#07
nov 2010 – jan 2011
Eskapismus: Halbleichen im Keller der Gesellschaft Musik und die Fans der Revolution Ausbrecherkönige Grenzwelten: Musik, Migration und Flucht Tierische Fluchten Weltflucht und konkrete Utopie: Exodus der Eigenbrötler Marnie Stern: Gitarre, Gitarre, Gitarre Thomas Pynchon und Denis Johnson: Genre-Grenzen sprengen
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Flucht
Vier / 4 Euro
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Das Dritte Kino und die antikoloniale Filmtradition
OPAK
Abb. 1: Es zieht!
(Red.)
Abb. 2: Scheiße Schatzi…
„Über euer scheiß Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär. Oder
als Flachbild-Scheiß – ich hätte wenigstens einen Preis […] Ich seh die Waren zieh’n, ohne zu flieh’n geh’n sie an Land...“, so die Goldenen Zitronen. Was im Warenverkehr selbstverständlich ist, gilt noch lange nicht für Menschen. Das ist so absurd, dass eine Forderung wie „Alle Grenzen weg!“ doch eigentlich jedem vernünftig erscheinen müsste. In OPAK#7 geht es um „Flucht“ – ab jetzt in einem ausführlichen Thementeil. men können… Georg Seeßlen fragt sich und uns, was das eigentlich sein soll, „Eskapismus“, wenn aus der Gesellschaft eh keiner rauskommt. Aber wie lässt sich eine Wirk-
ANALOGIEN
Und es ist doch nur konsequent: Denn was hätte sonst nach „Diebstahl“ kom-
lichkeit verändern, die sich ihrerseits den Menschen entzieht? Der Kulturwissenschaftler Josh Kun gibt Auskunft darüber, wie sich die mexikanisch-amerikanische Grenzproblematik in zeitgenössischer Musik niederschlägt. Wer Jens Rachuts unnachahmlichen Text zum Thema liest, hört den Kommando Sonne-nmilch-Sänger einem die Worte förmlich ins Ohr brüllen. Laura Ewert hat sich mit einer Medizinerin über Depression und die Legitimation einer „Flucht in den Tod“ unterhalten. Und über „Tierische Fluchten“ und den Begriff des „TierWerdens“ informiert Cord Riechelmann… Während wir an diesem Heft arbeiteten ist Martin Büsser nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Martin hat von Beginn an für unser Heft geschrieben und es durch Ratschläge und Kritik begleitet – wir vermissen ihn als einen unglaublich netten und offenen Menschen. Wir möchten uns für alle Zuschriften bedanken, die uns nach der #6 erreicht Ausgabe. Aber ganz ehrlich: mit soviel Lob und durchdachter Kritik hatten wir nicht gerechnet. Mit so vielen Neu-AbonnentInnen auch nicht. Liebe Leserin, lieber Leser, wir wünschen euch viel Spaß mit dieser Ausgabe.
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EDITORIAL
haben. Naja, klar, Hut ab vor uns selbst, das war natürlich keine so schlechte
OPAK
INHALT
THEMA 6 Aus dem Knast kommt keiner von alleine raus (Fabian Soethof) 10 Halbleichen im Keller (Georg Seeßlen) 16 Grenzwelten (Matthias Rauch) 20 Musik und die Fans der Revolution (Maurice Summen) 22 Flucht, Flüchtling, Fugato, floh, fliehen (Ulrich Holbein) 24 Exodus der Eigenbrötler (Andi Schoon) 27 Flucht in den Tod (Laura Ewert) 28 Es sind die Träume (Jens Rachut) 30 „Vertreibung“ durch Vererbung (Erich Später) 32 Sichtbar machen (Janine Schemmer) 34 Tierische Fluchten (Cord Riechelmann) MUSIK 36 Love for guitars, dogs and cigarettes (Liz Weidinger) 38 Irgendwann gibt es kein zurück mehr (Oliver Koch) 42 Ihr seid schön (Kristof Künssler) 44 Was für ein Affentanz (Steffen Sauter) 45 Scheiße pflegen für St. Pauli (Jens Balzer) LITERATUR 46 Mit Schirm, Scham und Schablone (Lucia Newski) 48 Ein einziges Wagnis 49 Die Außenseiten der Coolness (Jan-Frederik Bandel) FILM 52 Die Mühen der Ebene (Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke) 56 Die Wahrheit liegt immer mittendrin (Marein Budiner) 58 Banksy (Robert Behrendt) REZENSIONEN 60 Musik, Film, Literatur COMIC 66 Das Spiel ist aus (Sascha Hommer) 4
Fl uc ht
WERNER AMANN
MAURICE SUMMEN
LIZ WEIDINGER
CORD RIECHELMANN
Von 1996 bis 2009 hat der in Berlin lebende Fotograf Werner Amann immer wieder Städte, Landschaften und Menschen in den USA fotografiert: Los Angeles, New York, Las Vegas, Gainesville, Miami und Kansas City, die Grenzstadt Tijuana, Mexico und die Wüstengebiete des amerikanischen Westens. Für sein fotografisches Langzeitprojekt AMERICAN wurde Amann mit dem Preis des internationalen FotoBookFestival Kassel 2010 ausgezeichnet, das Buch ist kürzlich bei Seltmann und Söhne erschienen. Von Werner Amann stammt das wunderbare Foto zu unserem Grenzwelten-Artikel.
Maurice Summen, Multitasker und Gourmet, ist Verleger, Labelmacher, freier A&R, Journalist und Musiker. Seine Band DIE TÜREN nimmt derzeit ein neues Album auf. In diesem Heft ist er nicht nur als Autor mit einer Reflexion über das Potenzial von Musik als Motor von Flucht vertreten, sondern auch mit der Künstlerin Christiane Rösinger und der Jubiläumscompilation „Operation Pudel 2010“, die auf seinem Label staatsakt. erscheinen. Darüber hinaus hat er dankenswerterweise eine Anzeige geschaltet. Wir möchten ihn hiermit als heißen Anwärter auf den Jan-Philipp-Reemtsma-Mäzenatentum-Gedächtnis-Wanderpokal am Band vorschlagen. Gefälligkeitsjournalismus betreiben wir dennoch nicht. Seine Veröffentlichungen sind schlicht sehr hörenswert.
Liz Weidinger fiel es nicht schwer, den Text über Marnie Stern in dieser Ausgabe zu schreiben – zu sympathisch war ihr Sterns zelebrierte Verplantheit, Sturheit und ihr Lebensrhythmus. Denn auch Liz verbringt lieber die Nächte als die Tage mit lauter Musik vor ihrem Computer und schreibt bestenfalls Texte über Feminismus und Popkultur. Da passt es, dass sie auch als freie Autorin für das Missy Magazine schreibt. Bevor Liz für einen Master in „Journalistik und Kommunikationswissenschaft“ nach Hamburg gezogen ist, berichtete sie als Bayernkurierin für den „Zündfunk“ aus dem kulturellen Leben im mittelgroßen Augsburg und kümmerte sich in ihrer WG um das Anbringen aller Hängeschränke. Orange ist ihre Lieblingsfarbe.
Wir hätten es uns denken können: „Momentan auf Reisen“ schrieb Cord Riechelmann vom Telefon aus. Ja natürlich, als Biologe und Philosoph ist man doch ständig auf Recherche unterwegs! Im Unterholz und so, dachten wir. Cord Riechelmann war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und die „Geschichte biologischer Forschung“. Er arbeitete als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der FAZ, schreibt u. a. für die FAS, SZ, den Merkur, taz und jungle world, ist Autor der Bücher „Bestiarium“ und „Wilde Tiere in der Großstadt“ sowie Herausgeber einer Sammlung der Tierstimmen Europas, Asiens und Afrikas (3 CDs). Bevor demnächst ein Essay zum Wald im Merve Verlag erscheint, hat Cord Riechelmann noch die Zeit gefunden, uns über „Tierische Fluchten“ zu informieren. 1A Einsatz!
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IMPRESSUM
REDAKTION
CONTRIBUTORS
OPAK
„AUS DEM KNAST KOMMT KEINER VON
Peter Wacker (34, Name geändert) arbeitet seit 2005 als sogenannter „Schließer“ in einer deutschen Haftanstalt. Eine Flucht hat er noch nicht miterlebt
ALLEINE RAUS“ 6
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FOTOS VON MAX ZERRAHN
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Sprechen Sie aus Erfahrung? Es gibt keine Gegenbeispiele. Fluchten sind entweder aufgrund von Geiselnahmen passiert oder durch Justizvollzugsbeamte, die helfen. Wenn jemand so bekloppt ist und eine Geiselnahme plant, dann schafft er es vielleicht bis zur Außenpforte, weiter nicht. Bei einer Geiselnahme wird sofort die Polizei gerufen. Wir tragen zwar auch Schusswaffen, aber nur im Nachtdienst oder bei Ausführungen. Ich musste meine Waffe noch nie ziehen.
— Sie absolvierten eine Ausbildung und wurden Schließer. Justizvollzugssekretär im mittleren Dienst, nicht Schließer oder Wächter. Da legt mein Chef großen Wert drauf. Das wird dem Berufsbild nicht gerecht.
— Wurden Sie schon mal bestochen? Ich glaube nicht, dass bisher ein ernstes Angebot dabei war, wenn einer sagt: „Geben Sie mir doch mal den Schlüssel!“ Ich als Bediensteter werde aber tagtäglich von den Gefangenen angetestet, wie weit sie bei mir gehen können. Die probieren alles aus, da sind auch richtige Schlitzohren und Betrüger dabei. Leute, die eine bessere Ausbildung in
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— Warum nicht? Es wertet den Beruf ab. Das Aufgabenfeld umfasst mehr als Essen bringen, an die Luft lassen und wieder wegschließen. So ein Gefängnis ist eine Stadt für sich, alles ist darauf ausgerichtet, den Gefangenen Freizeitmöglichkeiten aufzuzeigen und ihre schulischen und beruflichen Defizite aufzuarbeiten. Wir sind eine Ausbildungsanstalt. Die Gefangenen sehen es vielleicht anders, aber wir Bediensteten sehen es so, dass wir mit ihnen arbeiten. — Wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag aus? Der Tagesablauf in einer JVA ist komplett durchorganisiert. Um 5:45 Uhr ertönt ein Gong zum Wecken. Um 6 Uhr holen wir Beamte mit unseren Hausarbeitern – Gefangene, die für die Versorgung auf der Abteilung zuständig sind – das Frühstück aus der Küche, um 6:10 Uhr wird die Morgenkost ausgegeben. Wir gehen von Haftraum zu Haftraum und machen dabei eine Lebenskontrolle, ohne Ausnahmen. 6:40 Uhr ist Arbeitsausrücken, die Häftlinge gehen in ihre Betriebe und Werkstätten. Vorher können sie ihre Post abgeben, die dann zur Briefzensur geht. Halb 12 Arbeitseinrücken, 12 Uhr Mittagskost. In der Zwischenzeit wurde die eingehende Post zensiert, Haftraumkontrollen gemacht, Stellungnahmen und Gutachten für Staatsanwaltschaften und Psychologen geschrieben. Um 16 Uhr, wenn die Arbeiter wieder einrücken, müssen wir die Bestände abmelden – wir prüfen, ob die Anzahl der Gefangenen mit der tatsächlichen Zahl übereinstimmt. 17 Uhr Abendessen, dann duschen. Ab 18:30 Uhr fängt die Freizeit an: Sport-, Schach-, Musik- oder religiöse Gruppen, VHS-Kurse, Sprachen, EDV. Um 21 Uhr ist der große Einschluss, da gleichen wir noch mal die Bestände ab. Die stimmten bisher noch immer. — Sitzen bei Ihnen auch die schweren Jungs? Bei uns sitzen Gefangene mit Haftstrafen ab zwei Jahren aufwärts, vom Gefährlichkeitsgrad sind wir durchmischt. Aus Erfah-
rung kann ich aber mittlerweile sagen, dass man mit Leuten, die einen Mord oder ähnlich Schwerwiegendes begangen haben, wesentlich besser arbeiten kann als mit Kurzstrafen-Insassen, Drogenabhängigen oder psychisch Auffälligen. Langstrafen-Häftlinge versuchen eher, einen Weg zu finden, mit sich selber klarzukommen, um diesen Zeitraum zu schaffen. Sie haben sich damit abgefunden, hier zu bleiben. — Es gab keine Fluchtversuche, seit Sie dort arbeiten? Nein. Justiz ist Ländersache, viele Anstalten wurden bei uns saniert. Die Knäste sind zwar überbelegt, aber so sicher, der Fluchtgedanke müsste bei jedem Gefangenen schwinden. Aus dem Knast kommt einer von alleine nicht raus.
Menschenkenntnis haben als wir. Man darf sie nie unterschätzen, auch wenn man sich mit der Zeit kennt. — Verdient man überhaupt genug, um nicht bestechlich zu sein? Übermäßig verdient man nicht. Es ist ein sicherer Job mit gutem Geld, aber für das, was man macht, eigentlich noch zu wenig. Und vom Spaßfaktor her wäre ich sowieso gerne Installateur geblieben.
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Herr Wacker, Sie sind gelernter Gas-WasserInstallateur. Warum sind Sie in den Knast gegangen? PETER WACKER: Beamter ist ein sicherer Job. Ich bin aber auch vorbelastet, mein Vater arbeitete dort.
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ICH BIN DANN MAL WEG
Von „Natural Born Killers“ bis „Prison Break“: Die Liste spektakulärer Fluchtversuche ist so lang wie ihre Heroisierung in Film und Literatur. Aber nicht alle verliefen so erfolgreich wie die Ausbrüche der Meister ihres Fachs.
Verbrechen: Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, Einbruch Erfolgreiche Fluchtversuche: 5 Hilfsmittel: Obst, Seife, Hubschrauber Status: 2003 entlassen, seitdem auf freiem Fuß
In den Siebzigern stilisierten französische Medien Michel Vaujour zum Überheld, tatsächlich war er eigentlich ein Kleinkrimineller mit zu gesundem Freiheitsdrang und zu dreisten Ideen: Vaujour flüchtete mit als Granaten getarnten Orangen, der Nachbildung eines Zellenschlüssels mittels Käseabdruck, einer aus Seife gefertigten Pistolenattrappe und einem Hubschrauber, den seine Ehefrau flog. Seit 2003 schreibt er Drehbücher und berät Krimi-Autoren.
Name: STEVEN JAY RUSSELL (geb. 1957) Spitzname: Houdini, King Con Verbrechen: Betrug, Diebstahl Erfolgreiche Fluchtversuche: 5 Hilfsmittel: Identitätswechsel: mind. 14 Decknamen, Verkleidungen als Richter, Arzt, Polizist oder Handwerker Status: sitzt seit 1998 in einem texanischen Gefängnis. Zu 144 Jahren Haftstrafe verurteilt
Steven Jay Russell wurde die Liebe zum Verhängnis: Im Knast verliebte sich der homosexuelle Familienvater und Ex-Polizist in seinen Mithäftling Philip Morris – und inszenierte sogar seinen eigenen Aids-Tod, um zu seinem Geliebten in Freiheit zurückzukehren. Dieser absurden Geschichte setzten Jim Carrey und Ewan McGregor in der Verfilmung „I Love You Philip Morris“ ein ebenso absurdes Denkmal.
Name: JOHN DILLINGER (geb. 1903) Spitzname: Staatsfeind Nr. 1 Verbrechen: Diebstahl (u. a. 41 Hühner), schwerer Bankraub, Beihilfe zum Mord Erfolgreiche Fluchtversuche: 3 Hilfsmittel: gewaltbereite Freunde, Pistolenattrappen aus Holz und Schuhcreme Status: Am 22. Juli 1934 von FBI-Agenten erschossen
25.000 US-Dollar – ein höheres Kopfgeld hatte das FBI bis zum Jahre 1934 noch nie ausgeschrieben. John Dillinger und seine Gang töteten bei ihren Raubüberfällen mehrere Polizisten und FBI-Beamte. Vier Monate nach Dillingers Tod fand auch das Leben seines Weggefährten Babyface Nelson ein jähes Ende – und die Ära der letzten großen Verbrecher ward Geschichte.
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Name: VASILIS PALEOKOSTAS (geb. 1966) Spitzname: Robin of the Poor Verbrechen: Einbrüche, Raubüberfälle, Erpressung, Entführung Erfolgreiche Fluchtversuche: 3 Hilfsmittel: gepanzerte Fahrzeuge, Bettlaken, Hubschrauber Status: seit 2009 auf der Flucht
Erst lernte er bei seinem Bruder Nikos, dann gab er die griechische Justiz der Lächerlichkeit preis: Vasilis Paleokostas gelang 2006 und 2009 auf exakt die gleiche Weise ein filmreifer Ausbruch aus dem größten griechischen Gefängnis Korydallos – mithilfe eines Hubschraubers, der ihn vom Innenhof der Anstalt „abholte“.
Name: MICHEL VAUJOUR (geb. 1955) Spitzname: –
ICH BIN DANN MAL WEG
Name: ECKEHARD WILHELM AUGUST LEHMANN (geb. 1947) Spitzname: Ausbrecherkönig Verbrechen: Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung, Raub, Einbruch, Fahren ohne Führerschein Erfolgreiche Fluchtversuche: 11 Hilfsmittel: Charme, bezirzte Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen Status: auf freiem Fuß
Von der Presse gekürte Ausbrecherkönige gab es im deutschsprachigen Raum viele: Theo Berger (der „Al Capone vom Donaumoos“), Christian Bogner, Walter Stürm („Bin beim Ostereiersuchen“). Ins Guinness-Buch der Rekorde schaffte es aber nur „Ekke“ Lehmann. Der Neuköllner floh seit 1969 elf Mal aus Berliner Gefängnissen. 1999 erschien seine Biografie „Ohne Kompromiss“. Ben Becker ist Fan.
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HALBEskapismus bleibt in der Gesellschaft gefangen: Kultur bilde ein System der unvollkommenen Fluchtversuche, so Georg Seeßlen. Er stellt die Frage, ob es eine fortschrittliche Kritik des Eskapismus geben kann, wenn sich gleichzeitig die Wirklichkeit dem Versuch, sie zu verändern, immer weiter entzieht
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ede Gesellschaft ist aus der Angst geboren, nicht die eine mehr und die andere weniger, sondern die eine anders als die andere. Schließlich ist jede Gesellschaft, so weit wir denken können, aus einer anderen geworden, in Fortsetzung und Widerspruch. Gesellschaft ist der Ausdruck meiner Angst, weder mit der unendlich suggestiven Ordnung noch mit den widersprüchlichen Impulsen in meinem Inneren alleine fertig zu werden. Gesellschaft ist aber zur gleichen Zeit Ausdruck der Angst, die, ziemlich zu Recht übrigens, einer vor dem anderen und der Einzelne vor dem Ganzen hat. Man muss sehr aufrecht sein, um außerhalb des Gesetzes zu leben, singt Bob Dylan. Man müsste sehr mutig sein, um sich außerhalb der Gesellschaft zu denken. Und wenn Gesellschaft nichts anderes ist als die Flucht des
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Menschen vor sich selbst, wären dann „die Linken“, wie immer man sich da eine Einheit vorstellen kann, nicht jene, die immer vorneweg laufen, die panischsten der Flüchtenden? Wollen sie nicht die Vergesellschaftung des Menschen vorantreiben, bis zur blutigen Groteske des Maoismus oder bis zur korrupten Langeweile des Realsozialdemokratismus? So einfach ist es natürlich nicht; „rechts“ und „links“ machen indes nur innerhalb der Gesellschaft irgendeinen Sinn. Selbst in der temporären Abwesenheit der Gesellschaft kann man sich so nicht verstehen, in der Liebe, beim Bocciaspielen oder beim Betrachten eines Kieselsteins im Bachlauf beispielsweise. Wir kennen indes als durchaus linkes Symptom Angst und Ekel gegenüber dem individuellen „Eskapismus“, zumindest Misstrauen gegenüber jenen, die Gesellschaft nicht verändern wollen, sondern behaupten, die Gesellschaft könne sie im Arsche lecken, inbegriffen jene Mischung von marktradikalem bigotten Kon-
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COLLAGEN VON DENNIS BUSCH / MADEWITHHATE
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„Als Eskapist verlässt man also nicht das Haus der Gesellschaft, sondern im Gegenteil, man versteckt sich im Keller“
und -Serien, auch wegen des „Junggesellen“Status) verachtet. (Jedenfalls so lange, bis er aus seinem nerdigen Unsinn ein Geschäft macht, und bei der Erzeugung neuer Nerds Millionär wird.) Die linke wie die rechte Angst vor dem internen Migranten treffen sich wieder in einem Meta-Diskurs, in der Angst vor der Verweigerung der sozialen Reproduktion.
Unheimlich ist’s dort allemal. Was spielt sich im Keller des Eskapismus ab? In Japan, wo man die klaren Zeichen liebt, werden die radikalsten, am wenigsten verborgenen Formen des Rückzugs aus der sozialen Wirklichkeit gepflegt, in der „harmlosen“ Form des Mangainspirierten Cosplay (der äußerlichen Verwandlung in eine Figur der adaptierten Serie), der weniger harmlosen Verbindung von Phantasieprodukt und Alltagswirklichkeit (so versuchte ein Mann im Jahr 2010 sich das Recht vor Gericht zu erstreiten, mit einer fiktiven Frau aus einer Manga-Serie den realen Bund der Ehe einzugehen) und der extremen Form des Hikikomori. Der neue Begriff bedeutet im Japanischen „sich einschließen“, „sich absondern“, und meint eine besonders bei Jugendlichen verbreitete Haltung des radikalen Aussteigens nach innen, an Computer- und Fernsehbildschirme, in Manga-Seiten oder einsame Netzwanderungen, denen sich der Mensch mit einer Ausschließlichkeit widmet, die jede Beziehung nach außen über das Lebensnot-
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„Eskapismus“ war in der späten Zeit der Hippies und Politniks der siebziger Jahre ein großes Schimpfwort, das, wie die meisten großen Schimpfworte, dankbar und trotzig von einer Kultur angenommen wurde, deren Mitglieder man heute wohl „Nerds“ nennen würde (prompt verstanden sich die angefeindeten Wirklichkeitsflüchtlinge ihrerseits als soziale Bewegung und gründeten sogar eine eigene programmatische Zeitschrift, die „Escapist News“). Eine Flucht aus der Gesellschaft, die man sich nicht anders vorstellen konnte denn als Flucht aus der Wirklichkeit, paradoxerweise freilich mit eben jenen Medien, Zeichen und Beziehungen, die die Gesellschaft produziert und organisiert, welcher man zu entfliehen versucht. Als Eskapist verlässt man also nicht das Haus der Gesellschaft, sondern im Gegenteil, man versteckt sich im Keller.
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servatismus, der nicht nur in den USA so gern als angewandte Blödheit daherkommt, und wer weiß wie geheucheltes Mitleid gegenüber jenen, die sich, statt Geschichte zu machen oder wenigstens Zeitung zu lesen, mit Kinderträumen füttern, Regressionsmaschinen bedienen oder sonst wie aus gesellschaftlichen Prozessen „austreten“.
wendige hinaus unmöglich macht. Sexuelle und soziale Kontakte finden nicht statt: „Sie fühlen sich traurig und haben kaum Freunde. Tagsüber schlafen die meisten oder liegen im Bett. In der Nacht sehen sie fern oder sitzen konzentriert an ihrem Computer. In Japan nennt man sie auch ,parasitäre Junggesellen‘. Das heißt, jene ,Junggesellenmaschinen‘, die Duchamp erfunden hatte, sind Wirklichkeit geworden.“ (Enrique Vila-Matas) Der Anteil der „parasitären Junggesellen“ an den japanischen jungen Männern wird auf 20 Prozent geschätzt. Das ist möglich, weil diese Form der Verweigerung in aller Regel als semantisch distinkter Akt vollzogen wird und weil er nicht nur als Ausdruck des Versagens gesehen wird oder als höchst problematische Sackgasse in der persönlichen Entwicklung, sondern auch als Bild einer Welt-Verachtung, die wie beim Mönch und wie beim Samurai ihre Aspekte der Erhabenheit aufweist. Mit solch einem Rest-Respekt kann der nerdige Eskapist, insbesondere in seinen jugendlichen Ausformungen, in den Ausläufern des christlich-kapitalistischen Abendlandes nicht rechnen. Der Junge, der sich selbst zur Insel erklärt, anstatt sich gefälligst eine in der Welt zu suchen (Mädchen scheinen zumindest im Diskurs in der Minderheit), wird von der „linken“ Seite als „apolitisch“ und „desinteressiert“ angesehen, von der „rechten“ hingegen wird er gerade wegen seines „parasitären“ Status (ab einem gewissen Alter, man achte auf die entsprechenden Figuren in Mainstream-Filmen
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Je korrupter, hilfloser und „dümmer“ die Gesellschaft erscheinen muss (vom Staat, der sie stützt, ganz zu schweigen), desto mehr verliert der mehr oder weniger bewusste Eskapismus an Signifikanz. Gleichzeitig freilich wächst die gesellschaftliche Produktion eskapistischer Parallelreiche ins Unermessliche, sodass nicht zuletzt das „Verbotene“ zur Kommunikationsstrategie werden muss. So unterscheidet sich definitiv der Eskapist eines Zombie- und Death-Metal-Parallelreiches vom Mitspieler in „Second Life“, der erfahren muss, dass sein Keller genauso fad und verlogen eingerichtet ist wie der Rest des Hauses. Ähnlich ergeht es dem Fernseh-Junkie, der in Soap-Operas und Reality-TV versinkt. Letztendlich könnte man von unserer Kultur als einem System der unvollkommenen Fluchtversuche sprechen, oder anders gesagt: die Gesellschaft lässt den Flüchtenden auch in seinem Fluchtraum nicht los, ja mehr noch, sie trickst den Flüchtenden so weit aus, dass er, während er zu flüchten meint, nur um so sicherer in ihre Fallen tappt. Eine Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder besteht aus Halbleichen im Keller. Ist es also eine Lösung, die Flucht (oder eben: die Flucht aus dem System der Flucht) mit einer „Kampfansage“ zu verbinden? Wir begeben uns damit freilich freiwillig in das Gebiet der Manie und des Wahns. Das ist etwas, was die Gesellschaft nicht ausgelagert, sondern eingeschlossen hat, im schlimmsten Fall in Form einer „geschlossenen Anstalt“, im besten Fall in Form eines semantischen Systems, das seine eigene Harmlosigkeit (für die Gesellschaft), möglichst gar seine Nützlichkeit unter Beweis stellen muss (bei Fußball, Rock’n’Roll, Kunst, wohinein „Flucht“ gern gesehen wird, handelt es sich schließlich um gut funktionierende Märkte oder, genauer gesagt, um gesellschaftlich sanktionierte Geldwaschanlagen). Die Gesellschaft des Spektakels ist ein System von Märkten, die sich aus der Energie der Flucht vor ihr speisen. Anders gesagt: Der Motor der Gesellschaft wird getrieben von den Bewegungen jener, die mit ihr nicht zurechtkommen. Je perfekter dieses System, desto schwerwiegender ist die Frage, ob es einen Menschen (einen Menschen-Anteil, einen Menschen-Gedanken) jenseits der Gesellschaft und in einer Tätigkeit geben kann, die, wie, sagen wir, das Computerspiel, wahlweise als trivialer Zeitver-
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Aus der Falle dieser dialektischen Beziehung scheint es kaum einen Ausweg zu geben: Alle Fluchträume, die wir kennen, scheinen zugleich einen Abstand von der realen Gesellschaft zu versprechen und den Flüchtenden nur um so mehr, aber nun auf andere Art, an sie zu binden: Durch seinen Eskapismus wurde aus dem tätigen – auch „mitschuldigen“ – Mitglied der Gesellschaft ein in ihr aufgelöstes Wesen, und die Flucht endet in nichts anderem als der „Verstellung“. Wer sich der Gesellschaft entzogen hat, als Outlaw oder Extrembergsteiger, wird von ihr nur umso entschiedener „umarmt“ (eingeschlossen, zum Star erhoben oder pathologisch erforscht). Eskapistische Regionen (Regionen des Eskapismus) haben nicht nur Züge des Kultes (gemeinschaftlich vollzogene Rituale, verbindliche Symbole, heilige Orte und Pilgerfahrten), sondern auch der Metaphysik (hier findet man, vielleicht, seine verlorene Seele, hier darf man nach Reinigung, Gnade und Erlösung suchen); man nennt das dann oft gern eine „Ersatzreligion“, was die Paradoxie einer Flucht aus der Flucht wiederholt. Offensichtlich werden in der Gesellschaft des Spektakels und der Medien die Grenzen zwischen den offenen Räumen der Teilhabe und den verborgenen Räumen der Flucht ungenau und verschwinden an manchen Orten vollends. Möglicherweise ist eine Gesellschaft vorstellbar, die nur noch aus Fluchträumen besteht. Wo wir unsere Gesellschaft, unsere Geschichte, unsere Wirklichkeit „machen“ könnten, ist ohnehin unklar: Gerade dort, wo die Menschen in ihre Gesellschaft einwirken wollen, antwortet sie, zuerst in Gestalt von Staat und Medium, mit einer radikalen Entwirkli-
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lust oder aber als nahezu spirituelle „Versenkung“ angesehen werden kann, oder in einer anderen die wie, sagen wir, die Beschäftigung mit philippinischer Rockmusik, wahlweise als spirituelle Versenkung oder trivialer Zeitverlust gesehen werden kann, der – „honest“ – einem wahren Menschen wieder ähnlicher ist als der Mitläufer, Karrierist, Familiengründer und „gesellschaftlich Engagierte“. Die philosophische Frage also ist es, ob der Eskapismus, der mit einem bestimmten Anteil von Bewusstsein betrieben wird, also nicht allein als Absacker und Reproduktionshilfe für den Arbeitsalltag fungiert, ein mehr oder weniger verkappter Versuch ist, sich auf die Suche dessen zu machen, wovor der Mensch eigentlich in die Gesellschaft hinein geflohen ist (zum Beispiel eben: die Natur, ein herrlicher Ort der Flucht vor der Gesellschaft, jedenfalls theoretisch) oder was er war oder was er hätte sein können, hätte er sich nicht in die Gesellschaft geflüchtet (nämlich ein autarkes Wesen, ein freies Individuum, oder sagen wir es pathetisch: ein Gott).
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„Die Gesellschaft lässt den Flüchtenden auch in seinem Fluchtraum nicht los, ja, mehr noch, sie trickst den Flüchtenden so weit aus, dass er, während er zu flüchten meint, nur um so sicherer in ihre Fallen tappt“
chung. Dem Begehren, etwa einen unsinnigen Bahnhof nicht zu bauen und stattdessen die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, antwortet die Politik mit einem semantischen Sturm, der Vernunft und Menschlichkeit außer Kraft setzt, mit einem „surrealistischen“ Einsatz der eigenen Macht und der eigenen Technologie und mit der Verwandlung der Stadt in eine Kaufhauskulisse. Dem Paradoxon, dass der Mensch, der vor seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit fliehen möchte, sich nur um so stärker an sie binden will, steht das Gegenbild des Menschen gegenüber, dem um so mehr Wirklichkeit entzogen wird, je mehr er sich um diese kümmern will. Am Ende ist dann einer, der unentwegt „politisch handeln“ will, genau so absurd wie einer, der die Existenz einer Welt außerhalb von „World of Warcraft“ nur widerwillig zur Kenntnis nimmt. Aber zu dieser Unwirklichkeit wiederum gehört, dass Staat und Gesellschaft weder so mächtig sind, wie sie selber glauben, noch wie es ihre Opfer tun. Deshalb ist es gut möglich, dass das Spiel mit „Engagement“ und „Flucht“ in Bezug auf die soziale Wirklichkeit seinerseits den Ereignissen in der Mikrophysik der Macht gehorcht. Ob der Mensch der Gesellschaft zu entkommen vermag oder die Gesellschaft dem Menschen, das möchte in der spätkapitalistischen Postdemokratie wiederum nur einer regeln: der Markt.
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Die Verarbeitung von Flucht und Migration in der mexikanisch-amerikanischen Musik
Die Hoffnung auf ein besseres Leben veranlasst jedes Jahr Zehntausende Mexikaner, illegal die Grenze zu den USA zu 체berqueren, um dort einen Job zu finden. Die mexikanisch-amerikanische Musik erz채hlt von Trennung, Entwurzelung, Kriminalisierung und Neubeginn. Ein Gespr채ch mit dem amerikanischen Kulturwissenschaftler und Journalisten Josh Kun
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— Inwiefern ist denn die Grenze ein Identitätsmarker für mexikanisch-amerikanische Musik? Bei dieser Grenze handelt es sich ja um ein relativ junges geo-politisches Phänomen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, 1848, um genau zu sein. Dies markiert den Zeitpunkt, ab dem bestimmte Menschen, die zuvor in Mexiko lebten, plötzlich Amerikaner waren. Die Grenze hatte daher schon immer auf abstrakte Weise eine sehr tragende symbolische und thematische Bedeutung in der mexikanischamerikanischen Musik inne. Die Grenze verbindet diese Menschen natürlich mit Mexiko. Auf der anderen Seite erinnert sie diese Linie auch ständig daran, dass sie nicht Teil der dahinterliegenden Welt sind. Die Grenze ist sowohl ein Ort der Verbindung als auch der schmerzlichen Trennung. Wenn Amerikaner mit mexikanischem Hintergrund nach Mexiko kommen, werden sie oft wie Fremde behandelt. Sie sprechen vielleicht nicht fließend Spanisch, werden nicht als vollständige Mexikaner akzeptiert oder gar als „Sellouts“ oder Gringos beschimpft. Diese verlogene Teilung durch die Grenze hat schon immer die Art, wie Musiker und Künstler ihre Erfahrungen verarbeiten, maßgeblich strukturiert. — Was sind die politischen Forderungen der Musiker auf beiden Seiten der Grenze? Man hört oft den Appell, dass die Mauer fallen muss. Auf der mexikanischen Seite lassen sich zahllose Songs finden, die spezifische Erfahrungen mit der Grenzpolizei schildern.
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MATTHIAS RAUCH
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Die Grenze, die die USA von Mexiko trennt, gehört zu den meistüberquerten überhaupt. Dieses kulturelle Wechselverhältnis spiegelt sich auch in einer Stadt wie Los Angeles wider, der Stadt, in der Sie leben und arbeiten. Was kann man über diese Grenze in der mexikanischamerikanischen Musik erfahren? Man muss vorausschicken, dass regionale mexikanische Musik unglaublich populär in den USA ist. Es ist die bei weitem kommerziell erfolgreichste in der „Latin Music“-Sparte. Andererseits wird sie von den meisten Amerikanern als unbedeutende „mexikanische“ Musik abgetan. Meiner Meinung nach birgt diese Musik jedoch eines der wichtigsten Narrative für die globale Zukunft. Es ist Musik über Migration, über kulturelle Entwurzelung, es ist Musik über die Konstruktion neuer Identitäten und der Entwicklung neuer Wurzeln. Es ist zum einen eine Musik über Mexiko und zum anderen über die Bedingungen von über 200 Millionen Menschen, die sich überall auf dem Globus in eine neue Welt aufmachen. Ich habe durch diese Musik sehr viel über die Stärke, Vitalität und Kreativität proletarischer Migrantenwelten gelernt.
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Die Songs sprechen vom Grauen, die Grenze illegal zu überwinden und von den Verlusten, die man zwangsläufig dabei erleidet. Die Musik erzählt darüber hinaus insbesondere von der Trennung von Familien und der Zerstörung ganzer Dörfer, die daraus resultiert. — Wird diese Debatte primär von einer älteren Generation getragen? Ich denke hier insbesondere an Künstler wie Los Tigres Del Norte, Los Lobos, Ozomatli, El Vez oder Guillermo Gómez-Peña, um jetzt nur einige der bekanntesten Beispiele zu nennen. Oder gibt es mittlerweile auch eine jüngere Generation, die sich aktiv für dieses Thema einsetzt? Ich denke, wir sollten vorsichtig sein und diese Künstler nicht in einen Topf werfen, denn sie sind alle sehr verschieden und operieren auch in unterschiedlichen Welten. Los Tigres Del Norte sind klassische Vertreter der „regional mexican music“ in den USA. Ozomatli sind dagegen eine noch recht junge Band, die sich sowohl aus der HipHop- als auch der „Latin Music“-Welt von Los Angeles speist. Los Lobos kamen aus der mexikanisch-amerikanischen Szene der 1980er und 1990er Jahre. Sie setzen sich jedoch allesamt sehr bestimmt für eine Veränderung der Grenz- und Immigrationspolitik ein. Ich bin sehr gespannt, wie die nächste Generation mexikanisch-amerikanischer Bands aus Los Angeles aussehen wird. Es gibt momentan jedenfalls keine Bewegung, die ähnlich gut organisiert wäre wie die der 1980er und 1990er Jahre. Es wird spannend sein zu sehen, ob sich die nächste Generation an Bands überhaupt in dieser Weise identifizieren will. — Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sich die jüngeren Generationen nicht organisieren? Ich will nicht behaupten, dass es überhaupt keine Bands gibt, die sich organisieren. Die gibt es bestimmt, aber mir fallen spontan keine jungen Bands ein, und damit meine ich Teenager oder Menschen Anfang 20. Die Verbindung zu den sozialen Bewegungen der 1960er Jahre besteht immer noch, aber jede Generation entfernt sich weiter von der unmittelbaren Einflusssphäre dieser Bewegungen. In den 90ern in Los Angeles aufzuwachsen ist eine sehr unterschiedliche Erfahrung als dies in den 1970er oder 1980er Jahren zu tun. Die heutige Generation wächst mit der digitalen Technologie auf und hat schon deshalb einen wesentlich unmittelbareren Zugang zu Musik, Kultur und Identitätsangeboten. Ihre Identitäten sind weniger stark an spezifische Bewegungen oder Kulturen gebunden, was nicht heißen soll, dass mexikanisch-amerikanische Musik plötzlich egal wäre. Das Gegenteil ist der Fall.
Inwiefern unterscheiden sich denn diese aktuellen Identitäten von denen vor 40 Jahren? Das ist eine schwierige Frage und ich kann mich hier ausschließlich auf Los Angeles beziehen, das ich am besten kenne. Viele Jugendliche wachsen heute in sehr gemischten Vierteln auf und kommen schon deshalb mit einer größeren Vielfalt an Musiken, Stilen und Kulturen in Berührung. Dadurch ist auch die mexikanisch-amerikanische Kunst und Musik durch wesentlich mehr Einflüsse gekennzeichnet. Das gab es natürlich auch schon in den 1960er und 1970er Jahren, als eine Band wie El Chicano praktisch ihre Version des afro-amerikanischen Folk inszenierte. Genauso wie heute eine Band wie Akwid mexikanischamerikanische Identitäten durch HipHop ausdrückt. Es gibt mehr Mischung und Aneignung über kulturelle Grenzen hinweg. Natürlich trägt auch das Web 2.0 zu dieser Entwicklung hin zu einer Vorstellung der Identität als individueller Playlist bei. — Der Staat Arizona hat vor Kurzem ein neues Gesetz erlassen, nach dem die Polizei Menschen auf bloßen Verdacht auf ihre Papiere überprüfen darf. Wie reflektiert die mexikanisch-amerikanische Musik diese aktuelle Debatte um illegale Einwanderung in den USA? Viele Bands engagieren sich beispielsweise im Soundstrike-Boykott, indem sie sich weigern, im Staat Arizona aufzutreten, um so auf das neu erlassene Gesetz SB 1070 und die damit verbundene Kriminalisierung von Migranten ohne Papiere aufmerksam zu machen. Die mexikanisch-amerikanische Musikszene ist aufgrund dieses Gesetzes definitiv enger zusammengerückt. — Was geschieht mit diesen Migranten, wenn sie aufgegriffen werden? Werden sie verhaftet oder sofort abgeschoben? Das ist unterschiedlich. Man kann für längere Zeit inhaftiert oder sofort abgeschoben werden. Meist ist letzteres der Fall, aber in manchen Fällen wartet man scheinbar nur darauf, jemanden wegsperren zu können. — Ist die Einwanderungsdebatte in den USA nicht ungemein zynisch, wenn man bedenkt, dass eine geschätzte Zahl von über 12 Millionen Menschen illegal im Land sind und selbst Wirtschaftsexperten immer wieder betonen, dass die US-Wirtschaft ohne diese billigen und undokumentierten Arbeitskräfte nicht aufrechterhalten werden könnte? Absolut. Zynisch ist eine Bezeichnung. Man könnte es auch grausam und unethisch nennen. Für mich ist das ein Beispiel der Verleugnung in den USA. Wie die USA mexikanische Einwanderer behandelt, hängt direkt mit dem
Von Josh Kun erschienen zuletzt Audiotopia: Music, Race, and America. (UC Press 2005) und And You Shall Know Us By The Trail of Our Vinyl: The Jewish Past as Told by Records We Have Loved and Lost (Crown Archetype 2008).
MAN KANN GAR NICHT VOR ETWAS FLIEHEN, DAS ÜBERALL IST
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Sergio Robledo-Maderazo war Bassist der PostrockBand From Monument to Masses. Er ist Künstler und politischer Aktivist.
sehr präsent, weil Francis und ich Einwanderer der zweiten Generation sind. Die meisten US-amerikanischen Bands bestehen jedoch aus weißen Typen, die nicht sonderlich viel Interesse für die Rechte von Migranten aufbringen. Vor dem Hintergrund, dass amerikanische Musiker generell dazu tendieren, sich aus der Politik rauszuhalten, ergibt sich so eine Musikszene, die sich sehr still gegenüber Migrationsthemen verhält. Natürlich gibt es Ausnahmen. Spontan fallen mir die Filipino HipHop Kasamas wie Blue Scholars, Kiwi und Power Struggle ein. — Mit der Arizona Senate Bill 1070 wurden die Gesetze gegenüber Migranten drastisch verschärft. Hat es eine Mobilisierungswelle unter Künstlern gegeben? Definitiv gibt es eine Vielzahl von Reaktionen und Bemühungen, Widerstand gegen den staatlich protegierten Rassismus von SB 1070 zu organisieren. Künstler unterstützen Graswurzelorganisationen und Kampagnen gegen SB 1070, wie beispielsweise PUENTE oder NDLON (National Day Laborers Organizing Network). Alto Arizona! rief zu Posteraktionen auf und probiert, Künstler jedweder Couleur zu „kreativem Widerstand“ zu bewegen. Im Rahmen von „The Sound Strike“ werden Musiker dazu aufgefordert, nicht mehr in Arizona zu spielen. Aus der gleichen Ecke wurden SoliKonzerte für die Arbeit der Basisorganisationen in Arizona organisiert. Die Rage-againstthe-Machine / Conor Oberst-Show in L. A. zum Beispiel brachte mindestens 300.000 Dollar für Anti-SB1070-Arbeit ein – das Konzert war innerhalb von drei Minuten ausverkauft. Generell muss man sagen, dass viele Künstler politikverdrossen sind. Weil sie meinen, nichts ausrichten zu können. Ich denke, Musiker mit einem Interesse an Veränderung – ob es jetzt um Grenzthemen, Rechte von Migranten oder etwas anderes geht – sollten einsehen, dass ein Grad von Organisation und Koordination im Rücken ihren Einfluss um das x-Fache vergrößern könnte. Ich probiere deshalb immer, Künstler zu motivieren, in anderen Größenordnungen zu denken. Über den eigenen Horizont und das individuelle Engagement von Einzelpersonen hinaus. Kollektiv!
brillante Weise zusammen. Natürlich denke ich auch an Radiohead oder M.I.A. Beide sind gute Beispiele für eine Herangehensweise, der es nicht nur darum geht, die Grenzen des eigenen Genres auszuloten. Sie tragen außerdem zur Entwicklung einer größeren politischen Kultur bei. Hier wiederum können Leute ansetzen, die die wirkliche Arbeit machen. Organisatoren und Leute, die in Bewegungen aktiv sind. — Wie bist du eigentlich engagiert? Als SB 1070 in diesem Sommer eskalierte, arbeitete ich bei SOUL (School of Unity & Liberation) aus Oakland und half dabei, einen Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Bay-Area-Organisatoren zu koordinieren. Es ging darum, Erfahrungen über die massiven Demonstrationen auszutauschen. Alle sollten auf den gleichen Wissensstand gebracht werden. Auch was die lokale Arbeit inmitten der Working Class Communities anbelangt, was ethnische Auseinandersetzungen angeht, den Kampf gegen Gentrification, Rassismus, die Zunahme der Übergriffe auf Migranten und die Rechte von Migranten allgemein. Außerdem haben wir probiert, die Analyse dieser Themen zu vertiefen und Verbindungen zu globalen Problemen wie Imperialismus und Krieg offenzulegen. Darüber hinaus bin ich Gründungsmitglied des Liwanag Kultural Center, das Teil der National Alliance for Filipino Concerns (NAFCON) ist. Wir probieren, eine organisierte, progressive Filipino-Stimme für diejenigen von uns zu etablieren, die in den Vereinigten Staaten leben. Dieses Engagement lieferte sozusagen das Fundament für mein Schaffen als Musiker und Künstler. — Gibt es einen Ausweg? Meiner Meinung nach darf keine Auseinandersetzung über Migrationsthemen überhaupt beginnen, bevor die eigentlichen Gründe von Migration betont werden. Meine Eltern haben ihr Heimatland aus Gründen verlassen, die keinesfalls einzigartig sind. Nicht einmal einzigartig für Filipinos oder Asiaten. Viele Menschen verlassen ihre Heimatländer, weil sie dazu gezwungen werden. Durch strukturell erzeugte Armut, die sich aus vergangenen Kriegen ergeben hat, durch Kolonialisierung, Neo-Kolonialisierung usw. Wir müssen uns diese Geschichte immer wieder vor Augen führen. Schon lange bevor über „illegale Migration“ oder Asylthemen gesprochen wird, muss es um den imperialistischen Elefanten im Porzellanladen gehen. Definitiv kommt Kunst und Musik eine Rolle zu, sie können Augen öffnen und das Thema „Flucht“ beschreiben als das, was es ist. Letztlich bleibt aber wahrscheinlich zu sagen: Man kann gar nicht vor etwas fliehen, das überall ist.
Bands wie At the Drive in oder Los Crudos haben in der Vergangenheit auf die Grenzproblematik aufmerksam gemacht. Wie verhält sich die heutige Musikszene gegenüber diesen Themen? Los Crudos und At the Drive in haben mich natürlich stark beeinflusst. Wahrscheinlich haben beide Bands diese Themen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen angesprochen. Weil sie selber Migranten waren bzw. aus eingewanderten Familien stammten. Bei From Monument to Masses waren Immigrant Rights und globale Migration allein deshalb
— Gibt es Bands, die in ihren Texten der Migrationsproblematik gerecht werden? Texte mit konkreten politischen Inhalten sind immer schwierig. Unter anderem deshalb habe ich in den letzten zehn Jahren Instrumentalmusik gemacht. Mit welchen Künstlern bin ich einverstanden? Ganz oben auf der Liste wäre sicherlich Geologic von den Blue Scholars aus Seattle. Er arbeitet sehr hart und bringt Alltagsbeobachtungen, antiimperialistische Polemik und Wortspiele auf
ULF AYES
MAN KANN GAR NICHT VOR ETWAS FLIEHEN, DAS ÜBERALL IST
Links: PUENTE (http://puenteaz.org)/ \ NDLON (http://www.ndlon.org/) / \ Alto Arizona! (http://altoarizona.com/creative-resistance. html) / \ The Sound Strike (www.thesoundstrike.net) / \ SOUL (http://schoolofunityandliberation.org/)
Zustand der amerikanischen Wirtschaft zusammen. Wenn es der Wirtschaft gut geht, will die Regierung Migranten im Land. Läuft es mal nicht so gut, macht man die Migranten dafür verantwortlich. Die grausame Ironie in Arizona ist ja, dass sich die Kampagne genau gegen die undokumentierten Einwanderer richtet, die die ganzen Häuser in Arizona gebaut haben, die jetzt aufgrund der Rezession leerstehen. Wenn die US-Regierung beschließt, die Grenzsicherung noch weiter zu erhöhen und eine Mauer zu bauen, an wen werden dann die Aufträge vergeben? Natürlich an genau diese Menschen. Wir sind schon lange eine heuchlerische Nation, wenn es um die Beziehung zu Migranten geht. Es ist traurig und bedauernswert, dass jede Politikergeneration mit der gleichen Kurzsichtigkeit und Geschichtsvergessenheit auftritt.
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MUSIK
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UND DIE
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FANS
MAURICE SUMMEN
MUSIK UND DIE FANS DER REVOLUTION!
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REVOLUTION! Ist Musik ein Komplize zur Flucht? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Formatradio und „Underground“? Und wohin sollte man schon fliehen können? Ein Abgesang und keine Handlungsanleitung
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inen Text zu schreiben, der sich mit Flucht durch Musik beschäftigt, ist ein ähnlich absurdes Unterfangen, wie einen Text über das Leben zu schreiben und sich dabei auf den Aspekt des Trinkens zu beschränken. Musik lässt sich nun einmal nicht so leicht extrahieren und findet in unendlich vielen Kontexten statt. Musik ist in erster Linie eine sinnliche Erfahrung und wird durch ihre Komplexität nicht selten zu einer übersinnlichen, vor allem wenn sie im Kollektiv und Rausch erfahren wird. Flucht sieht per definitionem „das ungeordnete, teilweise panische Zurückweichen vor einem Feind, Angreifer, einer Gefahr oder Katastrophe“ vor. Die Ausgangsfrage müsste hier also lauten: Wo ist die Musik konkret ein Komplize zur Flucht? Wie sieht es also aus mit den Horden von Teenagern, die, von Popmusik am Radio besu-
delt, in ihren Tagträumen dahinschwelgen, statt brav ihre Schulhausaufgaben zu machen? Und wie steht es um die „politisch Andersgesinnten“, die sich, von Kapitalismus und Welt frustriert, das x-te Album der Gruppe The Fall kaufen und die beim Agitprop-Gestammel des Fallsängers Mark E. Smith immer noch das Gefühl übermannt, das Schweinesystem werde durch bloßes Zuhören schon irgendwie, irgendwo und irgendwann abgeschafft (by the way: Hallo Nena – Hallo Jan Delay!). Oder es sei eh nichts mehr zu retten, je nachdem, was man eben so denkt, wenn man ein The-Fall-Album hört. Mal andersrum gefragt: Warum gehen 40Jährige eigentlich immer noch zu TocotronicKonzerten? Etwa um zusammen im Kreise der Gemeinschaft ein Liedchen der Kapitulation
litische Verantwortung unterzujubeln! Musik ist eine Kunstform – kein politisches Gremium. Und Pop ist eine weitere, die in der Musik heute doch eigentlich nur noch eine Nebenrolle spielt. Der überragende Rest ist Style, Image und die Celebrity des Künstlers.
1 anzustimmen, so wie es einst ihre Eltern demütig im Gottesdienst taten? Etwa um im Namen der Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit auf Erden anzusingen? Wie lange trillern wir wirklich noch „Jackie Messer“ vor uns hin, ohne dem Haifisch auch nur einen einzigen Zahn auszuschlagen? Etwa auf ewig, einfach weil es eben ein Klassiker seines Genres ist? Unter dem Aspekt einer gewissen gesellschaftlichen Affirmation könnte man also sagen, leistet uns die Musik durchaus formidable Dienste, was die Fluchtarbeit angeht: Flucht vor politischer Verantwortung und Veränderung – Flucht vor ziviler Courage, Flucht davor, die Ungerechtigkeiten nicht nur zu benennen und um ihre zahllosen Gründe zu wissen, sondern ihr schlicht und einfach ins Gesicht zu schlagen! Was, das geht nicht so einfach? Hab ich’s mir doch gedacht. Lesen wir doch lieber weiter die Plattenkritiken von Opak über taz bis in die Spex hinein und finden dort neue Lösungsansätze für unsere Probleme, richtig?
Hinblick auf Dasein und Dummsein! Apropos: Man beißt nicht die Hand, die einen füttert! Die alternative, anspruchsvolle Poprockkapelle mit doppelt- bis dreifacher ironischer Affirmation von heute ist schließlich keine Hausbesetzerband mehr nach Vorbild etwa der Edgar Broughton Band oder Ton Steine Scherben. Es sei denn man versteht den Auftritt einer Agitprop-Band in Theatern neuerlich schon als Akt der Hausbesetzung. Und ja, ich weiß: Tocotronic haben nie für das Theater gespielt, sondern höchstens mal IN einem Theater. Darum geht es hier auch gar nicht. Ich könnte auch Element of Crime schreiben oder The Arcade Fire, oder mal wieder Blumfeld zitieren und einfach die „Diktatur der Angepassten“ sagen.
Natürlich muss an dieser Stelle der Einwand folgen, dass der geneigte Tocotronic-Konzertgänger natürlich auch ein Pazifist ist! Von daher wird er natürlich vor dem System, das er im tiefsten Inneren verabscheut, in jedem Fall eher flüchten, als es in Schutt und Asche zu verwandeln. Außerdem hat er ja durch die demokratischen Mitbestimmungsrechte genügend Mitgestaltungs- wie Umgestaltungsoptionen im
Was ich eigentlich schreiben will: Die moderne Band, die ihren Adorno gelesen, ihren Neil Young gehört und mindestens einmal etwas von Warhol gekauft hat, ist nun mal auch ein Soundtracklieferant zum Untergang. Zumindest was den Untergang der eigenen Werte angeht. Aber noch mal zurück zum Punkt der christlichen und/oder ethischen Grundmauern unseres Zusammenlebens: „Love, Peace and Unity – The Foundation of every community“, um hier mal in der bekifften Rastafari- oder Black-Community-Soul/Reggae-Nische anzuklopfen! Von dieser Warte aus gesehen ist es eben vollkommen absurd und noch dazu äußerst lust-, ja fast lebensfeindlich, der Musik hier po-
MAURICE SUMMEN
MUSIK UND DIE FANS DER REVOLUTION!
Zurück zum Wohlstand: Der Musiker und Futurist Markus Popp (Oval) verkündete vor etwa einem Jahrzehnt, dass er sich nun beruflich in die Computerspiel-Industrie bewegen werde, weil dort – O-Ton – „Punkrock noch lange nicht erfunden sei“. Mittlerweile meldet sich Oval mit einem neuen Album am Popmarkt zurück und ich habe überhaupt keinen Schimmer, ob Erfindungen wie Wii in etwa die Idee von virtuellem Punkrock darstellen, von denen Herr Popp dereinst träumte. In der Popmusik jedenfalls ist Punkrock seit mindestens 1977 (offiziell) erfunden, und bis auf ein bisschen Pogo und Fuck-Off-Lyrics hatte Punkrock ja eigentlich nur den Rock&Roll auf Amphetamin-Überdosis beschleunigt und den Rockern eine gewisse Portion Glamour zurückgegeben. Aber: Immerhin kann man heute „Punk“ sagen und irgendwie weiß jeder, was damit gemeint ist – was auch immer damit am Ende gemeint sein mag! Musik, egal ob E oder U, ob Punkrock oder Soul, Indierock oder Knickknack, ist streng genommen also nicht wirklich ein Motor der Flucht. Musik ist die Kunst, in der Gefühle instrumentalisiert und konserviert werden, in der also Sehnsüchte und emotionale Bedürfnisse für immer und ewig einen Platz finden. Die Musik wird vererbt von Generation zu Generation. Musik ist ein Quell des Lebens, eine Wiese der Inspiration. Aber ein Treibstoff zur Flucht? Ist dieses Heft ein Fluchtraum? Ist meine Wohnung ein Fluchtraum oder ist sie nicht doch in erster Linie erst mal ein Schutzraum? Für meine Familie und mich? Und worin kann heutzutage meine Seele wohnen, wenn nicht in der Musik? Lieber Leser, wir sehen uns auf der Tocotronic-Herbsttour! Die letzte Chance vor dem Sabbat!
ILLUSTRATION VON FLABBYHEAD
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Fan einer revolutionären Idee zu sein, drückt sich eben immer noch hauptsächlich durch eine revolutionäre Pose aus. Formen der Asozialität begegnet man durch eine gewisse verbrüdernde wie verschwesternde (Klang-)Ästhetik und nicht durch Gewalt (also körperlicher), aus der man schließlich herauskommen will. Die man eben aus guten Gründen ablehnt! So viel zum Gründungsmythos von etwa HipHop oder Oi-Punk und zu Eltern, die brutal ihre Kinder schlagen!
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Wer wie ich über ALLES und JEDES jeweils ganz viel mir abrang und von mir schleuderte und schrieb, weiß auch zum Thema Flucht einiges beizusteuern
FLUCHT, FLÜCHTLING, FUGATO, FLOH, FLIEHEN
FLÜCHTLING,
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enn ich aber die Stichworte „Flucht“ und „floh“ in die Suchfunktion meiner gesammelten Ordner und Dateien eingebe, kommen jede Menge Spams und Irrläufer zu den Themen „verflucht“, „Flohmarkt“ und „Flohstiche“, also unbrauchbare Zitate wie „Verflucht Gott jeden, der verkrebsten Einzelkindern keine Knete gibt und keinen Eiter aus den Pestbeulen saugt?“ oder: „Als sie mal einen Flohwalzer aufs Klavier legte und gravierend danebengriff, verschluckte ich mich.“ Sobald man die alle ausmendelt, entsteht ein hübsches Sammelsurium zum Themenfeld Flucht zusammen…
Als Uli drei Jahre alt war, flüchteten die Eltern mit den beiden kleinen Jungen aus der Ostzone nach Westberlin. (Gundula Reichelt: „Analyse der Situation eines schwierigen Kindes“, Hausarbeit im Fröbel-Seminar Kassel, 1963)
Ich selbst habe als 14-Jährige am Ende des Krieges das Elend der Flüchtlingstrecks, die aus dem Osten kamen, in Schlesien miterlebt und bin dann selbst auf diese Weise nach Thüringen gekommen. Als meine Kinder heranwuchsen, habe ich ihnen von diesen meinen Erlebnissen berichtet und ihnen klargemacht, wie viel Elend und Schrecken der Krieg für jeden einzelnen Menschen bringt und daß der Frieden das Erstrebenswerteste auf dieser Welt sei. (Zeugenaussage von Käte Holbein, Tannenkuppenstr. 19, 35 Kassel, an den Prüfungsausschuß für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt, Betr.: Kriegsdienstverweigerung meines Sohnes Hans-Ulrich Holbein, 10.6.1972)
ULRICH HOLBEIN
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Talking, smoking, dann gings mißgestimmt zurück, die psychologischen Punkte brachten die restlose Entzweiung, die nächste Klingelung und so fuhr ich tief in den Wald den Leuten entfliehend, traurig, mit vielerlei Düften, Flieder und Apfelbaum, Ginster, Gras und alles. (Was-geschah-Büchlein, 20.5.1973) Geliebter Fettsack, was, schon 79 kg? Die Deutschen haben zusammen 200 Mill. Tonnen Übergewicht und es wird in jeder Sekunde mehr: z.T. durch überernährte Wirtschaftsflüchtlinge aus Weimor, die hier noch korpulenter werden wollen, z.T. durch Deinesgleichen. (Ich an Arved Lüth, 13.2.1990) Der sparsame Nachkriegs- bzw. FlüchtlingsHaushalt führte zu periodisch wiederkehrenden, auffälligen Situationen: Zu meinem 15. Geburtstag am 24.1. brannten rund ums dicke rote Lebenslicht zwei neue schlanke weiße
FLIEHEN
Selten stiegen so viele Aussteiger aus wie heutzutage – pro Jahr siedeln 3000 Bundesbürger nur allein nach Mallorca aus, neue Australienansiedler gar nicht erst mitgerechnet. Fast könnte man sich fragen, wer überhaupt noch hierbleibt. Aussteigen bringt allerdings derart viele organisatorische Aufgaben mit sich, daß kaum ein Aussteiger sich zwischendurch die genetische Herkunft des Aussteigens klarmacht. Im Neolithikum stieg überhaupt keiner aus; Ausstoß oder Rückzug aus der Horde hätte den baldigen Tod in der Wildnis bedeutet. In frühen
religiösen Ansätzen stieg man nicht aus, sondern auf – Schamanen stiegen aus der unberauschten Wahrnehmungswelt ihres stets pragmatisch organisierten Clans aus und flogen im Seelenflug durch höhere Welten, etliche Jahrtausende lang, alsbald einigermaßen beerbt von Hoch- und Weltreligionen: Buddhisten stiegen aus dem Rad der Wiederkunft aus oder wollten aussteigen; Urchristen, Christen, Barockchristen wollten aus dem irdischen Jammertal auf- oder aussteigen in Richtung güldenen Himmelreichs. Brahmanen stiegen im Greisenalter aus ihren familiären Zusammenhängen aus und zogen sich in den Urwald zurück. Erst 200 n. Chr. nahm das Aussteigen flächendeckende Ausmaße an. Paulus und Antonius rühmten sich, die ersten Eremiten auf europäischem Boden zu sein und lösten schier einen Klausnerboom in der Thebais aus – als Anachoreten und Neotroglodyten, wie man spätere Wohnklotzbewohner gern nannte, die in ihren Mietskasernen hausten wie die Steinzeitler in ihren Felshöhlen. Reiche Römer zogen sich zeitgleich aus weltstädtischem Gewimmel auf ihr Tusculum zurück, ihr arkadisch-bukolisches Landgütlein, und ergingen sich dort im Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande. Nachdem nicht mehr die ganze Person gen Himmel flog, sondern nur noch im Tod die Seele aufstieg, gabs nochmal ein Zwischenspiel: Guiseppo de Copertino (1603–1663), weil er meterweit durch die Kirche flog, wurde als Flugheiliger heiliggesprochen. Dann aber säkularisierte sich religiöses Aufsteigen zu profaner Karriere in menschlichen Hierarchien und in geografischer Horizontale. Aussteigen hieß von fortan – dezentral aus unangenehmen Relationen in etwas angenehmere Relationen ausweichen, Stadtflucht, Zivilisationsflucht. Im China der Tang-Dynastie trieb das daoistische EinsiedelIdeal konfuzianisch und bürokratisch eingeengten Bürokratismusses Tausende leidender Beamte als dichtende und lauteschlagende Einsiedler in die Berge, wo sie Herbst und Winter meist wieder zurücktrieben. Statistisch schwierig nachzuweisen, wieviel tatsächliche Einsiedler es jemals gab. Im Mittelalter zogen sich lediglich Verbrecher oder versprengte Soldaten in die Wälder zurück; der mittelalterliche Einsiedler, der liebreich Rehe füttert und die Sprache der Waldtiere versteht, entstand erst durch romantische Verklärung, umspielt von herzrührenden Legenden, gemalt von Ludwig Richter und Carl Spitzweg. Als ein französischer Herzog, bewegt von Rousseau-Idealen, einen Wald gratis zur Verfügung stellte, samt Baumhaus für interessierte Einsiedler, meldeten sich auch einige Anwärter, aber keiner dieser ornamental hermits (Ziereremiten) hielt es im Wald länger als 20 bis 30 Stunden aus. Jeder drängte kontaktsüchtig zurück ins nervige, zwiespältige, lästige Gesellschaftsleben. Erst in den Industriegesellschaften wurde das Aus-
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Ausweichzufluchten wie Dr. Müllers anthroposophisches Landhaus in Leuderode vermochten kaum zu stabilisieren. („Albtraumpärchen“, aus einem Romananfang, 17.4.2005) Dann o Schreck – pinkelte ich rot, versuchte Dr. Meller privat rauszuklingeln, geriet aus Versehn an Sandra, die keine Lust hatte, schon wieder zum Vegetarismus bekehrt zu werden, und fuhr dann fluchtartig mit der 8 nochmal in die Stadt rein, obwohl ich dort nun wirklich nichts zu suchen hatte. („Gefopptes Traumpaar“, aus einem Romananfang, 18.7.2006) Flöhe, die ich ihr ins Ohr setzte, sprangen vergrößert auf mich zurück. Floh sie nach Göttingen, mußte ich plötzlich nach Braunschweig, also nach Göttingen. (Sudelbuch, 2008) Mit zehn versuchten meine Väter, Großväter, Urgroßväter mich zu Jagd, Jägerschnitzelessen und Fabrikbesichtigung zu begeistern und zu zwingen. Mit elf las ich „Flucht durch den Dschungel“ und verfaßte „Kapitän Becker’s letzte Schlacht“. (Auftakt mit Aufschrei, aus dem Anfang des Romanprojekts „Grüne Erleuchtung“, 2010)
Hier aber erstmal mein Lebensläufchen: Ulrich Holbein, geb. 1953 in Erfurt, Republikflucht 1956, aufgewachsen alsbald in Kassel usw., Verfasser zahlreicher, unterhaltsamer, oft farbig bebilderter Bücher, z.B. „Januskopfweh“, darin zu beachten das Kapitel: „Wird Mozart je erfahren, daß es mal eine DDR gab?“, „Narratorium. Lexikon heiliger Narren“, „Isis entschleiert“, „Bitte umblättern!“ (Ich an Dr. Ingeborg Söllöszy, Herausgeberin eines DDR-Buchs im Mitteldeutschen Verlag, Halle, 13.10.2010) Dies ist eine kleine Auswahl aus der von Ulrich Holbein eingesandten Auswahl. Mehr vom Autor gibt’s zum Beispiel in „Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen“ (Elfenbein Verlag)
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Keine denkbare Markenkleidung, kein Outfit, keine Geistesausrichtung oder Daseinsform wurde der tiefen Disparatesse, Ambiguität, Amphibolität, Bilateralität, Tripelfugatoartigkeit, Quadrophonie des in toto unsagbar polyvalent, multiphren, para- und heterodox angelegten Gesamtcharakterkomplexes dessen, der mit meiner Person und Wenigkeit partiell identisch zu sein schien, auch nur andeutungsweise irgendwie gerecht. (Aus dem ersten Kapitel eines verworfenen Romananfangs, 6.8.2004)
steigen zur Massenbewegung. Tourismus ging über ins Auswandern. Einer der extremsten Aussteiger aller Zeiten: Dr. August Engelhardt (1877–1919), ein Extremvegetarier, der sogar Obst und Gemüse ablehnte und als Sonnenkult-Kokovore in der Südsee sich einzig von Kokosnüssen ernährte, entsprechend abmagerte, auch erkrankte, aber nie sein absurdes Ideal losließ. Die erste deutsche Landkommune unter Karl Wilhelm Diefenbach wurde 1886 gegründet, bald gefolgt vom ersten deutschen Nudistenprozeß. Zwischen 1900 und 1930 liefen in Mitteleuropa zahlreiche, lebenslang sehr konsequent ausgestiegene Naturpropheten herum, beredte Ur-Hippies und Landstreicher mit wildbewegten Lebensläufen, umschwirrt von Mitläufern und Wandervögeln, Gusto Gräser, Gustaf Nagel, ehe dann Hippiezeiten und alternative und grüne Lichtblicke aufkeimten und abblühten, oder auch funktionierten und auf die Verhältnisse nicht ausgestiegener Menschen zurückwirkten. Oft gab es mitten im falschen Leben ein durchaus deutlich weniger falsches Leben, traumweise und zeitweise sogar ein durchaus richtiges Leben, das aber arg oft ins eher unrichtige Leben zurückkippte. Voraussehbar bleibt und wird, daß insgesamte globale Entwicklungen stellenweise so hart und problematisch werden, daß das Aussteigenwollen immer häufiger werden wird. Ob sich das Aussteigen zurückverwandeln kann ins ursprüngliche Aufsteigen, bleibt Betrachtungssache; vorerst wurde das Aufsteigen von dröhnenden Maschinen übernommen und aufsteigende Engel oder Himmelsfahrer sind zur Zeit eher in hellbläuliche, oft recht flache Esoterik abgewandert, also aus ernstnehmbarer Religion zur Zeit einigermaßen ausgestiegen. (Publi Nr. 938: „Aussteiger und Aussteiger“, in: „oya, anders denken, anders leben“. Themenheft: Aussteigen, Heft 2, S. 49, Mai/Juni 2010)
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Kerzen sowie dreizehn fast runtergebrannte weiße Kerzenstümpfe; denn vor zwei Wochen war Eberhard dreizehn geworden, und zu meinem sechzehnten Geburtstag brannten zwei neue Kerzen und vierzehn Stümpflinge, und zu meinem siebzehnten zwei neue und fünfzehn Stümpflinge. („Mein Bruder Eberhard“, Charakterporträt fürs Romanprojekt „Mein Clan“, 16.6.2000)
EXODUS DER EIGENBRÖTLER Auf dem Monte Verità bei Ascona trafen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Aussteiger jeglicher Couleur. Dabei prallte Weltflucht auf „konkrete Utopie“
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m 1900 liegen Tausende junger europäischer Bildungsbürger auf alpinen Gipfelterrassen und starren über Wochen, Monate oder sogar Jahre in die erhabene Landschaft. Sie kommen aus den großen Städten, sind Kaufmannskinder, Studenten oder Künstler. Ihre gemeinsame Diagnose: Lungentuberkulose. Noch ist das Penicillin nicht erfunden, und schon beginnender Husten schürt die Angst vor der tödlichen Krankheit. Wer es sich leisten kann, reist ins Hochland, denn die Ärzte sind sich einig, dass trockene Höhenluft heilend wirke. Ursache und Lösung tragen eine seiner-
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FOTO VON MONACENSIA. LITERATURARCHIV UND BIBLIOTHEK MÜNCHEN
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zeit weit verbreitete Metaerzählung in sich: Die Menschen sind vom Plüsch der Gründerzeit geschwächt, von der Moderne angekränkelt, vom Miasma der dreckigen Straßen der Metropolen verseucht. Rettung verspricht der Neuanfang in den Bergen. Im Sanatorium. In seinem Roman „Der Zauberberg“ hat Thomas Mann einer dieser Heilstätten ein Denkmal gesetzt. Sein Protagonist verbringt weite Teile des Tages in eine Decke gewickelt auf einer typischen Ein-Personen-Loggia, vor ihm die Gipfel, die Wolken, das Nichts. Abgeschirmt von den anderen Patienten, isoliert von jeder Zerstreuung, bleibt ein Buch – eines, das die Situation in jeglicher Hinsicht adelt. Wenn wir Thomas Mann und anderen Chronisten glauben, ist Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ die am weitesten verbreitete Lektüre unter den privilegierten Hochland-Patienten dieser Jahre. Es erzählt von Prüfung und Selbstüberwindung im karstigen Gebirge, von tiefer Einsicht und von Ablehnung seitens derer, die der Erleuchtete bei seiner Rückkehr belehren möchte. Die bevorzugten Lungenkranken malen sich beim Lesen eine bessere Zukunft aus, und sie denken sich ihre Rolle darin. Henri Oedenkoven, Ida Hoffmann und Gustav Gräser treffen sich im Sommer 1899 in einer Münchner Wohnung, um Pläne zu schmieden. Auch sie waren zivilisationskrank, auch sie sind sanatoriumserfahren. Zurück in der Großstadt, scheint es an der Zeit für eine längerfristige Lösung. Sie beschließen, zu Fuß über die Alpen zu gehen, auf der Suche nach einem geeigneten Ort. Um auszusteigen, sagt Gräser, um anderen das richtige Leben beizubringen, sagen Oedenkoven und Hoffmann. Oberhalb von Ascona im Tessin finden sie ein nahezu verlassenes Grundstück mit weitem Blick auf den Lago Maggiore. Hier beginnen sie, ihren Traum vom gesunden Dasein zu bauen. Es entstehen einfache Hütten mit Terrassen Richtung Süden – eine Naturheilanstalt, weniger für entzündete Lungen als für gebeutelte Seelen, die, „zur Erkenntnis gelangt, Umkehr machten, um ihrem Leben eine natürlichere und gesündere Wendung zu geben“, wie Ida Hoffmann in ihren Memoiren schreibt. Die Reformkultur hat nun ein Zuhause: den Monte Verità, den „Berg der Wahrheit“. Hier herrschen Entgiftung, Abstinenz, Vegetarismus und der Wille zur inneren Reinheit. Zur Licht- und Luftkur gesellen sich alsbald Versatzstücke zeitgenössischer Denkrichtungen: Anarchismus, Theosophie, Anthroposophie und Psychoanalyse treffen in Ascona ein. Das Wort macht die Runde, die Gäste kommen und gehen, manche bleiben über Monate, andere schauen nur kurz vorbei. Dem Prä-Hippie Gustav Gräser ist das alles zuviel. Er möchte kein Gästehaus führen, sondern frei von Zwängen leben. Er verlässt die Siedlung im Streit und wohnt fortan im nahen Wald, ohne jegli-
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EXODUS DER EIGENBRÖTLER
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chen Komfort. Auch die übrigen Lebensentwürfe und Ideologien geraten immer wieder miteinander in Konflikt. Während Oedenkoven und Hoffmann die Bildung einer Elite zum Bau einer zukünftigen Gesellschaft vorschwebt, geht es einem ihrer bekanntesten Patienten um etwas ganz anderes: Der deutsche Anarchist Erich Mühsam möchte einen Ort für die Ausgestoßenen und Ungewollten, die Armen und Zurückgelassenen. Doch nicht nur der Überbau, auch der Alltag auf dem Monte Verità behagen ihm durchaus nicht: „Vegetarier mit teils ernsten Lebensauffassungen, teils höchst spleenigen Erlösungsideen hatten sich an den Abhängen des Lago angesiedelt, bauten Obst an, lebten von Rohkost, lobten den Herrn oder sich selbst. Daraus erwuchs die Heil- und Lehranstalt ,Monte Verità‘, für die ich, da man dort mit nichts als rohem Gemüse gefüttert wurde, den Namen ,Salatorium‘ in Umlauf brachte.“ Mühsam berichtet weiter, wie er die Siedlung nach zwei Wochen fluchtartig verlässt, um sich in Locarno ein Beefsteak, Wein und Zigarren zu bestellen. Ganz anders Hermann Hesse, der sich im Tessin dem Alkohol entwöhnen möchte. Eben noch früh genug, um hier auf den verschrobenen Gräser zu treffen und ihn später als Erlösergestalt literarisch verewigen zu können. Über die Jahre wird der Monte Verità zu einer Zuflucht Verfolgter – allerdings sind es nicht die Mühsam’schen Subproletarier, sondern aufstrebende Vertreter des Kulturlebens, unter ihnen geflohene Dadaisten und Kriegsdienstverweigerer wie Hugo Ball und Ernst Bloch. Letzterer beendet 1917 im nahen Locarno sein Werk „Geist der Utopie“. Sein hier entwickelter Begriff der „konkreten Utopie“ fordert einiges von dem ein, was der Monte Verità bereits zu sein versucht: ein in die Realität umgesetzter Wunschgedanke, der Ort gewordene Zustand nach der (möglichen!) Gesellschaftsveränderung. Rudolf Laban steht als Erfinder des Ausdruckstanzes für eine weitere Facette dessen, womit sich der Berg der Wahrheit in das kulturgeschichtliche Gedächtnis eingeschrieben hat: leicht oder gar nicht bekleidete Menschen in frei fließender Bewegung. Wallende Tücher statt strengem Tutu. Laban gründet seine erste Tanzschule 1913 in Rufweite der Siedlung, seine Kunstform schwappt wenig später zurück in die Städte Europas. Oedenkovens und Hoffmanns Heilanstalt wird 1920 geschlossen, ihre Gründer emigrieren nach Brasilien. 1926 öffnet an gleicher Stelle ein Hotel im Bauhaus-Stil, denn auch die Vertreter der bekannten Dessauer Hochschule haben inzwischen die Vorzüge und den Mythos des Ortes entdeckt – und mit ihnen ein polyglotter Kunst-Jetset, dessen hippe Lichtgestalten fortan Station machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Monte Verità seinen Ruf
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„Die Reformkultur hat nun ein Zuhause. Hier herrschen Entgiftung, Abstinenz, Vegetarismus und der Wille zur inneren Reinheit“ als Hort der Gegenkultur so weit eingebüßt, dass selbst Konrad Adenauer und Heinz Rühmann sich hier erholen. 1970 bringt Opel in Rüsselsheim ein Modell namens „Ascona“ auf den Markt, ein Auto für alle, die wahr gewordene Sehnsucht nach ein bisschen süßem Leben. Erst 1978 lässt der bekannte Kurator Harald Szeemann den ursprünglichen Geist des Ortes in Form der Ausstellung „Mammelle delle verità“ wieder aufleben, die in Zürich, Berlin, Wien und München gezeigt wird. Heute gehört der Berg dem Kanton Tessin, der die ETH Zürich damit beauftragt, auf dem Terrain wissenschaftliche Konferenzen zu veranstalten. Allerdings auch solche zum Thema „Grüner Tee“. Die Geschichte des Monte Verità ist die der Säkularisierung einer Utopie, vielleicht auch die einer frühen gentrification, wahlweise einzustufen als Karriere oder Abstieg. Doch noch einmal zurück zum Anfang. Da steht eine Gruppe junger Menschen, die der Gesellschaft für einen Moment ihren Rücken zukehrt. Sie begeht einen Exodus, um es biblisch auszudrücken, aber auch mit einem Begriff, der sich über die letzten Jahre vermehrt in die vermeintlich linke Theorie geschlichen hat. Antonio Negri und Michael Hardt verwenden ihn mit Vorliebe, Nicolas Bourriaud tut es auch. Dabei ist der Weg nach draußen eigentlich keine originär linke Utopie. Der Sonderweg, die Landnahme, die Selbstverwirklichung sind stets mit Privilegien verbunden, mit bereits vorhande-
nen oder dem Streben danach. Heute ist die Forderung nach dem „Exodus“, nach vornehmlich gedanklicher Mobilität, eng verbunden mit den Vorrechten der gebildeten und hoch subventionierten Kulturarbeiter. So war es schon auf dem Monte Verità, der keine in sich geschlossene (Arbeiter-)Klasse bildete, sondern eine äußerst heterogene Gruppe von Eigenbrötlern: schwer zu beschreiben, unmöglich zu kontrollieren – und damit ziemlich genau dem entsprechend, was Negri/Hardt eine „Multitude“ nennen: eine nicht-repräsentierbare Vielheit aus Individuen, die gemeinsam handeln. Dem Monte Verità hat diese ungreifbare Vielgestaltigkeit mutmaßlich den Kopf gekostet, sprich: Es konnte nicht lange gutgehen. Andererseits hat das plötzliche Verschwinden der Kerngruppe jeglicher Verkrustung und tragfähiger Zuschreibung von außen vorgebeugt. Es ist einfach, den Monte Verità zu verklären, aber es ist fast unmöglich, ihn ganz zu erklären. Das unterscheidet ihn von den meisten Refugien linker Utopie, von Zufluchtsorten, die allzu schnell ein identifizierbares Profil ausbilden. Sie werden klassifizierbar, selbstidentisch und leicht zu berechnen. Kanonisierte Räume der Gegenkultur fristen ihr Dasein daher oft als Ghetto. Zudem entwickeln sie ihre eigene Rigidität. Diese Dynamik kennt fast jedes autonome Jugendzentrum, wo von „Multitude“ zumeist keine Rede sein kann. So mag es also sein, dass gerade in der Unübersichtlichkeit der Geschehnisse um den Monte Verità dessen subversives Potenzial zu suchen ist. Freilich finden sich im Dunstkreis der Ausdruckstänzer und sonstigen Befreiten allerhand problematische Äußerungen, gerade zum Aspekt der „Reinheit“. Auch die eingangs erwähnte Nietzsche-Lektüre ist nicht jedem Licht- und Freiluft-Fanatiker bekommen. Prinzipiell aber lässt sich das Fehlen einer allgemeingültigen Leitlinie nachträglich als Stärke identifizieren. Oedenkoven und Hoffmann verstanden ihren Berg zudem nicht als dauerhafte Residenz, sondern als Unterschlupf zur Vorbereitung einer Rückkehr an die eigentlichen Schauplätze des Weltgeschehens. An dieser Stelle mag das Erbe des Monte Verità am ehesten in die Nähe eines Ratschlags für die Nachfolgenden geraten: Nicht der dauerhafte Exodus kann das Ziel sein, sondern letztlich der andere Alltag im System, das richtige Leben im Falschen, die Veränderung von innen heraus. Neben flüssigen Persönlichkeiten und ephemeren Aktionen braucht es dafür Stätten und Winkel, in denen Austausch und Planung möglich sind. Doch auch diese Orte müssen flüchtig sein. Sonst bleiben sie nur so lange „anders“, wie H&M braucht, um einen Style zu annektieren.
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Darf sich ein Mensch das Leben nehmen, wenn er einfach nicht mehr kann? Oder ist es die Pflicht von Therapeuten und Ärzten, psychisch kranke Menschen wieder lebensfähig zu machen? Ein Interview mit der Medizinerin Miriam Herold-Peetz (Name geändert)
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„Depression ist die Flucht in die Unwirklichkeit“, habe ich mal irgendwo gelesen. DR. MIRIAM HEROLD-PEETZ: Vielleicht sollten wir zunächst die Symptome einer Depression klären. Im Symptomenkatalog sind zum Beispiel Antriebsmangel, Schlafstörungen, Freudlosigkeit, Interessenverlust oder das Gedankenkreisen aufgeführt. Man kreist um eine Situation, steigert sich rein und kommt nicht zu einer Lösung. Das kostet Energie, zieht die Betroffenen immer tiefer rein. Ein Kreislauf. Körperliche Beschwerden kommen hinzu, man zieht sich zurück, geht nicht mehr ans Telefon, verdunkelt die Räume. — Und verlässt die Wohnung immer seltener. Eine Depression ist eine Spirale nach unten, alles bedingt sich. Man kann kaum noch nach dem Auslöser oder der Ursache fragen. Man geht nicht zur Arbeit, putzt nicht, isst kaum noch. Der Betroffene erlebt nichts Angenehmes mehr. Das führt dazu, dass Bereiche im Gehirn nicht mehr aktiviert werden, das Belohnungszentrum etwa, wodurch dann auch die körpereigene Chemie konsekutiv die Symptome verschärft. — Ist das Motiv des Flüchtens und Verdrängens ein wichtiger Aspekt des Krankheitsbildes? Es wird in der Medizin nicht so formuliert. Das ist aber auch eine Definitionssache. Wenn man in einer depressiven Phase seine Briefe nicht öffnet, ist das natürlich eine Flucht vor sich selbst. Im Laufe der Krankheit wiederholen sich die verschiedensten Fluchten. Süchte, Persönlichkeitsstörungen, Verdrängung, Verlagerung und so weiter. Flucht hat oft eine negative Konnotation. Dabei kann sie auch eine Entwicklung sein. Sie wird dann krankhaft, wenn sie nicht den
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erhofften Nutzen bringt, sondern das Leid vergrößert. Die Flucht durch Drogen, die langzeitig die Gesundheit gefährden, ist sicher nicht gut. Eine bewusstseinserweiternde Droge, die neue Selbsterfahrung bedingen kann, ist vielleicht auch eine Flucht, die würde ich jedoch eher positiv bewerten. — Woher wissen wir, was positiv oder negativ zu bewerten ist? Das wissen wir ja nicht. Und genau da taucht die Frage nach der Legitimation der Therapie auf. Will ich Menschen etwas aufdrücken, nur um sie gesellschaftskonform zu machen? Wer legitimiert mich dazu? Ich habe diese Diskussion mit einigen Kollegen geführt, die sagen, die Patienten legitimierten mich, also den Therapeuten, indem sie zur Therapie erschienen und so den Therapieauftrag erteilten. Aber was ist mit Menschen, die sich einfach nicht einfinden können? Die diesen „ganzen Scheiß“ hier einfach nicht mitmachen wollen, sollen wir sie zwingen? Können wir sie nicht auch verstehen? Was soll jemand machen, der die Erkenntnis nicht erträgt, nicht perfekt sein zu können? Ich kann eine Therapie oft nicht legitimieren. — Aber wird ein Depressiver nicht therapiert, kann das tödlich enden … Ich persönlich sehe es so, dass eigentlich jeder das Recht hat, mit sich zu machen, was er will. Aber natürlich ist diese Frage letztlich komplizierter. Bei Depression spricht man unter anderem von der Episode. Es sind Phasen,
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über die der Patient mit Medikamenten und Therapie hinwegkommen kann. Aber Menschen, die in diesem schwarzen Loch sitzen, sehen das nicht, sind in ihrem Denken eingeengt. Wie will man dann eine Entscheidung treffen? Vielleicht ist in einem Jahr alles anders, und der Patient ist später froh, dass er lebt. Allerdings gibt es darauf auch keine Garantie. Beim Suizid hingegen weiß man schon, dass man nicht mehr so leiden wird wie jetzt. Die Vorstellung, die Idee reicht ja schon. — Hat der Kranke nicht auch Verantwortung gegenüber seiner Umwelt? Wenn der Mensch sich Erleichterung verschafft, dann ist es vor ihm selber legitim. Wenn sich jemand umbringt, weil das Leben für ihn unerträglich erscheint, ist sein Leiden vorbei. Dann ist er erleichtert. Ich habe für mich folgende Erklärung dafür gefunden: „Alles, was ich tue, entsteht aus der Motivation, mich hinterher besser zu fühlen als vorher.“ Ich habe das Thema lange eher von mir fern gehalten und fand es unerklärlich, warum jemand auf die Idee kommt, sich das Leben zu nehmen. Das ist ja ein wahnsinnig aggressiver Akt. — Das hat sich geändert, seitdem Sie auch im privaten Umfeld mit Suizid konfrontiert wurden. Natürlich, ich möchte jetzt mehr darüber wissen und ich bin nun davon überzeugt, dass Menschen, die das beschlossen haben, es nicht sagen und auch nicht andeuten. Sie vermitteln ihrer Umwelt, dass alles in Ordnung ist, auch damit es klappt. — Allerdings können wir nicht wissen, was nach dem Suizid kommt und ob es wirklich erleichternd ist. Man weiß immer, wovor man flieht, aber man weiß fast nie, wohin. Es gibt unterschiedliche Motive. Einige schlucken im Affekt Tabletten, oft sind Liebeskummer oder Jobverlust die Auslöser. Andere planen ihren Suizid lang und heben sich dabei ab von ihrem Umfeld, stellen sich vor, wie Freunde und Verwandte vor ihrem Grab stehen. Das hat etwas sehr Narzisstisches. Der Gedanke allein ist schon eine Erlösung. Sich selbst über alles zu stellen, das ist schon das Gefühl des Losgelöst-Seins, des Nicht-mehr-in-der-Welt-Seins. Man ist schon in einer Zwischenwelt. In der Phase gibt es keine Versuche mehr, die scheitern könnten. — Ein klassischer Spruch: „Man nimmt sich selbst ja immer mit.“ Und das ist doch das, wovon man bei einem Suizid ausgeht: dass man sich selbst nicht mehr mitnimmt. Ja, vermutlich ist das eine Hoffnung.
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Jens Rachut ist so etwas wie die graue Eminenz des Deutsch-Punk. Die Zahl seiner Bands ist Legion: Angeschissen, Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut, Oma Hans und, aktuell, Kommando Sonne-nmilch. Zuletzt zog es den umtriebigen Jensen verstärkt ins Theater. Für OPAK hat er einen lyrischen Text geschrieben, der gleichzeitig seine ureigene Art der Textproduktion kenntlich macht.
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ILLUSTRATION VON STEFAN MOSEBACH
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2 Es sind die Träume die nicht da sindsie hocken irgendwo und haben keine Lust dass sie schon wieder im Zentrum stehen. Sie haben Angst dass jemand dahinter kommt wie sie morgens noch mal zusammen kauern und sich was kochen. Total übermüdet von den Täuschungen. Sie möchten gern für voll genommen werden aber wer vertraut schon einer Fata Morgana seiner Traurigkeit oder Schwimmflügeln aus Billigläden. Für wirklich Gutes braucht man keinen roten Faden Weil du auf echte Tomaten auch nur Salz drauf machst Weil du nichts und niemanden zurück lässt Solange er was von dir ausgeborgt hat und sei es nur ein Teil von deinem Ausdruck Gefühlsverleiher? Gelenke porös Blut verschmiert länger als ein Leben und du hast genau das eine– Das Staffelholz fällt gelassen aus seiner Seele Auffallend schweigsame Abende Der Besuch bleibt aus Man hört das Klopfen nicht Zuerst schlafen die Hände ein Dann die Möbel Und zum Schluss Die Jahreszeiten die wie ein Testbild vorbei ziehen. Weil du alleine sein willst streichst du den Fahrradkeller. aus demselben Grund geht sie zum Yoga die Lehrerin gibt ein Schrei-Seminar alle werden verzückt und schwitzen und alle sabbern dunkle Flecken halten den eigenen Geruch nicht aus und fangen an zu kratzen sie sehnen sich
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nach einem normalen Waschgang einfach wieder weggemacht werden. und dann bekommen alle einen Yogaorgasmus danach gehen sie in die Bioklause sie essen Tofu mit Bärlauch sie essen Obstsalat mit Sojacreme und versuchen keine Scheiße zu reden. Sie versuchen locker zu sein Die Verabschiedung dauert-und wirkt dadurch dass sie sich In 3 Tagen wiedersehen noch beknackter. Er streicht die zweite Lage grau an die Wand Die Fahrräder geben sich betont neutral Und halten sich zurück-kein: nicht schon wieder grau Oder: mach doch mal bunt den Knast-ehe sich wieder ein fetter Arsch Auf den Sattel quetscht-um abends noch mal ne Runde zu drehen Am Weiher wo sie laufen-genau dort wo das Gebüsch besonders dicht ist Pisst er sich leer-schon zweimal musste er zu den BullenGegenüberstellung–nein, der war dicker, hörte er die Joggerin sagen Das geht? lachten die Cops-ich hätte wetten können dass er es war!!! Sein Fahrrad steht jetzt im Keller der nach Farbe stinkt. Denkt doch mal an die Reifen die brauchen Luft-ihr Idioten Und an die Speichen sie wollen fest gezogen sein. Der Sattel riecht nach Arsch und will tauschen mit den Träumen Denn die sitzen bei Käsefondue und wollen endlich den Ruf los werden dass sie was bedeuten. Vor was fliehen sie denn-fragt der Abiturient mit Abschluss-von was? Entspannung ist wichtig-sie finden sich zu dick-Fahrrad fahren ist doch kein Sport wenn sie immer nur um ihren kleinen Weiher radeln-Malen sie Bilder? Oder ihren Fahrradkeller grau? Har-Har-Har lacht der Abiturient. Har har har lacht der Dicke-nicht nur Arzt auch noch Hellseher was? Eltern früh tot-genau Krieg Senfgas nachts im SchrebergartenKurz zuvor noch Magenkolik von den unreifen Stachelbeeren! Gab ja nix zu fressen brüllt der Dicke und fängt an zu flennen Jaja schwer verdaubar sagt der Abiturient-bis nächste WocheNoch n Tipp 10 mal um Weiher sind 1 kg-und 1 kg sind für Frauen fast wie ein neuer Lippenstift wenn sie wissen was ich meine. Träume. Jetzt schläft die Nachtschicht und holt Saft und Kraft für die Nächste Dämmerung. Die Yogafrauen laufen um den Weiher und begut achten ihre neuen Stirnbänder-sie begutachten ihre Kisten die trotz des Sports langsam auseinander gehen-und sie warten auf ihre Coolnes. Die Yogamänner machen fast das selbe außer dass es ihnen egal ist wie ihre Ärsche aussehen. Auch im Keller ist es ruhig nur ein Rennrad das sich immer noch über die Farbe beschwert. Halts Maul-schreit das Damenfahrrad mit Kindersitz-Halts Maul und gib Ruhe. Genau was für eine super Idee denken auch die Träume-und der Dicke Pisst sich leer und da sieht er auch schon die Bullen kommen. Es ist ein milder Oktoberabend.
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„VERTREIBUNG“
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Warum ist die Zahl der „Vertriebenen“ in der BRD seit dem Ende des 2. Weltkrieges beständig angewachsen und wie profitiert der „Bund der Vertriebenen“ davon? Ein Blick auf eine Organisation, deren Ende nicht abzusehen ist. m Frühjahr 2010 wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine alte Debatte wieder einmal heftig geführt: Wie viele „Vertriebene“ gibt es eigentlich in der Bundesrepublik? Grundlage der Auseinandersetzung war die Telefonumfrage einer Nachrichtenagentur bei sämtlichen Landesverbänden des „Bundes der Vertriebenen“ (BDV). Die Auswertung dieser Umfrage, so die Schlussfolgerung, ergäbe eine Mitgliederzahl von 550.000. Das Dementi seitens des BDV kam sofort. Generalsekretärin Michaela Hriberski erklärte die Angaben der eigenen Landesverbände für falsch und bestätigte in einer Presseerklärung die seit fünfzig Jahren behauptete Mitgliederzahl: „Der BDV hat unter Berücksichtigung aller Mitgliedsverbände in der Gesamtschau rund zwei Millionen Mitglieder. Die Umfrage hat den gravierenden Fehler, dass nur ein Teil der BDV-Mitgliedsverbände befragt wurde, nämlich die Landesverbände. Der BDV ist aber ein Verband, dem 16 Landesverbände, 20 Landsmannschaften und 4 außerordentliche Mitgliedsverbände angehören, mit einem insgesamt bundesweit verzweigten Netz von über 7.000 Unterorganisationen.“ Der Versuch, die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, gelang wie in den Jahrzehnten zuvor. Die Tatsache, dass der 2009 mit 16 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt subventionierte BDV – eine Million werden allein für den Betrieb der Bundesgeschäftsstelle gezahlt – über keinerlei Mitgliederverwaltung verfügt, wurde nicht weiter thematisiert. Die öffentliche Alimentierung durch Bund, Länder und Kommunen ist Voraussetzung für die organisatorische Existenz des BDV und seiner Landsmannschaften. Die Ausgaben für
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ERICH SPÄTER
„VERTREIBUNG“ DURCH VERERBUNG
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die besoldeten Berufsvertriebenen und Verbandsfunktionäre, die Subventionen für die Periodika und Zeitungen mit ihren hauptamtlichen Redakteuren werden größtenteils von der öffentlichen Hand bezahlt. Seit Jahrzehnten vermeidet es der BDV, nachvollziehbare Angaben über Mitgliedschaft und Beitragseinnahmen zu machen. Er kann sich dabei auf die Unterstützung durch seine gut organisierten politischen und publizistischen Hilfstruppen verlassen. Dennoch ist die Debatte über die Mitgliederzahlen, die in Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit seit den sechziger Jahren geführt wird, für den BDV aus finanziellen und politischen Gründen gefährlich. Es steht schlichtweg die Existenz der gesamten Organisation auf dem Spiel. Denn die hohen Mitgliederzahlen sollen nach wie vor beweisen, dass es nennenswerte Populationen von „Vertriebenen“ in der Bundesrepublik gibt und der Dachverband BDV diese als „Volksgruppen im Exil“ vertreten darf.
„Volksgruppen im Exil“ die Landsmannschaften Nach der Gründung der Bundesrepublik konstituierten sich Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten und volksdeutschen Siedlungsgebieten in 22 Landsmannschaften. Hinzu kamen vielfältige Interessenverbände und Lobbyorganisationen, die miteinander um politischen Einfluss, Macht und Ämter konkurrierten. Ein großer Teil der Führungsgruppen dieser Organisationen stammte aus den sozialen und politischen Eliten der deutschen Ostprovinzen und volksdeutschen Siedlungsgebiete. Sie hat-
ten sich als Aktivisten der NSDAP, als Angehörige der SS und des deutschen Besatzungsapparates am Vernichtungskrieg im Osten und der Shoah beteiligt. Besonders die großen Landsmannschaften wurden von ihnen über Jahrzehnte politisch kontrolliert. Die sudetendeutschen, ostpreußischen und schlesischen Landsmannschaften (bis heute gibt es zwei) waren die politisch einflussreichsten und mitgliederstärksten Organisationen. Aber auch für Buchenlanddeutsche, Siebenbürger Sachsen, Donauschwaben, Baltendeutsche, zu denen aber nicht die Deutschen aus Litauen gehörten, Sathmarer Schwaben u. a. wurden eigene Organisationen in Form der Landsmannschaften gegründet. Die Mitglieder der Landsmannschaften bildeten gleichzeitig in ihren Wohnorten in der Bundesrepublik die Basis des 1957 gegründeten Dachverbandes BDV, der seit der Auflösung der DDR über 16 Landesverbände verfügt. Die Organisationsstruktur ist chaotisch und für Außenstehende kaum durchschaubar. Für die Landsmannschaften hatte der Erhalt der „Volksgruppe im Exil“ oberste Priorität, da nur so eine geschlossene Rückkehr in die besetzte Heimat möglich schien. Die Mitglieder wurden deshalb in sogenannten Heimatkreisen und Heimatgemeinden erfasst, also den Herkunftsgebieten. Daneben führte man weiter Geburts- und Sterberegister. Wichtig war die Übernahme von Patenschaften durch bundesdeutsche Kommunen und Länder, die die organisatorische Aufrechterhaltung der „Volksgruppe im Exil“ garantierten. Am bekanntesten ist wohl die Patenschaft Bayerns für die „Sudetendeutsche Volksgruppe“, die man dann auch gleich zu einem „vierten
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desvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes“ am 19. Mai 1953 wurde der Vertriebenenstatus rechtlich definiert – ein Elternteil musste aus den „Vertreibungsgebieten“ stammen, um diesen Status zu erhalten. Schon 1950 bei der ersten Volkszählung der Bundesrepublik waren die nach 1945 geborenen Nachkommen erstmals als Vertriebene gezählt worden. Diese juristische Konstruktion, die der „Volksgruppe im Exil“ ewigen Bestand garantieren sollte, hat zu einer rapiden Zunahme der bundesdeutschen Vertriebenen geführt. Ihre Zahl stieg von 7,8 Millionen im Jahr 1950 auf 13 Millionen 1970. Nach einer Erhebung des statistischen Bundesamtes in Wiesbaden waren im April 1970 46,7 Prozent der „Vertriebenen“, fast 7 Millionen, nach Kriegsende geboren. Die zahlenmäßig größte „Vertreibung“ der Weltgeschichte hat in der Bundesrepublik von 1950 bis 1970 durch Geburt stattgefunden.
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Erich Späters Buch: „Villa Waigner.
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Stamm der Bayern“ erklärte. Die Heimatkreise, Ortschaften und Städte wurden wiederum zu Exil-, Kreis- und Städtetagen zusammengefasst. Seit den fünfziger Jahren wurden Wahlen für Stadträte und Kreistage durchgeführt. Höchste Organe waren und sind die sogenannten „Exilparlamente“, die mit allen Attributen parlamentarischer Arbeitsweise wie Ausschüssen und Ältestenrat versehen sind. Diese Parlamente wählten wiederum Exilregierungen und Präsidenten. Grenzen zwischen Parlament und landsmannschaftlicher Organisation wurden kaum gezogen. Bis heute versammelt sich das „Sudetendeutsche Parlament“ zu seinen Sitzungsperioden im bayerischen Landtag. Die in den fünfziger Jahren kreierte Fahne der Landsmannschaft weht dann neben der deutschen und bayerischen Flagge. Ein Teil seiner über 80 Abgeordneten repräsentiert die Heimatkreise des ehemaligen Sudetengaus. Der offene Angriff auf die staatliche Souveränität der tschechischen Republik wird von der bayerischen Staatsregierung finanziell gefördert und politisch unterstützt. In Tschechien betrachtet man dieses „Parlament“ und seine staatliche Alimentierung als unverhüllte Aggression gegen die territoriale Integrität des Landes. Die Praxis der Wahlen zu verschiedenen „Exilkörperschaften“ bildete das zentrale Legitimationsinstrument für alle politischen Vertretungsansprüche der „Volksgruppe im Exil“. Die meisten Landsmannschaften haben diese jahrzehntelange Praxis mangels Wählermassen mittlerweile aufgegeben. Bernhard Fisch, der 1990 in die Landsmannschaft Ostpreußen eintrat, und der nach seinem Austritt Ende der 1990er Jahre einen lesenswerten Bericht über seine politischen Erfahrungen veröffentlichte, schreibt über die Wahlpraxis der Landsmannschaft Ostpreußen am Beispiel der Wahlen zum Königsberger Exil-Stadtrat, die in Hannover 1994 organisiert wurden: „Im Oktober 1994 fand in Hannover ein Treffen der Königsberger statt. Damit verbunden war die Wahl der neuen Stadtvertretung, sozusagen des Magistrats im Exil. Es wird geschätzt, dass heute in Deutschland rund 150.000 Königsberger leben. In der Leinestadt waren 143 Mitglieder von zweitausend anwesend, das sind 7 Prozent der Mitgliederzahl. Noch stärker ausgedrückt: etwa jeder Tausendste der noch lebenden ehemaligen Einwohner der Stadt sieht einen Grund zur Wahl der eigenen Repräsentanten. Die derart ‚Gewählten‘ treten aber trotzdem ähnlich den Sudetendeutschen überall mit dem Anspruch auf, im Namen der Gesamtbevölkerung zu sprechen“. Dennoch steigt die Zahl der „Vertriebenen“, tot oder lebendig, in der Bundesrepublik von Jahr zu Jahr. Das Präsidium des BDV spricht mittlerweile von 15 Millionen. Die Grundlagen für dieses deutsche Wunder wurden am 19. Mai 1953 gelegt. Mit der Inkraftsetzung des „Bun-
Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1939–45“ erscheint demnächst in zweiter Auflage bei „konkret texte“.
Wie wird man Vertriebener? 1. DURCH STAATLICHE ANERKENNUNG Die Rechtsstellung ist im Bundesvertriebenengesetz von 1953 geregelt Ein Heimatvertriebener ist nach der Definition des Gesetzes, wer am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er „vertrieben“ wurde. Als letzter Stichtag gilt der 1. Januar 1993 Diese Gebiete sind: Gesamtheit der „unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete“ in den Grenzen des deutschen Reiches von 1937 Gebiete des Deutschen Reiches und der österreich-ungarischen Monarchie in den Grenzen vom 1. Januar 1914 Gebiete, die ab 1919 zu Polen, Estland, Lettland und Litauen gehört haben Die rechtliche Anerkennung erstreckt sich auch auf die Nachkommen. Es genügt, dass ein Elternteil aus einem „Vertreibungsgebiet“ stammt. 2. DURCH BEKENNTNIS Die Aufnahme in eine Landsmannschaft ist kein Problem, auch wenn die oben angeführten Voraussetzungen nicht gegeben sind. Die Satzungen enthalten eine Regelung, die als Voraussetzung der Mitgliedschaft lediglich die Unterstützung der Ziele der „Landsmannschaft“ verlangt. Diese Mitglieder sind dann „BekenntnisVertriebene“. Besonders in Bayern ist unter CSU-Politikern der Typus des Bekenntnis- oder auch Gesinnungs-Sudetendeutschen weit verbreitet.
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SICHTBAR Als Autor und Dramaturg hat Björn Bicker das Thema Migration in den letzten Jahren immer wieder auf die Bühne gebracht. Aus einem dieser Projekte an den Münchner Kammerspielen, dem Theaterstück „Illegal“ (2008), entstand ein gleichnamiges Buch, das im Frühjahr 2009 erschien. Ein Gespräch über die Möglichkeiten der künstlerischen Vermittlung
JANINE SCHEMMER
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Für Ihr Projekt „Illegal“, in dem Biografien illegaler Migranten im Zentrum stehen, haben Sie mehrere Monate in der Münchner Beratungsstelle Café 104 hospitiert. War es nicht dennoch schwer, mit den Menschen in Kontakt zu treten? Das Café 104 ist seit vielen Jahren eine Anlaufstelle für Leute ohne Papiere. Dort organisiert der „Bayerische Flüchtlingsrat“ gemeinsam mit „Ärzte der Welt“ medizinische Hilfe ohne Krankenschein sowie Lebensberatung im weitesten Sinne. Man ist natürlich vorsichtig, mit wem man zusammenarbeitet. Aber da ich in München schon mehrere Theaterprojekte zum Thema gemacht hatte, Leute aus dem Umfeld kannte und ein ernsthaftes, langfristiges Interesse zeigte, brachte man mir ein gewisses Vertrauen entgegen. Ich war dann einige Monate regelmäßig da. In der Zeit lernt man Leute kennen, verabredet sich, trifft deren Bekannte, und dann beißt man sich so durch. — Was war die prägnanteste Erfahrung während der Recherche? Da ist einmal die Geschichte einer Südamerikanerin, die ihr Kind an dessen Adoptivvater verloren hat, ohne gesetzlich etwas dagegen unternehmen zu können. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, was Illegalität bedeutet, nämlich in absolute Abhängigkeit zu geraten, bis in die intimsten Lebensbereiche hinein. Darüber hinaus bin ich einem Mann begegnet, der schon seit fast 30 Jahren ohne
Papiere in Deutschland lebt, was auch ich erst ganz spät erfahren habe. Der hat Familie, Kinder und hat sich einfach so dermaßen unsichtbar gemacht. — Nach welchen Kriterien haben Sie die in Ihrem Buch „Illegal“ vorgestellten Schicksale ausgewählt? Ich habe viele Leute kennengelernt, und oftmals ähneln sich die Geschichten und Probleme. So habe ich versucht, Verdichtungen herzustellen. Der Text verbindet die Essenz einzelner Begegnungen mit Motiven aus anderen Gesprächen. — Ihr Anspruch ist es also nicht, die Biografien lediglich abzubilden? Wie lässt sich die Thematik künstlerisch vermitteln? Die Grundstimme des Buches ist der Chor, das ist eine Setzung von mir, wie ein Statement oder eine Hypothese. Dieses „Wir“ steht für die Masse von Menschen. Ihr Sprechen steigert sich im Laufe des Buches fast zu einer Art politischen Vision. Sie sagen: Wir sind die Mächtigen, wir sind die, die euch ablösen werden. Weil wir das erfüllen, was eine globalisierte Wirtschaftsordnung von den Menschen verlangt. Wir gehen dahin, wo Arbeit ist, uns scheren keine Grenzen und erst einmal auch keine Gesetze. Diese Vision empfinde ich als sehr ambivalent, weil ich einerseits an meiner bürgerlichen Existenz hänge, und
andererseits befürchte, dass uns das auch irgendwann blühen könnte. Andererseits ist es natürlich längst die Lebensrealität vieler Menschen. Ich fand es für das Buch wichtig, meine Perspektive einzubringen, alles andere wäre mir extrem unehrlich vorgekommen. Außerdem weißt du nie, ob das stimmt, was dir erzählt wird. Beim Thema Illegalität spielt das Erzählen selbst eine wichtige Rolle. Biografien werden konstruiert. Unabhängig davon ging es mir ganz grundsätzlich darum, die Normalität der Menschen herauszustellen. Im öffentlichen Diskurs wird Illegalität permanent skandalisiert. Wenn man Berichte im Fernsehen sieht, hat man oft das Gefühl, Illegalisierte seien geschlagene Gestalten, aber dem ist natürlich überhaupt nicht so. Sie sehen aus wie du und ich. Damit sie nicht erkannt werden. Und es war mir wichtig, das zu erzählen. — Gibt es denn auch in der Realität Anzeichen für ein solches „Wir“? Nein, meine Erfahrung ist die einer großen Vereinzelung. Im Gegensatz zu Frankreich gibt es in Deutschland keine „Sans Papiers“Bewegung, wo sich auch Illegalisierte politisch zu Wort melden. Ich hatte während meiner Recherche das Gefühl, dass das tägliche Überleben oftmals so anstrengend ist und so viel Kraft kostet, dass jeder zusieht, selber irgendwie durchzukommen. —
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junktur. Mittlerweile beschäftigen sich viele Theater mit ihrem städtischen Kontext und den Geschichten, die sozusagen auf der Straße liegen. Aber ich kenne keine Projekte, die sich gezielt mit Illegalisierten beschäftigen.
„Die Randständigkeit hängt vor allem damit zusammen, dass es keinen realpolitischen Diskussionsbedarf gibt“
— Weshalb ist das Phänomen so randständig? Die Randständigkeit hängt vor allem damit zusammen, dass es keinen realpolitischen Diskussionsbedarf gibt. Einerseits funktionieren zwar ganze Zweige von Dienstleistungen aufgrund der Arbeit von Illegalisierten, wenn man sich andererseits aber tiefergehend mit dem Thema auseinandersetzen würde, müsste man grundsätzlich über Grenzpolitik nachdenken und kommt sehr schnell zu der Frage: Was ist Europa? Wer darf hier sein und wer nicht? Und man würde feststellen, dass uns die Realität längst eingeholt hat.
— Wissen Sie von anderen Kunstprojekten, die sich mit der Illegalen-Thematik auseinandersetzen? Projekte, die sich ganz allgemein mit Migration auseinandersetzen, haben ja gerade Kon-
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— Denken Sie, dass sich auch das Theaterpublikum über die Vorstellung hinaus mit der Problematik auseinandersetzt? Solche Projekte ziehen immer auch eine bestimmte Zielgruppe an. Es kommen Menschen, die mit dem Kontext zu tun haben. So finden sich Leute im Theater ein, die normalerweise nie dort sind. Das ist sehr interessant, weil die natürlich anders auf Theater gucken als der klassische Theaterabonnent, der auch da ist. Letztlich mischt es sich. Was das Stück dann beim Publikum bewirkt, ist immer schwer zu sagen. An den Kammerspielen haben wir über Jahre hinweg Projekte gemacht, die sich mit dem Thema Migration beschäftigten. Man hat gemerkt, wie die Menschen das nach und nach als Teil ihres Theaters begriffen haben. Natürlich gibt es auch Zuschauer, die das nach wie vor bescheuert finden. Dennoch denke ich, dass bei solchen
Projekten auch immer die Langfristigkeit von Bedeutung ist. Das Theater muss aus seiner selbst gewählten Isolation herauskommen, wenn es nicht komplett an Bedeutung verlieren will.
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Was kann Kunst ganz allgemein und das Theater im Besonderen in dieser Auseinandersetzung leisten? Die Frage treibt mich schon seit Jahren um, gerade auch heute, konfrontiert mit der aktuellen Debatte über Migration, Islamfeindlichkeit. Bei unseren Theaterprojekten haben wir uns immer gefragt, wie sich eine Form finden lässt, die Menschen in die künstlerische Praxis tatsächlich involviert, wo Leute gemeinsam an einem Thema arbeiten. Damit so etwas wie Begegnung und Emphase entstehen. Für die Theaterperformance „Fluchten“, die die Regisseurin Christine Umpfenbach im Rahmen des Festivals „Doing Identity – Bastard München“ realisiert hat, haben wir beispielsweise einerseits Flüchtlinge gesucht, andererseits Menschen, die durch ihren Beruf etwa als Arzt oder Polizist mit der Thematik zu tun haben. Der Clou der Aktion war: bei der Performance haben die Leute einfach ihre Identitäten getauscht. Das war sehr besonders, weil sich die Frau von der Ausländerbehörde tatsächlich in die Situation einer nigerianischen Flüchtlingsfrau versetzen musste. Weil sie deren Text sprechen musste. Und umgekehrt genauso. Wenn du sechs Wochen so ein Projekt machst, lässt es sich nicht vermeiden, sich auch mit dem Anderen zu beschäftigen. Und anschließend haben dann der Polizeibeamte oder die Frau von der Ausländerbehörde beschrieben, dass sie ihren Job nicht mehr so ausüben können wie zuvor. Ich glaube, dass Theater im Mikrokosmos total wirksam werden kann. Und diese Wirksamkeit würde ich als das Künstlerische beschreiben. Diese Veränderung in den Menschen, die dann ins Soziale und Politische hineinwirkt, finde ich interessant. Und da kann Theater ein Vehikel sein, mit dem man Situationen von Begegnung und Emphase herstellen kann.
TIERISCHE
CORD RIECHELMANN
TIERISCHE FLUCHTEN
FOTO VON MAX ZERRAHN
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ast jeder Angriff eines Tieres ist mit einer Fluchttendenz gekoppelt. Man kann es fast überall an den Spatzen dieser Welt leicht beobachten. Wenn Spatzen es sich trauen, in einem Gartenrestaurant auf einem Tisch zu landen, um einen Angriff auf den etwas abseits vom Essenden stehenden Brotkorb zu wagen, werden sie von Angriffs- wie Fluchtintentionen gleichermaßen in Spannung gehalten. Im Angriff, mit dem sie dann aufs Brot stürmen, einen Brocken aus dem Brot picken und sofort wieder verschwinden, scheint die noch latente Fluchtbewegung schon nervös auf. Der Umschlag von Angriffsbewegungen in Flucht hängt bei manchen Tieren von der Größe der die Aufmerksamkeit erregenden Objekte ab. Libellen zum Beispiel schnappen bei kleineren Flugobjekten zu, auf größere reagieren sie mit Flucht. Bei anderen Tieren wie dem Galapagospinguin sind sie dagegen abhängig vom Medium, in dem sich der Feindfreund bewegt. An Land sind die Pinguine menschenzahm, im Wasser aber lösen auf die Vögel zuschwimmende Menschen Fluchtreaktionen aus. Im Wasser gibt es Haie, die Jagd auf die Vögel machen und Menschen als tauchender Schatten ähneln, an Land aber gibt es auf den Galapagosinseln keine Fressfeinde, die den Pinguinen nachstellen. Bei anderen Tieren machen Tag und Nacht den Unterschied zwischen erhöhter Fluchtbereitschaft und milder gestimmter Gleichgültigkeit aus. Löwen wie Dachse sind nachts vertrauter zu Menschen als am Tag. Das hat bei Löwen den doppelten Grund, dass sie nachts weder selbst jagen noch von Menschen gejagt werden. Plastisch wurde der Zusammenhang von Angriff und Flucht zuerst in Laborsituationen. Hatte man Tieren wie Ratten im Versuchsaufbau den Fluchtweg versperrt, griffen sie an. Im Labor hat auch der Verhaltensphysiologe Erich von Holst in den 1950er Jahren die Schaltstelle für Flucht und Angriff im selben Hirnare-
al nachgewiesen. Von Holst hatte an Hühnern gezeigt, dass wenn er eine Hirnregion, in der das Angriffsverhalten koordiniert wurde, länger als üblich mit Elektroden reizte, die Angriffe in panische Flucht umschlugen. Es ist deshalb nur logisch, dass die Verhaltensbiologie Angriffs-, Unterwerfungs- und Fluchtverhalten funktionell in einer übergeordneten Einheit als „agonistisches“ Verhalten zusammenfasst. Es gibt keine Angriffstendenz ohne Fluchtintention. Diese gleichzeitige, natürlich latente Erregung zweier scheinbar entgegengesetzter Verhaltenstypen kann bei in Gruppen dauerhaft sozial lebenden Tieren zu einem immensen Ausdrucksreichtum führen. Wölfe und Hunde zum Beispiel haben ein reiches Repertoire an Gesichtsausdrücken entwickelt, die sich aus der Überlagerung von verschiedenen Intensitäten der Flucht- und Kampfintention ergeben. Dabei tritt der Zustand des reinen Kampfgesichts oder der reinen Flucht- und Unterwerfungsgeste so gut wie nie auf. Dabei kann es zu einer scheinbaren Neutralisierung der beiden Tendenzen kommen. Bei vielen Tieren zeigt sich der Zustand, in dem sich Angriffs- und Fluchttendenz die Waage halten, mit einem Ausbruch in andere Verhaltenskontexte. Kämpfende Hähne, die bemerken, dass sie gleich stark sind, beginnen gegen den Boden zu picken, wie sie es bei der Nahrungsaufnahme tun, ohne allerdings dabei zu fressen. Und Stichlinge, die sich an der Reviergrenze gleich stark bedrohen, graben mit dem Mund Löcher in den Boden, so dass dort tiefe sinnlose Gruben entstehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die sogenannten Übersprungshandlungen real nichts mit einer sozusagen dialektisch synthetischen Auflösung der Verhaltensintentionen zu tun haben. Angriff und Flucht sind nur gleichwertig aktiviert, nicht aufgehoben. Bei Stichlingen kann man es paradigmatisch beobachten. Tiefer in seinem eigenen Revier wird
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Keine Angriffstendenz ohne Fluchtintention, lautet eine Beobachtung der Verhaltensbiologie. Cord Riechelmann über die Unberechenbarkeit von Fluchtbewegungen und das Verlassen vermessener Territorien. Und darüber, was das mit Franz Kafka zu tun hat
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der Revierbesitzer stets den Eindringling angreifen und umgekehrt im Revier des anderen sofort die Flucht ergreifen. Es gibt also ein ganzes Ensemble von Bedingungen und Möglichkeiten, das sich um Flucht- und Angriffsbewegungen gruppiert und sie gegebenenfalls aktiviert. Philosophisch sind sie vor allem von Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer Ausdrucksdimension untersucht worden. Ihre Begriffe vom „TierWerden“ und der „Fluchtlinie“ basieren auf den Erkenntnissen der tierischen Verhaltensforschung ihrer Zeit zum Angriffs- und Fluchtverhalten. Es geht ihnen vor allem darum, aus der Betrachtung der tierischen Bewegungen um Angriff und Flucht die Aufmerksamkeit für die variablen Ausgänge und Öffnungen im Verhaltensprozess zu schärfen. Das muss man ganz wörtlich am Beispiel verstehen. Da gibt es einmal den Zusammenhang von Flucht und Unberechenbarkeit. Tiere zeigen in ihren Fluchten irreguläre Verhaltensformen, Kaninchen schlagen Haken, was sie in der „normalen“ Bewegung nie tun. Dabei schlagen sie die Haken so, dass sie auch durch langjährige Beobachtung nicht vorausgesagt werden können. Taumelkäfer schwimmen, wenn sie angegriffen werden, unter stetigen Richtungswechseln durcheinander, Eidechsen werfen ihren Schwanz ab, der sich dann am Boden ringelt, wie es sonst das Tier tut, und Nachtschmetterlinge fliegen unberechenbare Loopings. Der Flucht eignet ein unberechenbares Element an, das soweit gehen kann, dass sich dieses Verhalten jeglicher Domestikation entzieht. Ausgesprochene Fluchttiere, wie die meisten Hirsch- und Antilopenarten, lassen sich schon naturgemäß nicht in Gehege einpferchen. Darin geraten sie schnell in Panik und sterben vor Angst oder im Anrennen gegen Zäune oder Mauern, die ihnen den Fluchtweg versperren. Wer auf der Flucht zehn Meter hoch springen und 80 Kilometer schnell laufen kann,
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tun, wenn sie vor LÜwen, Leoparden oder Geparden in die Weite der Savanne springen. Oder auch, und da wird es dann medial, wie fliegende Fische, wenn sie vor ihren Räubern aus dem Wasser in die Luft springen und meterweit ßbers Wasser fliegen. Fluchtbewegungen sind im besten Sinne kreativ. Sie fßhren nicht selten in andere Räume als die heimatlichen. Die Wanderungen von ZugvÜgeln, von Säugetieren in der Serengeti oder die Wanderungen der Lachse periodisieren den Wechsel zwischen ihren vertrauten Territorien und dem langen Zug durch Gegenden ohne Besitzmarkierung ßber ihre gesamte Lebensspanne. Die Wanderungen bilden die Fluchtlinien aus dem vertrauten Raum und Üffnen die Tiere fßr neue Wahrnehmungen, die dann auch Ausdruck werden kÜnnen.
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wird nie zum Haustier wie Pferd oder Schaf. In der Flucht kommen Unberechenbarkeit und Widerständigkeit gegen den Domestikationsprozess zusammen. Wobei Fluchtverhalten nicht unbedingt mit dem Verlassen eines angestammten Territoriums in Verbindung steht. Warzenschweine etwa treffen ihre Fluchtvorbereitungen in ihrem angestammten Wohnrevier. In gemessenen Abständen graben sie sich FluchthĂśhlen in ihr Revier, in die sie, wenn sie von Leoparden angegriffen werden, abtauchen kĂśnnen. Ă„hnlich sieht die Flucht der Ratten aus. Bei Angriff ziehen sie sich in ihren Bau zurĂźck. Fluchtverhalten kann also ebenso im „eigenen“ Territorium an dafĂźr vorgesehenen Orten stattfinden, wie es einen Gestaltwechsel beinhalten kann, etwa wenn Eidechsen ihren Schwanz abwerfen und Kaninchen Haken schlagen. Formationen, wie Deleuze und Guattari sie analog in der Literatur Kafkas fanden. Gregor Samsa wird in seinem Haus zum Käfer, um dem Horror des BĂźros zu entfliehen. Und der Dachs in Kafkas Geschichte „Der Bau“ zieht sich eben in jenen Bau zurĂźck. Deshalb kĂśnnen Deleuze/Guattari ihr Tier-Werden als eine Schreibposition verstehen: Mit dem TierWerden verlässt der Schriftsteller, oder allgemeiner: der KĂźnstler, den Raum der vermessenen Territorien und gelangt so ins Offene, noch nicht Beschriebene, ähnlich wie es Gazellen
Infos und Leseprobe unter heyne.de
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MUSIK
MARNIE STERN
MARNIE STERN
LOVE FOR GUITARS, DOGS AND CIGARETTES
Sie ist eine Gitarrengöttin und will nicht so genannt werden. Sie lebt den Rock’n’Roll und geht doch nie aus: Marnie Stern. Ihr drittes Album heißt wie sie und erschien im Oktober auf Kill Rock Stars Text — L I Z W E I D I N G E R , Foto — D A V I D T O R C H
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MUSIK tern ist Musikerin, hauptberuflich. Sie hat eine Band, ein Schlafzimmer voller Gitarren und ein musikalisches Markenzeichen – das Fingertapping. Sie ist unendlich lange auf Tour, nie zufrieden mit sich und ihrem Sound und konstant pleite. Für dieses Leben hat Stern hart gearbeitet, geübt und penetrant ihre Demos verteilt, bis Anfang 2007 ihr Debüt „In Advance Of The Broken Arm“ erscheinen konnte. Mit einem Sound zwischen Art-Metal, MathRock und ein bisschen Verschnauf-Pop füllt sie jetzt schon das dritte Album. Die kurzen Momente des Luftholens sollte man nicht ungenutzt an sich vorbei ziehen lassen, denn viele gibt es davon nicht.
Charakter Immer noch prägen Einflüsse wie Hella – dessen Zach Hill Sterns Drums spielt –, Orthrelm oder Deerhoof den Sound. Trotzdem habe sich seit 2007 einiges verändert, erzählt Stern im Interview. Der Schwerpunkt habe sich vom Experimentellen hin zum Songwriting verschoben: „Das erste Album war wild, das zweite Spaß und das dritte ist emotionaler und vielleicht auch stärker als die anderen. Zwar brauchen die Songs ein bisschen länger, aber wenn sie dich mal eingesogen haben, lassen sie nicht so schnell wieder los.“ Stern betont in Interviews und bei ihrer freizügig verteilten KollegInnenkritik immer wieder, wie wichtig es sei, Charakter und Herkunft hinter der Musik zu spüren, und macht dies zu einem Qualitätsmerkmal für Musik schlechthin. Bei ihren eigenen Stücken fällt es nicht schwer, sich die 34-jährige New Yorkerin zweifelnd, wütend, rauchend und abwechselnd Kaffee und Bier trinkend in ihrem charmantuntrendigen Apartment auf Manhattans Upper East Side vorzustellen, das sie angeblich tagelang nicht verlässt, um Musik zu schreiben. Danach klingt auch ihr Album – nach vollen Aschenbechern und Herzschmerz, nach klebrigem Tisch und Ungewissheit. Auf das Unzulänglichkeitsgefühl angesprochen, das in Zeilen wie „It’s not enough. I’m not enough“ aus „Transparency Is The New Mystery“ oder „Risky Biz“ immer wieder Thema ist, antwortet Stern fast zu klassisch: „In den Songs geht es um eine Beziehung, in der ich das Gefühl hatte, nie kreativ oder gut genug zu sein, um seine Aufmerksamkeit zu halten.“ In „For Ash“ besingt sie sogar einen ehemaligen Freund, der sich umgebracht hat. Der sofort losrasende Track ist die erste Single-Auskopplung und auch der Opener des Albums – für Stern war er wichtig, um ihren Ex-Freund weiterleben zu lassen und die guten Erinnerungen an ihn zu feiern. Man glaubt ihr also, wenn sie über das neue Album sagt: „In Bezug auf die Lyrics ist die Platte viel direkter und gibt sehr viel von mir und meinem Leben preis. Ich hatte ein paar echt harte Monate, die in den Songs durchscheinen.“
Sonderfall Frau mit Gitarre? Auch wenn sich ihr Leben zwischen persönlichen Krisen, (selbstgewähltem) Musikprekariat und Rock’n’Roll eigentlich nach ganz typischem Musikerlifestyle anhört, wird Marnie Stern gerne als Ausnahme gefeiert. Besonders in anspruchsvolleren journalistischen Formaten steht oft ihr Geschlecht im Mittelpunkt der Betrachtung: So wird sie vornehmlich als eine der wenigen Frauen im Rock bezeichnet, die viel besser Gitarre spielen, als all die GitarrenPoser und Macho-Männer. Beigetragen dazu hat sicher das Fingertapping à la Eddie Van Halen, das Marnie Stern zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Dabei werden die Gitarrenseiten nicht gezupft, sondern am Griffbrett geklopft – richtiges (stereotyp männliches?) Handwerk. Das sieht auf der Bühne bisweilen komisch, aber auch eindrucksvoll aus. Immer
„So verwundert es andererseits auch nicht, dass Sterns Musik in der Nachfolge von „Riot Grrrl“Bands wie SleaterKinney oder Bratmobile rezipiert wird, die mit ihren feministischen Parolen nicht nur die amerikanische Subkultur der 90er geprägt haben.“ wieder betont Stern, dass sie sich dieses Handwerk selbst beigebracht habe und weniger von Metalbands als von Noise-Bands wie Lightning Bolt oder Hella inspiriert sei. Diese, nicht nur mediale Stilisierung zur weiblichen Ausnahme empfindet sie als falsch, zumal sie sich mit ihren – oft zu Recht als Phallussymbol gelesenen – Gitarren auch nicht als Eindringling in eine männlich dominierte Szene verstehen möchte. Vielmehr versuche sie, nicht über diese Geschlechtersache nachzudenken: „Ich glaube, dass das Problem da anfängt, wo wir Differenzen ziehen. Ich würde sehr viel lieber als Individuum statt als Mädchen gesehen werden.“ Ein frommer Wunsch, für dessen Umsetzung schon einige Leute geackert haben und vermutlich noch eine ganze Weile weiterackern werden.
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So verwundert es andererseits auch nicht, dass Sterns Musik in der Nachfolge von „Riot Grrrl“-Bands wie Sleater-Kinney oder Bratmobile rezipiert wird, die mit ihren feministischen Parolen nicht nur die amerikanische Subkultur der 90er geprägt haben. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als habe Stern thematisch mit den Zielen der „Riot Grrrls“ nicht mehr viel am Hut, sagt sie: „Ich liebe diese Bewegung. Sie hat mich ungemein inspiriert und ich glaube nicht, dass mir Geschlecht so unwichtig sein könnte, wenn es die Pionierarbeit dieser Bands nicht gegeben hätte.“
Tropische Küsse Statt sich um ihr Geschlecht zu kümmern, entwickelt sie lieber spontan zusätzliche Einkommensideen. Als Stern und ihre Band auf einer ihrer letzten Tourneen kein Geld mehr hatten, um einen Strafzettel zu bezahlen, bot sie einen Verkaufsstand für Küsse an: 3 Dollar für einen Kuss auf die Wange, 10 Dollar für die Lippen und 100 Dollar für einen Zungenkuss. Letzterer wurde leider nicht verkauft, dafür aber extra lange Wangenküsse; schließlich musste das Event von den Fans auch fotografisch festgehalten werden. Eine Veranstaltung, die letztlich auch in unterschiedliche Richtungen gender-politisch lesbar ist: Sei es als Form der Selbstermächtigung oder als Inszenierung, die zeigt, dass Stern statt über, in stereotypheterosexuell geprägten Diskursen handelt. Nach der Tour wieder zurück in New York, hängt sie vorgeblich in ihrem Apartment ab, schaut fern und bleibt auch ansonsten lieber zu Hause. Manchmal wagt sie zum Rauchen einen Schritt auf den Balkon ihres Apartments im 16. Stock. Auf die Frage, warum sie dann noch mitten in Manhattan lebe, antwortet sie nur: „Ich sollte nicht mehr hier sein. Ich würde gerne irgendwann mal an einem tropischen Ort leben, mit einem kleinen Haus und einem Garten für meinen Hund.“ Wie ihre Musik dann wohl klingen würde, bleibt abzuwarten. Bis dahin sollte man unbedingt von ihrer Rastlosigkeit und Unzufriedenheit profitieren, denn mit einem Cocktail am Strand, ist es damit bestimmt nicht mehr weit her. Marnie Stern – “s/t“ (Souterrain Transmissions/RTD)
Tourdaten Deutschland, präsentiert von OPAK: 01.12.10 München, Kranhalle @ Feierwerk 06.12.10 Hamburg, Prinzenbar 07.12.10 Berlin, Comet Club
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CHRISTIANE RÖSINGER IRGENDWANN GIBT ES KEIN ZURÜCK MEHR Mit „Songs Of L. And Hate“ hat Christiane Rösinger ein fantastisches Solo-Album gemacht. Ein Gespräch über Melancholie, Arbeit und das Nachtleben
Nach all den Jahren nun ein Solo-Album. Wie kam es dazu? Ich wollte schon immer mal eine SingerSongwriter-Platte machen. Schon damals als 14-Jährige hat mich Leonard Cohen sehr begeistert. Die Songs für „Songs Of L. And Hate“ habe ich in Lagerfeuerversionen auf der Gitarre geschrieben, Andreas Spechtl hat sie dann arrangiert bzw. verfeinert. Er hat alle weiteren Instrumente gespielt: Klavier, Harmonika etc. — Du textest dich ja am Alltag entlang. Viele Leute könnten denken, deiner Persönlichkeit über die Musik näherzukommen. Inwiefern ist da etwas von dir selber drin? Es ist alles. Ich bin noch so eine alte Authentizitätsnudel, auch wenn „Authentizität“ mittlerweile zum Schimpfwort geworden ist. Mir geht es um eine romantische Kunstauffassung: Leben als Poesie und Poesie als Leben. Mir geht es meist um selbst erlebte Geschichten oder Gefühle. Was natürlich nicht bedeutet, dass meine komplette Persönlichkeit in den Songs aufgelöst wird, es gibt schon noch mehr Facetten. Selbst bei Schriftstellern finde ich das Autobiografische meist am besten. Wenn man lange an einer Sache leidet oder darüber nachdenkt, ist es möglich, auch mit einfachen Worten viel tiefer zu dringen, als wenn man sich nur etwas vorstellt. Es gibt bestimmt auch Leute, die können so etwas konstruieren, aber ich nicht. — Leiden ist ein ständiges Thema, die Worte Depression und Desillusion tauchen häufig auf, auch in deinem Buch. Geht es um pathologische Zustände?
Lange Zeit war Melancholie mein Thema. Ein Begriff, der sich mit Schwermut übersetzen lässt, wozu ich schon einen Hang habe. Es heißt ja, dass Melancholie eine Modekrankheit des 19. Jahrhunderts war, mit Hypochondrie zusammen, Ohnmacht … – alles Melancholie! Und jetzt im 21. Jahrhundert ist halt Depression die Volkskrankheit. Unglaublich viele Leute sagen: „Ach, ich bin so deprimiert.“ Ich habe mich mit einem befreundeten Psychologen unterhalten. Der meinte, depressive Stimmungen hat jeder mal. Wenn jemand wirklich depressiv ist, geht er auch nicht aus dem Haus. Er würde keine Konzerte geben, keine Platten machen. Nein, depressiv bin ich nicht. Aber es gibt diese Neigung zur Melancholie, zum Grübeln und Darübernachdenken. Genau davon handelt auch die neue Platte. In dem Song „Es ist so arg“ geht es darum, dass jeder noch depressiver als der andere sein will. Das ist wie ein Wettbewerb. Manchmal denke ich – jetzt mal diejenigen ausgenommen, die wirklich leiden –, dass es ja fast schon ein Lifestyle-Accessoire geworden ist, zur Therapie zu gehen. Das war früher nicht so. — Hat das Schwermütige denn etwas Schönes für dich? Kannst du es vielleicht sogar genießen? Es gibt ja diese schöne Schwermut, für die Victor Hugo ein Bonmot geprägt hat: „Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein.“ Manchmal wünschte ich mir natürlich, ich wäre etwas leichtlebiger, würde mir weniger Sorgen darüber machen, wie es weitergehen soll. Und die Antriebsschwäche, nicht aus dem Bett zu kommen, empfinde ich schon als lähmend. Aber damit haben ja viele Leute zu kämpfen. Die fragen dann den Arzt und der sagt ihnen: „Einfach morgens Gymnastik machen!“ Aber
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wie soll das denn gehen, wenn man morgens nicht aus dem Bett kommt? (lacht) Andererseits sind die Leute, die schöne Musik machen, alle eher depressiv. Ich höre lieber traurige Lieder. Ein Lied, in dem es heißt: „Ich bin so happy, das Leben ist schön!“ – das will man doch nicht hören, oder? — Eigentlich nicht … … zum Tanzen vielleicht. Aber ich bin nicht so eine Tänzerin. — Eine pauschale Frage: Ist Desillusion gut oder schlecht? In dem Moment des Erlebens ist sie erst einmal schlecht. Aber so ein desillusionierter Blick auf die Welt ist schon gut. Das ist so ein natürlicher Reifeprozess. — Du meinst, zuerst ist man naiv genug zu glauben, alles wende sich zum Guten, und dann … … dann besteht die Stärke darin, trotzdem weiterzumachen. Die Kunst besteht darin, nicht total zu scheitern, sondern mit den minimalen Möglichkeiten das Beste daraus zu machen. Desillusioniert aber tätig weiterzuleben. Was ich halt ganz schlimm finde, ist so eine Altersdesillusion, die viele Leute um die 50 haben: „Alles schon gesehen … Die jungen Leute sind alle scheiße … Hat doch alles keinen Sinn!“ Das ist natürlich abscheulich. Ich glaube zwar nicht mehr an die Liebe, dass man in einer Beziehung glücklich sein kann und dass ich eine international gefeierte Sängerin werde. Aber ich kann immer wieder neue Sachen machen, die dann auch gut sind. Ich mag auch keine Leute, die vom Nacht-
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Text — O L I V E R K O C H , Fotos — C H R I S T I N A Z Ü C K
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leben total desillusioniert sind: „Weggehen, und all die Leute sind jünger als ich …“ – das ist doch alles Quatsch! Als ich jung war, hingen auch immer alte Typen am Tresen rum, das war mir doch egal. Ich gehe nach wie vor gern auf Konzerte oder in Bars. Ganz oft ist es langweilig, immer dasselbe. Aber einmal, da kommt dann so ein Abend, da macht es richtig Spaß! Und da möchte ich nicht desillusioniert sein. Das ist dann Abschlaffen und Aufgeben! — Ist das Ausgehen für dich heute noch so wichtig wie vor 15 Jahren? Eigentlich schon. Ich habe es ja immer total hochgehalten. Man muss ausgehen, jeden Tag! In den 1980er und 1990er Jahren war ich viel aus, habe ja noch die Flittchen-Bar gemacht am Ostbahnhof. Es gab in den 1990ern die ganzen illegalen Bars in Berlin. Und dann? Ich bin kein großer Fan von Elektronik und Clubs und bin deshalb auch nicht hingegangen. Jahrzehntelang habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen gehabt: „Mann, jetzt gehst du da nicht hin und bist total abgeschlafft! Du interessierst dich für gar nichts mehr!“ Aber dann habe ich gedacht: Ich mag die Musik nicht so, ich tanze nicht, ich habe aufgehört, Drogen zu nehmen, und halte nicht mehr so lange durch. Also, was soll ich denn jetzt da?! Es ist okay, es ist nicht deine Szene, du kannst auch zu Hause bleiben. Ich vertrage leider auch nicht mehr so viel Alkohol, das ist wirklich ein Nachteil des Älterwerdens. Früher konnte ich wirklich wahnsinnig viel saufen! Auf Konzerte gehe ich immer noch gern, auch wenn ich meistens nur draußen rumstehe. Drei- oder viermal die Woche bleibe ich aber zu Hause. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass ich ja immer Ausgehkolumnen geschrieben habe. Für die taz und FM4. Das Ausgehen war mein Thema. Aber eigentlich kann man ja über alles mögliche schreiben! — Man fragt sich ja immer, wie du eigentlich über die Runden kommst … Naja, ich schreibe diese wöchentliche Kolumne für FM4 und bin sehr sparsam, meine Wohnung kostet nur 320 Euro Miete. Ich lebe bescheiden, aber effektiv! (lacht) Aus Klamotten mache ich mir nichts, für’s Trinken und Ausgehen gebe ich viel aus. Ab und an schreibe ich für die taz, für mein Buch habe ich einen Vorschuss bekommen, habe 40 bis 50 Lesungen gemacht, wofür man auch nicht viel Geld bekommt, aber es summiert sich. Die Platte ist bei Warner verlegt, da habe ich auch einen kleinen Vorschuss bekommen. Zwischendurch mache ich auch mal Inventur in Buchläden von Freunden, arbeite auch mal für 8,50 die Stunde. Ich schlage mich halt so durch.
Im Moment bin ich so abgesichert wie schon lange nicht mehr. Absurderweise habe ich sehr gut bei Panels zum Thema Prekarisierung verdient. Ich weiß nicht, ob Thomas Meinecke den Begriff „Panel-Proletarier“ geprägt hat. Jedenfalls gehst du da hin und kriegst Geld dafür, wenn du über deine schlimme Situation redest. Aber dieser Nebenerwerbszweig ist etwas durch, glaube ich.
Manchmal bedauere ich die Leute zwischen 28 und 35. So ein unglaublicher Stress! Beruf finden, Familie ja oder nein, Kinder ja oder nein (...) Ich finde das jetzt viel besser. Ich muss mir nicht überlegen, ob ich noch Kinder will, muss mir keine Gedanken um einen Beruf machen. Das ist eine ganz privilegierte Stellung! — Schlägst du dich aus Überzeugung durch? Wenn ich reiche Eltern hätte oder viel Geld verdienen würde, würde ich es nicht machen. Wie meinst du das? — Naja, könntest du dich nicht um eine Festanstellung als Literaturwissenschaftlerin bemühen? Magistra habe ich 1993 gemacht. In der Zeit war ich gerade bei Sony Music, es lief ganz gut und ich entschied mich für die Musik. Bis 1996 habe ich die Lassie Singers gemacht, dann Flittchen-Records und Britta. Als die FAZ mit den Berliner Seiten nach Berlin kam, fing ich an, viel zu schreiben. Naja, die haben dann aufgehört und irgendwann, wenn das Studium zehn Jahre zurückliegt, dann wirst du auch nicht mehr genommen. Zwischendurch habe ich mich für diverse Jobs beworben,
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aber nichts ging. Vielleicht war meine Biografie daran schuld. Wenn du noch nie irgendwo gearbeitet hast, dann kommst du irgendwann nicht mehr rein. Das ist aber eigentlich ein ganz guter Punkt, denn du bist gezwungen, einfach so weiterzumachen. — Empfindest du das Liederschreiben als Zwang? Wie sehen deine Tage aus? Erst einmal depressiv im Bett liegen. (lacht) Jahrelang war ich immer ein bisschen verkatert. Ich muss dazu sagen, ich habe ein Kind alleine großgezogen. Ganz so easy war es jetzt auch nicht. Neben dem Studium habe ich bei Woolworth und Karstadt gearbeitet, Heinzelmännchenjobs gemacht. Und dann war eine Zeit lang das Nachtleben so wahnsinnig wichtig. Aufgewacht, noch so ein bisschen benebelt, irgendwas gemacht, Kind kam von der Schule und ich habe mich eigentlich nur auf den Abend gefreut. Und heute? Meine Regel: Bis um 10 bist du aus dem Bett! Außerdem muss ich gerade täglich an meinem neuen Buch schreiben. — Hast du feste Zeiten? Ich habe das probiert, Thomas Mann als Vorbild. (lacht) Ja, ich stehe auf, setz mich an den Schreibtisch: Spiegel Online, Pac-Man, Facebook, paar Sätze geschrieben, wieder eine Runde Pac-Man gespielt. Es ist wirklich schrecklich, es ist furchtbar. (lacht) Eigentlich ist es komisch: Man schlägt sich durchs Leben und hat zwischendurch total viel Zeit. Manchmal wird das schon zur Belastung. Und dann ist auf einmal total viel los. Jetzt gerade mit der Platte: Proben, Interviews, Linernotes, Grafik. Dann bin ich für zwei Wochen in Schottland, habe eine „Writer in Residence“-Einladung bekommen, müsste eigentlich noch zwei Vorträge halten. In den letzten Tagen dachte ich: Ach, es fehlt mir schon, dass ich mal so einen Tag rumhängen kann. Es stimmt ja auch nicht, dass in der Zeit, in der man rumhängt, nix passiert. Das braucht man, um wieder auf irgendeine Idee zu kommen. Ich denke immer, dass dieses Liederschreiben so gar keine Arbeit ist, das hört sich so blöd an, so metaphysisch: Die kommen dann fast so zugeflogen, die Lieder. Manchmal ist es nur eine Zeile, eine Melodie, dann geht es schnell. Aber es geht nur, wenn man tagelang … das kommt nur durch dieses Rumhängen! Und ich glaube – um wieder auf das Thema Depression bzw. Melancholie zu kommen –, das Schlimme ist nur, dass man dann denkt: Oh Gott, ich müsste viel mehr arbeiten! Das Komische ist, dass ich jetzt im hohen Alter immer noch nicht kapiert habe, dass das, was ich mache, ja eigentlich Arbeit ist. Manchmal sage ich mir aber auch: Ach ja, die ganzen
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Leute in ihren Büros, die arbeiten auch nicht 8 Stunden, die spielen auch Pac-Man und machen Facebook. — In deinem Buch „Das schöne Leben“ schreibst du an einer Stelle: „Was will man machen. Eigentlich nie mehr arbeiten!“ Und ich habe es echt hingekriegt! (lacht) Im Gegensatz zu allen anderen meiner Bekannten, die normal Abitur gemacht haben, komme ich ja aus einer Schicht, wo zumindest Mädchen nicht aufs Gymnasium gingen. Ich habe mal irgendwo gelesen, das katholische Landmädchen der 1960er Jahre war eine Bildungsverliererin wie der migrantische Junge heutzutage. Und dann musste man halt in die Lehre. Es ist echt krass, mit 17 eine Lehre zu machen. Ich war ja in einer Buchhandlung. Und irgendwie war das auch toll für meine Sozialisation, das war für mich die Welt da raus. Aber den ganzen Tag in diesem Scheißladen! Morgens um 8 anfangen, zwei Stunden Mittagspause, wo du auch nichts machen kannst. Bis halb 7 im Laden … das war ein Schock für mich. Da habe ich mir gedacht: Nie mehr arbeiten, nie mehr in einem Büro oder in so einem Laden! Später ist es dann so, dass man eigentlich viel mehr arbeitet, wenn man nicht qualifiziert ist. Wenn du 8-Euro-Jobs machen musst, dann
musst du eigentlich mehr arbeiten. In meiner Biografie setzte die Desillusionierung mit 17 oder 18 in der Lehre ein. Nie mehr arbeiten! Und dann eine Familie gegründet, mit 20 ein Kind. Das kann es nicht sein. Also so will ich nicht … Diese Vorstellung von einer romantischen Liebesbeziehung und dann diese Kleinfamilie … Das will ich nie mehr haben. Aber es scheint da eh gerade so einen Backlash zu geben. In den 1980ern hat man gedacht: „Das kriegt man alles selber hin, man kann auch gut ein Kind alleine großziehen“, obwohl es ja nur 50 Mark Kindergeld gab. Wenn ich jetzt mit Frauen um die 35 rede, das scheint alles so wahnsinnig schwierig zu sein, ein Kind alleine: „Das schaffe ich nicht!“ Als ob sich alle weniger zutrauen würden als früher. Manchmal bedauere ich die Leute zwischen 28 und 35. So ein unglaublicher Stress! Beruf finden, Familie ja oder nein, Kinder ja oder nein – überall muss man sich so arg entscheiden und Weichen stellen! Ich finde das jetzt viel besser. Ich muss mir nicht überlegen, ob ich noch Kinder will, muss mir keine Gedanken um einen Beruf machen. Das ist eine ganz privilegierte Stellung!
Kann ich natürlich total nachvollziehen. Aber was macht man eigentlich so anders? Ich setze mich nicht mit dem Laptop ins Café! (lacht) Inzwischen hat man sich schon daran gewöhnt, aber als es so neu war, dieses Wichtigtuerische, das hat mich total genervt. Es nervt mich auch, wenn ich mal Bahn fahre – diese ganzen Scheiß-Geschäftsmänner, die tun immer wichtig, spielen aber in Wirklichkeit nur. Und diese ewige Vernetzung! Wenn man dann guckt, was machen die denn eigentlich?! Das ist gar nichts! Das kommt mir immer so vor wie bei „Des Kaisers neue Kleider“, wo dann der Junge schreit: „Die sind doch nackt!“ Christiane Rösinger: „Songs Of L. And Hate“ (staatsakt./RTD) ist im Oktober 2010 erschienen Tourdaten: 30.11.2010 Hebbel am Ufer – HAU 1, Berlin 01.12.2010 Skala, Leipzig 21.01.2011 Theater am Alten Markt, Bielefeld 22.01.2011 Mousonturm, FFM 12.02.2011 Uebel & Gefährlich, Hamburg
— Auf dem neuen Album gibt es einen BerlinSong. Da schimpfst du ganz schön über … … die Laptop-Poser.
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SAALSCHUTZ IHR SEID SCHÖN DJ Flumroc und M T Dancefloor sind Saalschutz. Seit 2001 polarisiert die gelinde gesagt „sehr direkte“ Spielart der Züricher Ravepunk-Mischpoke. Und das als schüchterne Nerds! Saalschutz über Etikettierungen, Protest und Baile Funk
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Text — K R I S T O F K Ü N S S L E R
Sind Saalschutz Hedonisten? Warum man etwas ist oder nicht ist, ist meist nicht ganz einfach zu erklären. Wir setzen in der Regel mehr auf die Verminderung von Schmerz als auf die Vermehrung von Lust, vielleicht sind wir „negative Hedonisten“. Vielleicht ist die Abwesenheit von Schmerz wirklich das höchste der Gefühle?
dung, etwas Zwecklos-l'art-pour-l'art–mäßiges zu machen, und die Suche nach Sinn und Standpunkten ästhetisch zu subversieren. Man scheut den verbindlichen Sinn wie der Teufel das Weihwasser und hat Angst vor dem Zur-Hölle-Fahren, sobald der Augenblick verweilen soll. Vermutlich ist diese Realitätsflucht zum Scheitern verurteilt.
— Seht ihr euren Schlachtruf „Alles Wegburnen“ als bewusste Form eines popkulturellen Widerstands oder eher als Teil des Ganzen in Form von Flucht? „Alles Wegburnen“ ist eine Pose, ein Schlagwort. Das ist abgegriffen und hat keine tiefe Bedeutung. „Alles“ beinhaltet ja auch einen selbst, aber bis jetzt sind wir immer noch da, deshalb erkennt man die Lüge. Wenn etwas bewusster Widerstand ist, dann die Entschei-
— Ist Saalschutz demnach „nur“ eine Band? Wir haben viel experimentiert mit Haltungen, „so authentisch es geht“ bis „extrem distanziert-hochironisch“. Hat alles seine Berechtigung. Wir haben uns eine Zeit lang eher als Schauspieler verstanden, die eine Band spielen, so eine Art Kunstprojekt. Dann war es wieder mehr eine distanzlose Rockshow. Und viele Schattierungen dazwischen. Aber den Leuten sagen, was sie zu tun haben, wollen wir nicht.
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Hattet ihr eine Punk-Sozialisation? Oder anders gesagt: Kein Ravepunk ohne Punk? Wir hatten eine Metal-Sozialisation. Ravepunk ist eine Stichelei gegen die Gralshüter des „wahren“ Punk. Es ist ein Kommentar: Alles ist heute Punk, der Bäcker unten an der Ecke etc., da gibt es ja dieses tolle Video von Helge Schneider dazu. Punk hat für uns überhaupt keine Bedeutung, wir wissen nicht mal, was das sein soll, außer einer Etikettierung. — Seid ihr bei Konzerten ein Teil der Masse oder kann es auch passieren, dass ihr von einer soziologischen Warte aufs Publikum seht und beobachtet, was sich da eigentlich so Interessantes abspielt? Da besteht schon strukturell eine Trennung, alleine weil wir „da oben“ stehen und die Leute „da unten“. Wir glauben nicht an die-
MUSIK
— Die Popkultur will von jeher gerne einen Soundtrack oder auch eine Initialzündung für jugendliche Revolten geliefert haben, letztendlich ist diese Vorstellung aber auch reichlich naiv. Inwieweit hat Pop überhaupt mit Protest zu tun? Pop kann insofern ein Soundtrack für eine „Protestbewegung“ sein, als dass sich viele Personen im Namen eines „Protests“ auf eine gemeinsame musikalische Ästhetik einigen. Oft scheint es direkte Entsprechungen zwischen den Klängen und dem Protestinhalt zu geben, wie z. B. aggressive, laute Musik in Entsprechung zu großer Wut und Unzufriedenheit. Auf der anderen Seite gibt es oft auch sehr leise „Protestmusik“, die (z. B. in repressiven
Jörg Kleemann
— Weiterentwicklung der Jugend-/Popkultur fand selten in der Mitte der Gesellschaft statt, sondern meist in den prekären Tiefen. Inwieweit habt ihr da einen Bezug, oder ist das in einem doch eher wohlhabenden kleinbürgerlichen Land wie der Schweiz überhaupt relevant? Das halten wir für einen Mythos. Viel Musik ist ein Mittelstandsphänomen und schon rein, um gehört zu werden, braucht es mindestens Koalitionen mit oder Goodwill von Figuren aus der „Mitte“. Kurz: Soziale Verhältnisse und kreatives Potenzial scheinen uns nicht in Korrelation zu stehen, da ist einfach alles möglich. Ein gutes Beispiel sind die verschlungenen Wege der Entstehung des Baile
Funk zwischen Europa, Amerika, Brasilien und zurück. Wo genau was davon und wann in prekären Tiefen oder in der Mitte der Gesellschaft entstand und verbreitet wurde, ist vielleicht interessant, auseinander zu dividieren. Wir für unseren Teil sind sehr mittelständisch und durchschnittlich aufgewachsen. Keine Scheidung, Vater arbeitet, Mutter zu Hause, kurze Arbeitslosigkeit des Vaters. Es ist gleichsam eine schweizerische Tradition zu versuchen, aus dieser kleinbürgerlichen Spießigkeit auszubrechen und immer wieder darauf zurückgeworfen zu werden. Es gibt sogar ein schweizerisches Wort für Spießer („Bünzli“), das sagt doch schon einiges: Hier gibt es eine eigene Sorte davon. Selbstverständlich gibt es auch hier Leute, die es schwer haben und die finanziell und sozial untendurch müssen. Slums, Seuchen und breit gefächerte Unterernährung haben wir noch keine gesehen, insofern sind die Menschen hier schon relativ sicher. — Wenn übermorgen der Über-Morgen ist, was kommt danach? Der Übermorgen von Morgen, der dann wiederum dessen Über-Morgen ist.
Saalschutz: Entweder Saalschutz (Audiolith/Broken Silence)
NEUES AUS DEM EXIL Über ein Land vor unserer Zeit
Ich bin so abgebrüht geworden. Seit Anfang des Jahres habe ich brutto etwa 170 Platten gehört, die Perlen muss man mit der Lupe suchen und der Rest ist bestenfalls nett. Aber nett ist kein Beruf. Meine Toleranzschwelle wird immer niedriger. Lieder, die mich nach einer Minute noch nicht berührt haben, skippe ich gnadenlos weiter. Liegt es am Internet, an iTunes, dem Zusammenbruch des Kommunismus, am 11. September oder an allem zusammen? Lichtjahre her, diese Zeiten, in denen ich mit zitternden Händen die neue Platte von, sagen wir es ruhig, Pearl Jam auf meinem vollautomatischen Plattenspieler der Marke Grundig legte, mir mit hungrigem Herzen die Vertonung meines Lebens erhoffte und meistens richtig lag. Aber war früher wirklich alles besser? Platten, mit denen man so gar nichts anfangen konnte, wurden so oft gespielt, bis man sich „reingehört“ hatte und sie dann doch noch „total geil“ fand. Es war eher Herausforderung, Auszeichnung und schließlich Qualitätsmerkmal, wenn man mehrere Durchläufe brauchte. „Fand ich auch erst scheiße, aber seit dem siebten Hören bin ich Fankurve“ – ein Satz, den ich in dem Zusammenhang dauernd sagte. Hinzu kamen die Platten, die man gar nicht scheiße finden durfte. Ein Dogma, von dem ich mich erst vor ein paar Jahren befreien konnte. Alles von Pink Floyd und besonders „Dark Side of the Moon“, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie oft musste ich diese Platte hören, dieses Feuerwerk der Einfältigkeit. Mit Geschmack brauchte man da gar nicht erst zu kommen, das galt als Mottenkugelfresserargument. Der einzige Vorteil war, dass es praktisch keine Fehlkäufe gab, der Nachteil, dass man sich
diese in seiner üppigen Freizeit schön hören musste. Aber das war längst nicht das Ende der Fahnenstange. Ich war auf Konzerten, für die ich mich jahrelang geschämt habe: Marillion, Simple Minds und sogar zwei Mal Sting. Außerdem musste man sich seine Lieblingsbands mit dickem schwarzem Edding auf einen verranzten Army-Rucksack schreiben. Da ich zwischenzeitlich in einer Punkband spielen durfte, hatte ich zwei verranzte Rucksäcke. Auf dem einen waren gut leserlich Bands wie A-ha, U2, Nirvana und – wir ahnen es schon – Pink Floyd verewigt. Auf dem anderen mir damals völlig unbekannte Bands wie Slime, Sex Pistols und unsere eigene Band „Der letzte Dreck“. Ich lernte über Musik zu reden, von der ich keinen blassen Schimmer hatte und gab mir wirklich Mühe, schrieb sogar einen Song, der „Verkehrte Welt“ hieß („Pisse trocken, Scheiße nass, Bier von der Kuh und Milch vom Fass“). Das war nicht wirklich gegen das System, obwohl ich da anderer Meinung war. Aber letztlich war ich einfach kein Profianarchist und so endete das Ganze, nachdem wir unsere erste Kassette eingespielt hatten – weil ich noch keine Lust hatte, mit dem Rauchen anzufangen und mich weigerte, mir unseren Bandnamen mithilfe der Tintenkulimethode auf den Handrücken tätowieren zu lassen. Dann lieber abgebrüht? Um mir nicht mein eigenes Musik-KolumnenGrab zu schaufeln, möchte ich betonen, dass mein hungriges Herz noch schlägt. Auch weil es ja schließlich noch ein ganzes Stück zu vertonen gibt. Davon nächstes Mal mehr, versprochen!
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J.K,
/J. K,
Verhältnissen oder auch nicht) genauso eine Wut auszudrücken vermag. Und genauso oft wird eine bestimmte musikalische Ausdrucksform einfach von einer Bewegung annektiert und für die eigene „Protestbewegung“ instrumentalisiert. Man findet also die ganze Spannbreite. Eine allgemeingültige Regel zu formulieren scheint sehr schwer zu sein. Inwiefern die musikalische Ästhetik hingegen die Ursache für die Wirkung „Protest“ sein soll, können wir nicht beantworten. Ist unserer Meinung nach oft überbewertet. Wir sprechen der Musik jedoch ganz klar eine integrative Funktion für allerlei Gruppierungen zu.
SAALSCHUTZ
ses Verschmelzungsmoment und magische Augenblicke, aber es gibt auf jeden Fall sehr rührende Szenen. Wenn die Leute plötzlich irgendein Detail von unserer CD rufen, wie z. B. „Ihr seid schön“. Es ist interessant zu schauen, andererseits passieren ja doch immer die gleichen drei Dinge: Alle haben Spaß, es gibt kleine Probleme, es gerät alles total aus dem Ruder. Letzteres hatten wir noch nie. Vermutlich geraten die Leute bei unseren Konzerten weniger in meditative Verzückung als bei irgendeinem Singer/Songwriter-Abend.
MUSIK
WAS FÜR EIN AFFENTANZ The Ape pfeifen auf rote Fäden Text — S T E F F E N S A U T E R , Foto — C H R I S T I A N P I T S C H L
THE APE
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ahllose Kinder, Freunde, Hunde und Musiker wuseln durch das Dachgeschoss im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Als plötzlich Dennis Poschwatta, Schlagzeuger der Guano Apes, im Raum steht und freundlich nach einem Kasten Bier fragt, wundert sich niemand. „Ich kann mir nicht vorstellen, bis zum Ende meines Lebens immer wieder die fetteste Bassdrum der Welt aufzunehmen“, erklärt Johann Scheerer, Hausherr des Studio- und Wohnkomplexes. Nicht zuletzt deshalb wendet sich der 27-jährige Soundtüftler nach längeren Produktionen mit La Stampa, Stella und den Kraut-Großvätern Faust, nun wieder seinem eigenen Projekt zu: The Ape. Gemeinsam mit Gitarrist Sebastian Nagel und einigen Gastmusikern hat Scheerer „Nothing but an Underapement“ komponiert, das zweite Album ihrer etwas verschrobenen Versi-
on einer Neo-Wave-Band. Für Hamburg eher unüblich, stehen Texte nicht im Vordergrund. Es geht um die Liebe zu Sounds. Um die Auseinandersetzung mit Klang-Details, von der die synthie-lastigen Indie-Songs von The Ape klar geprägt sind. Man müsse weg vom Prolo-Rock, sagt Scheerer. Das Songwriting ist streckenweise betont unschlüssig, mäandernd, Flächen verschieben sich, was gerade kontemplativ und monoton ausgewälzt wird, zerreißt plötzlich. Trotz wohltuender Unübersichtlichkeit ist „Nothing but an Underapement“ atmosphärisch konsistent und stiftet vornehmlich herbstliche Stimmung. Übrigens: auf das Album folgen Remixe von Tobi Neumann (Cocoon Rec.) und Efdemin (Dial) – man darf gespannt sein! The Ape – „Nothing But An Underapement“ (Clouds Hill/Cargo)
/T. L, /K. S, Tobias Levin, Kristof Schreuf
ICH KANN BEIM BESTEN WILLEN KEINEN SYNTHESIZER ENTDECKEN Ein missgünstiger Blues Schau nicht so genau hin Hör nicht so genau hin Wichtiger ist der Vertrag Den du zerrissen hast Dabei liebst Du Deinen Namen Einmal zweimal dreimal Aber nicht auf diesem Papier? Nicht auf diesem Papier Wir sollten uns weiter verändern In einem Hain unter Oliven Dort haben wir Dreck gewaschen Die Organisation gegründet Ich kann nichts versprechen, aber Dort stehen noch Säulen Warm von Deinen Umarmungen Kalt von Deiner Art Körbe voll Küsse fielen zu Boden Schlechte Geheimnisse Und schicke Rechtfertigungen Ein missgünstiger Blues Über diesen und jenen Die Sonne hängt über den Fliesen Nimmt, was sie im Kopf hat und lässt es reimen
Tobias Levin und Kristof
T.L, / K.S,
Schreuf komponieren Musik. Ein Vorabdruck ihrer Texte. An dieser Stelle.
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MUSIK
SCHEISSE PFLEGEN ST. PAULI FÜR Der Pudel Club feiert Jubiläum Text — J E N S B A L Z E R , Foto — L E E K O N
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amburg, herrliche Stadt an der Elbe! Doch hat die Hamburger Kultur ja zuletzt nur für Negativschlagzeilen gesorgt. Museen werden geschlossen, Theater kaputtgespart, ein außer Rand und Band geratener Kultursenator beschränkt sich auf die Pflege seines Polizeiorchesters. Auch in der Popmusik ist nicht mehr so besonders viel los, selbst der letzte Diskurspopbassist scheint inzwischen nach Berlin verzogen zu sein. Aber nein! Immerhin einen lebendigen Kultur-Ort von überregionaler Bedeutung besitzt diese einst so weltoffene Stadt noch: den Golden Pudel Club an der Hafentreppe unter der Reeperbahn. Im Dezember feiert dieses einmalige Gesamtkunstwerk aus Theaterbühne, RaveSchuppen und Diskurs-Tempel seinen 21. Geburtstag mit einer prächtigen Theatergala namens „Operation Pudel 2010“. Und auf dem hamburgischsten aller Berliner Schallplattenlabels, Staatsakt Records, erscheint unter dem gleichen Titel eine Doppel-CD, die die bekanntesten Künstler aus dem PudelUmfeld präsentiert: Die Goldenen Zitronen und Eule & Daddel, Harald Sack Ziegler, Augsburger Tafelconfect und viele andere. Der Pudel, mit dem die jüngeren Pop- und Clubmusikfreunde aufgewachsen sind, ist dabei ja schon die dritte Metamorphose dieser Institution: Als Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun 1989 die erste Variante des Clubs ins Leben riefen, lag der Pudel noch an einer Seitenstraße der Reeperbahn, mitten im Aids-halber gerade bankrott gegangenen Rotlichtbezirk. „Niemand wollte mehr in die Bordelle“, erinnert sich Ralf Köster, der heute das Pudel-Booking betreibt, „und auch die Peepshows funktionierten nicht mehr. Man konnte an jeder Ecke für wenig Geld eine bankrotte Rotlichtbar anmieten und einen Club daraus machen.“ – „Der zweite Pudel Club“, sagt Schorsch Kamerun, „lag dann im Schanzenviertel neben dem Schlachthof, das war ein Raum, für den wir einfach so den Schlüssel bekommen hatten.“ – „Da haben wir dann Country-Techno-Partys gefeiert“, so Köster: „Country mit Techno gemixt, und das auch noch total schlecht.“ Sehr beliebt seien auch die Dia-Vortrags-Abende gewesen, die Jacques Palminger veranstaltete. Bundesweit stil- und nachtlebenprä-
gend wurde indes eine Idee, die der Pophistoriker heute mit der dritten Phase des Pudel Club in Verbindung bringt: Schallplattenauflegen mit nur einem Schallplattenspieler! Selbst der windesgeschwindeste DJ hat hierbei eine kurze musiklose Pause mit originellem Conferencierstum zu überbrücken. Die Kulturtechnik, die sich daraus entwickelt hat, ist unter dem Namen Pudelieren längst enzyklopädisch. Die dritte und bis heute währende PudelPhase begann 1994, damals zog der Club in jene Räume am Hafenrand, die er immer noch bewohnt. Zuvor hatte sich hier die Kneipe „Zur Hafentreppe“ befunden, die allerdings nur für die Gäste des Fischmarkts geöffnet war: am frühen Sonntagmorgen zwischen 4 und 12 Uhr. „Noch früher“, behauptet Schorsch Kamerun, „wurde das Gebäude als Schmugglerknast genutzt.“ Ralf Köster: „Die ganze Gegend war absolutes Niemandsland, nur Ruinen. Wenn nicht gerade Fischmarkt war, traf man hier keine Menschenseele.“ Das ist inzwischen ganz anders: St. Pauli wurde im letzten Jahrzehnt so gentrifiziert wie sonst nur der Prenzlauer Berg. Doch während dort der letzte Club gerade von lärmempfindlichen Neu-Nachbarn vertrieben wurde, hat sich der Pudel bis heute gehalten – nicht zuletzt wegen seines konsequenten Engagements in nachbarschaftlichen Belangen. „Als der Hafenrand bebaut werden sollte“, sagt Ralf Köster, „haben wir das Projekt ,Park Fiction‘ mitbegründet: ein nachbarschaftlich bestimmter Park oberhalb vom Pudel Club. Hätten wir mit den Anwohnern nicht diese Freifläche beschützt, würde es uns heute nicht mehr geben.“ Um sein Existenzrecht zu behalten, musste der Club allerdings einen Sanitärkompromiss eingehen: Seine Toilette muss er auch für die Benutzer des Parks offenhalten. „Wenn morgens aufgeschlossen wird“, sagt Köster, „stehen die Obdachlosen schon vor der Hütte und rufen: Mach auf, wir müssen aufs Klo.“ Aber die Pudelbetreiber freuen sich, dass sie auf diese Weise ins Viertel eingebunden sind, oder wie es Schorsch Kamerun formuliert: „Scheiße pflegen für St. Pauli.“ Operation Pudel 2010, DCD (staatsakt./RTD)
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LITERATUR
THOMAS PYNCON, DENIS JOHNSON
MIT SCHIRM, SCHAM UND SCHABLONE
Mit Thomas Pynchon und Denis Johnson haben gleich zwei große amerikanische Autoren Krimis geschrieben. Ist das abwegig und altbacken? Text — L U C I A N E W S K I , Illustration — S I N A M Ö H R I N G
„D
er Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft“, so eine Beobachtung von Bertolt Brecht. Obwohl die Popularität des Genres ungebrochen ist, haftet diesem „Lesestoff für alle“ etwas niederes, triviales an. Krimi? Nichts weiter als die Geschichte von Mord und Aufklärung, die immer wieder erzählt wird – blanker Schematismus! Mit „Natürliche Mängel“ und „Keine Bewegung“ sind gerade zwei Übersetzungen großer amerikanischer Autoren erschienen, die von Mord, Betrug und Gewalt erzählen. Thomas Pynchon und Denis Johnson auf Verbrecherjagd? Das ist doch absurd!
Worum geht es? Mit Larry „Doc“ Sportello schickt Thomas Pynchon – das Phantom der Gegenwartsliteratur – einen von Marihuanaduft notorisch umnebelten Hippie-Schnüffler durch das Los Angeles der ausgehenden Flower-Power-Jahre. Der berüchtigte Immobilienhai Michael Wolfman nimmt eine ideologische Kurskorrektur vor: „Ich kann es nicht fassen, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, Leute für Wohnraum bezahlen zu lassen, wo er doch kostenlos sein sollte.“ Wolfmann investiert in eine futuristische Alles-UmsonstWohnanlage in der Wüste und ist daraufhin mit seiner Partnerin, Docs Ex-Freundin Shasta Fay Hepworth, spurlos verschwunden. Als schließ-
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lich ein Agent und Mitglied der rechtsradikalen Schlägertruppe „Kalifornien, erwache!“ ermordet wird, das Los Angeles Police Department in Person des Hippiehassers Bigfoot Bjornsen üble Machenschaften zu decken scheint, ein Haufen weißer Zahnärzte auftaucht und ein rätselhaftes Schiff namens „Golden Fang“ seine Runden dreht – da verknäult die Geschichte schließlich und Doc, mit einem „Weißafro von knapp 50 Zentimeter Durchmesser“ versinkt in einem vieldeutigen Durcheinander. Bei Pynchons Private eye, diesem verpeilten Slacker, ist allein aufgrund des THCs an Action kaum zu denken. Ganz anders bei Johnson. Er
LITERATUR
Wie „Krimi“ sind sie eigentlich? Wie abwegig ist eigentlich der HardboiledTrip dieser beiden Autoren? Zwar soll hier nicht behauptet werden, das alles geahnt zu haben. Gerade weil es um Krimis geht, wäre das Voraussehen ja doppelt vermessen. Trotzdem lassen sich „Natürliche Mängel“ und „Keine Bewegung“ in die Erzähltraditionen der Autoren einpassen. Bei Pynchon drängen sich Vergleiche auf: beispielsweise zu „Die Versteigerung von No. 49“, Pynchons erstem „kalifornischen“ Roman. Protagonistin Oedipa Maas, die als Testamentsvollstreckerin eines Ex-Lovers auf den Weg geschickt wird, entwickelt sich auf ihrer Reise durch Kalifornien selbst zu einer Detektivin, die aus einem Gewirr aus (autonomen?) Zeichen Zusammenhänge konstruiert, um eine Spur zu erkennen. Doc und Oedipa sind sich insofern ähnlich, als dass beide möglicherweise nur bedingt zu logischen Schlussfolgerungen fähig sind – Oedipas Kombinatorik könnte von Paranoia befeuert sein, Docs vom kiloweisen Weed-Konsum getrübt, auch wenn er diesen natürlich gekonnt zu rechtfertigen weiß: „Aber was ist mit Sherlock Holmes, der hat die ganze Zeit gekokst, Mann, das hat ihm geholfen, Fälle zu lösen.“ Stimmt auch wieder. Pynchon hat sich an Philip Marlowe, Sam Spade und Lew Archer orientiert, moralisch zweifelhaften Prototypen kalifornischen Zuschnitts, und den Pulvernebel rauchender Colts mit einer dichten WeedWolke vertauscht. Die macht Doc etwas lahm und vergesslich, lediglich die Spürnase, die bei Verdacht zu laufen beginnt, bringt ihn dem Ziel näher. Allgemein aber bewegt sich Doc nicht sonderlich zielorientiert durch die Geschichte und ist von tapsigen Taugenichtsen, Träumern und Durchgeknallten umgeben. Als Vertreter des Lesers innerhalb der Erzählung übernimmt Doc die Kombinatorik, in genretypischen Fragesätzen wird rekapituliert und Bilanz gezogen – Doc ist Detektiv.
Während Sportello durchaus identifikationsfähig ist, sind Johnsons Figuren ... Nein, nein, nein. So will man selbst als Gangster nicht sein! Zwar hatte Johnson schon immer dieses Hemingway-mäßige Faible für harte Typen – Männer, die sich allein durchbeißen, denen eingeschenkt wird, die wieder auf die Beine kommen. Männer, die jemanden killen und danach Kaninchen-Babys retten. Die Ganoven in „Keine Bewegung“ stehen klar in dieser Tradition, jedoch sind sie für Johnsons Verhältnisse geistlos, gottlos und unspirituell. „Keine Bewegung“ kommt ohne Detektiv und Kombinatorik aus, Ziel ist nicht die Aufklärung einer Tat, sondern das Entkommen. Der Roman ist deshalb, zumindest nach klassischen Genremerkmalen, kein Krimi, sondern ein Thriller. Obendrein einer, dessen Sinnlosigkeit von permanenter Action einem das Hirn rausflext! Was für die ursprünglich angedachte Zielgruppe nicht weiter schlimm sein dürfte. Denn Johnson hat „Keine Bewegung“ als Serienroman für den Playboy geschrieben. Oh nein, mögen einige sagen, für dieses Schmuddel-
„Aber was ist mit Sherlock Holmes, der hat die ganze Zeit gekokst, Mann, das hat ihm geholfen, Fälle zu lösen.“ Stimmt auch wieder. heft! Hier zwei Dinge zur Beruhigung: Erstens haben immer wieder seriöse Autoren für den Playboy geschrieben. Zweitens: Der Hustler wäre jawohl schlimmer gewesen! Außerdem hängt die tiefere Ironie der Erzählung gerade mit ihrem Publikationsort zusammen. Die oversexte Krankenschwester mag der Playboy– Leserschaft gefallen haben, ebenso Verwegenheit und Glamour der Frau Desilvera. Aber Johnson ist dahin gegangen, wo es dem Fleischheftleser richtig weh tut: Hoden sollen abgeschnitten werden! Und im Anschluss genüsslich am Tisch gegessen! Ständig ist davon die Rede, Käsemesser werden gewetzt – es ist so stumpf und banal, dass es eine Freude ist.
Für’n Strand oder die Bibliothek? Keine Frage, „Keine Bewegung“ überzeugt durch Krassheit. Der Roman ist eine sich über zweihundert Seiten erstreckende Verfolgungsjagd, erzählt im wahnsinnigen Tempo stumpfsinnigster Dialoge. Radikal puristisch, mit Ret-
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roelementen jonglierend, kann „Keine Bewegung“ jedoch nur als Tarantino-mäßige Fingerübung zum Genre gelesen werden. Irgendwie ein bisschen witzlos. Oder handelt es sich doch um einen verwinkelten Kommentar zum Lauf der Welt? Den nämlich liefert „Natürliche Mängel“. „Willkommen in einer Welt der Unannehmlichkeiten“, sagt Bigfoot Bjornsen schließlich, als Docs Los Angeles der Kifferhöhlen, Surfmusiker und endlosen Doper-Partys seine Unschuld verliert. Vietnam, der Aufstand von Watts, Heroin, der Angriff der Polizei auf friedliche Antikriegsdemonstranten in Century City, der Mord an zwei Panther-Führern auf dem UCLA-Campus durch nationalistische Gruppen, Reibereien zwischen Eigenheimbesitzern und Developers, Charles Manson und immer wieder Manson, der die „Cops“ zum nervösen „Vibrieren“ bringt. „Natürliche Mängel“ integriert historische Ereignisse, verdichtet den neuen Spirit der Stadt, des ganzen Landes vielleicht, und bezieht Konflikt- und Spannungslinien satirisch ein. Außerdem ist die untypische Enträtselungsgeschichte von „Natürliche Mängel“ bevölkert von Figuren und Ereignissen gewohnt herrlicher pynchonesquer Überzeichnung: Bigfoot Bjornsen, der mit seinen „beknackten Koteletten“ und dem „dämlichen Schnurrbart“ aussieht, als sei er aus dem berühmten Sabotage-Video der Beastie Boys gefallen; trottelige Zuhälter, Rocker, die auf ihren Motorrädern grundlos im Kreis fahren; Postkarten, die mit Katapulten zugestellt werden, all die unzurechnungsfähigen Typen im Dienste der Gerechtigkeit, die Filmverweise, albernen Songtexte, parodistisch überzeichneten Dialoge etc. Johnson mag nach allen Genreprinzipien eine perfekte Choreografie aufgeführt haben. Pynchon hingegen hat sich eine ganze Gattung gleich einverleibt. Thomas Pynchon: Natürliche Mängel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 480 Seiten, 24,95 Euro. — Denis Johnson: Keine Bewegung. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 208 Seiten, 17,95 Euro.
THOMAS PYNCON, DENIS JOHNSON
setzt offensiv auf Blut, Schweiß, Schießen und Sex. Als Inhaber des National Book Award (für „Ein gerader Rauch“) weiß er nämlich, was gut ist! Der trottelige Chorsänger Jimmy Luntz hat Schulden. Gambol, ein Gangster in teuren Hosen, Kamelhaarsakko und Strohhut, will sie eintreiben. Jimmy schießt und begegnet kurz darauf der ebenso verzweifelten wie glamourösen Anita Desilvera, die ihre Nachmittage Wodka trinkend im Kinosaal verbringt. Sie hat Probleme. Die Scheidung von ihrem Mann, dem Bezirksstaatsanwalt, setzt ihr zu. Außerdem ist da noch dieses Ding, was sie gedreht hat: ein Betrug über 2,3 Millionen Dollar. Eine Affäre entwickelt sich, permanent wird Auto gefahren, sich in Hotelzimmern versteckt und geflüchtet. Und am Ende? Am Ende ist man bei aller Einfachheit der Geschichte mit Glück so schlau wie vorher.
LITERATUR
GEORGES HYVERNAUD
EIN EINZIGES WAGNIS Mehr als sechzig Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung erscheint das Romandebüt von Georges Hyvernaud erstmals in Deutschland. „Haut und Knochen“ erzählt von der Rückkehr eines französischen Soldaten aus deutscher Kriegsgefangenschaft in die Pariser Nachkriegsgesellschaft. Ein Interview mit der Übersetzerin Julia Schoch, die für ihre Übertragung des Textes den André-Gide-Preis 2010 erhielt 1946 erschien ein Kapitel aus „Haut und Knochen“ in Sartres Zeitschrift „Les Temps Modernes“. Die Veröffentlichung des Romans 1949 und auch seines Nachfolgers „Der Viehwaggon“ (1953) haben allerdings nur geringe öffentliche Resonanz hervorgerufen. Woran liegt das? Zunächst einmal bescherte der Ausschnitt, der in Sartres Zeitschrift abgedruckt wurde, dem Autor durchaus Aufmerksamkeit. Zu dem Zeitpunkt, also schon ein Jahr nach Ende des Krieges, war auch das gesamte Buch bereits fertig. Leider hat das Manuskript noch drei Jahre in der Schublade des kleinen Pariser Verlags Edition du Scorpion gelegen. Hyvernaud ist bei der Wahl dieses Verlags der Empfehlung eines Freundes gefolgt. Aus heutiger Sicht eine Fehlentscheidung: Der Verlag war eher für Krimis und Erotikromane zuständig … Der eigentliche Grund für die Ablehnung aber war wohl, dass die meisten Kritiker und Leser Hyvernauds Radikalität, seinen kompromisslosen Blick auf den Menschen nicht ausgehalten haben. Das Buch muss damals wie ein Ruhestörer gewirkt haben. Es stand im Widerspruch zu allem, was der politisch-literarische Betrieb der Nachkriegszeit erwartete. Von ehemaligen Kriegsgefangenen wollte man erbauliche Geschichten lesen. Geschichten von Helden, die wenigstens in einem inneren Widerstand gelebt hatten. Hyvernauds Erzählung aber kam gänzlich unheldisch daher. Von einer Ausweglosigkeit, wie er sie schildert, wollte damals keiner etwas wissen. Obwohl sein zweiter Roman dann in dem renommierten Verlag Denoël erschien, erging es ihm nicht viel anders. — Wie ging es weiter? Hyvernauds Romane haben eine wahre Odys-
see hinter sich, was ihr Erscheinen in den verschiedenen Verlagen betrifft. Nachdem seine Bücher in den sechziger und siebziger Jahren in Vergessenheit geraten waren, kümmerte sich erst der Ramsay-Verlag und später, in den achtziger Jahren, der Verlag Seghers um den Autor. Als Seghers pleite ging, kaufte Le Dilettante, ein kleiner, aber feiner Pariser Verlag die Rechte an seinem Werk. Jetzt war die Zeit offenbar reif, jedenfalls wurden die Romane in den neunziger Jahren mit dem Jubel begrüßt, den sie auch früher schon verdient hätten. Leider ist Hyvernaud 1983 gestorben. Er hat diesen späten Ruhm nicht mehr erlebt. — Die frühe Rezeption von „Haut und Knochen“ ähnelt also den vom Erzähler im Roman selbst geschilderten Erlebnissen bei seiner Rückkehr in die französische Nachkriegsgesellschaft. Die Stilisierung der Kriegsgefangenen zu Helden, der Mythos von Kameradschaft steht einem Interesse an seinen Berichten aus dem Lager im Weg ... Unmittelbar nach einem Krieg will niemand gern erinnert werden an die eben erst erlebten Schrecknisse. Weil man ja eigentlich alles ändern müsste: sein eigenes Leben, das politische System, die Welt … Aber die Menschen hängen an ihrem alten Leben und verdrängen gern. Das beschreibt Hyvernaud. — Das Buch ist von einer großen Sprachskepsis geprägt. Alle erzählen, wie es ihnen ergangen ist, der Erzähler hingegen stellt fest, es gäbe eigentlich keine adäquate Sprache für das Erlebte. Wie reagiert der Text auf diesen Befund? Lässt sich das auch formal festmachen? Man spürt auf jeder Seite, daß Hyvernaud ungeheuer ringt mit der Form. Im Grunde fehlt
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dem Roman alles, was man von einem „guten Buch“ erwartet: der rechte, angemessene Abstand zur Welt, die Ausgeglichenheit, die Einleitung, eine Geschichte, ein vernünftiges Ende – kurz, der Roman ist ein einziges Wagnis. Das macht ihn so spannend. Der Leser spürt auch heute noch, dass der, der da erzählt, sich nicht in Sicherheit gewähnt hat. Dass es für seine Erfahrungen so gut wie keine Tradition in der Literatur gab, kein Modell, dass er all das erst erfinden musste. Das Buch ist auch deshalb so radikal, weil es den erhabenen Ton verweigert, den vor allem die französische Literatur über Jahrhunderte immer angeschlagen hat. Hyvernaud ist kein Schönschreiber, aber ungeheuer präzise und schonungslos. Er fragt sich immerfort: Wie lässt sich nach den Erfahrungen im Krieg und im Lager weiterleben in der „alten Welt“? Und vor allem: Wie lässt sich darüber schreiben? Was dabei entsteht, ist eine Mischung aus Roman und Essay, aus Ironie und Schmerz. Ein dichtes Geflecht von Szenen und Bildern aus der Gefangenschaft, von Vorfällen, Begegnungen auf der Straße, Kommentaren. Die Freizeit – so nennt Hyvernaud es – der Gefangenen. Das Absitzen des Krieges, das Warten. Die Latrinen. Die Toten im Russen-Lager nebenan. Die Macken der Mitgefangenen, der Wahnsinn, der menschliche Verfall um ihn herum. Doch man darf sich nicht täuschen lassen: Hyvernauds Bücher sind keine Zeitzeugenberichte, sie sind keine Erinnerungsliteratur. Die Erinnerung, bei Hyvernaud, ist da, um die Gegenwart zu beschreiben, nicht umgekehrt. Denn da ist vor allem die Wiederbegegnung mit all den Gespenstern in den Pariser Straßen, als der Krieg vorbei ist … Georges Hyvernaud: Haut und Knochen. Suhrkamp Verlag, 112 Seiten, 12,90 Euro.
ARNE BELLSTORF
LITERATUR
DIE AUSSENSEITEN DER COOLNESS Arne Bellstorf erzählt die Geschichte von Astrid Kirchherr und Stuart Sutcliffe, der Anfang der 1960er Jahre kurzzeitig Bassist der Beatles war. Ein Comic jenseits von Ikonisierung und den Klischees der Erinnerungsmanufaktur Text — J A N - F R E D E R I K B A N D E L
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ARNE BELLSTORF
LITERATUR
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omics sind in den letzten vier, fünf Jahren zu einem Lieblingsthema der deutschen Feuilletons geworden. Sie sind, so liest man in immer kürzeren Abständen, erwachsen geworden, sie werden auch von Deutschen, ja, sogar von Frauen gezeichnet, können autobiografisch und journalistisch sein, ernste, traurige, kurzum: große Themen behandeln usw. usf. Was auf dem traditionellen Buchmarkt als Gebrauchsliteratur, im Fernsehen als gehobene Unterhaltung gilt, scheint gegen kritische Blicke fast immun, wenn es nur gezeichnet daherkommt: Erfahrungsberichte, Historienschmonzetten, Coming-of-AgeDramen und populäre Biografien. Wer derzeit an den Comic-Displays einer Bahnhofsbuchhandlung vorbeistreift, kann sich druckfrisch eine Bonhoeffer- und eine Castro-Biografie mitnehmen, aber auch eine umfangreiche historische Graphic Novel über den Serienmörder Fritz Haarmann. Oder eben Arne Bellstorfs „Baby’s in black. The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe“. Arne Bellstorf, 1979 geboren, hat 2005 seinen ersten längeren Comic „acht, neun, zehn“ veröffentlicht, der als früher Beleg für eine neue, autobiografisch interessierte Erzählergeneration gehandelt wurde und wird. Autobiografisch ist er zwar nicht, dafür verfügt er – hinter der so präzis gezeichneten wie spröden Oberfläche – über eine ausgeklügelte Erzählkonstruktion. Mit seinem zweiten, über 200 Seiten starken Comic hat sich der Hamburger Zeichner fünf Jahre Zeit gelassen, und man kann das getrost als ers-
tes Indiz dafür nehmen, dass er keinen einfachen Weg gewählt hat. Überhaupt nähert man sich den ästhetischen Entscheidungen und Qualitäten des Buchs vielleicht am direktesten, wenn man sich die Schwierigkeiten ansieht, denen Bellstorf sich gestellt hat. Die erste liegt im Thema. Erzählt wird die Geschichte von Stuart Sutcliffe, der Anfang der Sechziger kurzfristig Bassist der damals noch völlig unbekannten Beatles war und mit der Band nach Hamburg kam, wo sie ihre ersten Auftritte auf St. Pauli im Kaiserkeller, später im Top Ten, einem Club auf der Reeperbahn, hatten. Im Kaiserkeller lernte Sutcliffe die junge Fotografin Astrid Kirchherr kennen, verliebte sich in sie und beschloss schließlich, als die Band 1961 nach England zurückkehrte, in Deutschland zu bleiben und sich der Malerei zu widmen. Doch im April 1962 starb er, gerade mal 21 Jahre alt, an einer Hirnblutung. Ein Drama, das längst Teil der allgegenwärtigen Beatles-Mythologie ist, nicht zuletzt durch Iain Softleys Spielfilm „Backbeat“ (1994). Die bekannteste Popband der Welt, vor ihrem Durchbruch, in einem elenden Kellerloch hausend, von der Hamburger Polizei schikaniert. Knebelverträge, Intrigen, Kiezrauheiten, Subkultur, Speed und Alkohol, der so plötzliche wie rätselhafte Tod des zuletzt besessen Malenden, dazu eine Liebesgeschichte mit der Frau, die als Erfinderin der Beatles-Pilzfrisuren bezeichnet wird. Lässt sich das noch einmal, lässt sich das gar ohne die Peinlichkeiten der Pophagiografie erzählen? Dass es Arne Bellstorf gelingt, liegt nicht zu-
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letzt an der unaufgeregten Art, mit der er die love story zwischen Astrid und Stuart nachzeichnet. Die Beatles erscheinen nicht als die noch verkannten Superstars einer nahen Zukunft, sie sind einfach ein paar Engländer in Hamburg, die sich unter schwierigen Bedingungen als Livemusiker durchschlagen. Und die Szene in St. Pauli wird, da die Perspektive stets bei ihren beiden Hauptfiguren bleibt, eher zum Nebenschauplatz, neben dem Haus von Astrids Mutter in der Eimsbüttler Straße, neben der Kunsthochschule und der angeschlossenen Künstlerszene mit ihrem Hang zu schwarzen Rollkragenpullis, zu Sartre, Jazzkellern und Juliette Gréco. Dramatische Momente werden – wie Sutcliffes Zusammenbruch – ausgespart oder – wie sein Tod – nur in scheinbar verrutschter Perspektive, wortlos und im Schnelldurchlauf gezeigt. Und auch Sutcliffes Malerei, schemenhaft angedeutet, wird nicht als Vorgriff auf ein unvollendetes Werk gedeutet, es ist Ausdruck einer ernsthaften Suche, zugleich natürlich Pose, ohne als solche dekuvriert zu werden. Bellstorf erzählt an den Oberflächen und Außenseiten entlang, aber atmosphärisch dicht. Mit welcher erzählerischen und grafischen Ökonomie er das tut, verdeutlicht auch seine Antwort auf eine zweite Schwierigkeit, nämlich auf die lokalhistorische Besetzung des Themas: Die frühen Beatles sind Helden einer Hamburger Erinnerungsmanufaktur, die Anekdote um Anekdote, Buch um Buch produziert, Stadtführungen organisiert usw. Inzwischen verfügt St. Pauli über einen Beatles-Platz samt Denkmal, seit 2009 sogar über ein ausschließlich den Beatles gewidmetes Museum. Doch in Bellstorfs Bildern ist die Stadtkulisse niemals Selbstzweck. Wenn Häuserfronten, Straßen, Clubfassaden erscheinen, dann historisch präzise, aber nur, wo Stimmung und Handlungsverlauf es verlangen. Die meiste Zeit bleiben seine Hintergründe neutral, entweder leer oder nur mit wenigen, stark abstrahierten Elementen versehen. Für lokale Kneipennostalgie ist in seinem Konzept so wenig Platz wie für das Schwelgen in historischen Ansichten, das die entsprechenden Kino- und Fernsehsparten, aber auch historische Bildgeschichten ausgiebig pflegen. Die extreme Reduktion, die Bellstorfs Schwarz-Weiß-Zeichnungen kennzeichnet, antwortet noch auf ein weiteres Problem: Seine Charaktere sind ikonografisch gleich mehrfach vorbelastet. Kaum eine Band ist wohl derart im Bildgedächtnis des 20. Jahrhunderts verankert wie die Beatles, und es waren die Hamburger Jahre, die entscheidend zur Verfertigung dieses Images beigetragen haben. Bellstorfs Comic zeigt sie über die längste Strecke noch in der klassischen Rock’n’RollAufmachung mit Tolle, hellen Sakkos oder Lederjacken und Cowboystiefeln, Sutcliffe anfangs immer mit großer Sonnenbrille. Es
LITERATUR
Nagel
Wunsch scheitert, Stuarts Platz in der Band zu übernehmen, wird zwar erzählt, doch den Widerspruch zwischen Freundschaft und Verletzung kann der Leser allenfalls hinzudenken. Bellstorfs Figuren scheinen, in ihrer durchgehaltenen Außensicht, beunruhigend widerspruchsfrei. Seine Handlung steigert sich nicht zu einem Höhe- oder Kipppunkt, sondern folgt im ruhigen Rhythmus ihrer Atmosphäre. Er erzählt, anders gesagt, vom Glück, das kurz und bedroht ist, nicht aber von dieser Bedrohung. Das kann man, ganz nach Perspektive, als Stärke oder Schwäche sehen. Eine logische Konsequenz seines Konzepts ist es allemal. Mit einer ästhetischen Naivität, wie sie sich jene Comic-Kommentatoren wünschen, die von der „Authentizität“ vermeintlich autobiografischer Comics schwärmen, und denen eine Zeichnung so gut wie eine andre, ein Plot so gut wie ein andrer scheint, solang nur große historische Themen ohne viel Reflexion angegangen werden, hat das, zum Glück, nichts zu tun. Arne Bellstorf: Baby’s in black. Reprodukt, 216 Seiten, 20,00 Euro.
VIELEN DANK FÜR DIE BLÜMERANZ Nagel über den ungebrochenen harten Kern
Man weiß, dass man nicht mehr part of the scene ist, wenn man beim Begriff „Hardcore“ so wie alle anderen zunächst an Pornofilme oder Technogeballer denkt, nicht aber an jene aggressive Spielweise des Punk, die einen damals so beeindruckt und geprägt hat. Auf der Flucht vor der doofen Gesellschaft stürzte ich mich als Heranwachsender in die Nische, bis mir irgendwann auffiel, dass es sich bei dieser vermeintlichen Subkultur keineswegs um einen Gegenentwurf handelte, sondern lediglich um ein durch und durch bürgerliches Schattenspiel mit noch mehr ungeschriebenen Gesetzen als zu Hause bei Mama. Der ursprünglich lustig gemeinte Bandname Good Clean Fun klang plötzlich alles andere als ironisch. Trotzdem, an diesem Herbstwochenende 2010 sollte es mal wieder genau diese Art Hardcore sein, und zwar an der Uni in London. Eine längst aufgelöste Straight-Edge-Legende aus den USA hatte zu einem kleinen Revival geladen und nostalgische Ex-Adoleszenten aus ganz Europa folgten in Scharen. Ich stand etwas befremdet zwischen zumeist männlichen, sauberen, uniformierten Fingerschwingern, gleichzeitig belustigt und bestätigt, dass ich in den letzten Jahren wohl nicht viel verpasst hatte. Doch genau diese seltsame Mischung aus Nähe und Distanz machte es mir möglich, das Konzert trotzdem zu genießen. Der Lärm tat gut nach dem Stress der letzten Tage. Rassistische Nutzbarkeitsparolen von Sarrazin, Seehofer und Co, die Massentierhaltungstristesse aus Jonathan Safran Foers neuem Buch und die Demütigungen eines Easyjet-Flugs, das waren genau die richtigen Ingredien-
zen, um sich auf den wütenden Weltschmerz einer suizidaffinen Band mit dem passend pathetischen Namen Unbroken einzustimmen. Nach ein paar Liedern wich die anfängliche Euphorie allerdings dem schalen Gefühl, das alles schon mal gehört zu haben. Nicht nur vor 15 Jahren, sondern auch vor fünf Minuten. Ach stimmt ja, wirklich abwechslungsreich war diese Musik nie. In jeder zweiten Ansage ging es, auch das ein Déjà-vu, darum, wie toll es doch sei, hier zu sein, we’re all in it together, das Destillat aller gesprochenen Worte: alles ist gut, denn wir sind hier ja unter uns. Man zahlt Eintritt zu einem exklusiven Club, in dem man sich ein konserviertes Lebensgefühl abholt. Mehr Dienstleistung geht nicht. Und genau darauf war ich also auch reingefallen? Ernüchterung ist ja immer das Schlimmste. Als ich schließlich auch noch den Einsatz zu dem Slogan „Life, Love, Regret“ verpasste, jener mitgröhlkompatiblen Phrase, die nur ein einziges Mal gesungen wird, da verzog ich mich an die Bar, um mehr, mehr Schnaps in mich reinzuschütten. Die Bar hatte gerade geschlossen. Später schlich ich sinnlos durch die Londoner Nacht und hatte tatsächlich das Gefühl, gerade Teil einer Spezialveranstaltung gewesen zu sein. Das aber nur im Vergleich zu all den Castingshow-Lookalikes auf den Straßen. Subkultur, das ist wohl immer relativ. Daher wird es immer kleine Szenen geben, die sich für 1. ganz anders und 2. viel geiler als die anderen halten. Taubenzüchten oder Briefmarkensammeln funktioniert nicht anders. Schrecklich amüsant, aber in Zukunft erstmal wieder ohne mich.
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N.+,
/N. +,
ihre Mimik meist undurchdringlich freundlich. Gleichzeitig aber bleiben seine Zeichnungen auf Distanz zur Fotografie: Sie verwenden eindeutige Comicelemente, und die ungewohnt rau schraffierten Grauflächen widersetzen sich der coolen Aufgeräumtheit. Die poetischen Elemente der Fotografien nimmt der Comic in einer wiederkehrenden Traumpassage auf, die die Titelhelden durch einen hellausgeleuchtet-surrealen Wald irrend zeigt, von Lyrics begleitet, bis am Ende der Spiegel aus Astrid Kirchherrs bekanntestem Selbstporträt erscheint, zugleich Bild der inszeniert-existenziellen Einsamkeit und Zitat aus Jean Cocteaus Orphée: Der Spiegel ist dort Symbol des Todes, Portal zur Unterwelt. Die gepflegte Coolness der Figuren bestimmt aber auch eine erzählerische Schwierigkeit: Nach außen kaum angreifbar, unberührt, aber immer freundlich-distanziert zeigen sich in diesem Comic fast alle Charaktere. Das Buch, so könnte man es auch zuspitzen, verzichtet fast komplett auf den Ausgangspunkt jeder konventionellen Dramaturgie: den Konflikt. Bellstorf erspart uns ein Hin- und Hergerissensein seiner männlichen Hauptfigur zwischen Musik, Kunst und Liebe. Dass Astrids Freund Klaus, eine wichtige Nebenfigur, erst von dieser verlassen wird, dann auch noch mit seinem
ARNE BELLSTORF
gelingt ihm, die Gesichter auf ein Minimum an Linien zu reduzieren und dennoch erkennbar zu machen – als technische Leistung beneidenswert, vor allem aber eine klare Bezugnahme auf die Popikonografie. Doch Bellstorfs Zeichnungen müssen sich noch in Beziehung zu einer anderen, vielleicht nicht besonders originellen, doch hochentwickelten Bildsprache setzen, eben zu den Fotografien Astrid Kirchherrs. Sie hat die frühen Beatles, vor allem aber Stuart Sutcliffe und sich selbst in fast immer coolen Posen, aber auch mit poetischer Überzeichnung ins Bild gesetzt. Emotionslos-selbstbewusst starrt sie sich selbst im Spiegel entgegen, in den als stilisiert-tote Natur schwarze Zweige hängen. Astrid und Stuart erscheinen, in starken Kontrasten, wie ein androgynes Zwillingspaar oder posieren kühl im silbrig-surreal ausgestatteten Studio des Werbefotografen Reinhart Wolf, dessen Assistentin Kirchherr war. Bellstorf erzählt, scheinbar nebenhin, von der Entstehung dieser Bilder, doch er antwortet auch in seiner eigenen Comic-Bildsprache darauf: Die starke Stilisierung übernimmt er vor allem für seine fast zeichenhaft wiederholte Darstellung Astrids (die wie alle übrigen Figuren fast ausschließlich im Halbprofil zu sehen ist). Die Körper seiner Figuren sind oft Schwarzflächen,
DAS DRITTE KINO
FILM
DIE MÜHEN DER EBENE Über das Politische im gegenwärtigen Weltkino und die radikale, antikoloniale Filmtradition Text — L U K A S F O E R S T E R , N I K O L A U S P E R N E C Z K Y & F A B I A N T I E T K E , Foto — S A Y O M B H U M U K D E E P R O M I L L U M I N A T I O N F I L M S ( PA S T L I V E S ) & K I C K T H E M A C H I N E
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DAS DRITTE KINO
FILM
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FILM Von Geistern und Kommunisten
DAS DRITTE KINO
„Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives“, der neue Film des thailändischen Festivallieblings Apichatpong Weerasethakul, hat im Frühjahr die Goldene Palme in Cannes gewonnen. Weerasethakul konstruiert aus einer Handvoll lose verbundener Geistergeschichten einen dichten, komplexen Erfahrungsraum. Es geht unter anderem um Massaker, die die thailändische Armee in den siebziger und achtziger Jahren im Nordosten des Landes nahe der laotischen Grenze im Zuge ihrer Jagd auf kommunistische Rebellen verübte. Zwischen Geisterbildern tauchen Fotografien von Soldaten auf, die Hauptfigur glaubt sterben zu müssen, weil sie „früher zu viele Kommunisten getötet“ habe. „Uncle Boonmee ...“ ist nicht nur einer der besten Filme des Jahres, sondern in seiner Auseinandersetzung mit historischen Traumata und den Grenzen kollektiver Erinnerung zweifellos auch politisch ambitioniert. Dennoch kann man sich die Frage stellen, ob Weerasethakuls Werk deswegen bereits ein politischer Film ist. Wie politisch kann ein Film sein, der von zahlreichen europäischen Institutionen finanziert wurde (auf imdb.com firmiert er als thailändisch-britisch-französischdeutsch-spanisch-niederländische Koproduktion)? Ein Film, der fast ausschließlich auf westlichen Festivals präsent und in Thailand selbst kaum zu sehen ist. Fragen nach dem Charakter des Politischen im Gegenwartskino stellen sich umso dringlicher, wenn man an die Filme die Maßstäbe einer Zeit anlegt, in der die politische Haltung das A und O auch ästhetischer Auseinandersetzungen war. Im Kinobereich sind das die Maßstäbe der sechziger und siebziger Jahre, Maßstäbe, die sich an den Werken radikaler Filmemacher wie des Brasilianers Glauber Rocha („Terra em Transe“, 1967), des Senegalesen Ousmane Sembène („La noire de ...“, 1966) oder des Filipino Lino Brocka („Insiang“, 1978) prägten. Gibt es noch eine Verbindung von diesen, damals als „Drittes Kino“ geführten Bewegungen zum heutigen Weltkino aus Asien, Südamerika und Afrika? Es ist an dieser Stelle sinnvoll, historisch einen Schritt zurückzugehen: Unter welchen Bedingungen entstand in den sechziger und siebziger Jahren eine antikoloniale Filmästhetik? In welchem Koordinatensystem bewegten sich die erwähnten radikalen Filmemacher?
Rückblende: Das historische Dritte Kino 1969 unternahmen die argentinischen Filmemacher Fernando E. Solanas und Octavio Getino den Versuch, das Medium Film für den antikolonialen Kampf in Dienst zu nehmen,
Alejandro González Iñárritus „Babel“ ist zum Inbegriff eines globalisierten Arthaus-Kinos geworden, dessen Begriff von Gleichheit eine kritische Auseinandersetzung mit den internationalisierten Strukturen des Kapitalismus nicht nur nicht leistet, sondern ihr sogar im Weg steht und forderten ein eigenständiges Kino der Dritten Welt. Jenseits von Hollywood sollte es verortet sein, aber auch jenseits des mit der europäischen Linken assoziierten Autorenfilms. Das Manifest, worin diese Forderungen laut wurden, trägt den Titel „Hacia Un Tercer Cine“ – für ein Drittes Kino: Für ein Kino, das in enger Verschränkung mit den sozialen Bewegungen in Lateinamerika, Afrika und Asien gegen die Herrschaft des Neokolonialismus und für eine Internationale der Peripherie kämpfen sollte. Ermöglicht wurde der Aufstieg des Dritten Kinos von tief greifenden Veränderungen auf Seiten der Produktion. Der technologische Fortschritt hatte immer kleinere, einfacher handhabbare und zudem günstigere Bild- und Tonaufnahmegeräte hervorgebracht, wodurch der Umgang mit Film eine ungekannte Demokratisierung erfuhr. Was die Grundlegung eines Formenkanons, und also die textuelle Ebene der Filme selbst betrifft, hält sich Solanas’ und Getinos Manifest auffällig bedeckt – solange die Filme nur das unklare Kriterium der „Militanz“ erfüllen. Das „Dritte Kino“ war ein Kampfbegriff, den es nötigenfalls der schlechten Wirklichkeit entgegenzustellen galt: „Unsere Zeit ist eine Zeit [...] der prozessualen Werke – unfertige, unordentliche, gewalttätige Werke, angefertigt mit der Kamera in der einen Hand und mit einem Stein in der anderen.“ Es liegt nahe, Solanas’ und Getinos episch angelegten Dokumentarfilm „La Hora De Los
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Hornos“ (Die Stunde der Hochöfen) von 1968 als vorweggenommene Verwirklichung ihres ein Jahr später veröffentlichten Manifests aufzufassen. Der Film behandelt die politische Geschichte Argentiniens seit der Unabhängigkeit und gilt als Klassiker eines agitatorischen Kinos, das sein Publikum direkt adressiert und zu politischer Aktion drängt – bis zur Selbstaufhebung: In den Pausen zwischen den Kapiteln soll der Projektor heruntergefahren und das Saallicht eingeschaltet werden, um das Publikum aus dem Modus der Kontemplation in jenen der angeregten Debatte zu überführen. Eine Schrifttafel am Ende des Films spitzt dies noch einmal zu. Schaut nicht länger zu, fordert sie auf, verlasst den Saal und werdet endlich zu Handelnden. Gegen diesen klaren Kurs steht die ausdrückliche Offenheit von Solanas‘ und Getinos Manifest. Der agitatorische Ansatz mochte den argentinischen Verhältnissen angemessen sein, beansprucht aber keineswegs universelle Gültigkeit. So findet sich im Umfeld des Dritten Kinos eine Fülle von Filmen, in denen sich das Politische nur indirekt vermittelt. Die Spannbreite des Dritten Kinos reicht von Agitprop zu zurückhaltender Beobachtung und reflexiver Selbstkritik, von dokumentarischen Formen zu generischen Spielfilmen, von Ästhetiken der Kargheit und des Mangels zu überschwänglicher Experimentierfreude, vom Streben nach kultureller Eigenständigkeit zur ironischen Anverwandlung westlicher Einflüsse. Wer diese Offenheit teilt, benimmt sich zwar der Möglichkeit, das Dritte Kino eindeutig zu bestimmen, gewinnt dafür aber einen reichen Fundus an Formen und Ideen zu einer politischen Bildpraxis im umfassenden Wortsinn: Nicht nur die Anmutung der Bilder selbst steht dann auf dem Spiel, sondern auch – und mitunter: vor allem – wie sie gemacht, verteilt und gezeigt werden. Nicht zufällig ist die Rezeption des Dritten Kinos eng verwoben mit der Geschichte einer Gegen-Kinokultur. Es galt für diese Filme geeignete Vertriebswege zu finden, die diese nicht einer konsumorientierten Kinoindustrie anheimfallen lassen. Vor Ort bestanden diese meist in portablen 16-Millimeter-Projektoren, die in sozialen Zentren aufgebaut wurden. Außerhalb der Produktionsländer, vor allem in Nordamerika und Europa, musste das Dritte Kino erst jenseits der dort vorherrschenden Rezeptionskanäle „entdeckt“ werden. In der Lesart als „subversives Kino“ wurde dieses Kino einerseits einem an-politisierten Publikum verfügbar gemacht, andererseits jedoch auch einem oft nur vermeintlich gemeinsamen Kampf gegen (koloniale) Unterdrückung und Ausbeutung eingemeindet. Diese Lesart einer globalen Einheit im Kampf um Befreiung kreuzte sich mit einem Verständnis der Filme
FILM
Erben des Dritten Kinos? Zurück zur Gegenwart, aus der Perspektive der utopiegeschwängerten Sechziger heißt das leider: zurück zu den Mühen der Ebene. Schon die Bezeichnung „world cinema“ für das neue Kino aus der Peripherie verweist auf ein Paradox. Denn einerseits ist dieses Filmschaffen auf allen Ebenen internationalisiert: Produktion, Distribution, Rezeption haben häufig keinen präzisen geografischen Ort mehr, die „Nationalkinematografie“ erscheint immer weniger als eine sinnvolle Kategorie der Analyse. Andererseits jedoch spielt der Internationalismus als Emphase, als revolutionärer Slogan für die neuen Filmemacher keine Rolle mehr. Für den Agitprop-Großmeister Santiago Alvarez war es eine Selbstverständlichkeit, in seinen collageartigen Kurzfilmen nicht nur über das heimische Kuba, sondern auch über den Vietnamkrieg, über revolutionäre Bemühungen in Afrika oder über das Civil Rights Movement in den USA zu sprechen. Heute dagegen erscheinen Filme, die allzu vehemente Aussagen über die globalisierte Wirklichkeit machen, erst einmal suspekt. Alejandro González Iñárritus „Babel“ ist zum Inbegriff eines globalisierten Arthaus-Kinos geworden, dessen Begriff von Gleichheit eine kritische Auseinandersetzung mit den internationalisierten Strukturen des Kapitalismus nicht nur nicht leistet, sondern ihr sogar im Weg steht. Die interessanteren Strömungen des neuen politischen Kinos zeichnet dagegen eine Insistenz auf der Textur partikularer Orte und Erfahrungen aus. In „Uncle Boonmee ...“ ist das unter anderem die kitschdurchsetzte thailändische Popkultur. Andere paradigmatische Arbeiten des neuen Weltkinos definieren sich über einen
Blick auf die regional spezifischen Rückseiten der Globalisierung. So schuf der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing mit seinem achtstündigen Magnum Opus „West Of The Tracks“ ein filmisches Mahnmal für die Opfer der Modernisierung Chinas. Mit seiner Digitalkamera durchquert er verlassene Anlagen der Schwerindustrie und hält ein Stück lokaler Geschichte im Moment ihres Verschwindens im Bild fest. In „Evolution Of A Filipino Family“ entwickelt Lav Diaz in rauhen Digitalbildern ein alternatives
Das „Dritte Kino“ war ein Kampfbegriff, den es nötigenfalls der schlechten Wirklichkeit entgegenzustellen galt philippinisches Nationalepos, das sich mit den düsteren Jahren der Marcos-Diktatur (1972– 1986) beschäftigt. Oft schaut der Film lediglich der titelgebenden Familie beim Zubereiten einer Mahlzeit zu, hört sich mit ihr eskapistische Radiohörspiele an, liegt mit ihr in Hängematten, repliziert die tote Zeit im Dasein einer Landbevölkerung, die einerseits von Außen unterdrückt wird, andererseits diese Unterdrückung in den Strukturen des täglichen Lebens selbst verdoppelt.
Zwischen Universalismus und Authentizität Mit ihrem Beharren auf den projizierten Film als Reflexionsraum eignet diesen Filmen eine Qualität, die sie mit dem historischen Dritten Kino verbindet: die Forderung nach selbstbestimmten Rezeptionsstrukturen vor Ort, die es möglich machen, die auf Festivals reüssieren-
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den Produktionen nicht nur individualisiert als Raubkopie zu erleben. Zugleich fordern sie hierzulande Rezeptionsformen heraus und ermöglichen es, außereuropäisches Filmschaffen nicht auf den authentisch-dokumentarischen Gestus zu reduzieren, sondern als das zu rezipieren, was es ist: als großes Kino. Andererseits finden Filme, die sich nicht wie „West Of The Tracks“ oder „Evolution ...“ schon aufgrund ihrer Lauflänge dem normalen Verwertungskreislauf entziehen, öfter, als das beim klassischen Dritten Kino der Fall war, ihren Weg ins Verleihprogramm. Vor allem die weit differenziertere (weil stärker geförderte) Filmindustrie Frankreichs bietet vielen der Filme, die sich der Nachfolge des Dritten Kinos zurechnen lassen, eine Plattform. Das französische Nahezu-Monopol für den Verleih außereuropäischen Kinos hat zur Folge, dass Filme, die sich nicht im französischen Verleihangebot finden, in Europa oft unsichtbar bleiben. Parallel dazu werden Filme, ab einem gewissen finanziellen Aufwand, meist mit europäischen, und oft eben französischen, Geldern finanziert, was sich auch in den Filmen selbst niederschlägt. Internationalisierte ArthausStreifen wie die französisch-libanesische Koproduktion „Under The Bombs“ oder die nigerianisch-britische Koproduktion „The Amazing Grace“ üben sich schon in der Produktion im Seitenblick auf ein europäisches Publikum und dessen Vorstellungen, wie es „da drüben“ wohl so sei. Es hilft nichts: Man muss sich der mühseligen Arbeit unterziehen, innerhalb des Festivalkinos wirkliche Kritik der Verhältnisse von bloßer Bestätigung einer europäischen Wahrnehmung derselben zu unterscheiden. Und noch in Grenzfällen wie Weerasethakuls „Uncle Boonmee ...“ offenbart sich das reiche Erbe einer ästhetischen und filmpolitischen Tradition, die auch um ihre Utopien gekürzt noch eindrückliche Nachbilder zeitigt im gegenwärtigen Weltkino.
DAS DRITTE KINO
als authentischer Ausdruck der jeweiligen regionalen Kultur. Von diesen beiden Lesarten existiert heute nur noch die letztere.
FILM
DIE WAHRHEIT LIEGT IMMER MITTENDRIN
Wandlerin zwischen den Welten und Expertin für moralische Grauzonen: Die Dänin Susanne Bier zählt zur Regie-Elite ihres filmbegeisterten Heimatlandes, pendelt zwischen Kopenhagen und Hollywood und hat ein Auge für das Große im Kleinen Text — M A R E I N B U D I N E R , Foto — T R U S T N O R D I S K
SUSANNE BIER
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ie Sonne brennt auf schmerzverzerrte Gesichter, weinende Kinder kauern auf den Armen ihrer Mütter im staubigen Sand. Mittendrin der Arzt einer Hilfsorganisation, erschöpft, dreckig. Eilig wird eine junge Frau zu ihm gebracht, der blutige Körper aufgeschlitzt, eher tot als lebendig. Der Arzt weiß, was zu tun ist, operiert mit sicherer Hand, die Frau überlebt. Ein Gutmensch im verschwitzten T-Shirt. Szenenwechsel: Zu Hause – vor der idyllischen Kulisse bunter Holzhäuser, an den rauen Stränden der dänischen Provinz – ist der souveräne Arzt vor allem Ehemann und zweifacher Familienvater. Seine Frau hat er betrogen, sie will die Trennung, einer seiner Söhne macht Bekanntschaft mit einem einsamen Schulfreund und wird verhaltensauffällig. Ein hilfloser Mann, kein Herr des Geschehens. Die Bilder stammen aus Susanne Biers neuestem Film „In A Better World“, der zwischen den Schrecken eines afrikanischen Flüchtlingslagers und dem scheinbar beschützten Alltag zweier dänischer Familien von Gewalt, familiärem Zerfall und der Suche nach Gerechtigkeit erzählt. Susanne Bier sagt, der Film stelle die Frage, ob unsere hoch entwickelte Kultur tatsächlich eine bessere Welt und unser Gesellschaftsmodell immun gegen Chaos und Tumult sei. Zu meinen scheint sie eigentlich: Lauert nicht immer etwas Unbeherrschbares, Beängstigendes unter unserer zivilisierten Oberfläche? Ungeschönte Wirklichkeitsnähe ist seit Dogma 95 ein Markenzeichen des dänischen Films. Doch was ist das Alleinstellungsmerkmal der realitätsnahen Melodramen dieser zierlichen Regisseurin, die in Jerusalem und London studierte und einst mit der Regie von Musikvideos ihre Miete zahlte? Vielleicht, dass „ihre“ Wahrheit nie schwarz-weiß ist und im kleinen Alltäglichen immer auch die eine, besondere, große Geschichte liegt. Oder ist es die flirrende Doppelbödigkeit, die verunsichernde und so plausible Widersprüchlichkeit in Biers Filmen,
Autounfall ineinander verwoben und völlig auf den Kopf gestellt wird. Susanne Bier machte der Film zu einer der Gallionsfiguren des neuen dänischen Kinos. 2004 folgte „Brothers – Zwischen Brüdern“ mit Ulrich Thomsen und Nikolaj Lie Kaas in den Hauptrollen, eine Kain-und-Abel-Parabel über Bruderschaft, Trauma und Mord. Ihr bis dahin konventionellster Film, das Familiendrama „Nach der Hochzeit“ (2006) mit Bond-Gegenspieler Mads Mikkelsen als Entwicklungshelfer in den indischen Slums, brachte ihr schließlich eine Oscar-Nominierung und das Interesse der Hollywood-Produzenten.
ihren Geschichten und allen voran ihren Figuren, die mehr Menschen als fiktive Wesen sind? Ihr jüngstes interkontinentales Familiendrama jedenfalls ist eine Variation zu Themen, die wie Leuchttürme im rund 20 Jahre umfassenden Werk der 50-Jährigen verankert sind: das Zerbrechen familiärer Schutzräume, Sicherheit als Illusion, der Aufbruch verkrusteter Strukturen, die Schuldlosigkeit inmitten der Schuld. Nach ihrem Abschluss an der renommierten Danish Film School 1987 wählte sie für ihre ersten Spielfilme „Freud Leaving Home“ (1991), „Family Matters“ (1993) und „The One And Only“ (1999) zunächst das Genre der Komödie, um ihre bittersüßen Beobachtungen zum Familienleben mit einem melancholischen Augenzwinkern auf die Leinwand zu bringen. Erst mit dem Wechsel ins ernste Fach und ihrer Nähe zur Dogma-Bewegung um Lars von Trier wurde sie zum Liebling des internationalen Festivalpublikums von San Sebastián bis Toronto: Das eindringliche Dogma-Drama „Open Hearts“ (2002) seziert mikroskopisch genau die schmerzhafte Verstrickung zweier Paare, deren Leben durch einen schrecklichen
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Ist Biers Fokus in „Open Hearts“ noch stark auf das Innenleben der zerbrechenden Mittelstandsfamilie gerichtet und steht dessen bürgerliches Modell – arbeitender Vater, erziehende Mutter, quängelnde Kinder – auf dem Prüfstand ihres gesellschaftskritischen Auges, erweitert die gebürtige Kopenhagenerin im Kriegsmelodram „Brothers“ den Blick auf das Wechselspiel zwischen privatem Familienleben und politischem Gegenwartsgeschehen. Als Michael, einst ausgeglichener Vernunftmensch und erfolgreicher Major der dänischen Armee, schwer traumatisiert von seiner Kriegsgefangenschaft in Afghanistan nach Dänemark zurückkehrt, fühlt er sich verloren, einsam, unverstanden. Seine unkontrollierten Hass- und Minderwertigkeitsgefühle multiplizieren sich, bis sie in der versuchten Tötung seiner Frau, seiner Kinder und seines Bruders gipfeln. Mit seinem Kriegstrauma bringt er den Krieg buchstäblich in die heimische Küche, der Ort der Familie selbst wird zum Krisenherd. „Brothers“ ist das erste von bislang drei Melodramen in Biers Werk, das dieses Einschleppen des politischen Tagesgeschehens und dessen Folgen für den Einzelnen untersucht, ja fast wie in einer Versuchsanordnung von allen Seiten beleuchtet. Auch in „Nach der Hochzeit“ und „In A Better World“ wird diese Verstrickung von Privatem
„Biers Filme erinnern an den sicheren Gang eines Artisten auf dem Hochseil: Blick nach vorne, hoch konzentriert, immer am Abgrund“
Diesen Blick wollte auch Hollywood haben, diesen auteur touch der dänischen Fachfrau für unsentimentale Beziehungsdramen. Ihre Fähigkeit, im melodramatischen Genre tiefe Trauer, hysterischen Humor, Schicksalsschläge und amouröse Irrwege kitschbefreit zu inszenieren. Dass sie diesen europäischen Blick hat, diese existenzialistische Ambivalenz zwischen Trauer und Humor, die das Leben erträglich macht, wollte sie 2008 in ihrer ersten Hollywood-Auftragsarbeit „Things We Lost In The Fire“ beweisen. Doch das Trauerdrama mit Halle Berry und Benicio Del Toro scheiterte an den Kinokassen ebenso wie im Feuilleton. Zu viel Melodram, zu viel klebriger Fusel, zu wenig Bier. Vielleicht auch, weil es nicht ihre ureigene Geschichte war; weil es eben keine Geschichte war, die sie, wie sie es seit „Open Hearts“ tut, gemeinsam mit dem erfolgreichsten dänischen Drehbuchautoren, Anders Thomas Jensen, entwickelt und Bier-typisch ausbalanciert hat. Nun also wieder eine dänische Produktion. Das Hochseil ist gespannt.
ULRICH HOLBEIN
Das starre Regelwerk des Dogma-Manifests hat sie mittlerweile hinter sich gelassen, die Dogma-typische Suche nach kreativer Freiheit und „wahren“ Geschichten wird sie wohl immer begleiten. Ihre Charaktere seien authentisch, sagt Bier. Authentisch in einem emotionalen Sinn. Zwar zeichnet sie die Schwächen ihrer Figuren schonungslos, setzt sie extremen äußeren und psychischen Bedingungen aus und lässt sie gegen Unabänderliches rebellieren. Doch ihre Ärzte, Familienväter, Mütter und selbst ihre Kinder gestaltet sie derart facettenreich, komplex und realistisch, als wolle sie den Zuschauer daran hindern, eindeutige Wertungen oder moralische Verurteilungen vorzunehmen. Es geht ihr nicht um Schuld, sondern um die menschlichen Spielarten im Umgang mit Grenzsituationen. Ihre Filme sind frei von Einseitigkeit und politischer Parteinahme. Vielmehr erinnern sie an den sicheren Gang eines Artisten auf dem Hochseil: Blick nach vorne, hoch konzentriert, immer am Abgrund.
SUSANNE BIER
und Politischem durch die Verortung der Geschichte auf zwei Kontinenten vorbereitet: In Parallelhandlungen inszeniert Bier das private Alltagsleben ihrer vielschichtigen Figuren in der dänischen Heimat als nur scheinbar heilen (Innen-)Raum der Familie und gibt ihrer Geschichte durch die Ereignisse im (Außen-)Raum politischer Konflikte eine globale Dimension. Es scheint, als würden kollektive Probleme – seien sie nun in Afghanistan, Indien oder Afrika angesiedelt – zu ganz persönlichen. Das Große im Kleinen, das Besondere im Alltäglichen, die Politik im Privatleben. Der Einbruch äußerer Gewalt fördert innere Aggressionen oder Geheimnisse zutage.
BANKSY
FILM
Banksy Studio Interview Wide
Banksy Balloons, Palestine 2005
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FILM
BANKSY – DER FILM Ein Versuch über den erneuten Aufstand der Zeichen.
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ach einstündiger Suche hatte ich das Video im Netz gefunden. Zwar als Stream, aber auch diese Kopie von „Exit Through The Gift Shop“ zählte, solange die andere auf dem Postweg war. Wenn man nur bereit ist, den Algorithmus der Suchmaschine zu hinterfragen, und auch die Links der vierten Seite per Hand verliest, dann findet man Banksy eben doch. Vielleicht nur eine Version von ihm ... Aber worauf soll man schon stoßen, wenn man jemanden sucht, der beschlossen hat, aus seiner Anonymität Kapital zu schlagen? Einen Künstler, dessen Alias gefunden werden will, weil sein Geschäft in diesem Katz-und-Maus-Spiel besteht, weil er Fährten legt, weil er auf diese Art kommuniziert – mit uns, mit denen, im und mit dem öffentlichen Raum. Banksys Taten sind längst urbane Legenden, sein Witz ist makaber, tief und doch irgendwie klar. Seine Arbeiten als Streetart-Aktivist besitzen jene ikonografische Schärfe, die ihnen einen hohen Wiedererkennungswert sichert. All das zeigt auch sein Film, nur sein Gesicht und seinen Namen verrät er uns nicht. Wer also glaubt, dank einer von Banksy verfertigten Banksy-Doku hinter das Geheimnis von Banksy zu kommen, der spielt das Spiel nach Banksy-Regeln und wird selbstverständlich enttäuscht. In einer hyperrealen MedienMarkt-Welt wird man um diese naive Hoffnung allzu leicht betrogen, da machen auch coole Künstler keine Ausnahme. Warum also ein Film über einen, der nichts von sich preisgibt? Was soll man da sehen? Ja, genau ... Eben das! Das Rätsel seiner Realness: einen Typen unterm Hoodie, das Gesicht verschattet, die Stimme verzerrt. Nur eine Reproduktion unseres Bildes von einem, der von der Straße kommt: einer der Coolen, die das tun, was sich nicht jeder traut, der bewusst Grenzen überschreitet, dorthin, wo man auch Krimineller heißen kann. Und dieser Typ verklickert uns nun über die Kamera, dass ein anderer Typ eine Doku über ihn machen wollte, dass die Rollen sich aber auf eigentümliche Weise vertauschten und aus dem Regisseur ein Streetartist und aus dem Streetartist ein Regisseur wurde. Abgefahren! Riecht das nicht nach Konstruktion? Das verzerrte Spiegelbild des verborgenen Selbst, das Doppelgängermotiv? Aus des Rätsels Lösung wird die Dokumentation einer Dokumentation und aus Banksy unversehens Thierry Guetta, der peinliche Held des Films. Dem sollen wir nun glauben, wenn er
indiskret, kaum eloquent und hoffnungslos deplatziert durch Banksys Meta-Doku stolpert? Thierry Guetta, der vom Filmen wie besessen scheint, findet über seinen Cousin Space Invader Zugang zum erlauchten Kreis der Global Player der Streetart, die sich natürlich gern von diesem dümmlich-niedlichen Neurotiker bei ihren illegalen Eingriffen im öffentlichen Raum dokumentieren lassen. Nach und nach lernt Guetta sie alle kennen: Shepard Fairy, Borf, Swoon etc. Bis auf einen, das „fehlende Stück im Puzzle“, den „mysteriösen Engländer“: Banksy selbst! Doch es wäre ja kein Banksy-Film, wenn nicht auch er „wundersamerweise“ in Guettas Welt auftauchte. Der Film nimmt an Fahrt auf. Schnelle Schnitte, minimal-fetter HipHop, Banksys Werke, seine Taten, internationale Schlagzeilen, reißerische Nachrichtensprecher – das ganze Arsenal! Und dann – in eine Aureole choraler Filmmusik gekleidet – sehen wir seine Hände bei der Arbeit: Ring, Uhr, Silberarmband, der Cutter, die Schablone, die Dose – das war’s: Banksy selbst! Na ja. War doch klar, dass er so „cool“, so „menschlich“ ist, wie Guetta, sein Akolyth, später stammelt. Und dann sagt er noch: „Banksy is what he represents!“ Banksy ist ein Banksy ist ein Banksy ist ein ... Willkommen im Spiegellabyrinth postmoderner Ökonomien! Denn in erster Linie ist es ein Pseudonym, das für kontroverse Eingriffe in den öffentlichen Raum steht, in zweiter Linie aber ein erfolgreicher Künstler, dessen bürgerliche Existenz unbekannt bleiben soll. Nicht mehr und nicht weniger behauptet auch Guetta. Damit sind diese Worte gerade mal so authentisch wie Banksys Film selbst. Wenn dieser nun aufgrund Banksys „direct order“ zu Mr. Brainwash (MBW) mutiert und eine größenwahnsinnige Ausstellung als Streetart-Sellout inszeniert, ohne ein „echter Künstler“ zu sein, und wenn Banksy als finanziell erfolgreicher, aber eben „echter Künstler“ kritisch den Kunstmarkt ins Visier nehmen will, dann verläuft, im Sinne des Films, doch alles nach Plan, oder? Das Dilemma, dem Banksy sich damit stellt, lautet also: Wie kann man allgemein verfügbare Ware sein, aber dennoch ein einzigartiges Kunstwerk? In einer Kultur, die sich selbst längst nach dem Modell der allgemeinen Reproduzierbarkeit vervielfältigt, hat er vielleicht nur diese zwei Möglichkeiten: die Flucht ins bedeutungsvolle Schweigen oder die schizoi-
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de Selbstverleugnung. Mit seinem Film hat er Ersteres sicher nicht getan. Bleibt also Banksys Spiel mit seiner Identität. Die Tatsache, dass Banksys Streetart sich figurativ, inhaltlich und politisch präsentiert, dass sie, kurz gesagt, eine Aussage hat, liefert ihn einer Gefahr aus, die er selbst längst ahnt und der er sich durch ironische Selbstdistanzierung zu entziehen versucht: der Gefahr der Vereinnahmung durch Markt, Medien und Diskursmacht! Banksys finanziell erfolgreiche Kapitalismuskritik spricht Bände. Wenn seine Arbeiten zudem aus dem Kontext gerissen werden, dann beginnen sie ein Eigenleben zu führen, das sich den Gesetzen des Marktes und der Marken allzu leicht anpasst. Nichts anderes führt er uns im Film an MBW vor: Alles ist markant, beliebig, dahinter steht nichts! Was Banksy noch in der Währung von fame und street credibility ausgezahlt bekam, konvertiert MBW vollends in finanziellen Erfolg. So wird die Konvertierbarkeit der Kunst zum Prinzip schlechthin. Banksy behauptet ihre Warenförmigkeit bis hin zur Inflation. Wer wie er im Jahr 2010 einen Film über Streetart in die Kinos bringt, der bezieht sich nicht auf ihren Ursprung, sondern auf ihren Erfolg. Ihm geht es nicht um die „größte Gegenkultur seit Punk“ in Form einer „authentischen Insidergeschichte“, nicht um „echte“ Streetart, nicht einmal um deren Reproduktionen als Foto oder Film im Internet, sondern um die Simulation dieses Genres bis hin zum Hype. „Exit Through The Gift Shop“ ist damit wohl eher das Rückzugsgefecht eines Künstlers, der am Erfolg zu scheitern droht! Banksys Anonymität ist dabei eine Strategie, die taugt, ihn vor inhaltlicher Vereinnahmung zu bewahren. Paradoxerweise schützt sie auch den Wert vieler seiner Arbeiten, denn welche Echtheit kann schon infrage gestellt werden, wenn ihr Urheber unerkannt bleibt: Seine Anonymität sichert ihm Authentizität. Er bleibt einer von der Straße, behaupten zudem seine Hände im Film; irgendwo zwischen HipHop, Handwerk und Verbrechen spielen seine Finger auf der Klaviatur der Stadt. Doch dabei stellt sich medial die Authentizität jeglicher Marke kaum anders dar. Ich bin, wie ich mich zeige, behauptet sie, welche Strukturen dahinterstecken, verrate ich nicht. Banksys Film bleibt von diesem Prinzip nicht unberührt.
BANKSY
Text — R O B E R T B E H R E N D T , Foto — © A L A M O D E F I L M
ALBUM DER AUSGABE
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