Rote Laterne

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ROTE LATERNE

CHR ISTIAN JOST

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ROTE LATERNE CHRISTIAN JOST (*1963)

Mit freundlicher Unterst端tzung der Ringier AG

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HANDLUNG Die 19-jährige Studentin Song-Lian kommt auf dem Anwesen von Master Chen an, der sie soeben als seine vierte Frau geheiratet hat. Sie trifft auf die Mitglieder seiner Familie. Yen-Er wird ihr als persönliche Dienerin zugeteilt. Während der ersten intimen Begegnung mit Master Chen fühlt sich Song-Lian plötzlich beobachtet. Yen-Er klopft an die Tür: Die dritte Herrin May-Shan sei ernsthaft krank und verlange nach Master Chen. Dieser weiss, dass es sich um eine List handelt. Trotzdem verlässt er Song-Lian für seine dritte Frau. Songlian begegnet der zweiten Herrin Zhuo-Yun und ihren beiden Töchtern, Yi-Rong und Yi-Yun. Zhuo-Yun schenkt ihrer jüngeren Rivalin kostbare Seide und rät ihr, den Brunnen auf Master Chens Anwesen zu meiden. Viele Herrinnen seien darin gestorben. In einem einsamen Chrysanthemen-Gärtchen trifft Song-Lian auf Master Chens erstgeborenen Sohn und Stammhalter der Familie Fay-Pu, der ungefähr in ihrem Alter ist. Er ist in Begleitung eines jungen Mannes. Die Chrysanthemen erinnern Songlian an den Tod ihres Vaters. Sie erzählt, wie dieser sich umgebracht hat, nachdem seine Teemanufaktur bankrott gegangen war. Danach konnte sie ihr Studium an der Universität nicht mehr fortsetzen und war gezwungen, den reichen Master Chen zu heiraten. May-Shan, dritte Herrin und frühere Pekingoper-Sängerin, nähert sich. Song-Lian ist berührt von ihrem Gesang. May-Shan lädt sie zu einem «Spiel für Erwachsene» zu sich ein. Dort stellt Song-Lian fest, dass May-Shan einen heimlichen Liebhaber hat. Es ist ein Mann, der als Doktor Zutritt zu Master Chens Anwesen hat. Master Chen trifft am Brunnen auf Song-Lian. Der Brunnen kommt SongLian unheimlich vor. Sie hat Gesichter auf seinem Grund gesehen, die aussehen wie sie selbst. Wieder fühlt sie sich beobachtet. Yen-Er, die in der Nähe herumschleicht, wird von Master Chen zurechtgewiesen. Auch sie versucht, um seine Gunst zu werben. Er verspricht, sich ein anderes Mal um sie zu kümmern. SongLian beobachtet die Szene eifersüchtig. In ihrer Wut auf die Dienerin Yen-Er

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zer­schlägt sie deren Holztruhe und findet darin eine von Nadeln durchstochene Vodoo-Puppe, auf der ihr eigener Name steht. Es stellt sich heraus, dass die zweite Herrin Zhuo-Yun den Namen auf die Puppe geschrieben hat. Zhuo-Yun bittet Song-Lian, ihr das Haar zu schneiden. Dabei wird sie von Song-Lian ins Ohr geschnitten. Das Blut erinnert Song-Lian erneut an den Selbstmord ihres Vaters und wie sich dadurch ihr Leben verändert hat. Die Familie versammelt sich zu einer Feier. Dabei zerspringt eine kostbare Vase. Gegenseitig versuchen sich die Familienmitglieder, die Schuld zuzuschieben. Song-Lian, die mit den strengen Traditionen der Familie noch nicht vertraut ist, versucht die Situation zu entschärfen. Vor allen Anwesenden küsst sie Master Chen auf den Mund, was ihr in der Öffentlichkeit streng verboten ist. Sie löst grosse Empörung aus. Alle ausser May-Shan wenden sich von ihr ab. Als sie May-Shan auf das Verhältnis zum Doktor anspricht, wird diese wütend und droht ihr. Allein gelassen, hat Song-Lian am Brunnen albtraumhafte Visionen. Sie hört Stimmen und sieht sich selbst auf dem Grund des Brunnens. Fay-Pu erscheint am Brunnen. Er gesteht Song-Lian, dass er die strenge Familie verabscheut und nichts für Frauen empfindet. Das Gefühl, ausgestossen zu sein, verbindet die beiden. Master Chen demonstriert Song-Lian, dass er sexuelle Macht über sie hat. Song-Lian sagt, dass Fay-Pu empfindsamer sei. Master Chen beschimpft sie als Hure. May-Shan prophezeit ihren eigenen und Song-Lians Tod in dem Brunnen. Als Song-Lian entdeckt, dass Yen-Er die Vodoo-Puppe noch immer besitzt, zwingt sie sie, die Puppe samt den Nadeln zu essen. An ihrem eigenen Geburtstag begegnet Song-Lian noch einmal Fay-Pu. Er ist ihr einziger Vertrauter, doch er kann sie nicht lieben. Von Yu-Ru, der ersten Herrin, erfährt sie, dass die Dienerin Yen-Er an ihrem eigenen Blut erstickt ist. Eine Medizin, die Song-Lian gegen ihren Wahnsinn verabreicht wird, spuckt sie wieder aus. Es schneit. Song-Lian erlebt, wie sich May-Shan heimlich mit dem Doktor trifft. Der Geist der Dienerin Yen-Er erscheint ihr. Sie will May-Shan warnen, doch sie kommt zu spät: Zhuo-Yun und ihre Mädchen haben die heimliche Be­ziehung der beiden aufgedeckt. Song-Lian fühlt sich als Tote unter Lebenden und als Lebende unter Toten.

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Die Hรถlle, das sind die anderen! aus Jean-Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft




IM SCHWEBEZUSTAND DES SURREALEN Christian Jost im Gespräch

Christian Jost, Ihre neue Oper Rote Laterne basiert auf einem Roman des chinesischen Schriftstellers Su Tong. Wie sind Sie auf diesen Stoff ge­ kommen? Meine Liebe zu China und Taiwan im Besonderen hat hier eine wichtige Rolle gespielt. Ich bin seit Mitte der neun­ziger Jahre immer wieder in Asien ge­wesen, habe mit den verschiedensten chinesischen Orchestern ge­arbeitet und habe in den letzten Jahren aufgrund meiner «Residenz» in Taipeh teilweise mehr Zeit in Taiwan verbracht als in Berlin. Vier grosse Werke sind dort in den letzten vier Jahren entstanden. Mit Andreas Homoki war ich im Gespräch über ein neues Werk für das Opernhaus Zürich. Ich habe mich in der asia­ tischen Literatur nach möglichen Stoffen umgetan und erinnerte mich dann an den Kinofilm Rote Laterne von Zhang Yimou. Dieser lief Anfang der neunziger Jahre mit grossem Erfolg in den Kinos, hatte den Silbernen Löwen in Venedig gewonnen und gehörte zu den wichtigsten Filmen aus China. Ich fand damals schon, dass dieser Film einen wunderbaren Stoff für eine Oper abgeben würde, habe die Idee zu diesem Zeitpunkt aber nicht weiterverfolgt. Der Film basiert auf dem Roman Wives and Concubines von Su Tong, und dieses Buch ist die Grundlage meines Librettos. Worum geht es in der Geschichte? Eine junge Frau wird mit einem wohlhabenden Chinesen verheiratet und findet sich als vierte Nebenfrau in einem streng patriarchalischen Haushalt wieder. Die vier Frauen, die unterschiedlichen Generationen ange­hören, leben in totaler Abhängigkeit von ihrem Gatten, dem langsam alt werdenden Master Chen. Mit der Ankunft der neuen jungen Herrin Song-Lian entspinnt

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sich ein abgründiges, surreal-albtraumhaftes Beziehungsdrama aus erotischen Sehnsüchten, Eifersucht, Liebe, Ehebruch und grausamen Intrigen der Frauen untereinander. So wie ich es ange­legt habe, erlebt die Hauptfigur Song-Lian all dies in einer Art Traumlogik. Was hat Sie an diesem Sujet gereizt? Dass ich es in etwas Albtraumhaftes verwandeln konnte. Wirklichkeit, subjektives Empfinden und scheinbar übernatürliche Vorgänge verschränken sich bis zur Ununterscheidbarkeit und treiben die Geschichte voran. Zeit, Raum, Tag und Nacht, alles ist aufgelöst und hat insofern kaum noch Ge­meinsamkeiten mit dem gleichnamigen Film. Schon der Roman von Su Tong scheint mir wesentlich surrealer in seiner Anlage als der Film von Zhang Yimou. Im Buch beispielsweise ist der Brunnen auf dem Anwesen von Master Chen ein zentrales Motiv. Ein Brunnen hat in der chinesischen Kultur innerhalb einer Hausgemeinschaft eine ganz bestimmte Bedeutung: Er wird als Lebens­ader gesehen, ist Ort der Spiritualität und birgt mystische Kräfte. An diesem Brunnen passieren in der Ge­schichte unerklärliche, geheimnisvolle Dinge. Die Frauen dürfen ihn nicht aufsuchen, er ist tabu für sie. Song-Lian aber fühlt sich von ihm angezogen, vernimmt geisterhafte Stimmen, halluziniert und begegnet sich selbst wie in einem Spiegel. Es bleibt offen, was Traum und was Wirklichkeit ist. Das habe ich in meinem Libretto noch viel weiter getrieben und die gesamte Handlung in einem Zwischenreich aus Realität und Albtraum, Leben und Tod angesiedelt – bis hin zu einem komponierten Arioso, das Song-Lian gleichsam und tatsächlich mit ihrer eigenen Stimme führt und das auch den finalen Höhepunkt meiner Oper bildet. Zugleich aber bietet die Geschichte einen klar umrissenen Rahmen. Es gibt eine konzise gefasste Personenkonstellation. Ort der Handlung ist ausschliesslich das klaustro­phobische Anwesen von Master Chen. Jeder einzelne Charakter ist komplex ange­legt und das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren ist dicht gewebt und voll von abgründigen Facetten. Gerade weil der Stoff so präzise definiert ist, gibt er mir die Möglichkeit, den Handlungs­ rahmen zu öffnen, die Kate­gorien von Zeit und Ort aufzulösen, die Figuren weiter zu verdichten und das Ganze in den Schwebezustand des Surrealen

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zu bringen. Das macht dieses Sujet für mich so spannend. Es ist genau das, weshalb ich Opern komponiere. Rote Laterne ist Ihre insgesamt achte Arbeit für das Musiktheater. Spielt die Traumthematik in den anderen Opern auch eine Rolle? Im Grunde kreisen meine Musiktheaterwerke immer um die Frage: Wo hört Wirklichkeit auf, wo beginnt der Traum, was ist Realität? In diesem Span­nungs­verhältnis bewegen sich alle Geschichten, die ich auf die Bühne bringe. In meiner Oper Hamlet etwa entsteht auch ein Wirklichkeitsstrudel: Die Oper beginnt bei mir an dem Punkt, an dem Hamlet seinen Selbstmord begangen haben könnte und das ganze Stück so als visionäre Rück­blende in der allerletzten Sekunde seines Lebens ablaufen könnte. In meiner Oper Rumor nach einem Roman des mexi­kanischen Schriftstellers Guillermo Arriaga imaginiert ein Mann die Liebe zu einer Frau, die tot ist. Diese Liebe wird aber so gross, dass sie auf unheimliche Weise Realität annimmt. In Die arabische Nacht nach Roland Schim­­mel­pfennig träumt die Hauptfigur Franziska so intensiv, dass sämtliche Mitbewohner des Wohnblocks in eine erotische Spirale geraten und der gesamte Wohnblock zu einer arabischen Wüste mutiert. Emotionen beeinflussen unsere Wahrnehmung von Realität. Je nach Tagesform nehmen wir Dinge unterschiedlich wahr, und es entstehen ganze Zwischenwelten, die je nach Blick­winkel und Verfassung unterschiedlich erscheinen. Welche Rolle kommt der Musik zu auf der Suche nach solchen Zwischen­ reichen? Sie ist die Kunst, die mit in Schwingung versetzter Luft arbeitet. Sie ist im­­­ma­te­riell, unfassbar. Mit keiner anderen Kunstform kann man hybride Wirk­lich­­­keitszustände erzeugen wie mit Musik und dem Gesang im Besonderen. Sie sagten, Ihre Liebe zur chinesischen Kultur habe Sie zu einem fernöst­ lichen Stoff greifen lassen. Was ist genau damit gemeint? Komponieren setzt für mich eine Sehnsucht voraus, und manchmal benötigt diese Sehnsucht ein weites Ziel, um in mir einen grösstmöglichen

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Imaginations­raum zu öffnen. Dort kann ich dann ganz und gar wie ein neugie­riges Kind abtauchen und unverbrauchtes, vielleicht sogar Referenzfreies für mich entdecken. Deshalb ging mein Blick bei Rote Laterne in die Ferne, um dann wiederum in die Tiefe einer sehr ungewöhnlichen Figurenkonstellation eindringen zu können. Aber ist es nicht ein Irrtum zu glauben, das Fern­­öst­liche sei frei von Referenzen? Ist nicht eher das Gegenteil der Fall? Überall lauern Klischees im Exotischen, zu denen man sich dann verhalten muss. Wenn wir uns fernöstliche Exotik auf einer westlichen Opern­bühne vorstellen, sind wir doch immer noch ganz schnell bei bunt flatternen Seidenstoffen, lachen­ den Buddhas und Maskentänzern mit gespreizten Fingern. Wenn ich weiss, was die gespreizten Finger der Maskentänzer an einer bestimmten Stelle bedeuten, ist dies für mich kein Klischee mehr. Ich spüre dem scheinbar Exotischen nach und versuche Dinge zu verstehen, aber ich imitiere sie nicht. Ich gehe offen auf die Dinge zu mit dem starken Bedürf­nis, hinter das Vordergründige zu dringen. Ich habe begonnen, die chinesische Sprache zu lernen und bin dadurch dem chinesischen Denken einen Schritt näher ge­kommen, was einen direkten Einfluss auf meine Anlage der Figuren in der Roten Laterne hatte. In der Beschäf­ti­gung mit einem Opernstoff versuche ich, egal aus welchem Kultur­kreis er stammt, zum allgemein mensch­­li­chen Kern vor­zudringen, zur Conditio humana an sich, und die ist uni­ver­sell und zeit­los. Das Exotische ist für mich mehr eine Art Brücke, über die ich ins Offene gelange, die aber für das Thema selbst gar nicht unbedingt wichtig ist. Aber die Rote Laterne spielt doch in China? Sie müsste es aber nicht. Das Chinesische ist nicht das Entscheidende. Das von mir in der Partitur vorgegebene Setting sieht dies auch nicht notwendigerweise vor. So wie ich den Stoff angelegt habe, könnte er auch der exotische (Alb-)Traum irgendeiner Frau sein. Für die Geschich­te ist die Frage der geo­grafischen Verortung nicht interessant. Das gilt auch für unsere Inszenierung hier in Zürich. So wie es der Anlage meiner Oper entspricht, haben die Regisseurin Nadja Loschky und Reinhard von der Thannen als Bühnen- und

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Kostümbildner genau das weitergeführt und meine Idee ganz grossartig übersetzt, denn es war mir unendlich wichtig, mit dem Chinesischen klischeefrei und sehr fantasievoll umzugehen und es in eine Bühnenwelt zu über­ führen, in der das Surreale und Abgründige im Zentrum steht und nicht das Folkloristische. Hatten Sie trotzdem keine Sorge, dass man Sie für einen Puccini-Adepten halten könnte, der sich an einer neuen Madama Butterfly versucht? Nein. Warum auch? Mit einem Madama Butterfly-Exotismus hat meine Oper ganz und gar nichts zu tun. Ich fühle mich beim Komponieren in jeder Hinsicht unabhängig und denke nicht über eine ästhetische Einordnung nach. Haben Sie die Rote Laterne in Berlin oder in Taiwan komponiert? Sie ist zu ganz wesentlichen Teilen in Taiwan entstanden, und dort habe ich meine Oper bei dauerhaft 35 Grad fast wie im Rausch komponiert, in einem konstanten «flow of consciousness». Daher ist die Oper auch unbedingt in einem Bogen durchzuspielen. Als ich dann wieder zurück nach Berlin kam, hatte ich das starke Bedürfnis, ein Werk über Berlin zu schreiben. Durch die lange Zeit in Taiwan wurde für mich plötzlich Berlin wieder zu einem Ort der Ferne, in den ich unbedingt in Gänze eintauchen wollte, um mich in die Lage zu versetzen, ein Werk zu schreiben, das sich auf meine Stadt bezieht. Das ist inzwischen fertig? Ja, die Berlin-Sinfonie wird zwei Wochen nach der Zürcher Opernuraufführung vom Berliner Konzerthaus-Orchester unter Iván Fischer uraufgeführt. Würden Sie sagen, die Rote Laterne ist das westliche Werk eines westli­ chen Komponisten? Ich denke nicht in solchen Kategorien. Taiwan ist in den letzten Jahren zu einer zweiten Heimat geworden, und natürlich hat dies auch einen grossen Einfluss auf mein Schaffen. Werke wie Rote Laterne, meine Oper Heart Sutra oder mein Musiktanz-Theater Lover wären ohne diese Erfahrung und Erweiterung nicht möglich gewesen.

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Kommen in Ihrer Partitur chinesische Instrumente vor? Nein, überhaupt nicht. Ich bewege mich aber dennoch in einem Klangraum, der das Exotische abtastet. Das ist nicht an den Instrumenten selbst er­ kennbar, sondern in der Art, in der ich sie einsetze. Das Schlagzeug ist in der Partitur, wenn Sie so wollen, westlich konventionell notiert. Aber durch eine ungewöhnliche spieltechnische Verwendung erhalten die Klänge komplett andere Farben. Die Erfahrungen, die ich mit meinem Musiktanz-Theater Lover gemacht habe, bei dem ich 16 traditionelle Schlagzeuger zu einem ausser­ gewöhnlichen Orchester geformt habe, ermöglichen mir einen solchen spiel­technischen Umgang. Ist fernöstliches Denken in die musikdramatische Um­­setzung einge­ flossen? Gehen Sie beispielsweise anders mit der Darstellung von Leiden­ schaft um, in dem Sinne, dass etwa buddhistischer Gleichmut herrscht statt westlich expressiver Ich-Entfaltung? Der Umgang mit Emotionen ist in einem Musiktheaterstück immer viel komplexer, als dass man es so einfach auf einen Nenner bringen könnte. Aber vereinfacht gesagt: Ja, eine Ebene «asiatischen» Umgangs mit Emotionen gibt es in dem Stück sehr wohl. Ich sage den Sängern: Wir haben es hier nicht mit einer Elektra-Figur zu tun, die wahn­­sinnig wird und ausrastet. Die Emotionen sind intro­spektiver, gebundener und folgen weniger der Expres­sivität der abendländischen Oper. Nadja Loschky reagiert darauf auch szenisch sehr sensibel, indem sie die Spielweise wegrückt von der konventionellen Operngestik, ohne rituelle chinesische Theatralik nachzuahmen. So wie ich es ja auch in meiner Musik angelegt habe: Alles bewegt sich in einem schwebenden Zwischenreich. Sie sagten, Sie würden nicht darüber nachdenken, wie man Sie als Kom­ ponist ästhetisch einordnet. Wo sehen Sie sich selbst? Was soll ich dazu sagen? Ich mache seit 25 Jahren konsequent mein ei­genes Ding. Die Frage der Ästhetik ist zu national gebunden, als dass sie wesentlich für meine Arbeit sein könnte. Auch halte ich mich einfach zu oft im Ausland auf, wo wieder ganz andere Fragen der Ästhetik relevant werden. Für mich

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wird das immer erst zum Thema, wenn ich danach gefragt werde. Diese ganzen Schubla­disierungsdebatten sind mir im Grunde irgendwie zu klein. Was sind denn wichtige Wegmarken und ästhetische Bezugsgrössen in Ihrem kompositorischen Schaffen? Als deutscher Komponist hat mich Beethoven in seinem Strukturdenken bis auf den heutigen Tag stark geprägt, und mit der Operngeschichte von den Anfängen bis in die Jetztzeit habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Gefolgt bin ich dabei meinen ganz eigenen Leidenschaften und dem, was mich unmittelbar begeistert, keinen Un­ter­schied machend zwischen Giacomo Puccini oder Luigi Nono. Ich bin ein Kind des Fusion-Jazz, und die Götter meiner Jugend waren Return to forever und seine Helden Billy Cobham, Keith Jarrett, Miles Davis, Chet Baker, Al Di Meola und der Bassist Stanley Clarke, später dann Radiohead und Björk – das waren die Sachen, mit denen ich mich beschäftigt habe und, offen gestanden, mehr als mit der Neue-Musik-Avantgarde, die mir damals zu hermetisch vorkam. Gemessen an solchen musikalischen Wurzeln sind Sie schliesslich aber doch ein typischer E-Musik-Kom­ponist geworden, der Opern und Sinfonien schreibt. Stimmt. Aber einen solchen Umgang mit Musik, wie er mich in meinen frühen Jahren geprägt hat, in die Kunstform Oper zu holen und Geschichten mit Strukturen aus dieser Tradition zu erzählen, das ist genau mein An­satz. Wie es auch gedreht und gewendet wird, die Opernmacher und das Publikum brauchen und wollen starke, subtile und spannende Geschichten. Nur so lebt die Gattung Oper weiter. Meine Leidenschaft ist es, solche Geschichten innovativ und unverbraucht mit den Mitteln des modernen Musiktheaters neu zu kreieren. Wie kam Ihre Musik damals an in Köln, der Hochburg der musikalischen Avantgarde, in der Sie ja in den achtziger Jahren studiert haben? Das war sehr schwierig, auch weil ich mich recht einsam fühlte. Für die Avant­garde war das, was ich gemacht habe, natürlich völlig inakzeptabel. Wer

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mit seiner Musik den Kriterien der Szene nicht entsprach, gehörte nicht dazu. Es herrschte in Deutschland eine strenge Lagerbildung, und das Polarisieren fand ich schon immer entsetzlich. Des­halb habe ich mein Studium in den frühen achtziger Jahren in Amerika fortgesetzt. Aber das ist Schnee von ges­tern. Solange ich weiss, wo mein Platz ist und ich diesen nicht verliere, kann nichts schiefgehen. Das Gespräch führte Claus Spahn

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Wieder wellt sich dein Haar, wenn ich wein. Mit dem Blau deiner Augen deckst du den Tisch unsrer Liebe: ein Bett zwischen Sommer und Herbst. Wir trinken, was einer gebraut, der nicht ich war, noch du, noch ein dritter: wir schl端rfen ein Leeres und Letztes. Wir sehen uns zu in den Spiegeln der Tiefsee und reichen uns rascher die Speisen: die Nacht ist die Nacht, sie beginnt mit dem Morgen, sie legt mich zu dir. Paul Celan: Die Jahre von dir zu mir



In einer Ecke der Mauer des Hintergar­tens stand eine Laube aus Glyzinien, die im Sommer wie im Herbst üppig blühten. Von ihrem Fenster aus beobachtete Song­ lian häufig die malvenfarbe­nen Blüten­ trauben, wie sie im Herbstwind schaukelten und dann Tag um Tag dahinwelkten. Auch hatte sie in der Laube einen Brunnen sowie einen Tisch und einige Hocker aus Stein entdeckt. Der Ort war still und angenehm; nie kam jemand dort vorbei, zudem war der Pfad, der dorthin führte, von Unkraut überwuchert, in dem sich Schmetterlinge tummelten. Zikaden sangen auf den knorrigen Ästen. Songlian erin­ner­te sich, dass sie letztes Jahr, zur gleichen Zeit, in der blühenden Laube der Uni­versität gesessen und gelesen hatte. Alles war wie in einem Traum. Langsam näherte sie sich dem Brunnen. Ihr Kleid ein wenig anhebend, gab sie acht, weder von dem Un­kraut noch von den Insekten gestreift zu werden. Als sie ein paar Glyzinientriebe behutsam


beiseite schob, entdeckte sie, dass der Tisch und die Hocker aus Stein mit Staub bedeckt waren. Sie ging zum Brunnen, dessen Rand und Steine völlig unter dem Moos verschwanden, und beugte sich da­rüber, um hineinzusehen. Das Wasser war blauschwarz. Vor langer Zeit herabgefallene Blätter schwammen auf der Oberfläche. Songlian betrachtete das sanft sich kräuselnde Abbild ihres komplette eigenen Gesichts, während sie ihrem Das Programmbuch dumpfen schwachen, durch den Brunnen Sie aufEin Windstoss verstärktenkönnen Atem lauschte. www.opernhaus.ch/shop blies ihren Rock auf und liess ihn einem Vogel Flug ähneln. In diesemim Augenblick oder amim Vorstellungsabend Foyer über­fiel sie ein heftiger Kälte­schau­der, des Opernhauses erwerben so als würde ihr Körper hart von Steinen ge­troffen. In aller Eile lief sie zurück. Unter der Galerie des Südpavillons an­ge­kommen, stiess sie einen Seufzer der Er­leich­­terung aus und wandte den Kopf, um nochmals zur Pergola hinüberzu­schauen. Einige Blüten­trauben lösten sich jäh von ihr ab. Songlian fand dies alles äusserst sonderbar.




ES GIBT KEIN ENTRINNEN Die Regisseurin Nadja Loschky und der Bühnen- und Kostümbildner Reinhard von der Thannen im Gespräch

In Rote Laterne heiratet die junge Studentin Song-Lian in die Familie ihres Mannes Master Chen ein. Das Stück spielt an einem einzigen Ort. Was ist das für eine Grundsituation? Nadja Loschky: Christian Josts Oper gleicht einer Versuchsanordnung: Wir erleben eine bestimmte Konstellation von Menschen, die sich in einem in sich abgeschlossenen Kosmos ins Katastrophische bewegt – und die Art und Weise, wie das geschieht, hat etwas Unausweichliches. Die Geschichte wird aus der Perspektive der jungen Studentin Song-Lian erzählt, die aus familiären Gründen gezwungen ist, den reichen Master Chen zu heiraten. Und so gerät sie in diesen Kosmos, der ganz eigenen und undurchschaubaren Gesetzen folgt und von der übermächtigen Figur des Master Chen beherrscht wird. Er hat bereits drei Frauen geheiratet. Song-Lian betritt dieses Herrschafts-­ Territorium als vierte, und es wird ihr nicht gelingen, sich darin zu behaupten. Woran scheitert sie? NL: Sobald sie diese aus uralten Traditionen gewachsene Welt betritt, ist sie vollkommen ausgeliefert. Was mich an der Geschichte von Song-Lian fas­­­ziniert, ist die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Es gibt für sie kein Entrinnen. Über die verschiedenen Stationen hinweg lernt der Zuschauer mit Song-Lian diese Welt kennen, in der sie permanent von Eindrücken und Forderungen überflutet wird. Sie wandelt von einer Begegnung zur anderen, als müsste sie immer wieder durch dieses Geschehen hindurch. Sie erlebt jede Situation wie in einem Traum oder einer Erinnerung, Bilder und Details überlagern sich und werden unübersichtlich. Es ist eine schier endlose Beziehungsspirale, in die sie in diesem Stück gerät. Das wollen wir in unserer Inszenierung erzählen.

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Wird diese Ausweglosigkeit auch im Bühnenbild erkennbar? Reinhard von der Thannen: Das Bühnenbild besteht aus verschiebbaren, ge­staffelten und immer gleichen Wänden. Es wirkt zuweilen klaustropho­bisch und eng, ermöglicht andererseits unzählige Raumkonstellationen. Diese stetige Verwandlungsmöglichkeit des Raumes ist auch von Christian Josts Partitur inspiriert, in der die einzelnen Szenen, einem Traum entsprechend, in stetigem Fluss aufeinander folgen. Christian Josts Musik hat mich von Anfang an intuitiv inspiriert. Ich verstehe den Raum deshalb auch als einen Klangraum, der die inneren Welten der Charaktere, also Gefühle wie Nähe, Tiefe, Leere, Einsamkeit, Weite, Enge etc., verstärken kann. NL: Im Zentrum gibt es einen geheimnisvollen Brunnen, an dem die Das komplette Programmbuch Geschichte ihren Anfang und ihr Ende hat. Um dieses Zentrum herum haben sich wohl seit Jahrhunderten die Geister dieses Hauses versammelt. Sie können Sie auf sind mit dem Raum verwachsen, wie eine Art Auswuchs oder Ornament der Ar­chi­tektur. Sie gehören zu der patriarchalischen Männerwelt des Master Chen.www.opernhaus.ch/shop Sie könnten seine Urahnen sein. Sie zeigen, wie die Traditionen des Hauses über Dynastien hinweg gewachsen sind und nicht mehr weichen. oder am Vorstellungsabend im Foyer In Zhang Yimous Film, durch den die Erzählung Rote Laterne in den 90er-Jahren berühmt wurde, ist Master Chens Anwesen ein detail­ des sehr Opernhauses erwerben reich aus­gearbeiteter, historischer chinesischer Schauplatz. Wie sind Sie für diese Inszenierung mit den kulturellen Wurzeln der chinesischen Erzählung um­gegangen? RvdT: Eine realistische Herangehensweise hat weder den Komponisten Christian Jost, noch die Regisseurin Nadja Loschky und mich interessiert. Da wir alle der Meinung sind, dass die Stärke des Musiktheaters nicht in der Reproduktion realistischer Welten liegt, haben wir uns entschieden, den psychologischen Aspekt des Werkes, die Innenwelten der Charaktere und deren Beziehungen zueinander in den Fokus der Inszenierung zu stellen. Wenn ich mich für die Konzeption eines Bühnenbildes mit den kulturellen Wurzeln eines Opernstoffes auseinandersetze, interessiert es mich nicht, traditionelles Lokalkolorit realistisch darzustellen. Ich bin der Meinung, dass man im Theater

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seine ureigene Bildersprache zutage fördern muss. Mich interessiert deshalb nicht die Realität an sich, sondern wie sich meine Fantasie zu ihr verhält. Trotzdem fusst der Stoff in der chinesischen Kultur. Die Protagonisten haben chinesische Namen, und es werden Texte auf Mandarin gesungen. RvdT: Die Oper wird nicht «chinesisch» ausgestattet. Wir arbeiten viel­­mehr mit Splittern und Fragmenten einer chinesischen Wirklichkeit. Auf meinen unzähligen Reisen in asiatische Länder hat mich immer fasziniert, wie jung und expandierend die Gesellschaft dort ist und wie diese wiederum die Stadtbilder prägt. Die Städte wachsen schnell, und es treffen ganz verschie­de­ne Stile aufeinander. Traditionelle asiatische Ästhetik – ein chinarot lackierter Küchen­ ­stuhl, oder eine Buddha-Statue, seit Generationen im Besitz des Familien­­­clans – findet man oft in Rohbauten aus Ziegel und Beton: Diese Gleichzeitig­ keit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von roher Materialität und traditionellem Kolorit hat mich für das Bühnenbild inspiriert. Ausserdem in­teressiert mich das Aufeinanderprallen von Kulturen: Ich bin von den Augen­ blicken fasziniert, wenn man durch eine europäische Stadt fährt und für Sekunden in eine andere Kul­tur «hineinfällt», wenn der Blick beispielsweise in einem europäischen Umfeld auf einem Chinarestaurant mit seinen unverwechselbaren asiatischen Lampions haften bleibt: Die Zeit fällt aus der Zeit.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Können Sie die Figuren in diesem System etwas genauer beschreiben? NL: Die Figuren der Handlung sind nicht, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Sie haben alle etwas Maskenhaftes. Jeder spielt in der Öffentlichkeit eine Rolle und trägt seine Maske vor sich her. Und dahinter verstecken sich ganz andere Emotionen und Pläne. Das ist ja letztlich der Grund, warum Song-Lian es nicht schafft, sich in diesem System zu behaupten. Deshalb geht sie darin unter. Song-Lian lernt nach und nach die anderen Mitglieder der Familie kennen... NL: Song-Lian begegnet der ersten Frau Yu-Ru, die streng religiös ist und buddhistische Sutras betet. Sie hat eine gefestigte Stellung innerhalb der

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Familie, weil sie Master Chens erstgeborenen Sohn, Fay Pu, zur Welt gebracht hat – den einzigen männlichen Erben. Aber ihre Unangreifbarkeit ist fragil: Fay-Pu ist homosexuell und genügt den Ansprüchen des patriarcha­li­schen Fa­milienoberhaupts nicht. Er ist von der weiblichen Übermacht, mit der er aufgewachsen ist, verunsichert. Er kann und will die klassische, männ­liche, dominante Rolle nicht erfüllen. Er ist im gleichen Alter wie Song-­Lian. In ihm findet sie einen wichtigen Vertrauten. Bei Master Chens zweiter Frau kommt das Maskenhafte, von dem Sie gesprochen haben, besonders deutlich zum Vorschein... NL: Über die zweite Herrin Zhuo-Yun erfahren wir, dass sie «noch auf der Schwelle des Begehrens» sei. Damit ist viel über ihre Situation gesagt: Sie hat zwei Mädchen geboren und wird von Master Chen nur noch gelegent­ lich begehrt. Sie arbeitet verzweifelt daran, ihre Position in der Hierarchie der Herrinnen zu bewahren. Sie intrigiert mit raffinierten Mitteln und be­­­­­gegnet Song-Lian doppelgesichtig: Zunächst ist sie freundlich und zuvorkommend, aber nach und nach stellt sich heraus, dass sie gemeinsam mit Song-Lians Dienerin Yen-Er daran arbeitet, Song-Lian zu schaden. Die dritte Herrin May-Shan ist eine geheimnisvolle Figur. Was ist über sie bekannt? NL: Sie war eine Pekingoper-Sängerin, bevor sie in die Familie kam. Chen hat sie gehört und sich in sie verliebt. Im Stück gibt es Passagen, in denen sie sich an diese Vergangenheit erinnert und auf Mandarin singt. Diese Weisen sind für May-Shan wie eine Nische, in die sie sich zurückziehen kann, um der Realität zu entfliehen. Dieser Rückzug in ihre Vergangenheit ermöglicht ihr das Überleben in diesem System, weil sie dadurch einen Zufluchtsort hat. Wir haben dieser Figur in unserer Inszenierung ein zweites Ich an die Seite gestellt, eine Puppe. Die Puppe ist ihr kleines, anderes Ich. So zieht sich May-Shan in ihren inneren Raum zurück, in dem sie sich an ihr früheres Ich erinnert. In der Realität des Stücks hat sie eine heimliche Affäre mit dem Doktor des Hauses. Diese Liebesbeziehung wird in der Inszenierung stark über ihr zweites Ich erzählt. Ihr Doppelleben in dem strengen System wird ihr

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schliesslich zum Verhängnis. Zwischen ihr und Song-Lian ent­steht im Lauf des Stücks eine Annäherung. Auch musikalisch. Der Tod von May-Shan ist dann letztlich auch ein Grund für den Wahnsinn und Tod Song-Lians. Die facettenreichen Charaktere dieser Handlung und ihre Masken sind ein Angebot, fantasievolle und doppeldeutige Kostüme auf die Bühne zu bringen. Wodurch haben Sie sich inspirieren lassen? RvdT: Für die Findung der Kostümästhetik interessierte mich unter an­de­rem die Frage, welche Einflüsse die asiatische Kleidung auf die europäische ausübt und umgekehrt: Sei es die über Jahrzehnte in Glanzblättern populäre thailändische Königin Sirikit, sei es die salonfähige asiatische Kampfsportkleidung, von wohlhabenden Damen getragen, seien es Pagodenschultern, von Yves-Saint Laurent in Europa populär gemacht... Solche Materialien, Farben, Formen, Schnittlinien und Details waren eine schier unerschöpfliche Inspirationsquelle. Für eine Szene der Oper über den Geburtstag von Master Chen haben meine Mitarbeiterin und ich Papier-Masken mit asiatischen Männer-, Frauen- und Kindergesichtern entworfen. Für einen Moment wird es durch diese Maskerade möglich, die bestehende Kluft zwischen Song-Lian, die als einzige keine Maske trägt, und den anderen Mitgliedern von Master Chens «Familie» zu vertiefen. Solche Momente der Entfremdung interessieren mich.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam. Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. aus Georg Büchner: Dantons Tod

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben


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Songlian ging auf den Brunnen zu. Ihr Körper war von einer nie dagewesenen Leichtigkeit, als schritte sie in einem Traum. Ein leichter Duft von modernden Pflanzen erfüllte die Luft. Songlian hatte ein Gly­ zinienblatt vom Boden aufge­hoben, untersuchte es aufmerksam und warf es dann in den Brunnen. Sie sah zu, wie das Blatt gleich einem Kleinod auf der Oberfläche des dunkelblau ruhenden Wassers schwamm und einen Teil ihres Spiegelbildes verbarg. Songlian gelang es nicht, ihre Augen zu erspähen. Sie ging um den Brunnen herum, ohne einen Winkel zu finden, der ihr erlaubt hätte, sich zu sehen. Dies machte sie stutzig: Wie kommt es, dass ein simples Glyzinien­blatt mich in meinem Blick behindern kann, dachte sie. Die Strahlen der Mit­tags­sonne fielen nun in den nicht mehr genutzten Brunnen und verwandelten sich wie von Zauberhand in weisse Blitze. Songlian wurde unversehens von einer


fürchterlichen Vision ergriffen: Eine Hand, da war eine Hand, die das Glyzinienblatt hochhielt. In diesen unwirklichen Moment versunken, schien es ihr, tatsächlich eine fahle und tropfende Hand aus den un­ ergründlichen Tiefen des Brunnens empor­ steigen zu sehen, um ihr die Sicht zu versperren. Songlian stiess einen Ent­setzens­schrei aus: «Die Hand! Die Hand!» Sie wollte kehrtmachen und fliehen, doch Das komplette Programmbuch ihr ganzer Körper schien am Brunnenrand können festgeschmiedet zu Sie sein.auf Unmöglich, sichwww.opernhaus.ch/shop loszureissen! Songlian hatte den Eindruck, eine vom Wind geknickte oder am Vorstellungsabend imBlume Foyer zu sein. Kraftlos beugte sie sich vor des Opernhauses erwerben und starrte auf den Grund des Brunnens. Im Verlauf eines weiteren halluzinato­ rischen Schwindel­anfalls sah sie das Wasser des Brunnens dröhnend anschlagen, und eine undeutliche und ferne Stimme tönte ihr in den Ohren: «Komm herunter, Songlian! Komm herunter, Songlian!»





WER IST SU TONG? Su Tong gehört zu den bedeutenden Schriftstellern Chinas. Im Westen wurde er durch die Verfilmung seines Romans «Rote Laterne» bekannt Fabio Dietsche

In China ist Su Tong ein Bestsellerautor, aber nur wenige seiner Bücher wurden in europäische Sprachen übersetzt. Im renommierten Rowohlt-Verlag sind 1998 seine beiden Romane Reis und Die Opiumfamilie erschienen – heute sind sie vergriffen. Nur einer seiner Buchtitel hat es in den Neunzigerjahren in Europa weit nach oben geschafft. Es ist der Roman Rote Laterne. Der Titel, unter dem Su Tongs Erzählung im Westen bekannt wurde, ist nicht original. Es ist der Titel der Verfilmung des Stoffs durch den chinesischen Starregisseur Zhang Yimou aus dem Jahr 1991, die dem Stoff zu grosser Berühmtheit verhalf. Der Film wurde bei den Filmfestspielen in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet und in Hollywood für einen Oscar nominiert und gilt heute als Kinoklassiker. Nur in der französischen Übersetzung hat sich der chinesische Originaltitel Qiqie chenqun (Eine Schar von Frauen und Nebenfrauen) durchgesetzt; das Buch heisst dort Épouses et Concubines. Wer die deutsche Fassung des Romans liest, den Film aber nicht gesehen hat, wird sich fragen, warum dieser den Titel Rote Laterne trägt. Von roten Laternen ist im Roman nämlich nur zwei Mal die Rede: Sie werden anlässlich des fünfzigsten Geburtstags von Chen Zuoqian, in dessen Haus die Geschichte spielt, aufgehängt. Einige Buchseiten später werden sie wieder abgehängt. In Zhang Yimous Film ist das anders. Der Regisseur hat in seiner opulent ausgestatteten Filmversion eine Vielzahl von grossen roten Laternen zum Symbol von Chen Zuoqians Machtkosmos gemacht: Jedes Mal, wenn der Hausherr entschieden hat, bei welcher seiner vier Frauen er die Nacht verbringen wird, werden sie mit grossem Zeremoniell in den Hof der jeweiligen Konkubine getragen und aufgehängt.

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Die Bekanntheit seiner Erzählung im Westen hat Su Tong also weitgehend seinem Landsmann Zhang Yimou zu verdanken. Der 1963 in Trier geborene Komponist Christian Jost, der den Stoff nun im Auftrag des Opernhauses Zürich für die Opernbühne adaptiert hat, hat als Vorlage für seine Vertonung aber die Erzählung von Su Tong gewählt. Erste Erfolge unter dem Joch der chinesischen Politik Su Tong wurde 1963 in Suzhou geboren. Schon als Kind zeigte er grosses Interesse am Schreiben. 1980 wurde er zum Sinologiestudium in Peking zugelassen, wo er seine schriftstellerischen Bemühungen trotz grosser Konkurrenz fortsetzte. In einem Text aus dieser Zeit beschreibt er sich selbstironisch als existenzialistischen Einzelgänger: «Ich erinnere mich, dass ich in jener Zeit sehr bestrebt war, wie ein Einzelgänger auszusehen; sehnsuchtsvoll schlenderte ich einsam hin und her und entfernte mich von den Menschen; täglich wandelte ich bedächtig auf dem Campus oder im Beitaiping-Viertel herum und grübelte melancholisch über die Härten und Widersprüche des Lebens nach; besonders bewunderte ich die Studenten, die sich mit Selbstmorgedanken trugen...» 1984 zog er in die Stadt Nanjing, in der er bis heute wohnt. Zunächst wur­­de er «Berater» an der dortigen Kunstakademie, bevor er 1985 zur Nanjinger Literaturzeitung Zhongshan wechselte. Laut Beschreibungen seiner Zeitgenossen war er damals ein geselliger junger Mann mit gepflegten Gewohnheiten: «Er trug Markenkleidung, ass Spezialitäten, rauchte Markenzigaretten und trank teure Drinks. In den Tanzlokalen wurde er von den Leuten häufig für einen gutsituierten Geschäftsmann gehalten.» 1987 heiratete er und zog sich mit zunehmendem Erfolg vom ausschweifenden Lebensstil zurück. Die Zeit von Su Tongs ersten Erfolgen fällt mit der Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung durch das chinesische Militär, dem sogenannten Tian’anmen-Massaker von 1989, zusammen. Dieses Ereignis führte zum grössten Exodus von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in der Literaturgeschichte Chinas und somit zu einem bedeutenden literaturhistorischen Einschnitt. Su Tong gehört also einer Generation von Schriftstellern an, die sich nach diesem Bruch neu orientieren musste. Die stilistische Experimentierfreude,

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mit der sich Su Tong dieser Aufgabe stellte, hat ihm auch einen zweifelhaften Ruf eingebracht. Da nur wenige seiner Texte ins Deutsche übersetzt worden sind, ist die Rezeptionsgeschichte in unserem Sprachraum sehr überschaubar. Der bedeutende deutsche Sinologe Wolfgang Kubin behandelt Su Tong in seiner Geschichte der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert, die als Standardwerk gilt, eher oberflächlich. Es sei fraglich, schreibt er, ob sein Ruhm lange an­halten werde: «Su Tong ist ein Synthetiker, er bietet von allem etwas [...] Mit der Avantgarde teilt er die Groteske, und mit dem Neorealismus hat er das Verfahren des Remakes gemein. Seine Bevorzugung von sex and crime schliesslich bindet ihn an den Markt.» Er kommt zum Schluss, dass Su Tong «kein geistvoller Schriftsteller» sei. Er folge «dem weltweiten Trend einer ‹Kunst der Exkremente und Spermata›». In Bezug auf den Roman Rote Laterne ist aus heutiger Sicht weder die Beschreibung «avantgardistisch», noch die Zugehörig­ keit zur «Fäkalliteratur» zutreffend. Dass sich Su Tong nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung weiterhin im von strenger Zensurbehörde kontrollierten China behaupten konnte, legt nahe, dass er sich in dieser Zeit – zumindest vordergründig – von einem allzu gewagten und experimentellen Schreibstil, den Wolfgang Kubin bemängelt, distanzierte. Su Tong erlebte in den 90er-Jah­ ren gar einen ersten Höhepunkt seiner Karriere. 1991 veröffentlichte die par­tei­ nahe Zeitschrift Renmin wenxue (Volksliteratur) erstmals einige seiner Erzählungen. 1992 wurde ihm durch Zhang Yimous Verfilmung der Roten Laterne internationale Aufmerksamkeit zuteil. Eine Studie von Susanne Baumann, die 1996 unter dem Titel Rouge – Frauenbilder des chinesischen Autors Su Tong erschienen ist, beschäftigt sich tief­ gehender mit seinen Werken. Neben einer Darstellung des Frauenbildes bietet diese Arbeit einen Überblick über die Jugendjahre des Autors und sein frühes Schaffen, dem auch seine Erzählung Rote Laterne zuzurechnen ist.

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Parallelen zu «Rote Laterne» in Su Tongs Jugendwerken Als intensivstes Leseerlebnis seiner Studienzeit nannte Su Tong J.D. Salingers The Catcher in the Rye. Der Einfluss dieses Werks, in dem die Krise der Adoleszenz beschrieben wird, spiegelt sich in Su Tongs frühen Erzählungen, in denen

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er mehrfach die Konflikte von Heranwachsenden thematisiert. Auch Songlian, aus deren Perspektive die Rote Laterne erzählt wird, ist mit ihren 19 Jahren eine junge Frau. Aufschlussreich in Bezug auf die Figur Songlians ist auch eine Passage aus Susanne Baumanns Studie über die Entwicklung der Erzählperspektive in Su Tongs Werken: «Ist der Erzähler in den frühen Erzählungen ein IchErzähler, der als Figur eine aktive Rolle innerhalb der Erzählung spielt, verlagert sich sein Standpunkt später zu dem eines Beobachters und Kommentators oder verschwindet ganz in der personalen Perspektive der Figuren.» In der Erzählung Rote Laterne findet sich keine Szene, die nicht von Songlian selbst erlebt wird. Der Leser wird sozusagen von ihr durch die Erzählung geführt und erlebt die Geschehnisse als Beobachter an ihrer Seite. Viele Erzählungen Su Tongs spielen an einem einzigen Ort. Dazu gehören Erzählungen über Jugendliche während der Kulturrevolution, von denen die meisten in der Xiangchunshu-Gasse spielen, die sich in einer Stadt im Süden Chinas befindet. Sein erster Roman Reis sowie einige seiner Erzählungen über das Land sind jeweils im imaginären Dorf Fengyang angesiedelt. Dieses Charakteristikum trifft ebenfalls auf die Erzählung Rote Laterne zu: Abgesehen von einer einzigen Rückblende, in der Songlians Vergangenheit geschildert wird, spielt die gesamte Handlung an einem einzigen nicht näher definierten Ort in China, dem Anwesen von Chen Zuoqian. Weitere wiederkehrende Motive in Su Tongs Schaffen, die auch für die Rote Laterne von Interesse sind, seien hier nur angedeutet: Sie reichen von der «Suche nach der Vergangenheit der Vorfahren» (Reis) über den Zeitenwandel (Die Opiumfamilie) bis hin zu den Erzählungen über Beziehungs- und Eheprobleme, die Su Tong zumeist in einem städtischen Milieu der 80er- und 90er-Jahre ansiedelte. Zudem sind viele von Su Tongs Kurzgeschichten von einem fatalistischen Verlauf geprägt.

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Su Tongs subtile Kunst der Andeutung Mit den angedeuteten Themenkomplexen sind viele Eigenheiten und Motive benannt, die auch Su Tongs Erzählung Rote Laterne prägen, in der sich vier Frauen aus verschiedenen Generationen um die Gunst eines Mannes streiten und sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Die Handlung unterscheidet

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sich nur unwesentlich von derjenigen der Oper. In deutscher Sprache umfasst sie ungefähr 150 Seiten, die in einzelne Abschnitte, jedoch nicht in verschiedene Kapitel gegliedert sind. Dialogische Abschnitte wechseln sich mit erzählenden und poetisch beschreibenden Passagen ab. Su Tong beherrscht es in dieser Erzählung auf beeindruckende Weise, alle Geschehnisse leicht in der Schwebe zu halten. Er versteht es, Ereignisse oder Tatsachen so anzudeuten, dass der Leser nie von deren absoluter Gültigkeit überzeugt ist – und führt ihn so zum Mitdenken, Mitfühlen und Miträtseln. Als Beispiel sei das Schicksal der Figur Feipu genannt, dem als erstgeborener Sohn von Chen Zuoqian und der ersten Frau Yuru der Platz des männlichen Familienerben zustehen würde. Ein junger Mann, mit dem er hin und wieder gesehen wird, und sein Verhalten der gleichaltrigen Songlian gegenüber («Seit meiner frühsten Kindheit erschrecken mich die Frauen [...] Ihr seid die einzige, zu der ich mich hingezogen fühle, aber ich kann meine Bangigkeit nicht überwinden») lassen erahnen, dass er diese Rolle aufgrund seiner homosexuellen Veranlagung nicht einnehmen kann. Explizit ausgesprochen wird diese aber nie. Su Tongs stilistische Eigenheiten und seine Erzähltechnik charakterisiert Susanne Baumann in ihrer Studie wie folgt: «Sie ist getragen vom Duktus eines unpathetischen Sprechens, einer Flucht in wiederkehrende, minimalistische bis explosive Bildmomente und einer perspektivischen Vielschichtigkeit.» Ein Film wie ein erwürgter Schrei Explosive Bildmomente sind die Sache des grossen Filmemachers Zhang Yimou. Man kennt sie aus seinen Meisterwerken wie Hero oder House of Flying Daggers, man konnte sie aber auch anlässlich der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Spiele 2008 in Peking erleben, die er – vom dissidentischen Filme­ macher zum Staatskünstler gewandelt – inszeniert hat. Seine Verfilmung von Rote Laterne bietet hochästhetische, starke Bilder in statischen Kameraeinstellungen. Die psychologischen und poetischen Elemente von Su Tongs Text gehen dadurch keineswegs verloren. Doch sie gehen in den höchst präzise aus­ gearbeiteten realistischen Bildwelten auf. Der Film verzichtet weitestgehend auf untermalende Musik; sie wird nur ganz gezielt eingesetzt. Die Dialoge sind auf

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das Wesentlichste reduziert. «Es ist Zhangs subtilstes und abgründigstes Psycho­ dram, ein Film wie ein erwürgter Schrei», war 1991 im Spiegel zu lesen. Ein prägender Aspekt der Erzählung, der bisher nicht genannt wurde, kommt im Film vielleicht besser zur Geltung als in Su Tongs Vorlage: In ihrem Werben um den Hausherrn Chen Zuoqian verstellen sich die vier Frauen andauernd. Alle setzen in der Öffentlichkeit eine Maske auf. Der Umgang unter­ ei­nander ist ein stetiges Spiel. Um diese Masken aufzudecken, um beispielsweise zu zeigen, wie die zweite Herrin Zhuoyun, nachdem sie von Songlian ins Ohr geschnitten wurde, sich vor Chen Zuoqian mit grosser theatralischer Geste aufspielt, um gleich darauf Songlian freundlich anzulächeln und zu sagen, es sei doch alles halb so schlimm, genügt in der Dramaturgie des Films ein einziger Schnitt. Während der Erzählung Su Tongs offensichtlich keine politische Bedeutung beigemessen wurde, fiel der erfolgreiche Film von Zhang Yimou – ein Grund dafür ist sicher sein weltweiter Erfolg – sogleich der Zensur zum Opfer und wurde Anfang der 90er-Jahre für eine gewisse Zeit verboten. Zu stark waren die Parallelen zwischen dem in sich geschlossenen Machtkosmos von Chen Zuoqian und dem nach aussen hin abgeschotteten China. Auch die Handlung kann in den historisch perfekten Bildwelten Zhang Yimous leicht als subversive Kritik an einem System aufgefasst werden, in dem die alten Männer herrschen, während für eine Frau, die sich darin aufzulehnen wagt, nur der Wahnsinn oder der Tod bleibt.

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Beim Morgengrauen lag Songlian im Halbschlaf, als ein Geräusch von hastigen Schritten sie aus ihrem Halbschlaf riss. Der Tumult entfernte sich vom Nordpavillon in Richtung Glyzinienlaube. Songlian schob die Vorhänge beiseite und sah durch den Spalt, wie mehrere Gestalten im Dunkeln aufgeregt umherliefen. Sie trugen jemanden und gingen auf die Laube zu. Songlian befiel die Ahnung, dass es sich um Meishan handelte. Es war die Dritte Schwester, die sich verbissen, doch völlig lautlos wehrte, während man sie hinüberschaffte. Man hatte


sie geknebelt, um sie am Schreien zu hindern. Songlian fragte sich: Was wollen sie denn machen? Weshalb schaffen sie sie dort hin­über? In der Dunkelheit kam die Gruppe am Brunnenrand an, um den herum sie sich eine Weile zu schaffen machte. Dann vernahm Songlian ganz deutlich ein dumpfes Geräusch, und es schien ihr, als ob sie das Wasser des Brunnens in einer grossen weissen Garbe aufspritzen gesehen hätte. Ein Mensch war soeben in den Brunnen ge­­stürzt worden. Meishan war soeben in den Brunnen gestürzt worden. aus Su Tong: Rote Laterne



CHRISTIAN JOST Biografie

Christian Jost, 1963 in Trier geboren, studierte in Köln bei Bojidar Dimov und am San Francisco Conservatory of Music bei David Sheinfeld Komposition, Werkanalyse und Dirigieren. 2003 wurde er mit dem Förderpreis der Ernst von Siemens Stiftung ausgezeichnet. Seine Oper Hamlet wurde bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahr 2009 zur «Uraufführung des Jahres» gewählt. Als Dirigent leitete Christian Jost u.a. das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, das Nederlands Filharmonisch Orkest, die Bremer Philharmoniker, das National Symphony Orchestra Taiwan, die Essener Phiharmoniker, das Orchester der Komischen Oper Berlin, die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, das Philharmonische Orchester der Oper Graz und das Deutsche Kammerorchester Berlin. Kompositionsaufträge erhielt er von den Berliner Philharmonikern, dem Luzern Festival, dem Konzerthausorchester Berlin, dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin, der Vlaamse Opera Antwerpen, dem Rundfunkchor Berlin, der Oper Graz, dem Residentie Orkest Den Haag und dem Taiwan Festival of Arts. Christian Jost lebt als freischaffender Komponist und Dirigent in Berlin. Gleich zwei Opern feierten ihre Premieren im Jahr 2005: im Januar die erste abendfüllende Oper Vipern («Eine mörderische Begierde in 4 Akten») an der Deutschen Oper am Rhein und im Mai die szenische Erstaufführung des Einakters Death Knocks (2001) nach der gleichnamigen Satire von Woody Allen am Theater Erfurt. Josts grossformatig angelegte «AstronautenOdyssee» Phoenix ressurexit hatte 2001 bei den Mittelrhein Musik Momenten Premiere. Einen neuartigen Beitrag zur Gattung Musiktheater lieferte Jost 2006 mit der Choroper Angst («5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst») für Chor, Chorsolisten, Instrumentalensemble und filmische Projektionen. Handlung und Reflexion um die dramatischen Ereignisse eines Bergsteigerunglücks werden ausschliesslich durch den Chor getragen. Nach der Uraufführung der Oper Die arabische Nacht (2007) am Theater Essen komponierte Jost in der

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Spielzeit 2008/2009 für die Komische Oper Berlin das Musikdrama Hamlet nach William Shakespeare. Am gleichen Haus wurde 2011 die Jugendoper Mikropolis aus der Taufe gehoben. 2012 folgten zwei Musiktheaterprojekte: Als Auftragswerk der Vlaamse Opera Antwerpen entstand die Oper Rumor nach dem Roman Der süsse Duft des Todes des bekannten Drehbuchauthors Guillermo Arriaga (21 Gramm, Babel, Amores Perros). Seine erste Ballettkomposition DnA – six images of love schrieb Jost für die Oper Graz. Im Auftrag des Taiwan Festival of Arts komponierte er die Kammeroper HEART SUTRA, basierend auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Zhang Ai-ling, die unter der Leitung des Komponisten in der National Concert Hall Taipei 2013 uraufgeführt wurde. Der Rundfunkchor Berlin hat gemeinsam mit dem weltbekannten U-theatre Taiwan mit Lover – für gemischten Chor und Schlagzeuginstrumente ein weiteres Mal ein neues Musiktheater bei Christian Jost in Auftrag gegeben, welches 2014 zur Uraufführung gelangte. Eine zentrale Gattung in Josts Schaffen stellt das Solokonzert dar. Charakteristisch ist eine orchestral gedachte atmosphärische Klangdichte. Josts kompositorischer Impuls besteht vor allem darin, dem Zuhörer Unbekanntes, Eigenwilliges sowie psychische Grenzerfahrungen auf faszinierende Weise nahe zu bringen. Nicht selten lässt sich die Intention des Autors bereits an den Titeln ablesen: TiefenRausch für Violine und Orchester (1997), Cosmodromion für Schlagzeug und Orchester (2002) und Heart of Darkness («Odyssee» für Klarinette und Orchester, 2007, Auftrag der Berliner Philharmoniker). Der tragische Tod des Jazztrompeters Chet Baker wird in dem Konzert für Trompete und Orchester Pietà («in memoriam Chet Baker», 2004) thematisiert. Zusammen mit den Werken DiesIrae für Posaune und Orchester (2002) und LuxAeterna für Altsaxophon und Orchester (2003) bildet diese drei Solokonzerte die «Requiem-Trilogie» – ein Zyklus, der in der Spielzeit 2004/05 erstmalig vollständig aufgeführt wurde. 2007 komponierte er für das RSO Stuttgart sein Konzert für Orchester und 2009 brachte das Konzerthaus­ orchester Berlin Josts CodeNine zur Uraufführung. Einladungen als Composer in Residence erhielt der Komponist von dem Orchester der Beethovenhalle Bonn (1999/2000, The End of the Game für Orchester), von der Staatskapelle Weimar (2003/04, CocoonSymphonie für Orchester) und in der Saison 2004/05 sowohl von der Deutschen Oper am Rhein (Vipern) als auch von der Staats-

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philharmonie Rheinland-Pfalz (Erstaufführung der «Requiem-Trilogie»), der Komischen Oper Berlin (2008/09, Hamlet), dem Theater Dortmund (2010/11, Hamlet) sowie dem National Symphony Orchestra Taiwan und dem Nederlands Philharmonic Orchestra (2012/13, Taipei Horizon). Unmittelbar nach der Uraufführung seiner neusten Oper Rote Laterne am Opernhaus Zürich wird im März 2015 Christian Josts Berlin-Sinfonie vom Berliner Konzerthaus-Orchester unter Iván Fischer uraufgeführt.

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ROTE LATERNE CHRISTIAN JOST (1963*) Oper nach dem Roman «Wives and Concubines» von Su Tong Musik, Text und Konzeption von Christian Jost

Personen

Song-Lian, die vierte Herrin

lyrischer Sopran

May-Shan, die dritte Herrin

Koloratur-Sopran

Zhuo-Yun, die zweite Herrin

Mezzosopran

Yu-Ru, die erste Herrin

Alt

Master Chen, Herr des Hauses

Bariton

Fay-Pu, Master Chens Sohn mit Yu-Ru, der ersten Frau Yen-Er, Dienerin von Song-Lian

Tenor

Mezzosopran

Yi-Rong und Yi-Yun, Chens Töchter mit Zhuo-Yun, der zweiten Herrin Der Doktor

Sprechrollen

Stumme Rolle

Anula, der Verwalter

Stumme Rolle


Ein Sommerabend. Die blaue Stunde. Es ist immer noch sehr heiss. Um einen Brunnen herum stehen Master Chen in der Mitte und links und rechts um ihn gruppiert, die erste Herrin Yu-Ru, die dritte Herrin May-Shan, die Dienerin Yen-Er und der Verwalter Anula mit einem weissen Tuch in den Armen. Auf der anderen Seite, die zweite Herrin Zhuo-Yun mit ihren Töchtern Yi-Rong und Yi-Yun. Erste Herrin Yu-Ru beginnt ein «Heart Sutra» zu beten, worauf alle übrigen Stimmen, ausser der von Master Chen und Anula nach und nach einsetzen. Nach einiger Zeit erscheint Song-Lian, die das Ganze unbemerkt beobachtet.

SONG-LIAN Das Wasser ist kalt wie Stein. Steh’ nicht herum, trockne mein Gesicht. Master Chen erscheint wieder. YEN-ER

Wer seid ihr, mich so zu kommandieren? SONG-LIAN Wer ich bin!? Das wirst du noch erfahren. MASTER CHEN

Gaté! Gaté! Paragaté! Parasamgaté! Bodhi! Sattva!

Yen-Er! Vor Dir steht deine neue Herrin, Song-Lian. Erweise ihr Respekt!

ZHUO-YUN Gaté! Gaté! Paragaté! Parasamgaté! u.s.w.

SONG-LIAN Lass mich dein Haar anschauen. Hast du Läuse? Wasch’ es! Benutze Seife, es riecht widerlich!

YU-RU

Yen-Er kniet vor Song-Lian nieder.

Das vollständige Libretto können Sie im gedruckten Programmbuch nachlesen. www.opernhaus.ch/shop MAY-SHAN

Gaté! Gaté! Paragaté! u.s.w.

MASTER CHEN Du hast die vierte Herrin verstanden.

YEN-ER, YI-RONG & YI-YUN

YEN-ER Aber Master Chen, ich habe erst gestern mein Haar gewaschen.

Gaté! Gaté! u.s.w.

Dann löst sich die Gruppe langsam auf, jedoch ohne Song-Lian zu bemerken. Nur Yen-Er bleibt übrig und säubert die Stelle von welken Blättern und Moos, fegt den Schmutz weg, spült die Steine ab. Song-Lian nähert sich. SONG-LIAN

Lass’ mich mein Gesicht waschen! Ich kann nicht schlafen. Es ist die erste Nacht nach meiner Ankunft. YEN-ER

Möchtet ihr meine Hilfe? SONG-LIAN Das Wasser ist schwarz... YEN-ER

MASTER CHEN Du bist nicht taub. Wenn vierte Herrin sagt, du sollst es waschen, tu’ es!

Weinend wendet sich Yen-Er ab. Aus der Ferne erklingt erste Herrin Yu-Ru wieder das «Heart Sutra» betend. Master Chen nimmt Song-Lian an die Hand und geleitet sie in ihre Kammer. YU-RU Gaté! Gaté! Paragaté! Parasamgaté! Bodhi! Sattva! MASTER CHEN

....und kalt.

Das ist erste Herrin Yu-Ru, sie glaubt, eine Buddhistin zu sein.

Song-Lian reinigt ihr Gesicht mit dem kalten Brunnenwasser.

SONG-LIAN Warum betet sie das Sutra zuhause?


Programmheft DIE ROTE LATERNE Oper von Christian Jost (1963*) Libretto vom Komponisten nach dem Roman «Wives and Concubines» von Su Tong Premiere am 8. März 2O15, Spielzeit 2O14/15 Uraufführung

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Fabio Dietsche Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Titelseite Visual François Berthoud Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Studio Geissbühler

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Fabio Dietsche. Die Gespräche mit Christian Jost, Nadja Loschky und Reinhard von der Thannen sowie der Text «Wer ist Su Tong?» sind Originalbeiträge für die­­ses Programmbuch. – Im Beitrag «Wer ist Su Tong» wird aus folgenden Quellen zitiert: Wolfgang Kubin: «Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert» Saur, München 2005; Susanne Baumann: «Rouge, Frauenbilder des chinesischen Autors Su Tong» projekt verlag, Dortmund 1996; «Rebell der gelben Erde» in: Der Spiegel, 40/1991. – Weitere Zitate: Su Tong: «Rote Laterne» Goldmann, München 1992. – Jean-Paul Sartre «Geschlossene Gesellschaft» Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986; Paul Celan «Gesammelte Werke in sieben Bänden», Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Bd. 1, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000; Georg

Fineprint AG

Büchner: «Dantons Tod» Reclam, Stuttgart 2002 – Die Biografie des Komponisten Christian Jost stammt von seiner Homepage (www.christianjost.de) und wurde für dieses Programmbuch eingerichtet. Christian Jost verwendete die englische Schreibweise der chinesischen Namen, die wir in der Handlung, den Produktionsgesprächen und dem Libretto übernehmen. Die Zitate und der Artikel über Su Tong folgen der Schreibweise der deutschen Übersetzung. Bildnachweis: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 27. Februar 2015. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN EVELYN UND HERBERT AXELROD FREUNDE DER OPER ZÜRICH

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