Orest

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OREST

MANFR ED TROJAHN


Schöne Aussicht Schon vor dem Einsteigen Progressive Designsprache – dynamisch und elegant. Das neue Audi A5 Coupé. Engineered with soul.

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OREST MANFRED TROJAHN (*1949)

Mit freundlicher UnterstĂźtzung der

Ringier AG


Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, dass er auf nichts anderes als auf sich selber zählen kann, dass er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, das er sich selbst geben wird, ohne ein anderes Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird. Jean-Paul Sartre


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HANDLUNG 1. Szene Orest wird von inneren Stimmen gequält. Blutige Bilder der Vergangenheit steigen in ihm auf: Er hat seine Mutter Klytämnestra erschlagen, um den Mord an seinem Vater Agamemnon zu rächen, den diese begangen hat. Den Befehl zum Muttermord erteilte ihm der Gott Apollo. In seiner Verzweiflung ruft Orest nach ihm. Laut Apollos Rechtsordnung ist der Muttermord legitim. Für Orests Schuld­­gefühle will der Gott keine Verantwortung übernehmen. Orest soll sich an Menelaos wenden, der aus dem Trojanischen Krieg nach Argos zurückkehren wird: als Thronanwärter sei dieser auf Frieden in der Stadt angewiesen. Er habe deshalb Gründe, Orest freizusprechen. Apollo verwandelt sich in Dionysos. In geheimnisvollen Worten will er Orest zu Ruhm verführen und offenbart ihm, wen er selbst dafür begehrt: Hele­na, die schönste aller Frauen.

2. Szene Helena, die Schwester Klytämnestras, ist mit Menelaos aus dem Trojanischen Krieg zurückgekehrt. Die ehemals Vielbewunderte stösst nun überall auf ver­ schlossene Türen. Orests Schwester Elektra erkennt Helena. Als Auslöserin des Trojanischen Kriegs hat Helena grosses Leid über die Griechen gebracht. Elektra würde sie lieber tot als lebendig sehen. Dem Brauch folgend will Helena Opfergaben zum Grab Klytämnestras bringen. Doch sie fürchtet sich vor dem Hass, den man in der Stadt für sie emp­ findet, und bittet Elektra, die Gaben an ihrer Stelle zu überbringen. Elektra lehnt brüsk ab: Helena soll ihr Kind Hermione schicken.

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Hermione ist während der Abwesenheit Helenas zu einer jungen Frau herange­ wachsen. Um ihre Mutter zu schützen, geht sie mit den Opfergaben zum Grab. Elektra bewundert Hermiones Reinheit: «Was man selbst nicht hat sein können, das ist sie!»

3. Szene Menelaos will Orest zur Flucht aus der Stadt bewegen, sein Urteil sei gespro­ chen. Orest erkennt den Bruder seines Vaters und bittet ihn um Hilfe. Er schil­ dert ihm seine verzweifelte Lage, in der ihn Apollo im Stich gelassen hat. Menelaos verweigert ihm seinen Schutz. Als Anwärter auf den Königsthron darf er sich in der Stadt keine Feinde machen. Menelaos verfluchend bricht Orest zusammen. Besorgt um ihren Bruder kommt Elektra dazu. Menelaos verkündet, dass das Urteil über die beiden bereits gesprochen sei: Sie sollen gesteinigt werden. Elektras Hass richtet sich nun auch gegen Menelaos. Sie fordert das Blut der Schuldigen für eine gerechtere Welt. Menelaos entflieht.

4. Szene Orest und Elektra sind allein. Orest sehnt sich nach Liebe und dem Ende aller Schuld. Für Elektra kann es keine Liebe geben, bevor nicht Gerechtigkeit herrscht. Während Orest schläft, vertraut sie der Nacht ihre tiefe Verzweiflung an. Orest träumt vom Ruhmesversprechen des Dionysos. Muss er dafür weite­ re Morde begehen? Elektra nutzt Orests Stimmung, um ihn zu weiteren Morden anzustacheln: Er soll Helena und ihre Tochter Hermione töten.

5. Szene Hermione klagt über die zerstörte Welt und die verrohte, hasserfüllte Gesell­ schaft, in der sie lebt: Ist der Kreislauf aus Tat, Rache und Urteil nicht zu durch­ brechen?

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Helena erscheint verwirrt. Hermione will sich mit ihr vor dem Hass der Stadt verbergen. Angetrieben von Elektra stürzt sich Orest auf Helena und ersticht sie. Hermione beklagt den Tod ihrer Mutter. Dann konfrontiert sie Orest mit der Sinnlosigkeit seiner Tat. Orests und Hermiones Blicke treffen sich.

6. Szene Die Männer von Argos kommen, um Orest zu überwältigen. Elektra drängt Orest zum Mord an Hermione. Orest ist aber in Hermiones Anblick versunken. Menelaos hindert Elektra daran, Hermione selber zu erstechen. Dionysos erscheint. Er entführt Helena in sein Lichtermeer. Vor den gebannten Blicken der Umstehenden verweigert Orest Apollo und Dionysos den Gehorsam. Er lässt sich weder Befehle von Apollo erteilen, noch ist er am Ruhm interessiert, den ihm Dionysos anbietet. An der Seite von Hermione geht Orest ins Ungewisse. Der Gott kann ihn nicht halten.

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EIN NEUES BEWUSSTSEIN FÜR DIE SCHULD Der Komponist Manfred Trojahn im Gespräch

Herr Trojahn, Sie haben die Oper Orest vor sieben Jahren im Auftrag der Amsterdamer Oper komponiert und dafür einen Stoff aus der grie­ chischen Mythologie gewählt. Was hat Sie damals zu dieser Ent­schei­dung bewogen? Mich hat vor allem die Figur des Orest interessiert, die ja auch aus der Elektra von Richard Strauss bekannt ist. Dort kehrt er als totgeglaubter Bruder der Elektra überraschend nach Mykene zurück und rächt seinen Vater Agamem­non, der nach seiner Heim­kehr aus dem Trojanischen Krieg von Orests Mutter Klytämnestra brutal umgebracht wurde. Er rächt sich, indem er seine Mutter und ihren neuen Geliebten, Ägisth, erschlägt. Ich wollte über diesen Orest und sein weiteres Schicksal mehr wissen und habe ihn zur Titel­figur meiner Oper gemacht. Was hat Sie an dieser Figur inter­essiert? Die Situation, in der sich Orest nach dem Mord an seiner Mutter be­findet, sein innerer Zustand. Und damit verbunden ist die Frage, wie sich ein Mensch aus dem Dilemma befreien kann, folgerichtig gehandelt und sich trotzdem als Mörder schuldig gemacht zu haben. Mein Orest sagt: «Ich will neu denken» – und das heisst, dass er sich sowohl von den gesell­schaft­ lichen Problemen und Zwängen seiner Mitmenschen, als auch von der Übermacht der Götter befreien muss. Dass letzterer Punkt in unseren Tagen durch die Zunahme des religiösen Fanatismus eine ganz aktuelle Perspektive bekommen würde, war mir damals nicht bewusst.

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Die Vorlage für Ihre Oper haben Sie in der Orest-Tragödie des Euripides gefunden … Bei der Beschäftigung mit Euripides habe ich aber festgestellt, dass ich den Stoff bearbeiten muss. Problematisch erschien mir vor allem der Schluss der Tragödie, in dem der Gott Apollo als Deus ex machina auftritt und Orest freispricht. Für eine Oper im heutigen Zeitalter hat mich dieser Schluss nicht überzeugt, und es hätte mich auch nicht interessiert, ein solch pathetisches Ende musikalisch umzusetzen. Ihre Oper hat also einen anderen Schluss? Ja, das Ende ist offener. Die verfahrene Situation, in der sich Orest be­findet, wird in meiner Oper nicht mehr durch einen Gott geklärt. Es ist sogar um­gekehrt: Orest muss begreifen, dass ihm weder ein Gott, noch ein anderer Mensch die Schuld nehmen kann, die er sich durch den Mutter­ mord auf­geladen hat. Er muss eine andere Einstellung zu seiner Schuld finden. Am Ende der Oper scheint ihm das zu gelingen. Bei Euripides wird Orest durch den Gott Apollo mit Hermione, der Tochter von Menelaos und Helena, verheiratet. Diesen Zwang gibt es in meiner Oper nicht. Orest wendet sich Hermione freiwillig zu und erkennt in diesem Gegenüber die Möglichkeit, einen Schritt in eine neue Zukunft zu tun.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Hinter dem persönlichen Schicksal von Orest, das für Sie entscheidend ist, stehen aber auch Fragen des Rechts, die in Ihrem Textbuch an­ gedeutet werden. In der ersten Szene wird zum Beispiel die «Macht der Mütter» thematisiert. Was ist damit gemeint? Ich gehe in der Oper davon aus, dass der Gott Apollo, der Orest zum Mutter­­mord geraten hat, ein anderes Rechtssystem vertritt als Orests Mutter Kly­täm­­nestra. Robert von Ranke-Graves beschreibt in seiner Griechischen Mythologie, dass damals ein matriarchalisches Rechtssystem galt. Es sah vor, die Männer der herrschenden Königinnen alle zehn Jahre auszuwechseln. Das würde also bedeuten, dass Agamemnon, der ja erst nach vielen Jahren aus dem Trojanischen Krieg zurückgekehrt ist, überhaupt keine Rechte mehr ge­habt hätte. Seine Beseitigung durch Klytämnestra wäre demzufolge nur die

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Durchsetzung des für sie geltenden Rechts, de facto wäre sie un­schuldig. Apollo vertritt hingegen ein neues, pa­triarchalisches Recht, demzufolge Orest Klytämnestra töten muss. Orest folgt dem Befehl des Gotts und bringt sich dadurch in eine Extremsituation. Jenseits der Rechtsfragen leidet er an der ganz menschlichen Tragödie, seine eigene Mutter umgebracht zu haben. Dieser Verzweiflung verleiht der Beginn meiner Orest-Oper Ausdruck. Kann man also sagen, dass es eine psy­chologische und emotionale Situa­ tion ist, die Sie als Opernkom­po­nist inspiriert hat? Ich habe festgestellt, dass es nicht leicht ist, einen intellektuell anspruchs­ vollen Stoff in Form einer Oper zu erzählen – und trotzdem hat mich das immer wieder gereizt. Oper hat ja mit Körperlichkeit zu tun. Und deshalb finde ich es wichtig, dass auch ein abstrakter Gedanke zu einer Art von Körper­lichkeit führt. Und das gelingt am besten über das Gefühlsmässige. Starke emotio­nale Regungen lösen immer körperliche Spannungen und Reaktionen aus, die dann wiederum die szenische Umsetzung erlauben. Man kann in der Oper das Emotionale sehr stark und subtil ausdrücken, während man in der Argumentation und Begründung immer ein bisschen holz­ schnittartig bleibt. Eine der emotional stärksten Opernfiguren überhaupt ist die Elektra von Richard Strauss. In Ihrer Oper aber tritt das Schicksal Elektras etwas hinter dem von Orest zurück. Es war mir aber wichtig, die Facetten, die Elektra bei Strauss hat, weiter­­zu­er­zählen. In der Szene bei Strauss, in der sie Orest plötzlich erkennt, ist sie zuerst sehr laut und wird dann auf einmal sehr zärtlich. In meiner Oper zeigt Elektra in fast allen Situationen ihre laute Seite: Sie ist von einem radika­len Gerechtigkeitsgedanken besessen und von tiefem Hass erfüllt. Anders als Orest, der sich mit seiner verfahrenen Lage auseinandersetzt und dadurch zu Erkenntnissen kommt, macht Elektra keine Entwicklung durch. Und trotzdem hat sie eine «Perspektive»: Ihre Devise lautet: «Wir gehen in den Tod und nehmen so viele wie möglich mit». Diese Gesinnung ist heu­te leider auch wieder brandaktuell. Ich kann mir nicht vorstellen,

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dass religiös fanatisierte Terroristen tatsächlich Hoffnungen auf ein Jenseits haben. Ich glaube, das hat eher mit dem absurden Irrglauben zu tun, dass die Aus­löschung möglichst vieler Menschenleben zu einer Besserung der dies­seitigen Situation führt. Sie machen in Ihrer Oper aber deutlich, dass hinter dem fanatischen Ungeheuer ein tief verletzter Mensch steht … Das ist Elektras anderes Gesicht. Aber das soll niemand sehen. In der vierten Szene gibt es den Moment, in dem Orest schläft. Nur in dieser Einsamkeit kehrt Elektra ihr Innerstes nach Aussen und lässt eine tief menschliche Seite durchblicken. Man versteht dort, dass sie eigentlich das Schicksal ihrer Schwester Chrysothemis – die in Strauss’ Elektra vorkommt – teilt: Wie Chry­sothemis verzweifelt auch Elektra daran, dass in ihrer schuldverstrickten Familie kein normales Leben und keine Liebe entstehen kann. Sie hat weder einen Mann noch Kinder.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Elektra stösst in der zweiten Szene heftig mit Helena zu­sammen, die mit Menelaos aus dem Trojanischen Krieg zurückgekehrt ist. oder am im Foyer Es gibt in Vorstellungsabend diesem Stück drei Frauen, und sie sind alle vollkommen unter­schied­­lich. Helena habe ich fast überspitzt als eine Figur charakterisiert, die des nach vielenOpernhauses Jahren aus Troja zurückkommt und sich wundert, dass die erwerben Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren. Vielleicht ist es Helena während dem Trojanischen Krieg auch gar nicht so schlecht ergangen? Sie war die schöns­te Frau der damaligen Zeit. Und jetzt kommt sie nach Mykene, ist völlig verwirrt über Elektras Wut und fragt sich, warum sie jetzt plötzlich nicht mehr glücklich sein soll. In unserer heutigen Welt, in der soziale Medien und Castingshows eine grosse Rolle spie­len, gibt es diese Figuren ja auch, die in ihrer hedonistischen Luftblase leben, immer bewundert werden, und sich am Ende wundern, dass die Welt, mit der sie sich nie be­schäftigt haben, plötzlich bedrohlich und unangenehm geworden ist. In Ihrer Orest-Fassung ist sogar der Gott, der sich als apollinisch-­diony­ si­sches Zwitterwesen zeigt, in Helena verliebt.

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Ich wollte damit zeigen, dass der Gott nicht nur durch Anweisung – also apollinisch-vernünftig – auf Orest ein­zu­wirken versucht, sondern dass er eben auch einen egoistischen Anspruch hat. In seiner dionysischen Gestalt versucht er Orest Ruhm zu versprechen und lässt gleichzeitig durch­ blicken, dass er sich die Ermordung Helenas wünscht, weil er diese schönste aller Frauen selber besitzen möchte. Dieser apolli­nisch-­dionysische Doppelcharakter spielt ja im Werk von Friedrich Nietzsche eine grosse Rolle. Die fas­zi­nierende Sprache, zu der er in seinen Dionysos-­Dithyramben gefunden hat, hat mich in dieser Oper bei den Text­stellen für die Dio­nysosFigur sehr inspiriert. Es hat aber auch stimmliche Gründe, warum ich den Gott als Doppel­wesen zeigen wollte. Es gibt eine ähnliche Figur in den Bassariden von Hans Werner Henze, die mich zu dieser Idee inspiriert hat. Sie haben einmal gesagt, dass Hans Werner Henze mit seiner Oper Die Bassariden zu einer neuen Musiksprache innerhalb seines Werkes ge­ funden hat, und dass Orest in Ihrem Fall eine vergleichbare Änderung des Stils ausgelöst hat. Können Sie das näher beschreiben? Ich habe früher sehr lange versucht, eine musikalische Sprache zu ent­wickeln, die sich von den Sprachforderungen der Avantgardisten in den 70er-Jahren entfernt. Wichtige Impulse gaben mir dabei die Kompositionen von Gustav Mahler. Die Aufführung meiner zweiten Sinfonie, die stark an Mahlers Musik angelehnt ist, hat 1978 in Donaueschingen zu einem grossen Skandal geführt. Das war sozusagen ein Verbrechen an der Avantgarde. Im Rahmen meiner Opernkompositionen hat sich dann aber wieder eine gegenläufige Tendenz entwickelt, die sich vom spätromantischen Klangideal weg bewegt. Man fühlt sich beim Hören Ihrer Orest-Oper aber schon hin und wieder an Strauss’ Elektra erinnert. Liegt das nur daran, dass Ihre Handlung dort anknüpft, wo die Elektra zu erzählen aufhört? Es ist so, dass mein Text viel mehr mit Hofmannsthal zu tun hat, als die Musik mit Richard Strauss. Und damit habe ich auch kein Problem. Nach der Uraufführung gab es neben vielen sehr guten Kritiken nur eine, in

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der die Oper richtig verrissen wurde. Da stand unter anderem, ich würde eine furcht­bar altmodische Sprache be­dienen. Der Kritiker führte als Beispiel Elektras Satz «Weib, weisst du, was du sagst?» an, und schrieb als Vorschlag, das müsste heute eigentlich heissen «Alte Schlampe, du bist doch nicht ganz richtig im Kopf». Ich brauche für die Oper aber immer eine Kunstspra­ che und nicht eine Sprache, die den Gegenwartsbezug herstellt. Hofmanns­ thal typisiert die Sprache eben auch so, wie er sie braucht. Die Elektra-­ Sprache ist ja auch keine Gegenwartssprache des frühen 20. Jahrhunderts. Am Ende der zweiten Szene haben Sie eine Stelle komponiert, die Sie dezidiert als «Terzett» beschreiben. Das ist eine musikalische Bezeichnung, über die man im 21. Jahrhundert etwas stolpert. Der Ensemblegesang ist einer der wichtigsten Bestandteile der Oper. Wenn man ein Terzett für drei Frauen schreibt, denkt natürlich jeder an den Schluss des Rosenkavaliers. Aber es ist nun einmal so, dass ich die un­glaubliche Wirkung des Rosenkavalier-Terzetts fas­­zinie­rend finde! Ich gehe davor auf die Knie! Und nur weil ich davor knie, soll ich kein Terzett schreiben dürfen? Das Problem ist eher, dass sich der Orest-­Stoff nicht sehr für Ensembles eig­net. Aber am Ende der zweiten Szene kommt Helenas Tochter Hermione da­zu. Sie unterbricht die heftige Aus­ein­andersetzung zwischen Elektra und Helena. Hermione steht in dem Stück für das Jugend­ liche, für den Aufbruch, für die Hoffnung, wenn man so will. Und das führt dann in der Musik zu diesem Terzett, in dem sich die Situation entspannt und nicht mehr der Konflikt, sondern der gemeinsame Gesang im Vorder­ grund steht.

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Zu Beginn und am Ende der Oper hört man sechs Frauenstimmen und sechs Violinen, die über Lautsprecher in den Saal übertragen werden. Warum haben Sie sich für diese Form von szenisch nicht anwesenden Stimmen entschieden? Das hat dramaturgische Gründe. Diese Musik steht für die Stimmen, die Orest in sich hört und die ihn an seine begangene Schuld erinnern. Im Lauf des Stücks kann sich Orest von allem trennen, ausser von seiner Schuld.

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Sie ist das einzige, was bleibt. Und deshalb wollte ich dieser Schuldfrage auf einer anderen Ebene Be­deutung ver­leihen. Das Publikum soll sozusagen in den Kopf Orests hineinhören. Was hat es zu bedeuten, dass die Schuldfrage am Ende der Oper offen bleibt? Die Frage, wie man mit Schuld umgeht, spielt in Deutschland durch die Ver­antwortung, die wir für das «Dritte Reich» haben, eine besonders grosse Rolle. Aber sie stellt sich generell immer wieder. Ich denke, dass Schuld nicht abgetragen werden kann. Auch der Bau von Denkmälern tilgt sie nicht. Ich glaube, dass wir die Schuld nur be­wäl­ti­gen können, indem wir uns kol­lektiv auf eine andere Weise verhalten. Und das wird am Ende der Oper angedeutet. Statt weiter zu morden und nach Helena auch noch ihr Kind Hermione um­zubringen, hält Orest inne. Die Blicke von Orest und Hermione treffen sich. Und es deutet sich ein neues Bewusstsein an. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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DER ATRIDENFLUCH Tantalos, König in Phrygien, raubt die Speise der Götter, schlachtet Pelops, seinen Sohn, setzt ihn den Göttern vor. Die Götter erkennen die Mahlzeit, nur Demeter isst von einer Schulter. So bestrafen sie den Raub: Tantalos hängt an einem Obstbaum, der unter einem schwebenden Felsen in der dreifach um­ mauer­ten Mitte des Hades aus einem Teich wächst, in ewigem Hunger zwischen den Früchten, Durst über dem Wasser, Angst unter dem Stein. Die Götter verfluchen sein Geschlecht. Niobe, Tochter des Tantalos, hat zwölf Kinder. Sie prahlt vor den Göttern mit ihrer Fruchtbarkeit. Apollon und Artemis töten die zwölf Kinder mit zwölf Pfeilen. Zeus verwandelt die schreiende Mutter in ihr eigenes Standbild. Im Frühsommer weint der Stein. Thyestes, Sohn des Pelops, bricht die Ehe seines Bruders Atreus. Atreus erschlägt die Söhne seines Bruders und bewirtet ihn mit ihrem Blut und Fleisch. Thyestes tut seiner eigenen Toch­ ter Gewalt an. Ihr Sohn Aigisthos tötet Atreus. Agamemnon, Sohn des Atreus, nimmt Klytaimnestra zur Frau, sein Bruder Menelaos ihre Schwester Troja, der Trojanische Krieg beginnt. Zum ersten Kriegsopfer bestimmt ein Seherspruch Iphigenie, Tochter Agamemnons und der Klytaimnestra. Klytaimnestra wider­ setzt sich, Agamemnon gehorcht, Iphigenie legt ihren Hals unter das Beil. Kly­ taimnestra teilt mit Aigisthos, dem Sohn des Thyestes und Mörder des Atreus, Macht und Bett. Klytaimnestra und Aigisthos töten Agamemnon, nach seiner Heim­kehr aus zehn Jahren Krieg, im Bad mit Netz Schwert Beil. Elektra, zwei­ te Tochter Agamemnons, rettet Orestes, ihren Bruder, vor dem Schwert des Aigisthos und schickt ihn nach Phokis. Zwanzig Jahre lang, Magd unter Mägden im Palast der Mutter, wartet sie auf seine Heimkehr. Zwanzig Jahre lang träumt Klytaimnestra den gleichen Traum: eine Schlange saugt Milch und Blut aus ihren Brüsten. Im zwanzigsten Jahr kehrt Orestes heim nach Mykene, er­schlägt Aigisthos mit dem Opferbeil, nach ihm seine Mutter, die mit entblössten Brüsten vor ihm steht und um ihr Leben schreit.

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Heiner Müller: Elektratext

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DER JUNGE RÄCHER KLAGT NICHT Mit dem Mord an der Mutter ordnet sich der in das Räderwerk des Talionsge­ setzes geratene Orest einem Gott unter, der den Königsmord nicht ungestraft lassen will. Orest macht sich durch Gehorsam schuldig. Er ist nicht Herr seines Verbrechens, sondern das unverzichtbare Glied in einer Kette von Gräueltaten. Doch der auf ihn ausgeübte Zwang, die absurde Pflicht, die Mutter zu töten, um den Vater zu rächen, ist nicht der eigentliche Kern der Tragödie. Trotz der unlösbaren Situation, in der Orest, ganz gleich ob er tötet oder nicht, sich Schuld auflädt, klagt der junge Rächer nicht über sein unverdientes Los, sondern beugt sich ihm, er nimmt es an. Das ganze Drama der Orestie – die Vorbereitung des Verbrechens, der Anruf des Vaters – führt uns nur die immer tiefere Einwilli­ gung Orests in die blutige Vergeltungstat vor Augen, sein stetes Bemühen, sich selbst in jene Nacht des Bösen und des Grauens zu verwandeln, die Agamemnons Tod repräsentiert – mit anderen Worten: seinen Wunsch, ins Innere des eigenen Schicksals zu gelangen. aus Maurice Blanchot: Der Orest-Mythos

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IM DICKICHT DES ICHS Ein Gespräch mit dem Regisseur Hans Neuenfels

Herr Neuenfels, in Ihrer Autobiografie beschreiben Sie, wie Sie als 30-­ Jähriger eine Tragödie des Euripides aufschlagen und eine Welt vor­ finden, die Sie völlig überfordert und in Panik versetzt. Seither haben Sie sich als Regisseur immer wieder mit den Tragödien der Antike be­ schäftigt. Kennen Sie dieses Gefühl der Überforderung auch heute noch? Die Ohnmacht hat sich gelegt, weil mir der Umgang mit den antiken Göttern selbstverständlicher geworden ist. Ich bin dahinter gekommen, dass die Griechen für jede menschliche Neurose einen Gott erfunden haben. Die Götter sind sozusagen menschlichen Bedürfnissen entsprossen. Diese Entdeckung hat die Welt der antiken Mythen für mich überschaubarer gemacht. Ausserdem habe ich durch die Beschäftigung mit der Psychoanalyse ver­standen, dass es immer Schichten des Unterbewusstseins sind, die uns die griechischen Götter eröffnen. Die Psychoanalyse macht die Zusammen­hänge zwischen der Kultur und der menschlichen Psyche deutlich und zeigt uns, wie abhängig wir von diesen Vorlagen sind, die die Griechen in ihren Stücken entworfen haben. Die Beziehungen der Menschen zu den Göttern und das Unterbewusst­ sein spielen auch in Manfred Trojahns Orest-Oper eine zentrale Rolle. Trojahns Oper setzt ein, nachdem Orest seine eigene Mutter um­ gebracht hat. Der Gott Apollo hat ihm den Auftrag zu dieser Tat gegeben – nun lässt er ihn mit den Folgen der Tat alleine. Zu diesen Folgen gehören innere Stimmen, die Orest hört. Es sind Stimmen aus seinem Unterbe­ wusstsein, die Ausdruck seiner inneren Beunruhigung sind und mit der Ver­botsübertretung zu tun haben, die er began­gen hat, und der Schuld, die er auf sich geladen hat.

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Orests Muttermord ist in dem Moment, in dem die Handlung von Trojahns Oper einsetzt, bereits geschehen. Was hat zu dieser Tat geführt? Eine lange Kette von Ereignissen. Ein ungeheuerliches Knäuel von Bezie­hungen und Verflechtungen. Agamemnon, der König von Mykene, führt die Griechen in den Trojanischen Krieg. Um die Götter gnädig zu stimmen, opfert er seine Tochter Iphigenie. Seine Frau Klytämnestra hasst ihn für diese Tat, teilt während Agamemnons Abwesenheit Bett und Macht mit ihrem neuen Liebhaber Ägisth und bringt ihren Gatten schliesslich nach seiner siegreichen Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg brutal um. Orest und Elektra, die Kinder von Klytämnestra und Agamemnon, fassen diese Tat wie­derum als Aufforderung zur Rache auf: Auf Anraten von Apollo und auf Elektras Drängen hin erschlägt Orest seine Mutter Klytämnestra und Ägisth. Orest sieht sich also in eine folgerichtige Kette von ausweichlichen Rache­ taten gestellt, und dennoch quälen ihn die Stimmen seines Unter­be­wusst­­seins. Orest ist im Recht, aber trotzdem schuldig. Schuld ist ein grosses Thema in den Tragödien der Antike, und sie halten eine tiefsinnige Erkenntnis bereit: Die menschliche Existenz ist immer mit Schuld verbunden! Leben heisst sich schuldig machen. In extremster Form wird das in der Ödipus-Tragödie von Sophokles ausgeführt: Ödipus versucht die Ermordung seines Vaters und die Heirat seiner eigenen Mutter mit allen Mitteln zu verhindern, und trotzdem, oder genau deshalb, tut er es am Ende doch. Diese Ödipus-Geschichte ist deswegen so weitgreifend für unsere gesamte Ansicht von Leben geworden, weil sie benennt, dass es eben nicht Zufall oder Schicksal, sondern ein Bestandteil unserer Existenz ist, dass unser Handeln immer mit der Gefahr und meistens mit dem Fakt von Schuld verbunden ist. Im 20. Jahrhundert thematisiert das Jean-Paul Sartre in seinem OrestDrama Die Fliegen. Orest begreift sich in jenem Moment als freier Mensch, in dem er sich durch den Mord schuldig macht. In Sartres exis­­tenzialis­ti­scher Denkweise kann sich Orest dadurch von der Über­ macht der Götter befreien. Aber es gibt für seine Schuld keine Sühne:

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Er ist zur Freiheit verdammt. Wie verhält sich die Oper von Manfred Trojahn zu diesem Punkt? Manfred Trojahn versucht einen Weg des positiven Ausgangs zu finden, und der führt bei ihm über die Figur der Hermione. Sie ist die Tochter von Agame­mnons Bruder Menelaos und seiner Frau Helena. Insofern ist auch sie Teil des blutigen Beziehungsknäuels. Elektra drängt Orest, auch Helena und Hermione zu töten, aber Hermione ist jung und naiv und nicht mit Schuld beladen. Am Ende der Oper begegnen sich die Blicke von Orest und Hermione, und sie kann seinem Blick, der von Zweifel, Skrupel, Schuld, Angst und Albträumen besetzt ist, standhalten. Diese Kraft eines Gegenübers gibt – so interpretiere ich es – Orest die Chance, in einen Dialog zu treten, der ausserhalb der Kasernierung seines Wesens durch diese Schuldverkettung liegt. Es ist, als ob Orest sich die Schuld anerkennend zueigen macht und dadurch in eine Freiheit zu sich selbst kommt. Er akzeptiert seine Schuld also nicht reumütig, sondern als Bedingung seiner Existenz. Aber er schafft diesen Schritt nur mit einer Frau als Gegenüber. Ist da Liebe im Spiel, die in diesem Stück ja nie als gegeben, sondern immer nur als Sehnsucht vorkommt? Das würde ich schon sagen. Es gibt zwar in der Oper auch eine sehr zärtliche Beziehung zwischen Orest und seiner Schwester Elektra, die auch eine Form der Liebe ist und das Geschwisterliche bei weitem übertrifft – diese Zärtlichkeit wirkt vor allem deshalb so berührend, weil die ganze Vergan­gen­heit dieser Familie von Hass übersät ist. Aber zwischen den Geschwistern ist es natürlich nicht die Form der Liebe, die man zwischen Orest und Her­mione erahnen kann: Zwischen ihnen ergibt sich durch diesen intensiven Blickkontakt ein fast schon biblischer Moment des Erkennens, der für den Ausgang dieses Stücks sehr wichtig ist. Was erkennt Orest in diesem Moment? Etwas sehr Grundsätzliches: Je mehr der Mensch versteht, dass das Diesseits die einzige Plattform seiner Verwirklichung ist, desto eher kann er frei sein. Diese Erkenntnis, zu der Orest am Ende kommt, erklärt zugleich,

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warum die Schuld, Zweifel und Albträume zu der diesseitigen Existenz hinzugehören. Und wie gesagt: Die Götter entspriessen den Gehirnen der Menschen. Sie sind nicht fern, nicht fremd, nicht von höherer Art, sondern Projektionen. Sie sind keine übergeordneten Autoritäten, sondern verhelfen dem Menschen zur Selbsterkenntnis. Kommt Ihnen die Orest-Figur von Manfred Trojahn in diesem Punkt entgegen? Ja, der Mut des Komponisten, am Ende der Oper diesen positiven Schritt in die Eigenverantwortung zu tun, gefällt mir sehr. In der Oper tritt ein Gott auf, und er hat zwei changierende Gesichter: ein apollinisches und ein dionysisches. Wie verstehen Sie diese Differenzie­r ung? Ich denke, man muss das spielerisch nehmen, fast komödiantisch, aber ohne dass es seine Wichtigkeit verliert. Diese Verwandlung ist eine subjektive Sicht von Orest: Einmal erscheint ihm der Gott apollinisch-vernünftig, dann wieder dionysisch-verführerisch. Orest akzeptiert diesen Gott, aber dieser könnte auch ein Kampfgenosse oder eine Absplitterung seines Selbst sein. Auf keinen Fall ist es eine heilige oder abgetrennte Figur, die aus dem Jenseits erscheint. Das finde ich sehr sympathisch. Orest erkennt an dieser Figur, dass die Götter ihn nie erlösen können. Er muss den Schritt selbst tun. Der Gott verweist Orest an Menelaos, der im Trojanischen Krieg an der Seite seines Bruders Agamemnon gekämpft hat und der für Orests Racheakt eigentlich Verständnis zeigen sollte. Menelaos hat aber nach dem Tod von Klytämnestra und Ägisth politische Ansprüche in Mykene. Er ist ein Politiker mit Kalkül und kann dem ver­ schuldeten Orest deshalb nicht helfen. Das erhöht den Druck auf Orest: Er ist vollkommen auf sich selbst gestellt und kommt in dieser Einsamkeit zu der Einsicht, dass er am besten sein eigener Gott ist. Und so handelt er dann auch.

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Orests Schwester Elektra leidet ebenfalls an der verhängnisvollen Ge­ schichte ihrer Familie. Sie fordert Gerechtigkeit. Und sie fordert sie auf radikale Weise: Sie will weitere Morde und mehr Blut. Warum geht die Forderung nach Gerechtigkeit immer auch mit Fanatismus einher? Gerechtigkeit ist immer an Dogmen und Autorität gebunden, das heisst, wenn Gerechtigkeit in totaler Form durchgesetzt werden soll, läuft sie immer auf radikal einseitige Konsequenzen hinaus. Es ergibt sich eine Pro­grammierung. Und ein Programm hat immer mit Fixierung und Erstarrung zu tun. Es gibt eben keine objektive Gerechtigkeit. Liegt es an diesem Irrtum, dass Elektra anders als Orest in diesem Stück keine Entwicklung durchmacht? Elektra ist in ihrem Programm erstarrt. Sie ist nicht in der Lage, eine Kreativität zu entwickeln, die sich aus Zweifeln, Skrupeln und Revision der eigenen Meinungen ergibt. Bedeutet das, dass die quälenden inneren Stimmen, die Orest hört, eine kreative oder konstruktive Qualität haben, weil sie ihm helfen, sich aus seiner Lage zu befreien? Der nicht-kranke Mensch steht immer im Dialog mit sich selbst. Es ist mir wichtig, zu betonen, dass ich den Stimmen hörenden Orest nicht als eine wahnsinnige oder schizophrene Figur verstehe. Er ist ein vernünftiger Mensch, der ein inneres Selbstgespräch führt, besetzt mit der Fülle von widerstrebenden Meinungen, Gefühlen und Worten, die er versucht zu ordnen. Das griechische Wort «Kritik» bezeichnet diesen Vorgang sehr gut: Es bedeutet, dass man sich zu etwas verhält, es sondert und dadurch eine Ent­schei­ dung herbeiführt. In diesem Sinne sind Orests innere Stimmen durchaus als konstruktiv zu bewerten. Seine Mitmenschen verstehen das aber nicht: Es gibt in der Oper eine Passage, in der Orest Menelaos klarzumachen versucht, wie sich der Muttermord zugetragen hat. Vordergründig erscheint das wie Auskünfte eines Irren. In Wirklichkeit – so verstehe ich Trojahns Form der Dialektik – versucht Orest in dieser Szene seine Extremsituation ver­ ständlich zu machen. Menelaos empfindet das aber nur als Wahn. Er versteht

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den Code nicht, von dem Orest geleitet wird, und das verstärkt seine Irri­ tation eher, als dass es sie löst. Und wie nimmt der Zuschauer Orest wahr? Aus dem Blickwinkel des Menelaos? Nein, wir müssen das Publikum immer wieder darauf hinweisen, dass es sich um Kämpfe im Dickicht des Unterbewusstseins von Orest handelt, die zu einer Erklärung drängen. Wir müssen verständlich machen, dass es nicht um den Zustand eines Wahnsinnigen geht. Ist der Mensch im Leben eigentlich immer in der Lage, zwischen dem konstruktiven inneren Selbstgespräch und dem Wahnsinn zu unter­ scheiden? Eben nicht! Das ist immer eine Gratwanderung. Und das gefällt mir am Thema dieses Stücks sehr gut. Ich empfinde die Musik gerade für solche Unternehmungen stärker als Worte. Sie öffnet uns den Zugang zu diesen inneren Welten. Wie wir gesehen haben, liegen die Handlungsmotive und -muster der Figuren stark in ihrer jeweiligen Vergangenheit begründet. Die Gescheh­ nisse rund um den Trojanischen Krieg stehen im Hintergrund der Hand­lung, dienen aber nicht der Entwicklung der Intrige. Die In­szenie­ rung muss sich dazu verhalten. Reizt Sie das als Regisseur? Es ist mit Schwierigkeiten verbunden. Im Zentrum eines Theaterstücks muss ja immer ein Konflikt stehen. In Trojahns Oper gibt es aber viele deskriptive Vorgänge. Die Schwierigkeit liegt darin, diese Reflexionen über das Vergangene in Bilder umzusetzen. Sie müssen sich in konkreten Aktionen niederschlagen – und dabei sowohl verständlich als auch sinnlich sein. Deshalb müssen wir eine konkrete Form für das Notwendige finden, das heisst, auf knappem Raum die ent­scheidenden Signale sparsam und konkret an­ wenden und die Personen klar führen. Ich bin für eine absolute Fokussierung.

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Das klingt ein bisschen, als ob der ehemals mit Skandalen behaftete Re­ gisseur Hans Neuenfels sich nun der Werktreue hingäbe … Ich meine ja nicht Werktreue! Natürlich soll sich der subjektive Zugang zum Werk voll entfalten! Aber um ein Beispiel zu nennen: Im Fall meiner Inszenierung von Strauss’ Ariadne auf Naxos an der Berliner Staatsoper vor zwei Jahren habe ich von Kollegen, die diese Oper nun wirklich gut kennen, gehört, sie hätten die Handlung zum ersten Mal richtig verstanden. Und tatsächlich wollte ich die Geschichte genau erzählen. Ich war sehr stolz darauf, dass man auf der Bühne endlich einmal Naxos gesehen hat und nicht irgendeinen Salon oder ähnliches. Man könnte die Herangehensweise, die ich da angewendet habe «Freischüttung» nennen. Ein Prozess, der auch für mich selber wichtig war. Auch ich habe nämlich nie richtig kapiert, um was es in dieser Ariadne eigentlich geht. Deshalb hatte ich den Wunsch, das alles freizuschaufeln. Und in diesem Sinn finde ich eine solche Herangehensweise eher avantgardistisch als schulfunkmässig. Hängt dieser neu erwachte Wunsch nach Klarheit mit der Welt zu­­sammen, in der wir leben, die zunehmend komplexer und undurchschau­barer zu werden droht? Künstler tun ja in gewisser Weise nichts anderes, als eine Ordnung ins Produktive zu bringen. Sie sorgen dafür, dass Gefühle wie Zorn, Trauer, Freude, Zweifel etc. nicht schwammig und verstellt, sondern unmittelbar und erkennbar vor dem Rezipienten stehen. Das finde ich in unserer sich völlig zuschüttenden Welt sehr wichtig: Die künstlerischen Stellungnahmen müssen mit höchster Deutlichkeit und Verbindlichkeit daherkommen! Das Gespräch führten Fabio Dietsche und Claus Spahn

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DU WIRST KEINEN MORD BEGEHEN Der Andere, der mir souverän Nein sagen kann, setzt sich der Spitze des Schwer­ tes oder der Revolverkugel aus, und die ganze unerschütterliche Härte seines «Für sich» mit diesem kompromisslosen Nein, das er entgegensetzt, erlischt, wenn das Schwert oder die Kugel die Herzkammern oder den Herzvorhof getroffen hat. Im Zusammenhang der Welt ist er quasi nichts. Aber er kann sich mir kämpfend entgegenstellen; d. h. er kann der Kraft, die ihn trifft, nicht eine Widerstandskraft entgegensetzen, sondern gerade die Unvorhersehbarkeit seiner Reaktion. Auf diese Weise setzt er mir nicht eine grössere Kraft entgegen – eine Energie, die bewertbar ist und sich infolgedessen darstellt, als sei sie Teil eines Ganzen –, sondern die eigentliche Transzendenz seines Seins im Verhältnis zu diesem Ganzen; nicht irgendeinen Superlativ an Macht, sondern gerade die Unendlichkeit seiner Transzendenz. Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Antlitz, ist sein Antlitz, ist der ursprüng­ liche Ausdruck, ist das erste Wort: «Du wirst keinen Mord begehen». aus Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit

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HELENA Zart unter ihrem Schmuck, langsamen Schritts und ohne all die Schönen toten Helden anzusehen, um die Verlobte weinen, Vorm Horizont, der so weit schweift wie die Gedanken ihr, Kommt Helena, im Abendlicht zu träumen. «Wer bist Du denn, die Du Verzweiflung säst?» So röcheln ihr die vielen hingemähten Sterbenden zu, Und auch die Blume, die verwelkt auf ihren eisigen Lippen, Fragt sie «Wer bist Du denn» mit Weihrauchstimme. Helena jedoch durchmisst mit düsterem Blick Das Meer, die Städte und die unbegrenzten Ebenen, Und bittet: «Oh! Genug, Natur! Nimm mich zurück! Hör doch! Welch langer Schluchzer hin zu unsern ewigen Gesetzen!» – Dann, da sie fröstelt schon in ihrer schwarzen Spitze, Steigt langsam sie hinab, aus Angst, sich zu «erkälten». Jules Laforgue: Über die «Helena» von Gustave Moreau

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APOLLO KONNTE NICHT OHNE DIONYSUS LEBEN Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit der Schönheit die Forderung des «Erkenne dich selbst» und des «Nicht zu viel!» her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Ei­ genschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausserapollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Wegen seiner tita­ nen­­­haften Liebe zu den Menschen musste Prometheus von den Geiern zer­rissen werden, seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so inter­ pretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit. «Titanenhaft» und «barbarisch» dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er­ kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das «Titanische» und das «Barbarische» war zuletzt eine ebensolche Nothwendigkeit wie das Apollinische! aus Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

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ICH BIN FREI, ELEKTRA ELEKTRA Orest! Sie wirft sich in seine Arme. OREST Wovor hast du Angst? ELEKTRA Ich habe keine Angst, ich bin

diese Hand! Sie nimmt seine Hand und küsst sie. Deine Finger sind kurz und eckig. Sie sind zum Nehmen und Festhalten gemacht. Teure Hand! Sie ist weisser als meine. Wie schwer sie sich gemacht hat, um die Mörder unseres Vaters zu erschlagen! Warte. Sie holt eine Fackel und leuchtet Orests Hand an. Ich muss dein Gesicht anleuchten, denn die Nacht wird dichter, und ich sehe dich nicht mehr genau. Ich muss dich sehen: Wenn ich dich nicht mehr sehe, habe ich Angst um dich; ich darf dich nicht aus den Augen lassen. Ich hebe dich. Ich muss denken, dass ich dich liebe. Wie merkwürdig du aussiehst! OREST Ich bin frei, Elektra; die Freiheit hat mich getroffen wie ein Blitz. ELEKTRA Frei? Ich fühle mich nicht frei. Kannst du all das ungeschehen machen? Etwas ist passiert, und wir sind nicht mehr frei, es rückgängig zu machen. Kannst du ver­hindern, dass wir für immer die Mörder unserer Mutter sind? OREST Glaubst du, dass ich es verhindern möchte? Ich habe meine Tat vollbracht, Elektra, und diese Tat war gut. Ich werde sie auf meinen Schultern tragen, wie man

trunken. Trunken vor Freude. Was hat sie gesagt? Hat sie lange um Gnade gebettelt? OREST Elektra, ich bereue nicht, was ich getan habe, aber ich mag nicht darüber sprechen: Es gibt Erinnerungen, die man nicht teilen kann. Du sollst nur wissen, dass sie tot ist. ELEKTRA Hat sie uns verflucht? Sag mir nur das: Hat sie uns verflucht? OREST Ja, sie hat uns verflucht. ELEKTRA Nimm mich in die Arme, mein Geliebter, und drück mich, so fest du kannst! Wie dicht die Nacht ist, und wie wenig die Lichter dieser Fackeln sie durchdringen! Liebst du mich? OREST Es ist nicht Nacht, der Tag bricht an. Wir sind frei, Elektra, ich komme mir vor, als hätte ich dich zur Welt gebracht und mich mit dir; ich liebe dich, und du gehörst mir. Gestern noch war ich allein, und heute gehörst du mir. Das Blut vereinigt uns doppelt, denn wir sind vom selben Blut, und wir haben Blut vergossen. ELEKTRA Wirf dein Schwert weg! Gib mir

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Körper spüren. Wohin fliehen, Orest? Sie schwellen, sie schwellen, jetzt sind sie schon so gross wie Bienen, in dichten Schwärmen werden sie uns überall hin folgen. Entsetzlich! Ich sehe ihre Augen, ihre Millionen Augen, die uns belauern. OREST Was kümmern uns die Fliegen? ELEKTRA Es sind die Erinnyen, Orest, die Göttinnen der Reue.

Reisende über einen Fluss trägt, und ich werde sie ans andere Ufer bringen und mich dazu bekennen. Und je schwerer sie ist, desto mehr freue ich mich, denn meine Freiheit ist diese Tat. Gestern noch lief ich ziellos auf der Erde herum, und Tausende von Wegen flohen unter meinen Schritten, denn sie gehörten anderen. Ich habe sie alle geliehen, den der Treidler, der am Fluss entlang­ läuft, und den Pfad des Maultiertreibers und die gepflasterte Strasse der Wagenlenker; aber keiner gehörte mir. Heute gibt es nur einen, und Gott weiss, wohin der führt: Aber es ist mein Weg. Was hast du? ELEKTRA Ich kann dich nicht mehr sehen. Diese Lichter leuchten nicht. Ich höre deine Stimme, aber sie tut mir weh, sie ist schneidend wie ein Messer. Wird es jetzt immer so dunkel sein, selbst am Tag? Orest! Da sind sie! OREST Wer? ELEKTRA Da sind sie! Woher kommen sie? Sie hängen in schwarzen Trauben an der Decke, und sie schwärzen die Wände; sie schieben sich zwischen die Lichter und meine Augen, und ihre Schatten verdecken mir dein Gesicht. OREST Die Fliegen... ELEKTRA Hör!... Hör das Geräusch ihrer Flügel wie das Summen einer Schmiede. Sie umzingeln uns, Orest. Sie belauern uns; gleich werden sie sich auf uns stürzen, und ich werde tausend klebrige Beine an meinem

aus Jean Paul Sartre:

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Die Fliegen (2. Akt, 8. Szene)

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Mörderin bist du und wurdest gemordet, Mutter, die mich einst geboren, du brachtest dem Vater Verderben und uns, den Kindern, die eines Blutes mit dir. Verloren sind wir, Gestorbenen gleich, verloren. Denn du weilst im Reiche der Toten, und mir verrinnt der grössere Teil meines Lebens in Stöhnen und Jammern und nächtlichen Tränen Muss ich doch, sieh, ohne Mann, ohne Kinder, ich Arme, mein Leben dahinschleppen in alle Ewigkeit. aus Euripides: Orestes (Elektra, Vers 194-208)


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DAS RECHT IST NICHT DIE GERECHTIGKEIT Die Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen. Ein Gerechtigkeits­wille, ein Gerechtigkeitswunsch, ein Gerechtigkeitsanspruch, eine Gerechtigkeits­for­ derung, deren Struktur nicht in einer Erfahrung der Aporie bestünden, hätten keine Chance jenes zu sein, was sie sein wollen: ein gerechter, angemesse­ner Ruf nach Gerechtigkeit. Wann immer auch die Dinge einen geraden Verlauf nehmen und alles gut geht, wann immer auch man eine gute, brauchbare Regel auf einen besonderen Fall anwendet, auf ein Beispiel, das man richtig subsumiert hat, einem bestimmenden Urteil gemäss, kann man davon überzeugt sein, dass vielleicht das Recht einen Vorteil davon hat, nicht aber die Gerechtigkeit. Das Recht ist nicht die Gerechtigkeit. Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, dass es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechen­ bar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnet. aus Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der «mystische Grund der Autorität»

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DER OREST-MYTHOS Robert von Ranke-Graves

Klytaimnestra gebar dem Agamemnon einen Sohn namens Orestes und drei Töchter: Elektra, Iphigeneia und Chrysothemis. Paris, der Sohn des Königs Priamos von Troja, hatte Klytaimnestras Schwes­ ter Helena verführt und so den Trojanischen Krieg hinaufbeschworen. Da zogen Agamemnon und Menelaos für lange zehn Jahre von der Heimat fort. Aigisthos aber schloss sich ihrem Zuge nicht an, sondern zog es vor, in Argos zu bleiben und Rache am Hause des Atreus zu nehmen. Er plante nicht nur, Klytaimnestras Liebhaber zu werden, sondern er wollte auch mit ihrer Hilfe Agamemnon töten, sobald der Trojanische Krieg beendet wäre. Der allwissende Zeus sandte Hermes zu Aigisthos und liess ihn davor warnen, seinen Plan auszuführen; denn Orestes würde, sobald er zum Manne geworden wäre, gezwungen sein, den Vater zu rächen. Trotz all seiner Beredsam­ keit gelang es Hermes nicht, Aigisthos von seinem Beschluss abzubringen. Klytaimnestra hatte wenig Grund, Agamemnon zu lieben: Er hatte ihren früheren Gemahl Tantalos und das neugeborene Kind an ihrer Brust getötet und sie gezwungen, ihn zu heiraten. Dann zog er in einen Krieg, dessen Ende nicht abzusehen war; auch hatte er die Opferung der Iphigeneia auf Aulis gutgeheissen und sollte – was sie noch härter zu ertragen fand – Kassandra die Prophetin, die Tochter des Priamos, als seine Geliebte zurückbringen. So verschworen sich Klytaimnestra und Aigisthos, Agamemnon und Kassandra zu töten. Klytaimmestra begrüsste ihren von der Reise müden Gatten mit allen Zei­ chen der Freude, rollte einen purpurnen Teppich für ihn aus und führte ihn zum Badehaus, wo Sklavenmädchen ein warmes Bad vorbereitet hatten. Als Agamemnon sich gewaschen hatte und das Bein aus dem Bade hob, eifrig bereit, an dem reichen Mahl, das schon auf den Tafeln aufgetragen war, teilzunehmen, kam Klytaimnestra zu ihm. Sie tat, als wolle sie ein Badetuch um ihn wickeln, aber statt dessen warf sie ein selbstgewobenes Netzhemd über sein Haupt, das

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weder Halsöffnung noch Armlöcher hatte. In diesem, wie ein Fisch gefangen, starb Agamemnon durch die Hände des Aigisthos, der zweimal mit einem zwei­ schneidigen Schwert auf ihn einschlug. Er fiel in die silberwandige Wanne zu­ rück, und Klytaimnestra rächte das ihr angetane Leid; sie schlug sein Haupt mit einer Axt ab. Dann rannte sie hinaus, um Kassandra mit der gleichen Waffe zu töten.

Rückkehr und Rache des Orestes Um ihn vor Aigisthos zu schützen, war der junge Orestes kurz vor der Rückkehr des Agamemnon nach Phokis geschickt worden, wo er am Hof des Strophios erzogen wurde. Dort fand Orestes einen abenteuerlustigen Spielgefährten, näm­ lich Pylades, den Sohn des Strophios, der etwas jünger war als er selbst. Zum Mann herangewachsen, besuchte Orestes das Delphische Orakel, um zu fragen, ob er den Mörder seines Vaters töten sollte. Wenn er es unterliesse, Agamemnon zu rächen, war Apollons Antwort, die auch von Zeus gutgeheissen wurde, würde er von der Gesellschaft ausgestossen, von jedem Schrein und Tempel verbannt und von Lepra befallen werden. Diese Krankheit sollte sich in sein Fleisch fressen und es mit weissem Schimmel bedecken. Gleichzeitig gab die Pythia zu bedenken, dass die Erinyen nicht leicht einen Muttermord verge­ ben würden. Daher gab sie Orestes auf Befehl des Apollon einen hörnernen Bogen, mit dem er ihre Angriffe abschlagen könnte, sollten sie unerträglich werden. Nach Erfüllung dieser Befehle müsse er wieder nach Delphi kommen, wo Apollon ihn beschützen werde. Im achten Jahr – oder nach einer anderen Version, nach Ablauf von zwan­ zig Jahren – kehrte Orestes heimlich über Athen nach Mykene zurück, mit dem Entschluss, sowohl Aigisthos wie auch seine eigene Mutter zu töten. Orestes klopfte an das Tor des Palastes und fragte nach dem Herrn oder der Frau des Hauses. Klytaimnestra kam selbst heraus, doch erkannte sie Orestes nicht. Er gab vor, traurige Nachrichten von einem gewissen Strophios zu bringen, den er durch Zufall auf der Strasse nach Argos getroffen habe: nämlich, dass ihr Sohn Orestes tot sei. Klytaimnestra hiess Orestes sofort im Palast willkommen. Sie verbarg ihre Freude vor den Dienern und liess Aigishtos herbeiholen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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Ohne Verdacht zu schöpfen, betrat Aigisthos den Palast, wo gerade Orestes Freund Pylades angekommen war und eine bronzene Urne brachte. Er erzähl­ te Klytaimnestra, dass sie die Asche des Orestes enthielte. Diese Nachricht liess Aigisthos vollständig arglos werden; so hatte Orestes keine Schwierigkeit, sein Schwert zu ziehen und ihn niederzustrecken. Klytaimnestra erkannte jetzt ihren Sohn und versuchte, sein Herz zu erweichen: Sie entblösste ihre Brust und flehte ihn an, seine Pflicht als Sohn nicht zu vergessen. Orestes jedoch enthaup­ tete sie mit einem einzigen Schlag des gleichen Schwertes, und sie fiel an der Seite ihres Liebhabers zu Boden. Während er über den Leichen stand, wandte er sich an die Dienerschaft des Palastes, hielt das noch immer blutbefleckte Netz hoch, in dem Agamemnon gestorben war, und entschuldigte sich beredt für den Mord an Klytaimnestra. Er erinnerte an ihren Verrat und fügte hinzu, dass Aigisthos die Strafe erlitten hätte, die das Gesetz für Ehebrecher vorschreibe.

Die Verurteilung von Orestes und Elektra Die Mykener, die Orestes bei seiner unerhörten Tat unterstützt hatten, erlaub­ ten nicht, dass die Leichen der Klytaimnestra und des Aigisthos in ihrer Stadt liegen blieben, sondern sie begruben sie ausserhalb der Stadtmauern. In dieser Nacht wachten Orestes und Pylades am Grab Klytaimnestras, dass keiner wagen sollte, es zu berauben. Doch während ihrer Wache erschienen die schlangen­ haarigen, hundeköpfigen, fledermausgeflügelten Erinyen und schwangen ihre Geisseln. Verwirrt durch diese wilden Angriffe, gegen die Apollons hörnerner Bogen von wenig Nutzen war, fiel Orestes flach auf eine Liege, wo er sechs Tage lang, sein Haupt in einen Mantel gehüllt, lag und sich weigerte zu essen oder sich zu waschen. Inzwischen war Menelaos, mit Schätzen reich beladen, in Nauplia gelandet, wo ein Fischer ihm vom Mord an Aigisthos und Klytaimnestra erzählte. Bei Nacht, damit die Verwandten der zu Troja Gefallenen sie nicht steinigen sollten, sandte er Helena voraus, um sich in Mykene den Bericht bestätigen zu lassen. Helena schämte sich, öffentlich um ihre Schwester Klytaimnestra zu trauern, da sie selbst noch mehr Blutvergiessen durch ihre Untreue verursacht hatte. Zu Elektra, die den leidenden Orestes pflegte, sprach sie: «Ich bitte dich, meine

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Nichte, lege meine Haare als Opfer auf das Grab Klytaimnestras, nachdem du ihrem Geist Trankopfer dargebracht hast.» Aber Elektra weigerte sich, als sie sah, dass Helena aus Eitelkeit nur die Spitzen ihres Haares abgeschniten hatte. «Statt meiner sende deine Tochter Hermione», war ihr kurz gehaltener Rat, den Helena auch befolgte. Als Hermiones Mutter mit Paris entfloh, war sie ein neun Jahre altes Kind gewesen, Menelaos hatte sie beim Ausbruch des Trojanischen Krieges Klytaimnestra zur Erziehung übergeben. Trotzdem erkannte sie Hele­ na sofort und tat pflichtschuldig, wie ihr geheissen. Dann betrat Menelaos in tiefe Trauer gekleidet den Palast, wo ihn sein Pflegevater Tyndareos begrüsste. Dieser war der Meinung, dass sich Orestes mit der Verbannung Klytaimnestras durch seine Mitbürger hätte zufriedengeben sollen. Wie die Dinge jetzt standen, mussten sie dazu überredet werden, ob sie wollten oder nicht, nicht nur Orestes, sondern auch Elektra, die ihn angetrieben hatte, als Muttermörder zu Tode zu steinigen. Menelaos, der sich fürchtete, Tyndareos zu beleidigen, sorgte dafür, dass das erwünschte Urteil gefällt wurde. Aber dank der beredten Selbstverteidigung des Orestes, der durch Pylades unterstützt wurde, verwandelten die Richter das Urteil der Steinigung in ein Urteil zum Selbstmord.

Die Erscheinung Apollons Pylades führte Orestes fort und weigerte sich, ihn oder Elektra, mit der er verlobt war, zu verlassen. Er schlug vor, Menelaos noch vor ihrem eigenen Tod wegen seiner Feigheit und dem Mangel an Treue zu bestrafen, indem sie He­ lena, als die Ursache allen Unglücks, das sie befallen hatte, töteten. Elektra wartete ausserhalb der Stadtmauern, um ihren eigenen Plan aus­ zuführen – nämlich, Hermione bei ihrer Rückkehr von Klytaimnestras Grab zu fangen und sie als Sicherheit für das gute Benehmen des Menelaos festzuhalten. Währenddessen betraten Orestes und Pylades den Palast, die Schwerter unter ihrem Mantel verborgen, und suchten Zuflucht am Altar, als ob sie Bitt­ steller wären. Helena sass in der Nähe und spann Wolle für ein purpurnes Ge­ wand, das sie als Gabe auf Klytaimnestras Grab legen wollte. Durch das Jammern des Orestes und Pylades getäuscht, näherte sie sich ihnen, um sie willlkommen

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zu heissen. Da zogen die beiden ihre Schwerter und, während Pylades die phry­ gischen Sklaven Helenas verjagte, versuchte Orestes, sie umzubringen. Doch auf Befehl des Zeus hüllte Apollon sie in eine Wolke und brachte sie zum Olymp, wo sie unsterblich wurde. Inzwischen hatte sich Elektra Hermiones bemächtigt. Sie führte sie in den Palast und schloss die Tore. Als Menelaos seine Tochter vom Tod bedroht sah, befahl er sofortige Rettungsmassnahmen. Seine Männer brachen das Tor auf. Orestes wollte gerade den Palast in Flammen setzen und Hermione töten, um selbst entweder durch Feuer oder Schwert zu sterben, als Apollon, durch die Vorsehung bestimmt, erschien, ihm die Fackel aus der Hand riss und die Krieger des Menelaos zurücktrieb. In der ehrfürchtigen Stille, die seiner Anwesenheit folgte, befahl Apollon dem Menelaos, eine andere Frau zu nehmen, Hermione dem Orestes zu verloben und selbst nach Sparta zurückzukehren, um es zu regieren. Klytaimnestras Ermordung sollte ihn nicht länger beschäftigen, da nun die Götter selbst eingegriffen hatten.

Orestes vor den Richtern Mit wolleumwundenen Lorbeerzweigen und -kränzen – um zu zeigen, dass er unter dem Schutz Apollons stand – machte sich Orestes nach Delphi auf, noch immer von den Erinyen verfolgt. Die pythische Priesterin war erschrocken, ihn als Bittsteller auf den marmornen Nabelstein gekauert zu sehen – seine unge­ waschenen Hände befleckt von Blut und die schreckliche Schar der schwarzen Erinyen schlafend an seiner Seite. Apollon jedoch beruhigte sie und versprach, als Fürsprecher für Orestes einzutreten. Ihm befahl er, seiner Prüfung mit Mut entgegenzutreten. Nach einer Zeit der Verbannung sollte er nach Athen gehen und dort das alte Bild der Athene umarmen, die ihn, wie die Dioskuren bereits vorausgesagt hatten, mit ihrer gorgonengesichtigen Aigis schützen und den Fluch zunichte machen würde. Während die Erinyen noch fest schliefen, entfloh Orestes von Hermes geleitet. Aber Klytaimnestras Geist betrat bald den Tem­ pelbereich, machte ihnen Vorwürfe und erinnerte sie, dass sie oft Trankopfer von Wein und grimmige Mitternachtmahlzeiten aus ihrer Hand empfangen hätten. Daher nahmen sie erneut die Verfolgung auf.

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Als ein Jahr vergangen war, besuchte Orestes Athen. Er ging sofort zum Tem­ pel der Athene auf der Akropolis; dort warf er sich nieder und umarmte ihre Statue. Athene, die das Flehen des Orestes gehört hatte, eilte nach Athen, vereidigte die edelsten Bürger als Richter und rief den Areopagos zusammen, um ein Urteil zu fällen. Dies war erst der zweite Mordfall, der vor ihn kam. Zur festgelegten Zeit fand der Prozess statt. Apollon erschien als Verteidi­ ger und die älteste der Erinyen als öffentlicher Ankläger. Als die Abstimmung unentschieden ausging, stellte sich Athene ganz auf die Seite des Vaters und gab ihre Stimme zugunsten Orestes ab. So war er nun in Ehren freigesprochen. Er kehrte freudenvoll nach Argolis zurück und gelobte, den Athenern, solange er lebte, ein treuer Verbündeter zu sein. Doch die Erinyen beklagten laut diese Vergewaltigung des alten Gesetzes durch neugekommene Götter.

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Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen? Friedrich Nietzsche



ICH BIN MEINE FREIHEIT! JUPITER Du trägst den Kopf sehr hoch.

Seine Stimme ist riesig geworden – Mikrophon –, aber man kann ihn kaum verstehen. Sieh diese Planeten, die geordnet dahinziehen, ohne je aufeinanderzustossen: Ich habe ihren Lauf geregelt nach der Gerechtigkeit. Hör die Harmonie der Sphären, diesen riesigen mineralischen Dankgesang, der in den vier Himmelsrichtungen widerhallt. Melodram. Durch mich pflanzen sich die Arten fort, ich habe befohlen, dass ein Mensch immer nur einen Menschen zeugt und dass das Junge eines Hundes ein Hund ist, durch mich leckt die sanfte Zunge der Flut den Sand und zieht sich zur festgesetzten Stunde wieder zurück. Ich lasse die Pflanzen wachsen, und mein Atem lenkt die gelben Wolken der Pollen um die Erde. Du bist nicht zu Hause, Eindringling; du bist in der Welt wie ein Pfahl im Fleisch, wie der Wilderer im Wald des Herrn. Denn die Welt ist gut; ich habe sie geschaffen nach meinem Willen, und ich bin das Gute. Aber du, du hast Böses getan, und die Dinge klagen dich an mit ihren versteinerten Stimmen: Das Gute ist überall, es ist das Mark des Holunders, die Frische der Quelle, die Körnung des Feuersteins, das Gewicht des Felsblocks; du wirst es überall

Du hast einen Mann erstochen, der sich nicht wehrte, und eine alte Frau, die um Gnade flehte; aber wer dich hörte, ohne dich zu kennen, könnte meinen, du habest deine Ge­burtsstadt gerettet, indem du allein gegen dreissig kämpftest. OREST Vielleicht habe ich tatsächlich meine Geburtsstadt gerettet. JUPITER Du? Weisst du überhaupt, was hinter dieser Pforte ist? Die Männer von Argos – alle Männer von Argos. Sie warten mit Steinen, Mistgabeln und Knüppeln auf ihren Retter, um ihm ihre Dankbarkeit zu bezeigen. Du bist einsam wie ein Aussätziger. OREST Ja. JUPITER Bilde dir bloss nichts darauf ein. Sie haben dich in die Einsamkeit der Verach­ tung und des Abscheus verbannt, o du feigster aller Mörder. OREST Der feigste aller Mörder ist einer, der bereut. JUPITER Orest, ich habe dich geschaffen, und ich habe jedes Ding geschaffen: Sieh. Die Wände des Tempels öffnen sich. Der Himmel wird sichtbar mit Sternen, die sich drehen. Jupiter ist im Hintergrund der Bühne.

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finden, auch in der Natur des Feuers und des Lichts, selbst dein Körper verrät dich, denn er fügt sich meinen Vorschriften. Das Gute ist in dir, um dich herum: Es dringt in dich ein wie eine Sense, es erdrückt dich wie ein Berg, es trägt und treibt dich wie ein Meer; es selbst verlieh deinem bösen Vorhaben Erfolg, denn es war die Helligkeit der Kerzen, die Härte deines Schwerts, die Kraft deines Arms. Und dieses Böse, auf das du so stolz bist, dessen Urheber du dich nennst, was ist es anderes als eine Spiegelung des Seins, eine Ausflucht, ein Trugbild, dessen Existenz selbst auch wieder vom Guten getragen wird? Geh in dich, Orest: Das Universum gibt dir unrecht, und du bist eine Made im Universum. Kehr in die Natur zurück, widernatür­ licher Sohn: Erkenne dein Vergehen, verab­ scheue es, reiss es heraus wie einen stinkenden, hohlen Zahn. Oder fürchte, dass das Meer vor dir zurückweicht, dass die Quellen auf deinem Weg versiegen, dass Steine und Felsen von deinem Weg rollen und dass die Erde unter deinen Schritten zerbröckelt. OREST Soll sie doch zerbröckeln! Sollen die Felsen mich verurteilen und die Pflanzen in meiner Gegenwart verwelken: Dein ganzes Universum reicht nicht aus, mir unrecht zu geben. Du bist der König der Götter, Jupiter, der König der Steine und der Sterne, der König der Wellen des Meeres. Aber du bist nicht der König der Menschen. Die Wände rücken wieder zusammen, Jupiter taucht

wieder auf, müde und gebeugt; er hat wieder seine natürliche Stimme. JUPITER Ich bin nicht dein König, unver­ schäm­ter Wurm. Wer hat dich denn geschaffen? OREST Du. Aber man durfte nicht den Fehler machen, mich frei zu schaffen. JUPITER Ich habe dir deine Freiheit gegeben, damit du mir dienst. OREST Das ist möglich, aber sie hat sich gegen dich gekehrt, und wir können nichts dafür, weder der eine noch der andere. JUPITER Allerdings! Das ist die Entschuldi­ gung. OREST Ich entschuldige mich nicht. JUPITER Wirklich? Weisst du, dass sie sehr nach einer Entschuldigung aussieht, diese Freiheit, deren Sklave zu sein du behauptest? OREST Ich bin weder Herr noch Sklave, Jupiter. Ich bin meine Freiheit! aus Jean-Paul Sartre: Die Fliegen (3. Akt, 2. Szene)

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MANFRED TROJAHN Manfred Trojahn wurde 1949 in Cremlingen bei Braunschweig geboren. Er stu­dierte Orchestermusik in Braunschweig, später Komposition bei Diether de la Motte in Hamburg. Seine Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, darunter mit dem Stuttgarter Förderpreis (1972), dem 1. Preis im International Rostrum of Composers, Paris (1978), dem Spren­ gel-­Preis für Musik (1980) und dem Deutschen Musikautorenpreis (2009). Er ist ist Professor für Komposition an der Robert Schumann Hochschule, Düsseldorf und Mitglied der Akademien der Künste in München, Hamburg, Düsseldorf und Berlin. Manfred Trojahns Werkverzeichnis umfasst nahezu alle Gattungen. Seine Arbeiten werden von bedeutenden Solisten, Orchestern und Dirigenten inter­ national zur Aufführung gebracht. Seit Anfang der 1990er-Jahre nimmt das Musiktheater eine vorrangige Stellung in Trojahns Schaffen ein. Seine Opern Enrico (Schwetzingen/München 1991), Was ihr wollt (München 1998), Limonen aus Sizilien (Köln 2002) und La Grande Magia (Dresden 2008) wurden an zahlreichen Theatern zur Aufführung gebracht. 2002 komponierte er die Rezitativtexte für Mozarts La clemenza di Tito für eine Produktion der Neder­ landse Opera, Amsterdam, an der 2011 sein Musiktheater Orest nach eigenem Libretto uraufgeführt wurde. In den letzten Jahren beschäftigte Trojahn zunehmend der Umgang mit dem Ensemble, so entsteht seit 2012 der Zyklus Quitter auf Texte von René Char für das Ensemble Modern, 2013 komponierte er Le Ceneri di Gramsci auf einen Text von Pier Paolo Pasolini für die MusikFabrik und zuletzt Nocturne – Minotauromachie 2015/16 für das Ensemble Intercontemporain. Im Februar 2017 ist Trojahns Oper Limonen aus Sizilien an der Volksoper Wien in einer Neuinszenierung von Mascha Pörzgen und unter der musikali­ schen Leitung von Gerrit Priessnitz auf die Bühne gekommen. Im März 2017 wird die Sonata V für Klarinette und Klavier in der Tonhalle Zürich uraufge­ führt.

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Orestes selbst erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte sich der alte, erlรถschende Fluch der Tantaliden noch einmal: eine Schlange stach ihn in die Ferse, dass er starb. Gustav Schwab


OREST MANFRED TROJAHN (*1949) Musiktheater in sechs Szenen Text vom Komponisten. Schweizerische Erstaufführung Uraufführung: 8. Dezember 2011, Amsterdam

Personen

Orest

Bariton

Menelaos

Tenor

Apollo / Dionysos Hermione Helena Elektra

Tenor

Sopran

Sopran

Mezzosopran

Männer von Argos


1. SZENE

sitzen sie auf meiner Brust und ich kann nicht atmen...

Dämmerung, Orest allein, unsichtbare Frauenstimmen, später Apollo/Dionysos, Orest in unruhigem Schlaf.

Apollo erscheint.

FRAUENSTIMMEN Grauenvoller Angstschrei einer Frau, der «aus» der Figur des Orest zu kommen scheint. Dann vereinzelt, mit der Zeit verdichtet vom Flüstern bis zum heftigen Schreien.

Quält es dich, mein lieber Freund, quält es dich, dass ich dich zu meinem Beil bestimmte? Zum Beil, das den Vater rächte? Quält es dich? Was sah ich in dir, der du da liegst und jammerst im Selbstmitleid? Bist du nicht der, den ich sah? Der, der kam? Bist du nicht der, der ging, zu rächen?

APOLLO

Orest! wiederholt OREST

Mutter? Mutter?! Mutter! Warum blickst du mich an, mit zerbrochenem Blick, die Augen voller Blut, unter deinem wilden, weissen Haar... sie haben Furchtbares gesehen, deine Augen, sie haben das Kind gesehen, dein Kind, das einschlug auf deinen Kopf, immer wieder einschlug bis nichts mehr war, als blutige Fetzen von rotem Fleisch und grauem Hirn. Da lagst du mit entblösster Brust, wie der Mann dort gelegen hat, dein Mann, der Vater deines Kindes und das Kind?... Das liebte dich doch, wie es den Vater liebte. Mutter, warum hast du mir beide nehmen müssen? Mutter, warum quälst du mich und tötest mich nicht...? Schrei doch, Weib und lass mich unter­ gehn in deinem Schrei! Haben sie nicht die Hunde geschlachtet, wie es der Brauch ist? Haben sie nicht ihre Haare über dein Grab geworfen..? Und der Finger, den ich mir abbiss als du über mir warst...? Bräuche, Bräuche über Bräuche... die Bräuche, sie richten nichts aus gegen dich. Du blickst mich an, und ich kann dich nicht töten, Apollos beinerner Bogen taugt mir nicht! Du hast deinen Mann geschlachtet, Mutter, wie es die Frauen seit Zeiten tun, um sich in andern Männern zu erkennen. Die Zeit ist vorbei, Mutter! Die Götter dürsten nach Blut. Apollo will Rache für die gemordeten Väter! Apoll, Apoll, was hast du mir angetan!? Ein Tier, ein furchtbares Tier lastet auf mir, ein furchtbares Tier schreit meinen Namen mir ins Gesicht. Orest, Orest, Orest... Wo verbirgst du dich und weidest dich an meinem Leid? Den Vater zu rächen zwangst du mich tückisch, die Mutter, alle Mütter, die Mütter aller Mütter – schwere schwarze Vögel

OREST

Ich bin zertrümmert, Gott! Ich liege wimmernd und warte auf mein Urteil. Die Kraft mich zu wehren – ich finde sie nicht. Siehst du sie stehn um mich? Alle? Ich kann den Kreis nicht durchbrechen! Sie stehn da, höhnisch, Rache zu nehmen am Rächer! Auf Seiten der Mütter stehn sie zusammen. Von dir, Apollo, wissen sie nichts! APOLLO

Ich werde sie wissen lehren, mein Freund! Die Macht der Mütter, sie ist dahin, auch wenn ihr Greinen den Kleinmütigen ängstigt! Und du?, du konntest das Weib erschlagen und kriechst nun wie ein Wurm vor ihrem Schatten im Morast?! OREST

Ich bin zerschmettert von ihrem Schrei: Orest, Orest, Orest... Ich liebte sie doch, meine Mutter! APOLLO

Du liebtest sie doch, deine Mutter? Die deinen Tod ersehnte? Die ihren Mann im Bad erschlug und ihre Feste feierte mit dem, den deine Schwester «Weib» genannt hat? OREST

Ich liebte sie doch. APOLLO

Wenn du sie liebtest, wie konntest du sie töten? OREST

Es war dein Befehl, Gott!


APOLLO

...und es ist deine Schuld, mein lieber Freund, die du vor Argos Richtern zu vertreten hast... OREST

Ich will nicht, will nicht unter Steinen enden. Ich weiss, da ist mehr in der Welt, als all das Blut, all der Leichengeruch um mich her. Ich will leben, Gott, ich will leben! Da ist eine Sehnsucht, die stärker ist als Hass, eine Sehnsucht nach Liebe, nach klarer Luft und offenem Himmel! Lass mich fortgehn, Gott, lass mich atmen, ich will leben, Apoll! APOLLO

Träumer! Packt es dich so? Vergisst du schnell, wer du sein musst? Mein Freund, ich glaube fest, es kommt ein Überlebender, der schleppt sein Weib hierher, Helena, die jeder hasst, weil Tausende gestorben sind, um sie ins Haus zurückzuführen, dem aus eitlem Leichtsinn sie einst entfloh... Frag Menelaos, deinen Oheim, mein Held. Er hat so manchen Grund dich freizusprechen – er braucht den Frieden hier, um sich als König zu gefallen...

Dionysos zieht sich zurück in ein ungewisses Licht, Orest versucht fasziniert und verführt zu folgen...

Du kommst zu mir?! Helena, wehe dir, Helena, du siehst aus wie eine, die Gold verschluckt hat: man wird dir noch den Hals aufschlitzen, zu reich bist du, Verderberin Vieler. Zu viele machst du neidisch, zu viele machst du arm, zu viele starben an dir. Zehn Jahre dahin und kein Tropfen erreichte dich? Kein Tau der Liebe? Überreiche, Ärmste aller Reichen! Mit mir hinauf in Lichtermeere, die kein Wunsch erreicht, die kein «Nein» befleckt. Um Ruhm gemordet lebst du: Stern und sterngekrönt. Ich liebe dich, Helena!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben 2. SZENE OREST

Auf das was du glaubst, tückischer Gott, kann ich nicht warten. Auf einen der kommt oder nicht kommt, kann ich nicht warten... Hörst du sie? Wie sie wütet in meinem Kopf... Hörst du sie? Hörst du sie?

Dionysos ist verschwunden. Orest liegt delirant, ihn suchend... OREST

Die Münze, wo ist sie, ich will sie seit je. Ruhm, Ruhm, rettender Ruhm... Ich bin dein Werkzeug, Gott, rette mich, rette mich... FRAUENSTIMMEN

Orest!

FRAUENSTIMMEN hinter der Szene

Orest!

APOLLO

Helena, dann Elektra, später Hermione.

Wie lange sitzt du schon auf deinem Missgeschick? Apollo verwandelt sich in Dionysos.

Geschwürig, düster, ein langer Laurer... Aber plötzlich ein Blitz, hell, furchtbar, ein Schlag gen Himmel aus dem Abgrund: nun rollen Donner über die Gewölbe, zucken Blitze und schwefelgelbe Wahrheiten! Die Münze, mit der alle Welt bezahlt: Ruhm, Ruhm, willst du sie kaufen? nun: Dionysos

Ich seh hinauf – dort rollen Lichtermeere: O Nacht, o Schweigen, o totenstiller Lärm! Aus fernsten Fernen sinkt funkelnd ein Sternbild gegen mich...

HELENA Fahrig, suchend, ist aber wohl nicht auf’s Finden aus.

Lasst mich hinein, lasst mich hinein, nirgends Eingang. Wände bloss, Steine. Lasst mich hinein, hinein, hinein. Kein Leben auch hier. Ich bin zurück, ich, ich bin zurück und all die Jahre sind ein Augenblick, nicht mehr, nicht mehr. Es scheint mir gestern erst gewesen, dass ich die Türen offen fand... Wo seid ihr? Ich bin zurück... Elektra, unruhig auf dem Weg, stösst auf Helena.


Programmheft OREST Musiktheater in sechs Szenen von Manfred Trojahn (*1949) Text vom Komponisten. Schweizerische Erstaufführung. Premiere am 26. Februar 2017, Spielzeit 2016/17

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Textnachweise: Die Handlung schrieb Fabio Dietsche. – Die Interviews mit Manfred Trojahn und Hans Neuenfels sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Weitere Textquellen: Jean-Paul Sartre, Zum Existentialismus – Eine Klarstellung in: Der Existentialismus ist ein Hu­manismus und andere philosophische Essays, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000; Heiner Müller, Elektratext, zitiert nach: Mythos Elektra, Reclam, Stuttgart 2010; Maurice Blanchot: Der Orest-Mythos in: Der Allerhöchste, Matthes & Seitz, Berlin 2011; Emmanuel Lévinas, Totalität und Unedlichkeit, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1987; Jules Laforgue, Über die «Helena» von Gustave Moreau, zitiert nach Mythos Helena, Reclam, Stuttgart 2008; Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie in: Werke, Band 1, DTV, München 1999; Jean-Paul Sartre, Die Fliegen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991; Euripides, Orestes in: Tragö­ dien, fünfter Teil, Akademie Verlag, Berlin 1979; Jacques Derrida,

Studio Geissbühler Fineprint AG

Gesetzeskraft. Der «mythische Grund der Autorität», in Philo­ sophie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1984; Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung in: Werke, Band 6, DTV, München 1999; Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Reclam, Stuttgart 1986/2009. Bildnachweise: Judith Schlosser fotografierte die Klavier­hauptprobe am 17. Februar 2017. Foto Manfred Trojahn: Barbara Pálffy/ Volksoper Wien Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Swiss Re Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Walter Haefner Stiftung PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich

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