7 minute read

Zwei ungleiche Brüder

Next Article
Plan

Plan

Die jungen Talente des Internationalen Opernstudios sind diese Spielzeit mit Georg Friedrich Händels «Serse» (Xerxes) zu Gast am Theater Winterthur. «Serse» zählt zu Händels letzten Opern, bei der nicht nur der Evergreen «Ombra mai fu» lockt: Das Werk ist eine Tragikomödie voller Intrigen und Missverständnisse, bei der die Figuren ein enormes Gefühlsspektrum durchleben. Im Gespräch erläutern Regisseurin Nina Russi und Dirigent Markellos Chryssicos ihre Herangehensweise an das Stück

Nina, Händels Oper beginnt damit, dass Serse die Schönheit eines Baumes besingt. Es ist das berühmte Larghetto «Ombra mai fu». Was sagt das über die Oper und ihre Titelfigur aus?

Nina Russi: Das ist ein kurioser Beginn. Der historische Herrscher Xerxes war ja bekannt als skrupelloser Machtmensch. Und hier: Ein Tyrann, der vollkommen bei sich ist und sich an der Schönheit der Natur, an einem Baum ergötzt? Natürlich fragt man sich, wie das zusammengeht. Das hat etwas Tragikomisches und ist auch der Grundton dieser Oper. Tatsächlich war der historische Xerxes nicht nur Machtmensch, sondern eine schillernde, verrückte Persönlichkeit. Die Episode mit der Liebe zur Platane scheint sogar historischen Tatsachen zu entsprechen. Angeblich liess er das Meer auspeitschen und Fussfesseln hineinwerfen, als seine Brücke über den Hellespont nicht hielt. Händel ist aber grundsätzlich nicht am historischen Vorbild interessiert, sondern an den privaten Seiten eines Herrschers, der gewohnt ist, alles zu bekommen und dafür schamlos über Grenzen geht. Händel zeigt diese Figur, wie sie permanent scheitert und sich mit ihren menschlichen Abgründen konfrontiert sieht.

Es ist die Liebe, die den souveränen Herrscher aus dem Konzept bringt.

Nina Russi: Ich würde sagen, zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt. Wir sehen Serse nie in der Öffentlichkeit, sondern nur im Verbund mit anderen Figuren, mit denen es ihm schwerfällt, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Aber nur so ist wahre Liebe möglich. Das ist wahrscheinlich auch die geheime Botschaft dieser Oper, die so leicht und luftig und gleichzeitig tiefsinnig daherkommt wie ein Stück von Shakespeare und bereits auf die Opern Mozarts vorausweist.

Worum geht es denn in dieser Geschichte? Kann man sie überhaupt nacherzählen?

Nina Russi: Das ist im Detail ähnlich kompliziert wie bei Le nozze di Figaro. Wer gerade welchen Wissensstand aufgrund welchen Briefes hat, die vielen Missverständnisse, Intrigen und Verwechslungen, ist verwirrend. Im Grunde genommen ist es aber eine ziemlich traurige Familiengeschichte zwischen zwei Halbbrüdern, Serse und Arsamene, und den beiden Schwestern Romilda und Atalanta. Arsamene und Romilda sind ein Paar, aber Serse setzt sich in den Kopf, Romilda zu erobern, und Atalanta versucht, ihrer Schwester den Freund auszuspannen. Dann gibt es noch Amastre, Serses Ex-Verlobte, sowie Elviro, den schrägen Kumpel von Arsamene. Ariodate, der Vater der beiden Schwestern und ehemaliger Angestellter von Serse, bringt auch einiges durcheinander. Es sind nur sieben Personen, aber es werden sämtliche denkbaren Figurenkonstellationen durchgespielt, und das in einem rasenden Tempo. Manchmal fühlt man sich wie in einer Stegreifkomödie, so schnell wechseln die Situationen.

Markellos, wie sieht diese Stegreifkomödie auf der musikalischen Ebene aus?

Markellos Chryssicos: Dazu möchte ich vorausschicken, dass sich Händel in der Zeit des Serse an einem künstlerischen und ökonomischen Scheideweg befand. Sein Opernunternehmen ging Pleite, das Londoner Publikum verlor allmählich das Interesse an der Opera seria, wie sie dreissig Jahre lang zu erleben war. Händel musste sich neu erfinden und schrieb nach Serse ja dann auch seine grossen Oratorien. Zur Zeit der Komposition von Serse war Händel sehr von der Beggars’ Opera von Pepusch und Gay inspiriert, die einen enormen Einfluss auf das damalige Musikleben in London hatte. Darin verlor die klassische, starre Form der da-CapoArie ihre Vorrangstellung, vielmehr standen jetzt kurze Nummern, Volksweisen und Volkslieder im Zentrum. Die Tendenz zu kürzeren Formen lässt sich auch bei Serse beobachten, auch wenn Händel die da-Capo-Arien nicht ganz abschafft, sie aber doch oft auffällig kurz gestaltet. Es gibt in Serse viele Ariosi-Formen oder Nummern, die ganz ohne musikalische Einleitung auskommen. Diese Formen- vielfalt mag den Eindruck von etwas Improvisiertem erwecken oder eben von einer Stegreifkomödie. Ich sehe darin auch eine Abkehr vom Elitären, hin zu mehr Volksverbundenheit, gerade auch in den Buffo-Elementen dieses Stücks.

Nina Russi: Auffällig ist auch, dass es nicht mehr soviele Rezitative gibt und die Handlung zuweilen sogar in den Arien vorangetrieben wird. Die Sprache des Librettos ist sehr direkt und einfach, im besten Sinne. Ich kenne das so von keiner anderen Händel-Oper.

Jedenfalls unterscheidet sich Serse sehr von Händels drei Jahre zuvor entstandener Magic-Opera Alcina, die mit viel aufwändigem Bühnenzauber gezeigt wurde. Sämtliche Vorgänge – erotische Verführung oder das Spiel mit den Geschlechtern – geschehen dort unter dem Deckmantel der Zauberei…

Nina Russi: Händels Serse kommt ganz ohne barocken Theaterzauber aus. Manchmal sind die theatralen Situationen sogar beinahe Alltagssituationen nachempfunden. Für mich sind das allesamt sehr heutige Figuren, es sind moderne Konstellationen, und es werden heutige Themen verhandelt. Das hat mich von Anfang an fasziniert. Es war für uns als Team klar, dass wir diese Geschichte mit modernen Mitteln und modernen Menschen erzählen wollen. Es sind junge Menschen, die auf Identitätssuche sind, dabei tiefe Sehnsucht haben nach Liebe und der Erfüllung ihres Begehrens. Händel zeigt in jedem Moment: Verliebt zu sein ist ein Ausnahmezustand. Serses Leidenschaft macht ihn zum Beispiel geradezu blind gegenüber allen und allem. So kann man durchaus verstehen, warum Serse seine von ihm verstossene Verlobte Amastre nicht erkennt, als sie in einer Tarnidentität wieder die Nähe zu ihm sucht.

Markellos, die unterschiedlichen Arien kommen mir wie ein buntes Kaleidoskop vor. Welche Farbe hat Serse, wie ist er musikalisch charakterisiert?

Markellos Chryssicos: Das kann man so nicht sagen. Ich gehöre zu denjenigen, die behaupten, dass die psychologische Grundierung eines Charakters in der Identität und Tiefe, wie wir sie von Figuren in späteren Opern kennen, im Barockzeitalter so noch nicht existiert. Die Arien sind eher Gefässe und daher auch oft austauschbar. Die berühmte Arie «Lascia ch’io pianga» aus Rinaldo hat Händel zum Beispiel aus seiner früheren Oper Il trionfo del tempo e del disinganno eins zu eins übernommen und einfach nur den Text geändert. Selbst die sogenannte Tonartencharakteristik schien für Händel keine Rolle zu spielen: War eine Arie für einen Sänger oder eine Sängerin zu hoch, transponierte er sie einfach um einen Ton tiefer. Händel war da sehr pragmatisch.

Nina Russi: Die beiden Brüder Serse und Arsamene zum Beispiel sind in ihren Arien aber doch auch musikalisch gezeichnet und voneinander abgegrenzt. Arsamene hat auffällig viele langsame, tiefe Arien, die auf einen eher depressiven, melancholischen Charakter hinweisen. Deshalb ist Arsamene in unserer Inszenierung ein Singer-Songwriter, ein Künstlertyp, der immer wieder mit sich hadert und an allem zweifelt. Er leidet sehr unter der Rivalität mit seinem Halbbruder und ist sich nicht sicher, ob ihm Romilda wirklich die Treue hält, nachdem ihn sein Bruder aus dem Haus gejagt hat. Im Gegensatz zu Serse ist Arsamene viel reflektierter, tiefgründiger, und er ist eindeutig der Sympathieträger des Abends.

Markellos Chryssicos: Für dich als Regisseurin ist es natürlich wichtig, einen starken dramaturgischen Rahmen zu setzen, um den Vorgängen auf der Bühne Plausibilität zu verleihen und die Charaktere lebendig werden zu lassen. Das ist richtig und schön – und hilft letztlich auch der musikalischen Interpretation. Denn es gibt unendlich viele Möglichkeiten, diese Musik zum Leben zu erwecken.

Händel standen ganz bestimmte Sängerinnen und Sänger zur Verfügung, denen er die Partien auf den Leib schrieb. Das waren ja auch sehr spezifische Charaktere …

Markellos Chryssicos: Natürlich. Händel schrieb für die Gesangsstars der damaligen Zeit. Als Serse hatte er den berühmten Kastraten Caffarelli, als Romilda die Francesina, die später auch vielen Händel-Oratorien ihren Stempel aufdrücken sollte. Das ging meistens sehr gut. Wenn es eine Wiederaufnahme gab und die Besetzung wechselte, machte Händel kleinere Änderungen, aber nicht mehr allzu grosse. Seine kreative Energie steckte er jeweils in die Uraufführungen. Aber er verfuhr dabei, wie gesagt, sehr pragmatisch. Der romantische Geniebegriff greift bei Händel jedenfalls nicht, Händel war auch Unternehmer und sah sich mit vielen täglichen Theaterproblemen konfrontiert. Es gibt dieses wunderbare Buch von Benedetto Marcello mit dem Titel Il teatro alla moda. Darin beschreibt er höchst unterhaltsam, wie das Theater damals funktionierte, und gibt Künstlerinnen und Künstlern viele Tipps. Einem Kostümdbildner empfiehlt er beispielsweise, ein Kostüm erst in letzter Minute zu zeigen, da sich die Sänger anderenfalls beschweren und Änderungen verlangen könnten. Die Probleme haben sich bis heute nicht verändert... Dennoch: Wenn wir eine Zeitreise ins Barockzeitalter unternehmen würden, wären wir überrascht, wie damals Oper gemacht und rezipiert wurde. Das hat rein gar nichts damit zu tun, wie wir heute mit diesen Werken umgehen.

Wir haben bei Serse einiges gestrichen. Hattest du dabei keine Skrupel?

Markellos Chryssicos: Ich bin grundsätzlich ein sehr unmoralischer, skrupelloser Charakter... Aber nochmals: So wie wir heute drei Stunden still auf unserem Stuhl sitzend einer Oper in beinahe sakraler Stimmung zuhören, wurde Oper im Barockzeitalter nicht erlebt. Die Leute gingen rein und raus, assen und tranken während der Vorstellung. Es ging darum, Spass zu haben – was damals gar nicht so einfach war. Heute können wir den Fernseher anmachen, ins Kino gehen, Videogames spielen... Wenn Händel für spätere Wiederaufnahmen Striche machte, waren das oft gar nicht so überzeugende, kohärente Striche. Ich glaube, der Barockmensch Händel hätte nichts gegen unsere Fassung einzuwenden.

Markellos, du arbeitest mit den jungen Sängerinnen und Sängern des Internationalen Opernstudios. Sie alle sind unterschiedlich weit in ihrem künstlerischen Werdegang und bringen unterschiedliche Erfahrungen im Barockgesang mit. Was ist für dich die Hauptaufgabe in der Arbeit mit ihnen?

Markellos Chryssicos: Selbst wenn jemand bereits Erfahrung in Barockmusik hat, muss das noch nichts heissen. In der sogenannten historisch informierten Praxis gibt es sowieso unterschiedliche Schulen. Für mich ist bei der Interpretation barocker Musik eine Sache sehr zentral: das Timing, das rasche AufeinanderReagieren mit Ohr und Auge. Das ist etwas, was in der klassischen Musik meistens viel zu kurz kommt. Hier könnten wir viel von Jazz, Folk und Rock lernen. Wie genau ist eine Note mit einem Konsonanten verbunden, der dieser Note vorausgeht? Wie steht ein gesungener Ton in Bezug zum Continuo oder zum Orchester? Was ist die Beziehung zwischen der Länge eines Tones und einer Silbe des Textes? Das sind die Nuancen, die barocke Musik lebendig machen. Es gibt eine Stelle in Prousts Recherche, in der eine der Figuren, anstatt sich über die Natur zu erfreuen, blühenden Blumen oder singenden Vögeln zuzuschauen, ihrer Begeisterung über die Schönheit einer Lokomotive Ausdruck verleiht, über deren Kraft, den vollkommen regelmässigen Rhythmus, ihre Unaufhaltsamkeit. Ich verstehe, dass man von einer Lokomotive fasziniert sein kann, aber sie verkörpert genau das Gegenteil zur Ästhetik des Barocks, für den eben genau die Unregelmässigkeit in den Betonungen wichtig war, die Variation, die Flexibilität. Das versuche ich den jungen Sängerinnen und Sängern zu vermitteln.

Serse

Oper von Georg Friederich Händel

Musikalische Leitung

Markellos Chryssicos Inszenierung

Nina Russi

Bühnenbild

Julia Katharina Berndt

Kostüme

Annemarie Bulla

Lichtgestaltung

Hans-Rudolf Kunz

Video

Ruth Stofer

Dramaturgie

Kathrin Brunner

Serse

Siena Licht Miller

Arsamene

Simone McIntosh

Amastre

Freya Apffelstaedt

Romilda

Yewon Han

Atalanta

Chelsea Zurflüh

Ariodate

Benjamin Molonfalean

Elviro

Gregory Feldmann

Musikkollegium

Winterthur

Statistenverein am Opernhaus Zürich

Premiere 6 Mai 2023

Weitere Vorstellungen

10, 12, 14, 17 Mai 2023

Theater Winterthur

Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich

This article is from: