe. Text — RONNIE VUINE, Foto — FILMMUSEUM MÜNCHEN / SAMMLUNG ORSON WELLES
1 Herman Melville: Moby-Dick
Film – Nor Gods nor Men his Neighbors Drei Menschen in einem Auto, Nacht. Starker Regen und flackernde Lichtkelche stürmen über die Windschutzscheibe. Der Fahrer konzentriert sich. Neben ihm, in der Mitte, sitzt Oja Kodar (gibt es Welles-Buffs, die den Namen ihrer Figur kennen?), rechts von ihr ein junger Mann. Oja schaut ihn, aus den Augenwinkeln, an; er tut so, als bemerke er ihren Blick nicht. Etwas wird geschehen. Wir sehen sein Gesicht, er schaut reglos geradeaus, während Oja den Reißverschluss ihrer silberfarbenen Jacke öffnet. Sie trägt darunter nichts als ein paar grobe Ketten, deren längste wir in ihrem nackten Schoß ruhen sehen. Das Geräusch eines schnell entgegenkommenden Fahrzeugs, Lichter. Der junge Mann, er trägt ein halboffenes Hemd und Jeans, verliert für einen Augenblick die Kontrolle und starrt dann wieder geradeaus, in die Lichter und den Regen. Ojas Hand ruht auf ihrem rechten Schenkel. Sie blickt einige Sekunden nach vorn, endlich wendet sie sich doch nach rechts. Der junge Mann schaut woandershin, irgendwohin. Wir sehen Ojas Hand die unteren Knöpfe seines Hemdes öffnen. Mehr Fahrzeuge, Motorengeräusche, Scheibenwischer und Schemen. Ojas Gesicht, Halbprofil, ausgestanzt aus der unruhigen Dunkelheit. Dann frontal, sie kommt näher, dreht der Scheibe den Rücken zu, setzt sich über ihn, seine Haare unscharf im Vordergrund. Wir sehen ihren Blick, nach unten gerichtet, konzentriert, ihr Mund ist halb geöffnet, sie streift die Jacke zurück. Wieder ihr Gesicht, die Unterlippe vorgeschoben. Dann ruckt ihr Oberkörper nach vorn und kurz nach oben, für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir ihren zuckenden Bauch, eine Brust, dann wieder ihr Gesicht, frontal, von Haaren umflossen, die keine Grenze zur Dunkelheit haben. Geräusche schnell vorbeifahrender Fahrzeuge. Dann lange, konzentriert, flackernd: Ihr Gesicht, ihr Körper in Bewegung. Einmal im Vordergrund der Fahrer, angestrengt nur das Fahrzeug lenkend. Diese Szene, Photos vom Set und eine Yacht im Gleißen eines sonnenüberfluteten Meeres: Das ist alles, was wir von Orson Welles letztem Film, „The Other Side of the Wind“, kennen. Der Film handelt, so heißt es, von einem alternden Regisseur, der mit einem Film voll Sex und Gewalt seine Rückkehr in Hollywood plant. Orson Welles zwinkert nie. Orson Welles ist der Klügere. Davon kann man, das ist ein allgemeines Gesetz, ausgehen. „The Other Side of the Wind“ wird, wenn alles gut geht, zu den Filmfestspielen in Cannes 2010 fertig. Selbstverständlich wird es nicht gut gehen. Es ist nie gut gegangen, der Film hat seine Uraufführung in Cannes schon öfter verpasst. Orson Welles ist seit 1985 tot. Die Dreharbeiten zu „The Other Side of the Wind“ sind seit 1976 abgeschlossen, der größte Teil davon passierte Anfang der 70er. 1979 brachte die Revolution den teilweise mit iranischem Geld finanzierten Film in Schwierigkeiten. Seither wird um die Rechte gestritten, das Material lagert in einem sagenumwobenen Tresor in Paris. „The Other Side of the Wind“ ist kein Film mehr, sondern die Spur eines epischen Scheiterns, Teil einer Mythologie, die Welles als titanischen Schatten über Hollywood sehen will, als Citizen Welles und Ahab, als halb- wahnsinnigen Alten, der jahrzehntelang verzweifelt versucht, noch einmal einen Film zu machen, wenigstens halb so gut wie „Citizen Kane“. Aber Orson Welles ist der Klügere: Davon kann man ausgehen. Vielleicht hat er seine späten Projekte viel weniger verzweifelt verfolgt, als die Mythologie das haben will. Welles war die letzten 25 Jahre seines Lebens mit der schönen Oja Kodar zusammen, und er will sie auf Zelluloid, so viel ist sicher — seine Dokumentation „F for Fake“ beginnt und endet mit Oja und den Blicken der Männer. Das hat wenig mit Kunstfälschung und viel mit Oja Kodar zu tun. Er macht Film, weil er Film macht, und er filmt Oja, weil sie Oja ist. „The Other Side of the Wind“ handelt von einem alten Regisseur, an dem alle zweifeln. Und sein anderes großes Spätwerk, das nie in die Kinos kommt, ist, Obacht: ein Don Quixote. Orson Welles zwinkert nicht. Wenn alle Welt die Legenden um sein tragisches Scheitern an Riesenprojekten erzählt, dreht er einen „Don Quixote“, der nie fertig wird. Tatsächlich sind seine Projekte alles andere als riesig, die Budgets sogar für seine großen Filme relativ klein, und eine Menge Material für die legendären unfertigen Filme entsteht mit wenig mehr Technik, als in einen Koffer passt – auch die eingangs erzählte Szene. Vielleicht interessiert sich Orson Welles gar nicht so sehr für seine Größe, sein Werk und seinen Ruhm. Vielleicht verwechselt er sich selbst nicht mit „Citizen Kane“. Vielleicht interessiert
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sich Orson Welles eher für Frauen und Kunst. Vielleicht ist Orson Welles eine coole Sau. Und vielleicht kein bisschen wahnsinnig, sondern bloß gelangweilt von Schwätzern, denen nichts als „Genie“ einfällt, wenn Sie über seine Arbeit reden, die immer persönlich ist, aber nicht von ihm handelt. In jedem Fall ist er eine Figur der Geschichte. Er hat Rita Hayworth geheiratet, (‹bevor› sie „Gilda“ spielte und jeder sie heiraten wollte), er hat Marlene Dietrich zersägt und Judy Garland erobert, er hat Wahlkampf für Roosevelt gemacht, beinahe selbst kandidiert und die Politik erst aufgegeben, als Leute wie McCarthy mächtig wurden. Churchill hat sich in Venedig vor ihm verbeugt, wie sich nur Winston Churchill vor Orson Welles verbeugen konnte. Welles erzählt Geschichten von General Marshall, Harry Cohn, Hitler und Picasso. Er flunkert, davon muss man ausgehen, aber wo er flunkert, wäre es immer besser, wenn alles wahr wäre. Und hier ist seine eigentliche Rolle: Die Figur Orson Welles, sein früher Triumph und sein spätes Scheitern an falschen Erwartungen, garantiert den Unterschied zwischen Erfolg und Erfolg, zwischen Cool und Cool, zwischen Pose und Pose. Der Unterschied, jeweils, ist keiner der Echtheit, sondern einer der Ehrlichkeit. (Ehrlichkeit heißt, die Wahrheit zu ertragen, nicht sie auszusprechen.) Orson Welles wirkt dabei immer souverän, in diesem seinem zwanzigsten Jahrhundert, das die Massen erfindet, ideologisch und medial. Er kann sich leisten, mit ihnen zu spielen: Weil er analytisch überlegen ist und aufmerksam, seinen Shakespeare kennt (eben nicht als Genie, sondern als einen, der versteht, was verloren ist, mit dem Ende des Feudalismus), weil er charmant ist und sich niemals gemein macht. Nicht zuletzt demonstriert er eine ruhige Gelassenheit gegenüber der Eigenliebe, in seinem Fall: jenem genialischen Selbstbild, das ihm die Welt immer angetragen hat, weil sie nicht erträgt, wenn einer anders motiviert ist als aus Eitelkeit. Mit anderen Worten: Der Mann hatte Humor. „Maybe“, sagt er in „F for Fake“, „a man's name doesn't matter all that much.“ Zu sehen ist dabei die Kathedrale von Chartres, „this rich stone forest, this epic chant, this gaiety, this great, quiring shout of affirmation, the premier work of man perhaps in the whole western world, and it's without a signature.“ Und dann führt er einen Zaubertrick vor, lügt und schummelt und täuscht und tut alles, um Oja im Bild zu haben, und dann gesteht er und endet: „as a charlatan of course my job was to try to make it real not that reality has anything to do with it reality is the toothbrush, waiting at home for you in its glass a bus ticket a paycheck and a grave“ Welles Charlatanerie beweist in allem, was er tut, vor allem, dass es eine Strategie gibt, die immer gewinnt: Klüger zu sein und warmherziger, charmanter und demütiger. Nur die Kraft dazu muss man haben, und das ist das Gebiet, wo er wahrhaft keine Nachbarn hat, Götter nicht noch Menschen.
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Film – (Film der Ausgabe)
META, META, META FÜR METER Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ und die Freuden der Referenz Text — DANIEL WINDHEUSER, Foto — FRANÇOIS DUHAMEL
Was also ist noch zu sagen? Cannes bereitet sich schon wieder aufs nächste Jahr vor, alle Weltpremieren sind gelaufen – die Kuh ist also nicht nur längst durchs Dorf getrieben worden, sie steht sogar bereits wieder draußen auf der Weide, angebunden an einen Kübelwagen, wenn mich mein Feldstecher nicht täuscht. Trotzdem: Ein paar Dinge sind vielleicht noch zu erwähnen, zusätzlich zu der wirklich unglaublichen Großartigkeit von Christoph Waltz, der es schafft, noch weit über die ohnehin nahtlos wunderbare Besetzung herauszuragen. Selbst Til Schweiger, der natürlich nur wieder Til Schweiger spielt, und größtenteils stumm guckt, wie er nun mal guckt, funktioniert hier bestens als Teil der Gesamtkomposition. Ähnliches lässt sich über Diane Kruger sagen, wenn auch unter leicht anderen Voraussetzungen und mit mehr Text. Einige Fußnoten also. Wir wissen: „Inglourious Basterds“ ist ein Film über das Kino. Wollte man eine sehr gewagte These aufstellen, könnte man sogar behaupten, er sei Tarantinos „Le Mépris“. Selbstverständlich ist Tarantino mitnichten Godard, doch trotzdem haben wir es hier mit seiner bisher offensichtlichsten Liebeserklärung an das Kino zu tun, und das will etwas heißen bei jemandem, dessen bevorzugtes künstlerisches Mittel ohnehin das Spiel mit cineastischen Referenzen ist. Dies beginnt bereits mit dem Titel, der, in minimal geänderter Schreibweise, auf die englische Übersetzung von Enzo G. Castellaris „Quel maledetto treno blindato“ aus dem Jahre 1978 verweist. Im Deutschen wiederum heißt er „Ein Haufen verwegener Hunde“, was in diversen Feuilleton-Artikeln über die „Basterds“ zu Refe-
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renz-Verwechslungen mit Robert Aldrichs „Das dreckige Dutzend“ von 1967 führte. Dieser hat jedoch, als großzügig finanzierte Hollywoodproduktion, abgesehen von dem Motiv der aus Außenseitern bestehenden Soldatentruppe, die im zweiten Weltkrieg ein Himmelfahrtskommando durchführen muss, recht wenig mit Castellaris europäischem Exploitationwerk zu tun. Dieses nämlich ist unglaublich campy und somit ein wahrer Quell der halbironischen Kinorezeption. Vor allem ist hier der Aspekt der Sprache zu erwähnen, da sämtliche deutschsprachigen Rollen mit Schauspielern besetzt wurden, die der Sprache gar nicht mächtig sind, jedoch wie selbstverständlich radebrechend deutsche Sätze aus dem Skript aufsagen, was insbesondere für den Hauptdarsteller Bo Svenson gilt. Schon allein deshalb sollte man diesen Film also unbedingt im Original schauen. Dies gilt natürlich umso mehr für die „Basterds“, jedoch aus anderen Gründen. Hier nämlich ist der Einsatz verschiedener Sprachen ein tragendes Stilmittel, am signifikantesten bei Christoph Waltz’ Rolle des SS-Oberst Hans Landa zu sehen, der mit dem Wechsel verschiedener Idiome ebenso wenig Probleme hat wie mit der freudigen Zelebrierung eines geradezu selbstverliebten Sadismus, der eben gerade auch immer wieder über das Medium der Sprache zum Tragen kommt und so, was Souveränität und Eloquenz des Bösen angeht, einen ganz eigenen neuen Maßstab setzt. Tarantinos Feuerwerk der Referenzen findet natürlich auch auf allen anderen Ebenen und immer wieder anders statt. Sei es das Streichorchester, das „The Green Leaves of Summer“ spielt (das Thema aus dem Western „The Alamo“), sei es, dass im Pariser Kino von Shoshanna, die Landa in der Eingangssequenz quasi aus Sportsgeist entkommen lässt, G.W. Pabsts „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ läuft; bis hin zu Joseph Goebbels und seinen cineastischen Ambitionen, gespielt mit wunderbar rheinischem Dialekt von Sylvester Groth – immer wieder ist es das Kino, das spricht und von dem gesprochen wird. Und so taucht natürlich auch Enzo G. Castellari kurz im Hintergrund auf, im Foyer der Filmpremiere zu „Stolz der Nation“, dem Film im Film, ebenso wie der erwähnte sprachbegabte Akteur Bo Svenson. Der engagierte Filmwissenschaftler wird auch beim zehnten Durchgang noch derartige Details finden, wie beispielsweise den ubiquitären Bela B., der ungefähr eine Sekunde lang als Kartenabreißer zu sehen ist. Oder die simulierten Filme, die die fiktive Bridget von Hammersmark und die reale Zarah Leander auf einem Plakat zusammenbringen. Unabhängig von diesen cinephilen Freuden jedoch hat man es hier schlicht mit einem ganz wunderbaren und somit leider seltenen Stück Entertainment zu tun, das wir hiermit vorbehaltlos empfehlen möchten.
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Film – (Highlights)
Crips and Bloods
The Hurt Locker
District 9
STACY PERALTA
KATHRYN BIGELOW
NEILL BLOMKAMP
(Sunfilm Entertainment)
(Concorde Filmverleih)
(Sony Pictures)
„Können Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der die Mütter ihre Kinder beerdigen, statt die Kinder ihre Mütter?“ Dieser Satz ist, nach 70 Minuten des Dokumentarfilms Crips & Bloods, bewegender Ausdruck der großen Entrüstung, die sich bis dahin im Zuschauer verdichtet hat: Wie kann es sein, dass seit 1965 ungebrochen und immer absurder ein afroamerikanischer Krieg tobt zwischen zwei verwechselbaren Banden, den Crips und den Bloods, inmitten der Traumstadt Los Angeles? Wie können die vielen Toten und das sich selbst vervielfältigende Leid dem Staat und der Gesellschaft so egal sein? Skate-Legende Stacy Peralta (Dogtown and Z-Boys) hat sich dieser Frage an die Fersen geheftet, doch sie hat ihn abgehängt. Mit unzähligen Talking Heads – ehemalige Gangmitglieder, Wissenschaftler, Prediger – zeichnet der Film die Geschichte einer in den 1940ern aus den Südstaaten ins vermeintliche Paradies LA ziehenden afroamerikanischen unteren Mittelschicht, der durch die Nadelstiche eines alltäglichen Rassismus und fehlende Perspektiven der Boden entzogen wurde. Doch zu viele Rätsel bleiben bei allem „You know what I’m saying“. Wieso bleibt das Zentrum, die erhaltenden Mechanismen dieses absurden Krieges, so seltsam unausgeleuchtet? Peralta selbst scheint der Kraft seiner Geschichte nicht zu trauen. So lernen wir keinen Held wirklich kennen, so werden die unentwegt abgefilmten Grobkorn-Archivphotos zur hohlen Formalie, und ein merkwürdig ratloser Soundtrack aus Roger Troutman, DJ Krush und Londoner (sic!) Elektronik zuckt hinter und oft über allem. Die lieblose Titel- und Menügestaltung verstärkt das Gefühl, dass hier etwas Wichtiges nicht zu Ende erzählt worden ist. Last exit Wikipedia.
Man könnte Kathryn Bigelows „The Hurt Locker“ als einen Film über ein Bombenräumkommando im Irak beschreiben. Man könnte ihn aber auch als eine Meditation über den Tod betrachten. Dieser nämlich ist dort wirklich und buchstäblich überall und kann jederzeit zuschlagen, wie im „echten“ Leben auch, nur mit statistisch höherer Wahrscheinlichkeit, und alles, was zwischen seinem Eintreten, das nur eine Frage der Zeit ist, stattfindet, sind Übersprungshandlungen, Varianten des Versuchs, mit etwas umzugehen, mit dem nicht umzugehen ist. Die Odyssee, auf die Bigelow ihre drei Protagonisten schickt, von absurder Sterbemöglichkeit zu absurder Sterbemöglichkeit, ist gerade in ihrer inszenierten Subjektivität wesentlich „näher dran“ an diesem Krieg, der kein Krieg ist, als die ebenso und nicht in geringerem Maße inszenierten Versuche der dokumentarischen „Objektivität“ von „Battle for Haditha“ oder „Redacted“. Bigelows Irak ist ein surreales Konstrukt, eine Welt und Umgebung, in der die eigenen Codes nur begrenzt gültig sind, ähnlich vielleicht den Umständen, in denen Kolumbus sich plötzlich wieder fand, als er das Eigene, Europäische wie selbstverständlich auf das Andere, Fremde, anwenden wollte, ohne auch nur auf die Idee der Möglichkeit einer differenten Kultur und somit eines differenten Weltbildes zu kommen. Dieses jedoch ist hier wie da permanent vorhanden und Ursprung allen Übels. Dort draußen, in der irakischen Wüste, funktionieren nur die Basics, die Physik also, die Biologie und somit der Tod. Alles andere spielt keine Rolle. Und so ist, weit ab von jeder Theorie, auch nur damit umzugehen.
Die menschliche Hauptfigur in diesem Film ist eine Kanaille, inkompetent, schwächlich und überfordert, ein kleiner Bürokrat, der seine Unfähigkeit mit Witzen auf Kosten noch Schwächerer und mit Klugscheißerei kompensiert, und der jede Gelegenheit nutzt, das bisschen Macht, das ihm der Zufall zugeschanzt hat, auch zur Anwendung zu bringen – ein nicht atypischer Vertreter seiner Spezies also. Die andere Spezies besteht ebenfalls nicht aus edel-ätherischen Wesen. Die Aliens haben nicht die Pyramiden gebaut und bringen nicht die Erleuchtung. Sie sind nicht überlegen moralisch, oder überlegen intelligent, vor allem sind sie nicht alle gleich intelligent. Sie sind insgesamt ziemlich fertig, dazu fremd auf diesem Planeten, ein eins komma acht Millionen Insektenköpfe starkes Problem: Flüchtlinge. Ihr Elend ist unästhetisch und lästig, ihr Raumschiff und ihre Waffen sind für Menschen nutzlos. Das Schiff taucht am Himmel über Johannesburg auf, und was folgt, könnte man zusammenfassen als: Der Erste Kontakt, wie es wirklich laufen würde. SNAFU, aber Reporter vor Ort. District 9 probiert Aliens aus, die wie wir sind: Heterogen, ohne galaktische Agenda, angewiesen auf solche Sachen wie Essen, ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Würde, und: Zu wenig edler Regung fähig, wenn es mangelt an alldem. Nicht gut, nicht böse: /Angewiesen/. Ein Film über Macht, Waffen, das Fremde und die Mechanismen des Elends, über den alles beherrschenden Chauvinismus und wie er immerhin eine schöne saftige Delle kriegt, wenn zwei, aus wie verschiedenen Gründen auch immer, irgendwann die Schnauze voll haben und zu verzweifelt sind, um ihn weiter zu ertragen. Ein sehr guter Film.
Text — Daniel Windheuser Bild — © 2009 Concorde Film Verleih GmbH
Text — Jonas Obleser
Text — Ronnie Vuine
Bild — © 2009 Sunfilm Entertainment / Tiberius Film
Bild — © 2009 Sony Pictures Releasing GmbH
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Film – (Spielen mit)
(… vom Würfeln, Zinken, Stechen, Täuschen und dem Leben dazwischen)
VERKLEIDEN MIT ARI GOLD Text — JULIA WINTER, Foto — MARKUS BACHMANN
Es klingelt. New York calling. Schnell setze ich meine weißen Glitzerhasenohren auf, klebe mir einen buschigen, schwarzen Schnurrbart unter die bemalte Nase und bin fertig präpariert für unser Interview. Ari Gold und ich spielen Verkleiden. Als moderne Menschen des 21. Jahrhunderts drehen wir Zeit und Raum triumphierend den Rücken zu und treffen uns zur Narretei auf der virtuellen Achse Berlin – New York. Ari lacht, als er mich im Hasenoutfit mit Hitlerbärtchen auf seinem Laptop erscheinen sieht. Er selbst hat sich in volle Power-Montur geworfen: große Brille im NerdStyle, Polohemd, Shorts, Kniestrümpfe und auf seinen roten Krauselhaaren ein buntes Frotteeband. Ari Gold ist Autor, Regisseur und Hauptdarsteller von „Adventures of Power“ – einer Independent-Komödie über den Kleinstadt-Verlierertypen Power, der aufgrund mangelnden musikalischen Talents seine übergroße Liebe zum Air-Drumming entdeckt. Als in dem Kupferbergwerk, in dem er arbeitet, ein Streik ausbricht, entflieht Power dem drögen Alltag und macht sich, wie einst Karate Kid, auf die Suche nach seinem Meister. Die obskure Reise quer durch Amerika endet beim nationalen Luftschlagzeug-
wettbewerb, den Power in einem emotionalen letzten Kampf nur durch den Rhythmus seines Herzens gewinnen kann … So weit, so trashig. Ich rücke mir die Öhrchen zurecht. Wie sehr das Thema „Wahnsinn“ seinen Film berührt, will ich von Ari als Erstes wissen. „Here we have a character who can not help himself but air drum“, sagt mir Ari in medientauglichem Amerikanisch. „Diese Obsession Powers ist natürlich eine Form des Wahnsinns“, aber eben eine produktive, bemerkt er. „Sie gibt Power einen anderen Zugang, eine andere Art, die Welt zu sehen und sie damit auch zu verändern, ja zu verbessern.“ „Natürlich ist der Fakt, dass Air-Drumming unglaublich bescheuert aussieht, ein großer Vorteil, um eine Komödie zu produzieren“, erzählt Ari weiter, „aber das ist eben nur ein kleiner Teil der Geschichte.“ „Warum machen wir das noch mal?“, muss Ari nun doch nachhaken. Es sehe doch keiner, ob wir verkleidet sind oder nicht. Ich würde das doch nur zu meiner eigenen Belustigung machen, wirft er mir vor. „Das stimmt“, nicke ich. Ari grinst und gießt sich eine Tasse Tee ein. Für ein Independent-Movie kann Ari Gold mit durchaus bekannten Schauspielern wie Michael McKean und Jane Lynch aufwarten. Es sei eine großartige Besetzung gewesen, „eine inspirierende Mischung aus Darstellern, die noch nie vor der Kamera standen, und etablierten Schauspielern.“ Mit Adrien Grenier, der Powers größten Gegenspieler mimt, ist Ari auch privat befreundet. Zusammen spielen sie in der Band „The Honey Brothers“, die zurzeit ein amerikanisches Festival nach dem anderen antourt. Adrien spielt tatsächlich Schlagzeug; Ari das Instrument der Instrumente – die Ukulele. Auch sein Zwillingsbruder Ethan und er teilen sich eine Band: „The Gold Brothers“. Ethan hat für den „Adventures of Power“-Soundtrack insgesamt 25 Lieder geschrieben und selbst produziert. Dabei reicht die Bandbreite von algerischem Pop über New Country bis zu 80’s Funk. Wir müssen kurz unterbrechen. Mein Klebebart macht mich so verrückt, dass ich ihn abnehmen will, aber erst macht Ari noch ein paar lustige Fotos, die wir uns hin und her mailen. Was er als nächstes geplant hat, frage ich weiter. „Ich bin jetzt natürlich vor Allem mit der Promotion von „Adventures of Power“ in Europa beschäftigt“, sagt Ari und rückt sich das Frotteeband zurecht. „Wir stecken zurzeit mitten in den Verhandlungen und hoffen, dass der Film in einem halben Jahr in die deutschen Kinos kommt.“ Außerdem arbeitet Ari gerade an einem Medley der deutschen Musikgeschichte, das in den nächsten Tagen auf seiner Homepage erscheinen wird. In dem Video air drummed er an verschieden Plätzen Berlins zu Meilensteinen der deutschen Musikgeschichte. Unter anderen zu einem Lied von Tokio Hotel. Mit denen hat er eh noch eine Wette offen, denn Tokio Hotel hatten auf ihrem Blog im Juli dieses Jahres ein Video von Ari gepostet und es als „durchgeknallten Schwachsinn“ bezeichnet. Ari forderte daraufhin ihren Schlagzeuger zu einem Luftschlagzeugkampf heraus. Eine Antwort steht noch aus. Zum Abschluss unseres Spielenachmittag singen wir noch ein paar Zeilen aus dem einzigen deutschen Lied der Brüder Gold: dem Leitungswassersong, basierend auf einem herzzerreißenden Erlebnis von Ari in Tübingen, als ihm in einem Restaurant eben dieses verweigert wurde. „Jaaaa, wir haben keine Leitungswasser in Deutschland. Wir haben keine Leitungswasser für Sie, aber wir haben einen Kugelschreiber zum Schreiben für die Fräulein, die wohnt in der See …“ Hach … Ari schwenkt seinen Laptop und erlaubt mir so einen letzten Blick auf seinen sonnigen Hinterhof. Ich wackle mit den Ohren und winke: „Bye, New York“. Mit einem zwuubb verschwindet Ari von meiner Bildfläche.
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– J.B,
/J. B, Jenna Brinning
Foto — Joachim Zimmermann
Sex und Haushalt Über die Relativität von Wahnsinn Es gibt Sex, der wahnsinnig gut ist, vielleicht weil man verliebt ist oder aber, weil er ein verbotenes Flair hat. Etwa wenn man schnell eine Nummer mit der Freundin seines Kumpels auf dem Club-Klo schiebt, während letzterer eine Runde Getränke holt. Und dann gibt es Sex mit Wahnsinnigen. Letztlich ist alles relativ. Mit emotional labilen Schizophrenen zu verkehren kann ja auch super sein, quasi wie ein Dreier, nur zu Zweit eben. Schlimm dagegen ist der Beischlaf, wenn er so irrsinnig öde ist, dass man mitten drin in Gedanken an die farbliche Neugestaltung des Schlafzimmers abdriftet oder sich um die überfällige Steuererklärung sorgt. Kai lernte ich in der Bar kennen, nachdem ich von einem südländischen Touristenzwerg für eine Transsexuelle gehalten wurde. Mit einem Kompliment über meine Lady-GagaeskeNase lenkte er die heftige Debatte um weibliche Körpergrößen geschickt um und sah dabei auch noch sensationell aus. Ich ließ davon ab, auf den Hobbit einzuprügeln und ging mit Kai auf die Toilette zum Knutschen. Wenig später landeten wir bei mir. Man wird ja nicht jünger und die Schlange für‘s WC war außerdem echt lang geworden.
Manche Frauen erfreuen sich an ausgedehnten Zärtlichkeiten. Nach 30 Minuten Petting oberhalb der Gürtellinie wollte ich aber mehr. Ein Pony, ein iPhone, einen Royal TS mit Käse und penetrative Action, sofort. Kaum wurde ich jedoch in der Missionarsstellung zerquetscht, zeigte sich Kai zunächst verwirrt, dann gänzlich unbeeindruckt von meinem Wunsch nach einem Stellungswechsel. Oder nach Luft. Er strampelte sich noch gut anderthalb Minuten auf mir ab, eh er zu seinem abgeschiedenen Höhepunkt kam. Als spöttische Krönung der Formel-1-Begattung durchwühlte er den Bücherstapel neben dem Bett und blätterte in „Wir nennen es Arbeit“. Ich entließ ihn auf Nimmerwiedersehen und ging schlafen. Viele Stunden später stellte ich fest: sein Gummi klebte nicht nur hartnäckig auf den Dielen, sondern er hatte auch die Toilettenschüssel voller inzwischen verkrusteter Kackstreifen hinterlassen. Ich sag ja: schlimmer geht‘s immer. Jennas Haushaltstipp: gegen ein beflecktes Klo nehme man Cola! Rein kippen, ca. eine Stunde ziehen lassen, kurz schrubben, spülen, fertig.
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".0, "6' ,".#0% 4$)"/*4$) Âą $)*-- 065 .*5 4044& DrauĂ&#x;en â&#x20AC;&#x201C; Amok auf Kambodschanisch
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Nichts gibtâ&#x20AC;&#x2122;s umsonst. Wer in Kambodscha Amok bestellt, bekommt ein Currygericht mit Fisch, Reis und nicht selten mit anschlieĂ&#x;endem Durchfall inkl. Magenkrämpfen, gern auch tagelang. Reisen in Kambodscha ist ähnlich: Exotik gibtâ&#x20AC;&#x2122;s nur um den Preis des Altbekannten, Fun nur als Stahlbad. Von MICHAEL KLEINOD und MAREN FREUDENBERG RĂźckreise von drei Tagen Angkor, der â&#x20AC;&#x17E;mother of all templesâ&#x20AC;&#x153; (Lonely Planet). Umsteigen in Phnom Penh und nochmal schnell aufs Klo, wo ein vielleicht fĂźnfjähriges Mädchen halbnackt und barfuĂ&#x; bei 40°C im Schatten in der BrĂźhe der Männertoilette steht â&#x20AC;&#x201C; so oder ähnlich wird Kambodschas Hauptstadt in Erinnerung bleiben. Vier Stunden dauert die Fahrt von Phnom Penh nach Sihanoukville, wo wir den SĂźdostasien-Trip chillig am Meer ausklingen lassen wollen. Reisen macht zynisch. Mittlerweile haben wir uns an einiges hier gewĂśhnt, aber nicht an das ohrenbetäubende Unterhaltungsprogramm während stundenlanger Busfahrten: Liebesdramen shakespeareâ&#x20AC;&#x2DC;schen AusmaĂ&#x;es werden in knallbunte Schnulzen von dreieinhalb Minuten schwĂźlstiger audiovisueller Emphase gepresst â&#x20AC;&#x201C; eine Mischung aus Flippers, Scorpions und Destinyâ&#x20AC;&#x2DC;s Child, Ăźberladen mit Kitsch und Nationalsymbolen, als sei nichts dabei: â&#x20AC;&#x17E;Meine Liebe zu Dir ist so glĂźhend heiĂ&#x; wie die Sonne Ăźber Angkorâ&#x20AC;&#x153;, so in der Art. Uns bleibt nur die Flucht vor nervlicher Ă&#x153;berreizung in den guten alten Eurozentrismus und so rationalisieren wir das fĂźr unsere â&#x20AC;&#x17E;zivilisiertenâ&#x20AC;? Ohren unerträglich infantile
Draußen – Amok auf Kambodschanisch Gedudel mitfühlend als Ausdruck uns unbekannten Elends. Das schafft kognitiven Abstand. Auf dem National Highway 4, der wichtigsten Handelsverbindung Kambodschas, geht es 230 km Richtung Süden. Irgendwann macht der Bus eine Pause – Geröstete Tarantel als Wegzehrung? Klare Antwort: I‘m sticking to my Snickers. Wer sicher gehen will, beim Austreten nicht durch eine alte Mine sein Bein zu verlieren, bleibt in Straßennähe. Nach gut der Hälfte der Strecke wird das Land hügeliger, wir passieren ausgedehnte Ölpalmplantagen. Die Stadt begrüßt uns mit einem Industriegebiet, das an Naomi Kleins No Logo denken lässt. Tatsächlich (ent-)stehen in der Provinz Sihanoukville, nach Einwohnerzahlen die zweitgrößte Kambodschas, heute sechs von insgesamt 21 sogenannten Sonderwirtschaftzonen (SEZ) im Land. In diesen herrscht die Freiheit internationaler Investoren. Man kennt das ja: „a tax holiday of between 6 and 9 years ...you will be able to take your money out ... tariff-free privileges ... A low cost, young and energetic workforce ... Abundant natural resources” (www.investincambodia.com). Sihanoukville SEZ ist die größte ihrer Art im Land, ein chinesisch-kambodschanisches Joint-Venture mit einem Investmentkapital von 3 Mrd. $. Sie soll laut Premier Hun Sen bis 2015 80 000 Arbeitsplätze schaffen (das war Anfang 2008; seither hat die Textilbranche, wichtigster Industriezweig des Landes, über 45 000 Entlassungen gesehen). Der „Zone Developer“ dieser SEZ schmückt sich mit dem käuflichen Titel Oknha (Lord), für den man mindestens 100 000 $ (ca. das 135Fache des durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreseinkommens) für gemeinnützige Zwecke springen lassen muss – Weißwaschen leicht gemacht. Dieser Herr ist nämlich gleichfalls Präsident des Agrogiganten Pheapimex, der regelmäßig mit illegalen Abholzungen kambodschanisches Recht verletzt und lokale Widerstände provoziert. Verheiratet ist der Präsident mit der Eigentümerin dieses sympathischen Familienbetriebs, die ihrerseits wiederum sehr engen Kontakt mit Premier Hun Sen pflegt. And the plot thickens. Zurück auf Anfang: Zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft war Kompong Som ein kleiner Ort an der „kambodschanischen Côte d‘Azur“. Nach der sogenannten Unabhängigkeit 1953 finanzierte die Ex-Kolonialmacht hier einen Tiefseehafen, der erste und bis heute einzige des Landes. Kompong Som wurde nach dem damaligen König und späteren Staatschef Preah Bat Samdech Preah Norodom Sihanouk Varman umbenannt. In den 60er Jahre folgte ein kurzer Mini-Tourismus-Boom, von der Machtübernahme der Khmer Rouge 1970 bis 1993 hieß der Ort wieder Kompong Som; seither offiziell, da Monarchie, wieder Sihanoukville. 1975 vergalt die USA die Kaperung eines ihrer Containerschiffe durch die Roten Khmer und ihre vermasselte Befreiungsaktion mit der Bombardierung des Hafens von Sihanoukville. Hinzu kommen Entführungen und Ermordung von Touristen, ein Giftmüllskandal Ende der 90er Jahre etc. Von den Entwicklungsgeldern der Internationalen Gemeinschaft, die rund die Hälfte des Staatsetats ausmachen, dürfte auch die Hafenstadt mächtig profitieren. In Grenznähe zu Thailand und Vietnam und mit dem ausgedehnten Hinterland ist die Provinz Sihanoukville eine regionale arrière-cour der globalen Peripherie und damit die ideale Spielwiese für Nutzenmaximierer aller Art. Hört sich alles nicht gerade chillig an, doch wir werden eines Besseren belehrt. Als wir am Busbahnhof eintreffen, erwartet uns bzw. unsere vollen Taschen nicht das quirlige, ursprüngliche Lokalvolk, sondern haufenweise krebsrote, unrasierte, nassgeschwitzte Expats, die in der Stadt und am Strand Bars, Läden und Guesthouses betreiben – ein wahrer Backpacker-Himmel: aus den ethnogestylten Eta-
65 blissements sprudelt den ganzen Tag Jack Johnson, Bob Marley, auch gern mal Chili Peppers und Rage Against The Machine. Man kann tauchen, schnorcheln oder einfach bloß seine Alternativität selbstgefällig vor sich hertragen. Casinos und Kinos laden zum Verweilen ein. „Western run“, „laid back“ und „beach front“ ist Standard am polizeibewachten Serendipity Beach, wo wir uns letztendlich einquartieren. Im „Tranquility“. Moment mal, polizeibewacht...? Anyway, der Strand vor der Haustür, White Russian im Palmenschatten, Pediküre, Maniküre, Thai-Massage, Gras gibt’s dahinten am Busticket-Schalter. Nur sehr selten nimmt uns ein beinloser Bettler das Licht. Wir baden im Sonnenuntergang, umringt von springenden Fischen – Walt Disney und Neckermann würden es nicht glauben. Wen stört da das Bisschen angeschwemmter Müll? Zwischen unserem „shack“ und dem 24/7-Supermarkt an der Straße liegt knapp ein halber Kilometer, gesäumt von Beach-Fashion-Stores, Tauch- und Surfläden, Kinder-NGOFilialen. Der Supermarkt hat alles, was man hier so braucht: Oreos, Dr. Pepper, Budweiser und, bis auf Kniehöhe gestapelt, Viagra als Original wie Generikum. Tourismus heißt Außeralltäglichkeit und dazu gehört Macht und also Sex, obendrein wenn er so billig ist. Ein erfahrener Blogger verkündet (wörtlich): „Thai Nutten wird man hier nicht oder nur sehr selten antreffen. ... Der lokale Eingebohrene bezahlt zwichen 3,- und 5,- Dollar für einen kuzen Aufenthalt ... aber der Ausländer wird gleich nach dem dreifachen Preis gefragt. [Man kann] sich als Tourist, mit ein bischen Verhandlungsgeschick, für 15,- Dollar eine der asiatischen Schönheiten für eine ganze Nacht mit auf das Zimmer nehmen“ und fügt an anderer Stelle hinzu: „sollten ... Kambodscha interessierte Damen [sich] durch meine Schilderungen ... abgestossen fühlen, ist das in erster Linie ihre persönliche Sache und zum zweiten gehöhrt das in Asien dazu und wir wollen doch keine Bereiche des Lebens ausschliessen.“ In Sachen Sex hat es Sihanoukville sogar einmal kurz in die deutschen Mainstream-Medien geschafft: Ein gewisser Herr O. überredete dort Jungen zwischen zehn und elf Jahren zum Sex und nahm – selbst HIV positiv – deren Infektion für jeweils ca. 17 Cent in Kauf. Im Juli 2008 wurde er in Deutschland nach achtmonatiger Verhandlung zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, die Opfer wurden eingeflogen. So etwas wächst keinesfalls einsam und allein auf dem fruchtbaren Dung des Elends und der Ausbeutung. Auch innerhalb kambodschanischer Familien soll Kindesmissbrauch sehr verbreitet sein. Der Nachwuchs wird von den Eltern teilweise für ein paar Hundert Dollar verkauft oder er muss sich allein und schutzlos auf der Straße durchschlagen. Organisationen wie M‘Lop Tapang (grob: „Schutz des Schirmbaumes“) wissen dazu einiges zu sagen. Dagegen ist das einzig annähernd Bedrohliche für uns ein kurzes, eindrucksvolles Gewitter: Über dem Golf von Thailand hat sich eine schwarze, schwere Wolkenmasse zusammengezogen und schickt minutenlang Blitze quer über die Bucht, ohne uns doch allzu nah zu kommen – ein einmaliges Lichterspiel, während am Horizont die Sonne scheint und die Wellen glitzern. Wir können uns kaum losreißen, doch Johnny Depp wartet. Das Kino ist das bequemste, das wir je besucht haben: Bastsofas zum Beinehochlegen, alles Mögliche rauchen natürlich „erlaubt“, kein Eintritt, nur ‚ne Spende. Schöne heile Welt. Und danach gibt’s eine große Portion Amok.
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Comic â&#x20AC;&#x201C; Arne Bellstorf (bellstorf.com)
SOMETREE ¾PFE;<I½
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