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Raffiniert unspektakulär

Das Bühnenbild zu Roméo et Juliette würden viele auf den ersten und zweiten Blick als unspektakulär beschreiben. Und ich liebe Bühnenbilder, die unspektakulär daherkommen und dennoch Stoff für diese Kolumne bieten. Das Bühnenbild besteht aus zwei langen Seitenwänden, einer Rückwand und einem Boden. Wände und Boden sind graublau gemalt. Als Sinnbild für die zwei verfeindeten Familien stehen sich zu Beginn der Oper im ansonsten völlig leeren Bühnenbild je 40 Stühle auf der linken und rechten Seite gegenüber. All das sehen wir schon beim Einlass. Kurz nachdem das Orchester zu spielen beginnt, treten durch vorher kaum wahrnehmbare Türen Personen in den Raum. Die Türen sind in Wandfarbe gehalten und haben keine Türgriffe oder ähnliches. Die Türflügel öffnen sich aus dem Raum nach aussen, so dass jeder im Raum einfach gegen die Tür drückt, und schon schwingt der Türflügel auf. Dem Bühnenbildner Andrew Lieberman war sehr wichtig, dass die Türen immer von allein wieder zugehen und mit der Wand verschmelzen. Nichts einfacher als das, dachten wir uns: Damit sich die Türen wieder schliessen, haben wir Türschliesser oben an den Türen angebracht. Diese schliessen mithilfe einer starken Feder die Türen zuverlässig und automatisch.

Aber die hohen, leicht gebauten Türen aus Holz verzogen sich immer, wenn eine Sängerin oder ein Sänger diese aufstiess: Unten drückte die Sängerin die Türe auf und oben die Feder stark dagegen. Das führte zu unschönen Öffnungsbewegungen – der obere Teil wurde zugedrückt, während der untere Teil bereits halb offen war. Dieses Problem lösten wir, indem wir die Schliesser in der Höhe montierten, in der auf der anderen Seite gedrückt wurde. Ein Problem gelöst, aber es kam gleich das nächste: Wenn die Türen mit Schwung aufgestossen wurden, drückten die Federn sie ebenso schwungvoll wieder zu, und die Türen donnerten gegen den Anschlag und federten wieder auf, um dann erneut zuzufallen. Das war viel zu laut und sah hässlich aus. Weniger starke Federn wiederum würden die Türen nicht geschlossen halten. Deshalb wurden in alle Türrahmen sogenannte Möbeltürdämpfer eingebaut. Diese dienen bei Schränken und Schubladen dazu, dass diese auf den letzten Zentimetern abgebremst werden. Knapp 100 davon sorgen nun dafür, dass unsere 16 Tür flügel lautlos schliessen. Der Rückwand sieht man die Raffinesse ebenfalls nicht an. Zu Beginn des Stückes steht die Rückwand sehr tief im Bühnenbild und begrenzt einen sehr grossen Raum. Als sich Romeo und Julia das erste Mal sehen, nimmt das Schicksal seinen Lauf, und die Wand fährt von ganz hinten los Richtung Orchestergraben, aber so langsam, dass das Auge es nicht wahrnehmen kann. Am Ende der Oper wird die Wand jedoch den ganzen Raum und alle Ausgänge für Romeo und Julia genommen haben, und das Paar stirbt eingesperrt zwischen Wand und Orchestergraben. Eindrücklich ist, dass die Wand zwischenzeitlich sogar 40 Stühle vor sich herschiebt. Auch hier: Unmerklich, aber unaufhaltsam. Die Wand wird mit sehr starken, langsam und lautlos drehenden Motoren angetrieben. Damit sie immer genau geradeaus fährt, hat sie wie ein Segelschiff ein Schwert: Dieses ist mittig hinter der Wand montiert und steckt in einer Nut. Dadurch kann die Wand weder nach links noch nach rechts wegtreiben. Die Wand fährt übrigens «musikalisch»: Unser Inspizient gibt den Maschinisten genaue Angaben, damit die Wand entsprechend des Tempos, das der Dirigent anschlägt, genau in den richtigen Momenten an den Türen vorbeifährt. Das ist wichtig, denn wenn die Wand zu schnell wäre, würde der Chor vor der Schlussszene nicht mehr von der Bühne kommen und müsste ausweglos zusammen mit Romeo und Julia sterben – und das bei sehr wenig Platz zwischen Wand und Orchestergraben.

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