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Schwindelerregende Schönheit
Im Ballett «The Cellist», das am 30. April am Opernhaus Zürich Premiere hat, geht es um das Schicksal der Jahrhundert-Cellistin Jacqueline du Pré. Wer war die legendäre Musikerin, die jung verstarb, deren Celloton aber auch Jahrzehnte nach ihrem Tod noch unvergessen ist? Biografische Stationen einer ebenso faszinierenden wie tragischen Künstlerkarriere
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Am Weihnachtsabend 1966 erscheint Jacqueline du Pré nach einer Probe auf einem Fest bei Freunden. Sie ist 21 Jahre alt und bereits eine gefeierte Cellistin, wirkt aber eher wie ein schüchternes Schulmädchen. «Sie sehen nicht aus wie eine Musikerin», verabschiedet sich der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim, als er die Party verlassen will. Da holt du Pré ihr Cello aus dem Kasten, und Barenboim erlebt jene Verwandlung, die immer wieder ihre Zuhörer in den Bann zieht: Am Cello wird Jacqueline zu einem anderen Menschen – elektrisierend, ausdrucksstark, mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich direkt überträgt. Der 24-jährige Barenboim bleibt und spielt mit ihr die Nacht durch. Mit ihm findet du Pré den idealen Partner – für die Kammermusik und fürs Leben. Sieben Monate später heiraten sie in Israel. Für die Musikerin ist das eine Befreiung. «Mit Daniel», erzählt sie später, «lernte ich, mit anderen Menschen zusammen zu sein.»
Es ist die behütete Welt der Universitätsstadt Oxford, in die Jacqueline du Pré am 26. Januar 1945 hineingeboren wird. Der Vater gibt eine Steuerzeitschrift heraus. Die Mutter, eine hochbegabte Pianistin, arbeitet als Klavier- und Musiklehrerin. Alle drei Kinder, Hilary, Jacqueline und der Sohn Piers, zeigen früh musikalisches Talent. Zunächst scheint Hilary als Pianistin und Flötistin der Star in der Familie zu werden. Doch als Jacqueline zum fünften Geburtstag ein Dreiviertel-Cello bekommt, wendet sich das Blatt. Eine Freundin der Mutter erinnert sich an ein erstes Vorspiel: «Sie sass auf ihrem Stühlchen, die Noten vor sich auf dem Ständer, und kaum hatte sie das riesige Instrument ergriffen, war sie wie verwandelt, wie hypnotisiert. Da sass kein fünfjähriges Mädchen mehr vor mir.»
Die Reife ihres Spiels wirkt auf die Erwachsenen fast unheimlich. Ihr sei bereits damals klar gewesen, erzählt du Pré später, «dass ich ganz gut war. Das zeigten mir die erstaunten Gesichter der Zuhörer. Ich hatte ein gutes Gefühl für die Tonlagen des Instruments. Cellospielen war für mich das Natürlichste der Welt.» Diese Natürlichkeit fördert die Mutter auf ehrgeizige, aber spielerische Weise. Nachts komponiert sie kleine Stücke, den Fortschritten ihrer Tochter entsprechend, die sie mit Zeichnungen versieht und «Jackie» morgens ans Bett legt. Als Erwachsene leidet du Pré allerdings darunter, dass ausserhalb der Musik bei ihr kaum weitere Interessen gefördert wurden. Selbst Sport war tabu, weil sie sich die Hände hätte verletzen können.
Zu Beginn ihrer Karriere war sie ein schüchterner, pummeliger Teenager
Das Cello ist ein schwieriges Instrument, besonders für Kinder. Es verlangt wie die Geige ein feines Gehör, aber mehr Körpereinsatz. Die Saiten sind dicker, man braucht Kraft zum Greifen, und die Töne liegen auf dem Griffbrett weit auseinander – je tiefer, desto weiter. Jackie bewältigt diese Schwierigkeiten mühelos und gewinnt erste Auszeichnungen. Am Musikfestival in Westminster nimmt sie im Alter von acht Jahren teil, viele ihrer Konkurrenten sind doppelt so alt. Mit einer Komposition ihrer Mutter gewinnt sie auch an diesem Tag den ersten Preis. Lampenfieber kennt sie weder jetzt noch später – zumindest nicht auf der Bühne. Im täglichen Leben ist sie weniger selbstbewusst. Gerade zu Beginn ihrer Karriere ist du Pré ein schüchterner, pummeliger Teenager. Zu Hause wird sie noch wie ein Kind behandelt, überall sonst wie eine Erwachsene – und wie ein kommender Star. Kurz vor ihrem Solodebüt am 1. März 1961 in der Londoner Wigmore Hall erhält sie von einem Mäzen ihr erstes Stradivari-Cello als Geschenk. Ihr Selbstbewusstsein als Cellistin ist da schon stark entwickelt. Im Sommer 1960 nimmt sie als 15-Jährige an einem Meisterkurs von Pablo Casals teil, lehnt seine Ratschläge jedoch ab – der berühmteste Cellist des Jahrhunderts ist ihr zu dogmatisch.
Umso mehr vertraut du Pré ihrem Londoner Lehrer Bill Pleeth. Er bringt sie weiter, weil ihm die Spieltechnik weniger wichtig ist als die Kreativität seiner Schülerin. Er ist es auch, der sie 1956 zum Suggia-Wettbewerb anmeldet, was wichtige
Türen öffnet: Siebenmal hintereinander, von 1956 bis 1962, gewinnt sie das begehrte Stipendium, das die Finanzierung ihrer Ausbildung bei Bill Pleeth in London sichert. Und gleich im ersten Jahr lernt sie den Dirigenten Sir John Barbirolli kennen, der ihr die Musik ihres Lebens nahebringen wird: das Cellokonzert von Edward Elgar. Als gelernter Cellist hat Barbirolli bei der Uraufführung 1919 selbst im Orchester gesessen und Elgar als Dirigenten erlebt. Im März 1962 spielt Jacqueline du Pré dieses Konzert erstmals in der Royal Festival Hall in London. Der gefürchtete Kritiker Neville Cardus schreibt im Guardian: «Ein Schwanengesang von seltener und schwindelerregender Schönheit. Am ersten Tag des Frühlings wurden die Anwesenden Zeugen des frühen Erblühens von Miss du Prés Spiel.
Das Cello-Wunderkind schafft den Weg ganz nach oben
So ein wunderschönes Blühen werden wir nicht mehr so schnell erleben, weder in diesem noch in kommenden Jahren.» Ende des Jahres wird sie vom Daily Express zur Solistin des Jahres gewählt. Ein Kritiker stellt fest: «Sie ist auf dem Weg nach ganz oben.» Doch so gerade verläuft der Weg nicht. Wie viele Wunderkinder gerät auch du Pré an der Schwelle zum Erwachsenenalter in die Krise. Pablo Casals ging es so, der mit 15 krank und depressiv wurde. Yehudi Menuhin musste sich bewusst neu erarbeiten, was er zuvor instinktiv auf der Geige vollbracht hatte. Und du Pré fühlt sich in dieser Phase zutiefst gespalten zwischen der Welt der Musik und dem Wunsch nach dem ganz normalen Leben, das sie erst jetzt entdeckt. Mit 17 fährt sie zum ersten Mal mit der U-Bahn; ihre Allgemeinbildung ist mangelhaft, da sie bereits mit 14 die Schule verlassen hat. Vor allem zweifelt sie plötzlich, ob sie als Cellistin wirklich gut genug ist. Ihr Wunsch, noch einmal zu studieren, führt sie im Frühjahr 1966 zu Mstislaw Rostropowitsch ans Moskauer Konservatorium. Der mildert einige ihrer Extravaganzen, wie sie selbst sagt, aber wichtiger noch: Er gibt ihr neuen Glauben an ihr Können mit auf den Weg. In Moskau beschliesst du Pré endlich, Cellistin zu sein.
Oder begreift, dass sie es längst ist. Denn schon Ende 1965 erscheint die Plattenaufnahme von Edward Elgars Cellokonzert mit Sir John Barbirolli und dem London Symphony Orchestra. Die bis heute nicht übertroffene Leidenschaftlichkeit ihrer Interpretation reisst das oft unterschätzte Werk aus dem Schatten und macht du Pré endgültig berühmt. Mit dem BBC Symphony Orchestra geht sie erstmals auf Amerika-Tournee. Die Herald Tribune schreibt über ihr Konzert in New York: «Man muss schon in die Glanzzeiten von Casals zurückgehen oder zu einem einzigartigen Künstler wie Rostropowitsch, um einen angemessenen Vergleich zu finden.» Nicht nur die Kritiker, auch andere Musiker schätzen sie. Stephen Bishop wird der erste Pianist, mit dem sie Duo spielt. Yehudi Menuhin holt sie zu seinen privaten Kammermusikabenden. Auch im Haus von Menuhins Tochter Zamira geht sie ein und aus – und lernt dort auf der besagten Weihnachtsparty 1966 Daniel Barenboim kennen. In den Swinging Sixties ist London auch für klassische Musik eine aufregende Stadt. Eine neue Generation von Musikern belebt die Szene: John Ogdon, Janet Baker, Vladimir Ashkenazy, Martha Argerich und natürlich Barenboim, der eng mit Zubin Mehta und Itzhak Perlman befreundet ist. Man kennt sich, schätzt und inspiriert sich gegenseitig. 1967 kommt der Geiger Pinchas Zukerman dazu, mit dem du Pré und Barenboim fünf Jahre lang Trio spielen: ein intimes und intensives Miteinander. Du Prés intuitives, unintellektuelles Spiel setzt ihr allerdings auch Grenzen: Zugang zur Musik ihrer Zeit findet sie nicht. «Weiter als Bartók gehe ich nicht», sagt sie.
Kritiker bemängeln immer wieder ihren exzessiven Körpereinsatz auf der Bühne. Einige finden es unangemessen und extravagant, wie sie ihre langen blonden Haare zurückwirft. Aus heutiger Sicht erscheint diese Kritik sehr zeitbedingt. In England galt es bis in die vierziger Jahre noch als unfein, wenn Frauen das Cello zwischen die
The Cellist
Ballett von Cathy Marston
Choreografie und Inszenierung
Cathy Marston
Musikalische Leitung
Paul Connelly
Musikarrangements / Originalkomposition
Philip Feeney
Szenarium
Cathy Marston und Edward Kemp
Bühnenbild
Hildegard Bechtler
Kostüme
Bregje van Balen
Lichtgestaltung
Jon Clark
Dramaturgie
Edward Kemp, Michael Küster
Philharmonia Zürich
Ballett Zürich
Junior Ballett
Schülerinnen der Tanz Akademie Zürich
Premiere 30 Apr 2023
Weitere Vorstellungen
6, 14, 18, 20 Mai;
15, 15, 20, 22 Jun 2023
Partner Ballett Zürich a b
Beine nahmen. Schaut man sich den BBC-Filmmitschnitt ihres Elgar-Konzerts aus dem Jahr 1967 an, wirken du Prés Bewegungen jedenfalls so natürlich wie musikalisch. Ihr Konzertkalender ist dicht gefüllt. Anfang 1967 spielt sie in Osteuropa und der Sowjetunion. Im April gibt sie ihr erstes Konzert mit Barenboim als Orchesterchef. Nach Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs fliegen beide nach Israel, um in Konzerten ihre Solidarität mit dem jüdischen Staat zu bekunden. Zwischendurch heiraten sie, du Pré konvertiert zum Judentum. Danach geht es weiter nach Amerika. Der Dokumentarfilm Du Pre in Portrait von Christopher Nupen zeigt sie im Flugzeug mit dem Cello auf dem Nebensitz, der jeweils auf den Namen Miss Stradivarius gebucht wird. Es sind fröhliche Bilder einer ungemein attraktiven Frau, die menschlich wie künstlerisch auf dem Höhepunkt ist. Hinter dem strahlenden Lachen – ihre engsten Freunde nennen sie Smiley – sind weder ihre stetig wachsende Flugangst noch die Symptome der langsam ausbrechenden Krankheit zu erkennen: Müdigkeit, Doppelbilder, plötzliches Stolpern.
Die Diagnose: eine besonders aggressive
Form von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose ist am Anfang schwer zu diagnostizieren. Die Ärzte tun du Prés Beschwerden als psychische Erkrankung ab, bis die sensible Musikerin selbst daran glaubt. 1971 ist die Krise handfest. Sie pausiert und trennt sich kurzzeitig von Barenboim. Die Depressionen werden auch nach einem längeren Landaufenthalt bei ihrer Schwester Hilary und Schwager Christopher Finzi nicht besser. Über diese Zeit erzählt die Schwester 1997 in ihrem Buch Hilary und Jackie von einer Affäre zwischen Jackie und Finzi – das Geständnis hat zuerst einen kleinen Skandal und später einen Kinofilm zur Folge.
1972 gelingt der Cellistin noch einmal ein kurzes Comeback. Sie spielt, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, doch die Symptome kehren zurück. Das BrahmsDoppelkonzert am 26. Februar 1973 mit Geiger Pinchas Zukerman unter der Leitung von Leonard Bernstein wird ihr letztes Konzert. Hände und Arme fühlen sich so taub an, dass sie die Töne nicht mehr trifft. Bernstein bringt sie am selben Abend zu einem Arzt, aber es wird noch sieben Monate dauern, bis die Diagnose gestellt wird: eine besonders aggressive Form von multipler Sklerose, die am Ende zu völliger Lähmung führt. Der Schock ist unermesslich – mit der Fähigkeit, Cello zu spielen, stirbt ein wesentlicher Teil ihrer Identität. Aber sie zeigt sich tapfer, gründet 1978 einen MSForschungsfonds und tritt einige Male als Sprecherin in Peter und der Wolf auf. Solange es geht, gibt sie Meisterklassen und Einzelunterricht. Die Ehe besteht auf dem Papier weiter, doch feste Beziehungen hat sie am Ende nur noch zu ihrem Psychoanalytiker und zu der Krankenschwester, auf die sie rund um die Uhr angewiesen ist. Am 19. Oktober 1987 stirbt Jacqueline du Pré im Alter von 42 Jahren.
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