Pelléas et Mélisande

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PELLÉAS ET MÉLISANDE

CLAUDE DEBUSSY


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PELLÉAS ET MÉLISANDE CLAUDE DEBUSSY (1862-1918)

Mit freundlicher Unterstützung der René und Susanne Braginsky-Stiftung




“ Es ist wichtig,

dass wir uns an die Erforschung unserer Traurigkeiten machen; wir müssen sie kennen und bewundern lernen.” Maurice Maeterlinck



HANDLUNG Zeit der Handlung im Libretto: frühes Mittelalter

Erster Akt Erstes Bild – Im dichten Wald Während der Jagd hat sich Golaud, der Enkel des Königs Arkel, im Wald verirrt. Plötzlich trifft er ein zauberhaftes Mädchen mit langem blondem Haar, das bitterlich weinend ängstlich an einem Brunnen sitzt. Golaud ist von ihrer aussergewöhnlichen Schönheit verzaubert und bietet ihr seine Hilfe an, doch das Mädchen fürchtet sich vor ihm. Auf seine Fragen antwortet sie unklar und geheimnisvoll, als könne sie sich an ihre Vergangenheit nicht mehr erinnern. Ihre goldene Krone ist in den Brunnen gefallen, doch sie erlaubt Golaud nicht, sie herauszu­holen. Nur indem er schwört, ihr niemals etwas zuleide zu tun, erlangt er ihr Vertrauen. Die Unbekannte nennt ihm ihren Namen: Mélisande. Zu zweit gehen sie los, um gemeinsam den Weg nach Hause zu finden. Zweites Bild – Schloss in Allemonde Das Schloss gehört Arkel, dem König von Allemonde. Er hatte zwei Söhne. Der Ältere ist vor langer Zeit gestorben, der Jüngere lebt schwer krank im Schloss. Dort lebt auch Geneviève, die zuerst den älteren, dann den jüngeren Sohn Arkels geheiratet hatte. Aus jeder dieser Ehen hat sie einen Sohn, der ältere ist Golaud, der jüngere Pelléas. Beide Söh­ ne sind in Allemonde aufgewachsen, im Schloss ihres Grossvaters. Geneviève liest den Brief, den Golaud seinem Bruder Pelléas geschrieben hat. Ohne Arkel darüber zu unterrichten und ohne seine Erlaubnis abzuwarten, nahm Golaud die unbekannte Mélisande zur Frau. Nun fürchtet Golaud die Re­ak­tion Arkels, denn Arkel hatte angenommen, dass er selbst die nächste Ehefrau für seinen Enkel aussuchen würde, nachdem dessen erste Frau gestor­ ben war. In seinem Brief bittet Golaud Pelléas, Arkels Haltung zu seiner neuen Ehe in Erfahrung zu bringen.


Pelléas selbst bittet seinen Grossvater um die Erlaubnis, seinen sterbenden Freund zu besuchen zu dürfen. Doch Arkel verweist auf Pelléas’ schwerkranken Vater und erlaubt Pelléas nicht, Allemonde zu verlassen. Drittes Bild – Im Park vor dem Schloss Mélisande lebt nun in Allemonde. Geneviève erzählt ihr davon, welche schreckli­chen, düsteren Wälder das Schloss umgeben. Pelléas kommt ihnen entgegen. Er war am Meer und hat gesehen, dass ein Sturm droht. Mélisande denkt daran, dass genau in diesem Moment das Schiff, das sie hier­her­brachte, mit geblähten Segeln davonfährt. Sie schaut dem Schiff bis zum Horizont nach, als ob sie spüren würde, dass das Schiff bald untergehen wird. Geneviève lässt Mélisande und Pelléas allein. Pelléas erzählt Mélisande, dass er bald abreisen wird.

Zweiter Akt Erstes Bild – Ein Brunnen im Park Pelléas bringt Mélisande zum Brunnen. Er sagt, dass er sehr oft hierherkomme, und fragt Mélisande nach Golaud – sie haben sich doch auch an einem Brunnen kennengelernt? Wollte Golaud sie damals küssen? Mélisande antwortet, dass Golaud sie wohl gern geküsst hätte, sie selbst das aber nicht wollte. Mélisande streift den wertvollen Ring ab, den Golaud ihr geschenkt hatte, und beginnt damit zu spielen, ihn immer höher zu werfen. Pelléas warnt sie, der Ring könnte in den Brunnen fallen, aber sie scheint ihn nicht zu hören. Plötz­ lich fliegt der Ring hoch – und fällt in den Brunnen, dessen Grund man nicht sehen kann. Mélisande ist verzweifelt, denn sie weiss nicht, wie sie Golaud von diesem Verlust erzählen soll. Doch als Pelléas ihr vorschlägt, den Ring herauszu­ holen, lehnt sie ab. Zweites Bild – Ein Zimmer im Schloss Golaud ist krank. Er erzählt, wie er während der Jagd vom Pferd gefallen ist und schwer verwundet wurde. Méli­ sande ist gedrückter Stimmung. Sie verheimlicht Golaud, dass sie erfüllt ist von düsteren Vorahnungen und das Schloss gern ver­lassen würde. Golaud versucht


zu verstehen, was in Mélisande vorgeht, doch plötzlich entdeckt er, dass der Ring an ihrem Finger fehlt. Er ist zornig. Mélisan­de versucht seinen Fragen auszuweichen und sagt schliesslich, dass sie den Ring in der Grotte am Meer verloren hat, als sie mit dem kleinen Yniold dort war, dem Sohn Golauds aus seiner ersten Ehe. Golaud besteht darauf, dass der Ring gefunden werden muss. Mélisande soll zurück in die Grotte gehen, jetzt, sofort! Andernfalls wird die Flut den Ring fortspülen. Mélisande ist über Golauds wütendes Benehmen zutiefst erschrocken. Drittes Bild – In der Grotte Pelléas begleitet Mélisande in die Grotte. Dort ist es dunkel und furchterregend, der Weg hinein ist ein schmaler Pfad, der zwischen zwei tiefen unterirdischen Seen durchführt, aber Pelléas und Mélisan­ de müssen hineingehen. Mélisande weicht voller Schrecken zurück. Sie hat Angst und will diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.

Dritter Akt Erstes Bild – Ein Turm im Schloss Zur Abendstunde steht Mélisande in ihrem Zimmer am Fenster. Pelléas, der im Park erscheint, ist von diesem Anblick verzaubert. Er bittet Mélisande, ihm die Hand zu reichen. Mélisande beugt sich aus dem Fenster, und ihre langen, offe­nen Haare fallen aus dem Fenster und bedecken ihn. Er küsst Mélisandes Haare leidenschaftlich und will sie nicht mehr loslassen. Golaud wird Zeuge dieser Szene. Er nennt die beiden «Kinder», sagt, sie sollten hier nicht spielen, und führt Pelléas weg. Zweites Bild – In den Verliesen des Schlosses Golaud bringt seinen Bruder in die dunklen Gewölbe unter dem Schloss, wo es einen schwarzen See gibt, von dem ein schrecklicher Gestank ausgeht. Golaud lenkt die Aufmerksamkeit seines Bruders auf den Geruch des Todes, den man hier stark empfindet, und zeigt ihm den gefährlichen Abgrund. Pelléas versteht die Warnung. Er kann kaum noch atmen, er möchte so schnell wie möglich zu­rück. Die Brüder ver­ lassen das Verlies.


Drittes Bild – Terrasse am Ausgang der Verliese Nachdem er den düsteren Ort verlassen konnte, wird Pelléas von freudigen Emotionen erfasst. Aber Go­ laud warnt ihn: Er habe gesehen, was zwischen Pelléas und Mélisande unter dem Fenster vorging; Pelléas soll Mélisande von nun an meiden – doch nicht allzu offensichtlich. Mélisande soll sich über nichts aufregen müssen, denn sie wird bald Mutter werden. Viertes Bild – Vor dem Schloss Spät abends fragt Golaud seinen Sohn, den kleinen Yniold, darüber aus, was Pelléas und Mélisande in seiner Abwesenheit tun. Küssen sie sich? Der Junge sagt, dass er nichts dergleichen gesehen habe. Doch sein Vater glaubt ihm nicht. Er zwingt seinen Sohn, ins Fenster von Mélisandes Schlafzimmer zu schauen. Golaud stellt ihm Fragen, um herauszu­ finden, was dort vor sich geht, aber alles, was der Junge sehen kann, sind Pelléas und Mélisande, die still dastehen und sich anschauen. Yniold fürchtet sich, er bittet seinen Vater darum, ihn loszulassen. Golaud ist zornig.

Vierter Akt Erstes Bild – Ein Zimmer im Schloss Pelléas trifft Mélisande und teilt ihr mit, dass es seinem Vater besser geht und er selbst endlich wegfahren kann – vielleicht für immer. Vor seiner Abreise möchte er sich von Mélisande verabschieden. Er verabredet sich mit ihr. Zweites Bild – Ein Zimmer im Schloss Als der alte Arkel Mélisande sieht, die sehr traurig zu sein scheint, versucht er, den Grund für ihre Traurigkeit zu erfahren und sie zu trösten. Er erklärt dem Mädchen, dass es für einen alten Menschen wie ihn unerlässlich sei, ein junges Wesen wie Mélisande zu küssen. Plötzlich erscheint Golaud mit zerkratztem Gesicht. Als Mélisande ihm das Blut von der Stirn wischen will, überschüttet Golaud sie mit Schimpfwörtern und Verwünschungen. Rasend vor Zorn und Eifersucht, jagt er sie mal weg, mal lässt er sie auf allen Vieren kriechen. Arkel beendet die grausame Szene. Mélisan­ de ist untröstlich und am Boden zerstört.


Drittes Bild – Im Park Das goldene Spielzeug des kleinen Yniold ist unter einen grossen, schweren Stein gerutscht. Das Kind hat nicht die Kraft, diesen Stein wegzurollen. Plötzlich ist das Blöken von Schafen zu hören, aber irgendetwas ist ungewöhnlich, die Tiere scheinen zu Tode erschrocken. Yniold versucht von dem Schäfer zu erfahren, warum die Tiere nicht in ihren Stall geführt werden... Viertes Bild – Ein Brunnen im Park Pelléas kommt, um Mélisande ein letztes Mal zu sehen. Er zweifelt zunächst, ob es nicht vielleicht besser wäre, zu gehen, ohne sie noch einmal gesprochen zu haben. Das Erscheinen Mélisandes provo­ ziert Pelléas zu stürmischen Erklä­r ungen. Plötzlich spürt Mélisande, dass Go­ laud in der Nähe ist. Sie ist sehr er­schrocken, denn Golaud ist ausser sich und imstande, jemanden umzubringen. Mélisandes Abschied von Pelléas wird durch das plötzliche Erscheinen Golauds unterbrochen.

Fünfter Akt Ein Zimmer im Schloss Mélisande hat ein Mädchen zur Welt gebracht und liegt nun sterbend im Bett. Sie ist nicht mehr in der Lage, zu begreifen, was passiert ist. Der Arzt versucht Golaud zu beruhigen, der von Schuldgefühlen gequält wird. Golaud möchte mit Mélisande alleingelassen werden. Er bittet Mélisande um Verzeihung – denn er ist Schuld daran, dass sie ans Bett gekettet ist, er war es, der sie so gequält hat. Er beginnt von Neuem, die Sterbende zu verhören – gab es eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Pelléas, hat sie Golaud betrogen? Mélisande weist alle Anschuldigungen zurück, aber Golaud kann sich nicht beruhigen und fährt fort, sie zu bedrängen. Man bringt Mélisande ihre neugeborene Tochter, doch sie hat nicht die Kraft, das Kind auf den Arm nehmen, und empfindet keinerlei Muttergefühle. Golaud fordert, dass man ihn mit Mélisande allein lassen soll, aber es hat keinen Sinn mehr – Mélisande ist bereits gestorben.


In der Zürcher Produktion von 2016 findet die Handlung in der heutigen Zeit statt, im Haus der Familie Arkels. Alle Familienmitglieder stehen der Psychoana­ lyse nah; jedes Familienmitglied hat entweder in der Vergangenheit Psychoanalyse praktiziert oder tut dies heute noch. Golaud, Psychiater, nimmt Mélisande, die in der Klinik seine Patien­ tin war, mit zu sich nach Hause. Das Mädchen hat in der Vergangenheit ein unbekanntes, schweres Trauma erlitten und die Verbindung zur Realität verloren. Golaud, der Mélisande wie besessen liebt, bringt das Mädchen in seinem Haus unter. Er beschliesst, ihr dabei zu helfen, ihr Trauma zu bearbeiten, zu lernen, über das zu sprechen, was ihr passiert ist, sich des Erlebten bewusst zu werden, ihr den Weg aus ihrer dunk­ len Vergangenheit zu zeigen – sie glücklich zu machen. Die Handlung spielt sich im Wohnzimmer der Familie ab. Die Orte, die im Libretto erwähnt werden (der Wald, die Grotte, der Garten, das Schloss, die Gewölbe etc.), sind imaginierte Bil­ der, die in den psychotherapeutischen Sitzungen mit Mélisande aufgerufen werden. Dmitri Tcherniakov




Wie geht es einem Menschen, der ein seelisches Trauma erlebt hat? Es gibt, grob gesagt, vier wichtige Symptomgruppen. Am typischsten sind die Wieder­ erlebenssymptome: Die Erinnerung drängt sich mir auf, ob ich will oder nicht, und sie ist sehr unangenehm. Das zeigt sich in Form von Flashbacks: Ich habe plötzlich das Gefühl, wieder in der traumatischen Szene zu sein. Das kann sogar so weit gehen, dass ich nicht unterscheiden kann, ob es eine Erinnerung ist oder ob sich das schreckliche Erlebnis tatsächlich wieder ereignet; dazu gehören auch Albträume. Die zweite Gruppe sind die Ver­ meidungs­­symptome: Weil dieses Wieder­er­leben so un­angenehm ist, so quälend, beäng­stigend oder beschämend, versuche ich, die Erinnerung mit allen Mitteln zu vermeiden. Im Extremfall gehe ich nicht einmal mehr aus dem Haus. Der dritte Bereich der Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung betrifft veränderte Kognition und Stimmung. Damit ist gemeint, dass insbesondere Menschen, die interpersonelle, häufig wiederkehrende Trauma­­tisierungen erlebt haben, ihre Grund­an­ nah­men ändern und übergeneralisieren, also zum Beispiel sagen: Alle Männer sind potentielle Ver­gewaltiger, oder die Welt ist generell ge­fährlich. Als viertes Symptom kommt Überer­ reg­barkeit hinzu: Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, Kon­zentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, also allgemeine Stresssymptome, die sich auch bei anderen psychischen Erkrankungen finden.



EINEN AUSWEG GIBT ES NICHT Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov im Gespräch

Dmitri Tcherniakov, für das Opernhaus Zürich entwickeln Sie eine Neu­interpretation von Debussys Oper Pelléas et Mélisande. Was hat Sie an diesem rätselhaften Stück besonders interessiert? Der Schriftsteller Maurice Materlinck, von dem die Vorlage zu Debussys Pelléas et Mélisande stammt, hat mich schon interessiert, bevor ich die Oper kennengelernt habe. Der Oper bin ich erst relativ spät begegnet; in Russland wurde sie praktisch nie aufgeführt, es gibt dafür keine Tradition und dement­ sprechend auch keine Rezeptionsgeschichte. Ich hörte nur einige Aufnahmen, und selbst die habe ich erst sehr spät kennengelernt. Ich kannte also dieses Werk nur über das Hören, nicht über das Sehen, hatte nie irgendwelche szenischen Bilder vor Augen, und ich hatte lange Zeit Mühe, mir überhaupt vorzustellen, wie diese Oper aussehen könnte. Das Stück hat mir immer etwas Angst gemacht, weil es mir so vorkam, als verweigere es sich einer szenischen Darstellung. Für die Auseinandersetzung mit einem Werk ist gerade das für mich dann aber ein wichtiger Antrieb: Es reizt mich, wenn ich es mit etwas zu tun habe, das nicht offensichtlich ist, sondern vernebelt, verwirrend, das auf den ersten Blick nicht logisch erscheint. Im Falle von Pelléas et Mélisande bereitet mir schon allein der Prozess des Enträtselns, des Aufhellens grosses Vergnügen. Auf den ersten Blick scheint die Geschichte einfach: Im Wald trifft Golaud zufällig auf ein junges Mädchen, Mélisande, die an einem Brunnen sitzt und weint. Er nimmt sie, die offensichtlich allein ist und nirgendwo hin gehört, zur Frau und bringt sie nach Hause zu seiner Familie. Dort


lernt Mélisande Golauds Halbbruder Pelléas kennen, die beiden ver­ lieben sich ineinander – es kommt zu einer tragischen Dreiecksgeschichte, in deren Verlauf Golaud seinen Halbbruder aus Eifersucht ersticht. Schliesslich stirbt auch Mélisande, nachdem sie ein Mädchen zur Welt ge­ bracht hat. Unter der Oberfläche dieser scheinbar einfachen Geschichte verbirgt sich jedoch viel mehr. Worum geht es für Sie in diesem Stück? Ich möchte in einem Interview, das der Zuschauer liest, bevor er die Auf­ führung sieht, nicht meine Absichten erläutern. Es würde wirken, als ob die Aufführung nicht für sich selbst sprechen könnte, wenn man eine Einführung, Erklärungen oder sogar eine Bedienungsanleitung braucht, um sie zu ver­stehen. Aber wenn ich kurz zusammenfassen soll, was für mich das Interes­ san­teste an dieser Oper ist, dann würde ich sagen, es ist das hochkomplizierte psychologische Puzzle, das unter der scheinbar einfachen Geschichte ver­ borgen ist, die Verschlingung von Ängsten, Schuldgefühlen, Traumata, Kom­plexen, häuslicher Gewalt, die Abwesenheit von Empathie, Flucht vor der Realität, Manipulation, Illusionen, Neurosen, die Tat­sache, dass sich gewisse Dinge im Leben immer wiederholen. Und wie die Figuren in dieser Oper versuchen, selbst mit all dem zurechtzukommen, all das erforschen, kontrol­ lieren wollen. Und was dabei herauskommt. Wie beginnen Sie die Auseinandersetzung mit einem Werk? Die Inszenierung setzt sich jedes Mal anders in meinem Kopf zusammen. Wichtig ist mir aber immer die Vorbereitung. Zuerst möchte ich alles gründ­ lich studieren, anschauen, überprüfen, durchdringen, widerlegen. Nicht alle diese Bücher, die ich zur Vorbereitung lese, brauche ich auch nachher, und es kommt sogar vor, dass die Konzeption der Inszenierung am Ende dann aus anderen Impulsen entsteht, die mit dem Studium dieses ganzen Materials gar nichts zu tun haben. Trotzdem ist es mir wichtig, das zu machen. Neben all den Informationen, die ich dadurch bekomme, habe ich auch das Gefühl, meine Arbeit durch diese ausführliche Vorbereitung zu legitimieren, ja dadurch überhaupt erst das Recht zu haben, eine eigene Konzeption zu entwickeln. Manchmal ist das für mich wie ein Ritual, das ich streng befolgen muss. Es kommt sogar vor, dass ich den Ort besuche, an dem die Oper spielt,


egal, wie weit er entfernt ist, wie ich das zum Beispiel während der Vorbe­ reitung zu Dialogues des Carmélites gemacht habe, als ich nach Compiègne in ein Kar­melitisches Kloster gereist bin, um mich dort mit den Nonnen zu unterhalten. Die Inszenierung selbst ist dann am Ende ganz unabhängig von dieser historischen Basis entstanden, aber ich fühlte mich besessen davon, diese vorbereitenden Rituale durchzuführen. Um die Konzeption ent­wickeln zu können, muss ich immer zuerst das Thema des Ganzen erspüren. Nicht das Bild, nicht die Atmosphäre, nicht die Charaktere, sondern das Thema. Wenn ich das spüre, geht es schnell voran, und alles, was dann kommt (die Visualisierung, die Bühnensprache und so weiter), muss dieses zuvor formulierte Thema weiterentwickeln. Sie sind auch Bühnenbildner und entwerfen für Ihre Inszenierungen Ihre Bühnenbilder immer selbst. Pelléas et Mélisande spielt laut Libretto zunächst im Wald an einem Brunnen, später in einem mittelalterlichen Schloss, dann in einer Grotte, am Meer. Sie haben sich entschieden, die Geschichte in einem modernen, zeitgenössischen Apartment anzusie­ deln. Warum? Ich wüsste nicht, wie man all das, was das Libretto als Schauplätze vorgibt, heute auf die Bühne bringen sollte. Und wozu auch? Der musikalische, verbale und symbolische Sinn all dieser Dinge ist so stark und so suggestiv, dass es eine Verdopplung auf der Bühne gar nicht braucht. Der Zuschauer hört doch all das in der Musik und vesteht den gesungenen Text! Ich bin immer dafür, nicht alles zu zeigen, nicht alles vorzukauen. Wichtig ist es, dem Zuschauer einen Link anzubieten, einen Impuls, damit sich die Geschichte in seiner Fantasie erschliesst. Seiner eigenen Fantasie wird er mehr vertrauen, als vorgegebenen Bildern auf der Bühne. Über Mélisande erfahren wir in der Oper nur, dass ihr etwas Schreckli­ ches widerfahren ist – was genau dieses Schreckliche ist, erfahren wir nicht, denn sie kann selbst darüber nicht sprechen. Wer ist dieses junge Mädchen in Ihrer Interpretation? Eine sehr geheimnisvolle Figur, nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für


alle anderen Figuren in diesem Stück! Vieles in der Entwicklung dieser Geschichte geht auf den Wunsch der anderen Figuren zurück, herauszufinden, wer Mélisande ist, wo sie herkommt, was mit ihr passiert ist. Sie sagt nichts über sich selbst, anfangs ist es für sie schwierig, überhaupt zu jemandem Kontakt aufzubauen. Aus ihrem Verhalten wird jedoch klar, dass irgendein Drama hinter ihr liegt, ein Trauma, eine persönliche Erfahrung, die sie quält. Es ist nicht so, dass sie diese Erfahrung absichtlich verbirgt; sie ist einfach nicht in der Lage dazu, darüber zu sprechen. Sie verdrängt das Erlebte in ihr Unterbewusstsein. Sie ist sich dessen nicht bewusst; es klafft ein Riss zwischen ihrem Bewusstsein und ihrem Unterbewusstsein. Sie ist weggelaufen, sie konnte sich retten. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, wovor sie davongelaufen ist und was sie erlebt und gesehen hat. Klar ist, dass es etwas aussergewöhnlich Schreckliches gewesen sein muss, das etwas in ihr zerstört hat und ihr das Leben zum Albtraum machte. Klar ist auch, dass dieses Erlebnis mit Gewalt zu tun hat. Anfangs hatte ich mehrere Vermutungen, vor welchem Schreckensbild sie weggelaufen sein könnte. Ich dachte an die Flucht vor einem Krieg, der plötzlich ausgebrochen war, an Flüchtlinge, Menschen, die eine Katastrophe erlebt haben. Aber keines dieser Bilder grosser sozialer Unbilden erwies sich als organisch. Hier ist eine höchst persönliche Geschichte verborgen, ein Trauma, eine persönliche Erfahrung mit brutaler Gewalt. In Ihrer Inszenierung hat Golaud Mélisande mit nach Hause genommen, weil er überzeugt ist davon, dass er ihr helfen kann – und weil er sich in sie verliebt hat. Wer ist Golaud in Ihrer Interpretation, und ist er wirklich in der Lage dazu, Mélisande zu helfen? In unserer Aufführung sind die Figuren, die in diesem Haus in Allemonde leben, hoch­gebildete, erfahrene, intellektuelle zeitgenössische Menschen. Ziel­gerichtet analysieren sie Probleme, erstellen eine Diagnose, verschreiben Therapien. Sie spielen meistens nach bestimmten Regeln, bemühen sich sogar, bestimmten The­ra­pie-­­Methoden zu folgen, ohne die emotionale Ebene mit einzubeziehen. Aber sie werden dabei von Kräften geleitet, die ihnen nicht bewusst sind, weil sie in ihrem Unterbewusstsein verborgen sind. Die Musik liefert dabei den Ausdruck für dieses Unterbewusste. So ist es auch bei


Golaud. Er trägt eine solch schwere, unausgesprochene Last aus seiner eigenen Vergangenheit mit sich herum, dass er wohl kaum derjenige sein kann, der Mélisande aus ihrer Dunkelheit herausführt, obwohl er so viel für sie empfin­ det. Er selbst muss gerettet werden. Mélisande verliebt sich in Golauds Halbbruder Pelléas – die Geschichte endet tragisch. Wer ist Pelléas in Ihrer Inszenierung, und was für eine Beziehung hat er zu seinem Halbbruder? Das Liebespaar Mélisande und Pelléas ist kein traditionelles Liebespaar, kein liebendes, wunderbares und leidendes Paar. Alles zwischen ihnen ist kom­ pliziert. Wie übrigens auch zwischen allen anderen Mitgliedern dieser Familie, in der so viele Ge­heimnisse und Konflikte aus der Vergangenheit verborgen sind. Man könnte sogar sagen, es gibt hier gar keine wirkliche Familie – es sind vielmehr nur noch die Splitter früherer familiärer Verbindungen, die vom Schicksal dazu bestimmt wurden, zusammenzuleben. Nicht umsonst ist Pelléas besessen von dem Gedanken, von dort wegzugehen, sich loszureissen, aber er kann es einfach nicht. Die Wärme familiärer Verbindungen gibt es nicht zwischen diesen Figuren. Und am wenigsten zwischen den beiden Brüdern. Nicht nur Mélisandes Herkunft und ihre Vergangenheit bleiben rätsel­ haft – diese Oper hält darüberhinaus noch viele weitere Rätsel und Geheimnisse bereit. Was denken Sie, sollte man als Regisseur alle diese Rätsel lösen, alle offenen Fragen beantworten? Oder sind es nicht sogar die vielen Andeutungen und unausgesprochenen Dinge, die den Reiz des Stückes ausmachen? Mir persönlich ist es immer sehr wichtig, alles so genau wie möglich zu verstehen und wenn möglich auch dem Zuschauer diese Klarheit zu vermitteln. Aber nicht alle Antworten, die ich für mich gefunden habe, kann ich auch mit theatralischen Mitteln zeigen. Oft kommt es vor, dass ich mit den Sän­­gerinnen und Sängern während der Proben Antworten auf einige Fragen finde und der Zuschauer das dann nicht alles lesen kann. Aber trotzdem ist es mir wichtig, dass die Künstler so viele Informationen wie möglich zu ihren


Figuren haben. Es gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Rollen auf der Bühne bewusster zu spielen. Am Schluss der Oper bekommt Mélisande eine Tochter, sie selbst stirbt. Es scheint, als beginne alles von vorne, als gäbe es keinen Ausweg aus all dem Schrecklichen, das hier passiert ist, als würde sich beinah zwangsläufig alles wiederholen. Ist das wirklich so? Oder wie könnte ein Aus­ weg aussehen? Natürlich wird sich alles wiederholen, so wie sich auch das Trauma und die Gewalt in der Geschichte Mélisandes wiederholt, wohin sie auch wegläuft, wer auch immer ihr Obdach, Schutz oder Rettung anbietet. Und auch in Golauds Beziehungen zu Frauen wiederholt sich alles. Eine Antwort zu geben auf die Frage, welchen Ausweg es für diese Figuren geben könnte, liegt ausserhalb der Möglichkeiten des Theaters. Das Gespräch führte Beate Breidenbach


Warum kann ein Mensch, der ein Trauma erlebt hat, manchmal nicht darüber sprechen? Über traumatische Erlebnisse zu sprechen, bedeutet für den Trauma-Patienten eine erneute Konfrontation mit dem Trauma: Es kann passieren, dass er dadurch von den mit der Erinnerung verbundenen negativen Emotionen förmlich «überschwemmt» wird, ohne dass er das kontrollieren kann. Das kann sehr schmerzhaft sein.



KOMPONIERTE STILLE Dirigent Alain Altinoglu im Gespräch

Alain Altinoglu, Sie sind in Paris geboren und haben auch dort studiert, Sie sind also mit Debussys Musik aufgewachsen. Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Pelléas et Mélisande? Als ich etwa 13 Jahre alt war, hatte ich einen Freund. Er war ein paar Jahre älter als ich, und wir studierten zusammen, ich Klavier, er Gesang. Sein Traum war es, Golaud zu singen, und ich korrepetierte für ihn. Heute ist er – Jean Sebastien Bou – einer der gefragtesten Sänger des Pelléas. Damals lernte ich Pelléas et Mélisande kennen. Daneben spielte ich immer auch sehr viel Klaviermusik von Debussy. Haben Sie davon geträumt, diese Oper einmal zu dirigieren? Nein, eigentlich nicht. Ich war sehr glücklich, die Oper am Klavier spielen zu können, und als ich noch Korrepetitor war, dachte ich noch nicht ans Dirigieren. Als ich dann anfing, mich fürs Dirigieren zu interessieren, habe ich eher von Tristan und Isolde und Parsifal geträumt. Jetzt bin ich allerdings sehr glücklich, Pelléas et Mélisande dirigieren zu können, denn ich fühle wirklich eine starke Verbindung zu diesem Stück. Die Uraufführung 1902 war von einigen Skandalen begleitet. Was war so neu und so schockierend für das damalige Opernpublikum? Diese Premiere war schon seit einigen Jahren mit grosser Spannung erwartet worden, vor allem von den Debussy-Fans; Debussy war spätestens seit L’après-midi d’un faune ein sehr bekannter Komponist in Frankreich, und man wusste, dass er an einer Oper arbeitete. Das Schockierendste war wohl, dass Debussy erstmals in Frankreich Umgangssprache vertont hatte – niemand hätte erwartet, einen so realistischen, fast alltäglichen Text als Opernlibretto zu hören. Zudem waren die Gesangslinien der gesprochenen


Sprache und ihrer Sprachmelodie nachgebildet, was ebenfalls sehr ungewohnt war. Bis dahin hatten Komponisten in Frankreich, z.B. Gounod oder Saint-Saëns, Melodien komponiert und die Worte der Melodie angepasst – und nicht umgekehrt. Viele Kritiker sagten damals, es gebe keine Melodie in Pelléas et Mélisande; Debussy selbst empfand das anders; es war einfach eine ganz neue Art, Melodie zu denken. Heute, 100 Jahre später, sehen wir, wie modern Debussy in Bezug auf die Sprachvertonung komponiert hat, wenn wir zum Beispiel an Berg und Schönberg denken. War Debussy aus Ihrer Sicht ein Wegbereiter der Moderne? Ja, auf jeden Fall. Da muss man nur Bergs Wozzeck anhören. Was viele Komponisten beeinflusste, waren nicht nur die harmonischen Neuerungen in Debussys Musik, sondern auch sein Umgang mit der Form. Debussy hasste die klassische Sonatenhauptsatzform. Sein Ballett Jeux ist, was die musi­ka­ lische Form angeht, viel moderner als Strawinskys Sacre du printemps – die Form von Jeux ist fast nicht zu analysieren. Jetzt, wo ich Pelléas dirigiere, scheint es mir allerdings manchmal so, als sei diese Oper eine Sinfonie in fünf Sätzen; der fünfte Akt kommt mir vor wie der fünfte Satz der Pathétique von Tschajkowsky, auch ein langsamer Satz, wie ein Requiem; so wie der fünfte Akt von Pelléas, in dem Mélisande stirbt.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Zwischen Debussys Bekanntschaft mit dem Theaterstück von Maeterlinck und der Uraufführung der Oper vergingen neun Jahre; womit hing das zusammen? Debussy fand einfach kein Theater, das seine Oper zur Uraufführung bringen wollte. Er war sehr glücklich, als Albert Carré, der damalige Direktor der Opéra comique, ihm schrieb, dass er die Oper akzeptierte. Seit er 25 Jahre alt war, war Debussy auf der Suche nach einem passenden Opernlibretto gewesen, er hatte aber nichts gefunden, was ihm wirklich zusagte. Als er dann endlich Maeterlincks Theaterstück kennenlernte, hatte das für ihn ungefähr die gleiche Bedeutung wie die Bekanntschaft von Richard Strauss mit Hugo von Hoffmannsthal – Maeterlincks Pelléas et Mélisande war genau der Text, den Debussy gesucht hatte, der perfekt zu seinen neuen musikalischen


Entwicklungen in Bezug auf Harmonik und Orchesterfarben passte. Als er das Stück sah, war er fasziniert von diesen Figuren, von denen niemand sagen kann, woher sie kommen, wohin sie gehen. Er schrieb die Oper sehr schnell, in nur zwei Jahren war das Particell fertig; an seinen Notizen im Manuskript sieht man, dass er sich zu diesem Zeitpunkt auch schon sehr klar war über die Instrumentation. Aber er wollte die Partitur nicht ausschreiben, bis er eine definitive Zusage für die Uraufführung von der Opéra comique hatte. Albert Carré hatte damals gerade als Intendant dort angefangen und plante, jedes Jahr mehrere Opern zur Uraufführung zu bringen; keine der andern Opern, die im selben Jahr wie Pelléas et Mélisande uraufgeführt wurden, ist heute noch bekannt. Debussy wollte sich bewusst von Wagner und seinem Musiktheater ab­ grenzen – und dennoch spürt man den Einfluss Wagners auch in Pelléas et Mélisande... Wagner hat Debussy ebenso beeinflusst wie die französische Musik Ende des 19. Jahrhunderts. Als Student hatte Debussy viele Kämpfe mit seinen Lehrern auszufechten; nur Ernest Guiraud war offen für die neuartigen, den tra­di­ tionellen Kompositionsregeln widersprechenden Harmonien, die Debussy schrieb. Debussy antwortete auf diese Art von Kritik immer, das einzig Wich­tige sei doch, ob es schön sei oder nicht; Traditionen und Regeln inter­es­sierten ihn nicht. Als er Wagner hörte, lernte er etwas kennen, das ihm vor allem in Bezug auf die Harmonik sehr nah war. Aber Debussy entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem äusserst konservativen Nationalisten, der ein grosser Deutschenfeind war und seine Briefe nicht mehr mit «Claude Debussy» unterschrieb, sondern mit «Claude de France». Als Franzose wollte er keinesfalls ein Nachfolger Wagners sein. Und trotzdem verwendet er so etwas wie Leitmotive in Pelléas et Mélisande... Ein Leitmotiv im Wagnerschen Sinn, das immer dann zu hören ist, wenn eine bestimmte Figur aufritt, ist für Debussy etwas sehr Primitives. Deshalb verwendet er sogenannte Leitmotive ganz anders als Wagner. Der Einfluss


Wagners ist besonders in den Orchesterzwischenspielen sehr stark spürbar. Man hört zum Beispiel deutlich das berühmte Choral-Thema aus Parsifal, das sogenannte «Dresdner Amen». Debussy konnte den Tristan auswendig auf dem Klavier spielen. Selbstverständlich hat ihn die Harmonik des Tristan auch in seinem eigenen Komponieren beeinflusst. Das Orchester in Pelléas et Mélisande schillert regelrecht; wie erreicht Debussy diese besonderen Orchesterfarben? Debussy kombiniert Instrumente, die bis dahin niemand miteinander kom­biniert hatte, wie zum Beispiel Harfe und Trompete. Der letzte Akkord der Oper, ein Cis-Dur-Akkord, ist mit sehr hohen Streichern und drei Flöten in sehr tiefer Lage orchestriert. Ein Akkord, der einerseits sehr hell und schwebend klingt, andererseits düster grundiert ist. Debussys Instrumentation ist nicht so genial wie die Ravels. Ravel macht keinen einzigen Fehler, bei ihm funktioniert die Instrumentation wie eine Schweizer Uhr: Wenn man das spielt, was in Ravels Partituren steht, funktioniert es perfekt. Wenn man die Dynamiken ausführt, die Debussy geschrieben hat, ist das nicht so. Man muss als Dirigent spüren, wo die Hauptstimmen und die Nebenstimmen liegen, und wie man beides kombiniert. Für Flöten ist die tiefe Lage nicht die beste Lage; wenn man sie mit sehr hohen Violinen zusammen hört, ist das zu­ nächst nicht gut balanciert. Daran muss man arbeiten. Wenn man dann aber die richtige Balance gefunden hat, ist es wunderschön.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Eines der Hauptthemen in Maeterlincks Stück ist das beredte Schweigen. Wie geht Debussy in seiner Vertonung damit um? Debussy hat die Stille präzise komponiert. In der Partitur von Pelléas et Mélisande gibt es praktisch keinen Moment, in dem der Dirigent die Dauer der Stille selbst bestimmen kann, wie es zum Beispiel bei einer Fermate der Fall wäre. Fast alle stillen Momente sind genau kalkuliert. Debussy sagte, seine Musik solle aus dem Schatten heraustreten und wieder im Schatten verschwinden. So ist es auch mit der Stille in diesem Stück. Einer der berühm­ testen Momente ist das Liebesgeständnis von Mélisande – in diesem Moment spielt das Orchester nicht, Mélisande singt in einer sehr tiefen Lage, man


kann sie fast nicht hören. Es ist ein bisschen so wie in der Malerei: Im 16. und 17. Jahrhundert hat man begonnen, das Licht auch durch Schatten dar­zu­ stellen; bis dahin hatte man nur die Sonne gemalt. In Pelléas hört man als Kontrast zu einem lauten Moment plötzlich nur noch eine Harfe und irgend­wo ein Tremolo. Das ist komponierte Stille. Denn vollkommene Stille gibt es nicht, auch nicht in der Natur. Ich versuche, der Subtilität der Partitur so weit ich kann zu folgen. Auch, was das sogenannte französische Rubato angeht, das viel schneller, viel flexibler verwendet wird als zum Beispiel in der deutschen Tradition. Debussy war ein sehr instinktiver, leidenschaftlicher, von Emotionen gesteuerter Mensch, und so muss man seine Musik auch dirigieren. Viele Interpreten französischer Musik denken, es käme vor allem darauf an, dass alles duftig und leicht klingt. Ich denke, man braucht auch ein starkes Fundament, um den Himmel erreichen zu können. Das Gespräch führte Beate Breidenbach


“ Die Musik beginnt da,

wo das Wort un­fähig ist, auszu­drücken; Musik wird für das Un­aussprechliche geschrieben; ich möchte sie wirken lassen, als ob sie aus dem Schatten herausträte und von Zeit zu Zeit wieder dahin zurückkehrte.” Claude Debussy






Wie kann der Therapeut einem Trauma-Patienten helfen? Das Kernelement der Traumatherapie ist Exposition, das heisst, wir wollen die Patienten in die traumatische Szene zurückführen. Voraussetzung dafür ist es, dass der Patient erkennt, dass die entsprechende Szene nur noch Erinnerung ist und keine reale, erneute Bedrohung. Aber zunächst mal sagen die Patienten: Helfen Sie mir, das traumatische Ereignis zu vergessen! Darauf entgegne ich: Sie können das nicht vergessen, Sie sollen es auch nicht; das Ziel soll sein, dass Sie die Erinnerung kontrollieren können. Wenn das ge­lingt, ist schon viel gewonnen. Wenn ich in kontrollierter Art und Weise, im Schutz der Therapiesitzung, die Erinnerung hervorrufe, dann ist das zunächst mal sehr be­ unruhigend und löst Stress aus, aber wenn man das wie­der­holt macht, klingen die heftigen Reaktionen ab; das ist die Grundidee der Traumabehandlung.





“ Man glaube nur

nicht, dass Worte den wirklichen Mitteilungen zwischen zwei Wesen dienten... sobald wir uns wirklich etwas zu sagen haben, müssen wir schweigen.” Maurice Maeterlinck


BEREDTE STILLE «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy Roman Brotbeck

Am 1. Mai 1893 wurde in Chicago die Weltausstellung eröffnet. Sie war ein Lob auf die Technik; der erste Staubsauger und die ersten Telefone wurden vor­­ geführt. Frankreich präsentierte dort seinen modernsten Bildhauer, Auguste Rodin. Dessen Skulptur Der Kuss wurde gezeigt, allerdings verhüllt; sie befand sich hinter einem Vorhang, und nur erwachsene Männer durften das erotische Meisterwerk sehen. Neben der Weltausstellung befand sich das Hotel «The Castle», in dem H. H. Holmes als moderner Blaubart wütete; er verführte wohl über 100 junge Frauen, darunter viele Ausstellungsbesucherinnen, und brachte sie ausnahmslos in speziell eingerichteten Räumen grausam um. Nur durch Zufall wurde Holmes entdeckt und 1896 hingerichtet. Am 17. Mai 1893 besuchte im Théâtre des Bouffes-parisiens der avancierteste französische Komponist, Claude Debussy, die einzige Aufführung von Maurice Maeterlincks Pelléas et Mélisande. Das Stück spielt fast ausschliesslich in einer düsteren Burg mit dem Namen Allemonde (was wohl als «ganze Welt» zu übersetzen wäre); die Handlung dreht sich um Mélisande, die als Fremde auf die Burg kommt und die dortige Gemeinschaft bewegt und erschüttert. Die damalige Kritik spottete über die achtzehn Vorhän­ ge, mit denen die unterschiedlichen Spielorte der kurzen Szenen voneinander abgetrennt wurden. Ebenso wenig Anklang fand die überladene Symbolik von Maeterlincks Sprache, bei der jedes Wort auf etwas Anderes, Hintergründigeres verweist; und auch das mittelalterliche Ambiente fand kein Verständnis. De­bussy allerdings war absolut begeistert; endlich hatte er seinen idealen Opernstoff ge­funden. Die Anklänge an Gespenstergeschichten von Edgar Allan Poe, die Un­­berechenbarkeit der Personen und die Mischung von Erotik und Todessehn­ sucht faszinierten ihn. Debussy entschied sofort, eine Oper zu diesem Text zu schreiben. Er reiste nach Gent zu Maurice Maeterlinck und nahm einen Freund,


den in Gent geborenen Literaten Pierre Louÿs mit, um beim Schriftsteller um die Erlaubnis zu bitten, sein Werk vertonen zu dürfen. Offenbar ist es vor allem Louÿs zu verdanken, dass die Sache gelungen ist, denn Debussy und Maeterlick hätten, so beschreibt es Louÿs, nur in stummem gegenseitigem Respekt vor­ei­ nan­der verharrt. Neun Jahre später und nach vielen Krisen und Überarbeitungen wurde die Oper Pelléas et Mélisande am 30. April 1902 in der Opéra comique uraufgeführt. Maurice Maeterlinck hatte sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Komponisten völlig zerstritten. Er keifte in der Tageszeitung «Le Figaro» gegen die Oper, und eine Zeitlang wollte er sich mit Debussy sogar duellieren. Grund des Zerwürf­ nisses war Maeterlincks damalige Freundin, die Schriftstellerin und Sängerin Georgette Leblanc, die gerne die Mélisande gesungen hätte. Sie unterhielt einen Salon und war als Schwester des Schriftstellers Maurice Leblanc, des späteren Erfinders von Arsène Lupin, in Paris stadtbekannt. Wohl auch deshalb und nicht nur wegen der geringeren sängerischen Möglichkeiten Leblancs zog Debussy die weniger bekannte schottische Sängerin Mary Garden vor. Sie soll auf der Bühne eine magisch-rätselhafte Ausstrahlung gehabt haben. Genau das suchte Debussy und eben keine Dame von Welt im Stile von Georgette Leblanc. Im skandalverliebten Paris steigerte dieser teilweise öffentlich ausgetragene Zwist im Umfeld der Uraufführung die Aufmerksamkeit enorm. Tout Paris wartete auf das Ereignis. Debussy war quasi über Nacht zum berühmtesten fran­­zösischen Komponisten geworden. Schon bei der Uraufführung von Pelléas et Mélisande ahnten Publikum und Kritik, dass hier erstmals seit Wagner eine eigen­ständige Opernform, ja eigentlich die moderne Oper schlechthin geschaf­ fen worden war. Richard Strauss wird zwei Jahre später mit Salome dasselbe innerhalb der deutschen Operngeschichte erreichen.

Après Wagner Nicht «d’après Wagner» sollte seine Oper klingen, sondern sie sollte ein Werk «après Wagner» darstellen. Allerdings wollte Debussy auch keine Anti-WagnerOper schreiben, denn das, was Wagner an musikalischer Kohärenz und drama­ tischer Präsenz geschaffen hatte, sollte unbedingt beibehalten werden.


Das Stück von Maeterlinck eignete sich bestens für solch ein Vorhaben, denn ihm fehlt ein wichtiger Teil von Wagners Dramatik, nämlich der Aspekt des analy­tischen Theaters. Wagners Musikdramen sind immer so konzipiert, dass parallel zur eigentlichen Bühnenhandlung eine Aufarbeitung und Klärung aller die Personen betreffenden Probleme stattfindet, bis dann zum Schluss des Dra­ mas – meist im Tod der Protagonisten – die Handlung und die Aufklärung der Handlung zusammenfallen. Zu Beginn einer Wagner-Oper stehen sich die Per­ sonen ähnlich verständnislos gegenüber wie bei Pelléas et Mélisande. Am Schluss weiss man bei Wagner aber alles über sie, und die kontinuierliche Aufklärung gehört mit zum Plot. So wird beispielsweise bei Tristan und Isolde erst ganz zum Schluss bekannt gegeben, weshalb Tristan mit Schuldkomplexen so beladen ist, dann nämlich, wenn er von seinen Eltern spricht: «Da er mich zeugt’ und starb, sie sterbend mich gebar.» Seine Entstehung hatte den Tod seiner Eltern bedeu­ tet. Damit soll einer im Leben klar kommen. Eine solche analytische Aufarbeitung fehlt gänzlich bei Pelléas et Mélisande. Wir wissen am Schluss der Oper gleich wenig wie zu Beginn. Und im Falle von Mélisande wissen wir nicht einmal, ob sie ihr Schicksal überhaupt kennt. Zwar stirbt sie wie Tristan dahin, aber sie nimmt alle ihre bewussten und unbewussten Geheimnisse mit in den Tod. Als Zuhörer steht man diesem Werk gegenüber wie ein Psychoanalytiker einem widerständigen Patienten, der nichts von sich preisgeben kann oder will. So können wir nur die Handlung verfolgen, und den Reim auf das Geschehen müssen wir uns selber machen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Leerstellen Kein Geringerer als der Geiger und Dirigent Eugène Ysaÿe wollte die Oper schon 1896 in Brüssel in einer konzertanten Fassung zeigen. Debussy lehnte das kate­gorisch ab, und seine Begründung ist aufschlussreich: Nur in einer szeni­ schen Version könne die Oper überhaupt wahrgenommen werden; denn ohne Szene «on ne pourrait blâmer à personne de ne rien voir des éloquents ‹silences› dont cette œuvre est constellée» (ohne Szene «dürfte man niemanden dafür schel­ten, von der beredten ‹Stille› nichts bemerkt zu haben, von der das Werk durchdrun­gen ist»). Die «éloquents silences» sind für das Verständnis der Oper


“ Die Natur des

Unglücks selbst ist zum Mittelpunkt der neuesten Dramen geworden, zum mehr­ deutig glimmenden Zentrum, um das die Seelen der Männer und Frauen kreisen. Und man ist dem Geheimnis einen Schritt näher gekommen, um nun den Schrecken des Lebens ins Auge zu sehen.” Maurice Maeterlinck


die Schlüs­sel­worte. Es sind diese Leerstellen, d.h. bewusste Auslassungen, be­ wuss­te Verschleierungen, welche die Zuhörer irritieren, allenfalls auf falsche Fähr­ten lenken, sie aber vor allem zu einer eigenen, aktiven Interpretation zwingen. Pelléas et Mélisande ist übersät von solchen Leerstellen, denn was nicht gesagt wird, ist ebenso wichtig wie das Ausgesprochene. Eigentlich ist jede Person der Oper eine Leerstelle. Das beginnt schon bei der scheinbar chaotischen Vermischung und Vertauschung von mittelalterlichen Figuren und Motiven: Ge­neviève stammt aus der Legende von Genoveva, die den sie bedrängenden Golo verschmäht und deshalb von ihm fälschlicherweise des Ehebruchs angeklagt wird. In Debussys Oper ist Golaud nun der Sohn aus erster Ehe von Geneviève. Pelléas entstammt der Artus-Sage, wo er eine nicht sehr siegreiche Rolle spielt, weil Gawain ihm die Geliebte zuführen muss, nicht ohne sich vorher selber an ihr zu verlustieren. Mélisande bezieht sich wohl auf die Figur der Melusine, einer nixenähnlichen Schlangenfrau, die ihrem Ritter untersagt, sie in ihrer wahren Gestalt zu sehen. Dazu kommen viele Elemente aus der Märchenwelt (Dornen­ hecken, Tauben, das meterlange Haar von Rapunzel, Grotten, Brunnen, Ringe, Kronen, Höhlen etc.). Aber alle diese symbolischen Überlagerungen tragen zur Klärung der Fi­ gu­ren nichts bei. Sie bleiben rätselhaft. Der greise Arkel ist eine Emanation von Ti­turel aus Wagners Parsifal, der schon in der Gruft lebt und von dort aus sei­ nen Sohn beschimpft. Im Gegensatz zu Titurel akzeptiert Arkel das Schicksal stoisch – letztlich auch Golauds brutales Verhalten und Mélisandes Tod. Wir wissen von Arkel ebenso wenig wie von den beiden Männern von Geneviève, mit denen sie ihre beiden Söhne gezeugt hat; von ihrem zweiten Mann hören wir nur, dass er schwer krank ist. Auch von Golauds erster Ehe, aus der sein Sohn Yniold hervorgegangen ist, wissen wir nichts. Eigentlich wirkt diese vier Gene­ra­­tionen umfassende Personenkonstellation wie eine Rollenaufstellung von Wagner, bei der zwei Drittel der Figuren abgedeckt bzw. auf stumm gestellt worden sind. Maeterlinck hatte bei der Erarbeitung des Stückes die Anzahl der Leerstel­ len zunehmend erhöht. Sobald ihm etwas in seiner Bedeutung zu evident, ein Handlungsverlauf zu deutlich wurde, hat er die Stellen verrätselt, um eine traum­

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ä­ hnliche Unlogik zu evozieren, in der sich alles in jedem Moment verändern kann und in der alle Zeichen auf eine andere Realität verweisen. Das Hinter­ sinnige an diesem Stück ist dabei, dass die eigentliche Triebfeder der Handlung aus dem Versuch besteht, die Leerstelle Mélisande aufzuheben. Golaud will Méli­sande verstehen; er hält ihre Rätselhaftigkeit nicht aus. Er ist besessen von der Idee, herauszufinden, was ihm Mélisande scheinbar verheimlicht, holt sich dafür anfänglich sogar die Hilfe seines Halbbruders Pelléas. Sein Wahrheitsfana­ tismus treibt ihn dazu, Mélisande und seinen Sohn Yniold zu misshandeln. Abstrakter gesprochen: Maeterlinck lässt die Personen in seinem Stück verzwei­ felt gegen die von ihm selbst bewusst herbeigeführten Leerstellen ankämpfen.

Konversationsoper Das eigentlich Geniale und zugleich Moderne von Pelléas et Mélisande ist der Deklamationsstil, den Debussy für diese Oper entwickelt hat: Für diese symbo­ listisch überladene Sprache wählte Debussy nämlich einen meist schlichten Konversationston, so als hätte er sich Gespräche an der Bar beim petit café zum Vorbild genommen. Da werden die rätselhaftesten Sätze vertont, als würde man sich über die Frische von Fischen unterhalten. Debussy hat die französische Sprache genau beobachtet: ihren geraden Verlauf, die Absenz von Betonungen und Akzenten, die Raffiniertheit der Mikrorhythmik, bei der eine leichte Ver­ zögerung zur Gemeinheit werden kann. Einen Ausländer erkennt der Franzo­ se daran, dass er überhaupt Betonungen macht, und die französischen Komiker veräppeln das liebend gern. Debussys rezitativische Deklamation beschränkt sich auf kleine Intervalle, verharrt oft auf ein, zwei Tönen; die Sprachrhythmik ist äusserst präzis notiert. Mit kleinsten Verschiebungen im mikrorhythmischen Bereich schafft es Debussy, Überraschung, Erstaunen oder Wut auszudrücken. Debussy braucht die Möglichkeiten der Musik, um mit ihr alle Qualitäten und Zwischentöne des Sprechens zu fassen. Und es wird enorm viel in dieser Oper gesprochen, sehr viel nebeneinander her geredet, sehr viel auch missverstanden; es ist gleichsam ein Gerede, um die Stille zu übertönen. So flach der Verlauf der französischen Sprache ist, so extravagant und zuweilen fast übertrieben sind ihre Exklamationen. Da kann schnell auch ein «oui» und «non» wie ein Ausruf wir­ken,


also wie die aus dem französischen Sprachalltag bekannten «Ah! Aïe! Humpf! Oula!» Auch das hat Debussy sehr genau beobachtet und übernommen. Diese Exklamationen werden von ihm besonders reich und überdeutlich vertont, und sie strukturieren den Konversationston der Deklamation, oft auch mit Wort­ wiederholungen, die exklamativen Charakter bekommen (z.B. «Moi, moi, et moi» / «non, non, non» / «Vous êtes des enfants! Quels enfants! Quels enfants!»).

Vom Vorhang zum Übergang Auf den ersten Blick ist die Musik von Debussy gar nicht so revolutionär, vor allem, wenn man nur die harmonische Faktur betrachtet. Schon oft wurde darauf hingewiesen, dass diese nicht sehr weit über die Tristan-Harmonik hin­ ausgreife, und auch Leitmotive zu den Figuren seien deutlich hörbar; also mu­ sikalisch doch eher eine Oper «d’après Wagner»? Da lohnt es sich, genau hin­ zuhören: Die Leitmotive sind bei Debussy verhüllt und kaum mit Ausrufezeichen markiert, und sie werden auch nicht «getauft» wie bei Wagner, bei dem in be­ stimmten dramatischen Momenten alle im Zuschauerraum wissen «das ist von nun an Motiv X», nein, Debussys Leitmotive sind wie Schatten, wie Assonanzen, werden nicht zum Begriff oder Gedanken wie bei Wagner; sie wollen nicht interpretieren, sondern differenzieren. Das harmonisch Moderne bei Pelléas et Mélisande ist die Nutzung des musikalischen Raumes. In der traditionellen Tonalität muss ein bestimmter Ak­ kord von unten bis oben den gleichen Sinn, die gleiche Harmonik anzeigen. Debussy liebt es, in der Tiefe, in der Mitte und oben verschiedene Welten er­ klin­gen zu lassen. Mit Hilfe der meisterhaften Instrumentation schafft er es bestimmte Motive zum Beispiel auf das tiefe Register zu fixieren, andere nur in der Höhe zu verwenden, und das alles simultan. Debussys musikalischer Raum gleicht einem Mobile, in dem die verschiedenen musikalischen Elemente wie frei im Raum herum schweben. Mit Wagners Sucht nach Deutlichkeit hat ein solches Komponieren wenig zu tun. Kurz vor der Uraufführung wurde Debussy zu einer weiteren musikalischen Neuerung gezwungen. Die vielen Vorhänge bzw. die langen Umbauten waren in der von Debussy komponierten Musik nicht zu leisten. So musste er ausge­

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dehntere Zwischenspiele schreiben oder das bereits Komponierte verlängern. So entstand eine neue Form von «Vorhang»; aus dem Unterbruch mittels Vor­ hang wurde ein Übergang mittels Musik. Debussy verbindet nämlich in den Zwischenspielen mit seiner Musik die Szenen und machte damit den konventi­ onellen Theatervorhang überflüssig. So wurden später fast alle Aufführungen von Pelléas et Mélisande ohne Zwischenvorhänge gespielt.

Offener Schluss Der Schluss der Oper ist von Debussy in grösstmöglicher Offenheit komponiert. Wir bleiben nur mit Fragen zurück. Die von Golaud verletzte Mélisande gebiert sterbend ein Mädchen; wer dessen Vater ist, verschweigt sie. Was wird aus dem neugeborenen Mädchen werden? Ein weiblicher Tristan? Ist es eine neue Méli­ san­de? Oder ist der Schluss sogar der eigentliche Anfang; d.h. ist das Neugebo­ rene jene Mélisande, die zwanzig Jahre später von Golaud angesprochen wird? Dann würde sich alles im Kreis drehen! Was macht Golaud? Ist er ein Wie­der­ holungstäter? Ist Mélisande schon sein zweites Opfer? Wird genau deshalb nie von der ersten Frau und Mutter seines Kindes gesprochen? Holt sich Golaud nun ein weiteres Opfer, eine weitere Patientin in sein Horror-Castle, um sie zu durchschauen, zu beherrschen, zu sezieren und schliesslich zu vernichten? Die Musik schweigt dazu, – avec des éloquents silences.

PS: Maurice Maeterlinck hatte sich geschworen, die Oper von Debussy nie anzuschauen. 1920 – zwei Jahre nach Debussys Tod und inzwischen von Geor­ gette Leblanc getrennt – schrieb er an die erste Mélisande, Mary Garden, er habe seinen Schwur gebrochen und sich die Oper angehört. Nun sei er «ein glücklicher Mann». An all dem Streit trage nur er die Schuld. Das hat er richtig erkannt, denn heute kennt man Maeterlinck, der 1911 noch den Nobelpreis für Literatur bekam, eigentlich nur noch wegen Debussys Oper.


“ Vor allem dieses

Gefühl der Gefangenen, Erstickenden, der in Schweiss gebadeten Atemlosen ausdrücken, die sich trennen, weglaufen, sich ent­ fernen, fliegen, öffnen wollen und die sich nicht rühren können. Und die Beklemmung durch dieses Schicksal, gegen das sie den Kopf stossen wie gegen eine Mauer...” Maurice Maeterlinck








Warum ist sexueller Missbrauch so besonders traumatisierend? Die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit wird gestört. Wenn ich dauernd die Erfahrung mache, dass meine Grenzen überschritten werden, und zwar von jemandem, dem ich vertraue und von dem ich abhängig bin, und dieser Mensch mir zudem noch sagt, er mache das aus Liebe zu mir, dann wird mir die Fähigkeit genommen, zu unterscheiden, ob ich eine Situation erlebe, in der ich Ver­ trauen haben kann, oder ob ich vorsichtig sein muss. Deshalb sind Menschen, die so etwas erlebt haben, dem Risiko ausgesetzt, immer wieder in ähnliche Situationen hineinzurutschen. Viele von diesen Menschen entwickeln ausser den posttraumatischen Belastungs­ störungen noch viel komplexere Probleme wie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, Suchtmittelmissbrauch, Depressionen, Schwierig­ keiten, ihre Emotionen zu kontrollieren und anderes mehr. Deshalb ist sexueller Missbrauch vor allem in der Kindheit so verheerend. Alle Zitate zur Traumatherapie entnahmen wir einem Gespräch mit Prof. Ulrich Schnyder, Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie am Universitätsspital Zürich



PELLÉAS ET MÉLISANDE CLAUDE DEBUSSY (1862-1918) Drame lyrique in fünf Akten Libretto von Maurice Maeterlinck Uraufführung: 30. April 1902, Paris

Personen

Arkel, König von Allemonde

Bass

Pelléas, Enkel Arkels

Bariton

Golaud, Enkel Arkels

Bariton

Yniold, Sohn Golauds aus erster Ehe

Knabensopran

Geneviève, Mutter von Pelléas und Golaud Mélisande Ein Arzt

Sopran Bass

Stimme des Hirten

Bass

Chor

Matrosen, Dienerinnen

Alt


ACTE I

ERSTER AKT

SCÈNE I

ERSTE SZENE

Une Forêt. Le rideau ouvert on découvre Mélisande au bord d’une fontaine. Entre Golaud.

Im Wald. Mélisande sitzt am Rand eines Brunnens. Golaud tritt auf.

GOLAUD

GOLAUD

Je ne pourrai plus sortir de cette forêt! Dieu sait jusqu’où cette bête m’a mené. Je croyais cependant l’avoir blessée à mort; et voici des traces de sang. Mais maintenant, je l’ai perdue de vue, je crois que je me suis perdu moi-même, et mes chiens ne me retrouvent plus. Je vais revenir sur mes pas. J’entends pleurer… Oh! oh! qu’y a-t-il là au bord de l’eau? Une petite fille qui pleure au bord de l’eau?

Ich finde aus diesem Wald nicht mehr heraus! Gott weiss, wohin das Tier mich gelockt hat. Ich glaubte doch, ich hätte es auf den Tod getroffen, und hier sind auch Blutspuren. Aber jetzt habe ich es aus den Augen verloren, und mich selbst habe ich, glaube ich, auch verloren, und meine Hunde finden mich nicht wieder. Ich will zurückgehen, wie ich gekommen bin. Da weint jemand… Oh, oh, was ist das da am Rand des Wassers? Ein kleines Mädchen, das am Rand des Wassers weint?

Il tousse.

Er räuspert sich.

Il s’approche et touche Mélisande à l’épaule.

Er nähert sich Mélisande und berührt sie an der Schulter.

Mélisande tressaille, se dresse et veut fuir.

Mélisande erschrickt, richtet sich auf und will fliehen.

Elle ne m’entend pas, je ne vois pas son visage. Pourquoi pleures-tu?

N’ayez pas peur, vous n’avez rien à craindre. Pourquoi pleurez-vous, ici, toute seule? MÉLISANDE presque sans voix

Ne me touchez pas! ne me touchez pas! GOLAUD

N’ayez pas peur… Je ne vous ferai pas… Oh! vous êtes belle. MÉLISANDE

Ne me touchez pas! ne me touchez pas, ou je me jette à l’eau! GOLAUD

Je ne vous touche pas… Voyez, je resterai ici, contre l’arbre. N’ayez pas peur. Quelqu’un vous a-t-il fait du mal? MÉLISANDE

Sie hört mich nicht. Ich sehe ihr Antlitz nicht. Warum weinest du?

Fürchtet Euch nicht. Ihr habt nichts zu fürchten. Warum weint Ihr hier so ganz allein? MÉLISANDE beinahe stimmlos

Rührt mich nicht an! Rührt mich nicht an! GOLAUD

Fürchtet Euch nicht… Ich tue Euch ja nichts… Oh! Ihr seid schön. MÉLISANDE

Rührt mich nicht an! rührt mich nicht an, oder ich stürze mich ins Wasser! GOLAUD

Ich rühre Euch ja nicht an… Schaut, ich bleibe hier am Baum. Fürchtet Euch nicht. Hat jemand Euch etwas zuleide getan? MÉLISANDE

Oh! oui! oui! oui!

Oh! ja! ja! ja!

Elle sanglote profondément.

Sie schluchzt tief auf.


GOLAUD

Qui est-ce qui vous a fait du mal? MÉLISANDE

Tous! tous! GOLAUD

Quel mal vous a-t-on fait? MÉLISANDE

Je ne veux pas le dire! je ne peux pas le dire!… GOLAUD

Voyons, ne pleurez pas ainsi. D’où venez-vous? MÉLISANDE

Je me suis enfuie!… enfuie… enfuie… GOLAUD

Oui, mais d’où vous êtes-vous enfuie? MÉLISANDE

Je suis perdue!… perdue! Oh! oh! perdue ici… Je ne suis pas d’ici… Je ne suis pas née là… GOLAUD

D’où êtes vous? Où êtes-vous née? MÉLISANDE

Oh! oh! loin d’ici… loin… loin… GOLAUD

Qu’est-ce qui brille ainsi au fond de l’eau?… MÉLISANDE

Où donc? Ah! C’est la couronne qu’il m’a donnée. Elle est tombée en pleurant. GOLAUD

Une couronne? Qui est-ce qui vous a donné une couronne? Je vais essayer de la prendre… MÉLISANDE

Non, non, je n’en veux plus!… Je préfère mourir… mourir tout de suite!

GOLAUD

Wer hat Euch etwas zuleide getan? MÉLISANDE

Alle! alle! GOLAUD

Was hat man Euch zuleide getan? MÉLISANDE

Ich will es nicht sagen! ich kann’s nicht sagen!… GOLAUD

Ei, weint doch nicht so. Woher kommt Ihr? MÉLISANDE

Ich bin entflohen!… entflohen… entflohen… GOLAUD

Ja, aber von wo seid Ihr entflohen? MÉLISANDE

Ich habe mich verirrt!… verirrt! Oh! oh! hierher verirrt… Ich bin nicht von hier… Ich bin hier nicht geboren… GOLAUD

Woher seid Ihr denn? Wo seid Ihr geboren? MÉLISANDE

Oh! oh! weit von hier… weit… weit… GOLAUD

Was glänzt da so im Wasser auf dem Grunde?… MÉLISANDE

Wo denn? Ach! Das ist die Krone, die er mir gegeben hat. Sie fiel hinein, als ich hier sass und weinte. GOLAUD

Eine Krone? Wer gab Euch eine Krone? Ich will versuchen, sie herauszuholen… MÉLISANDE

Nein, nein; ich mag sie nicht mehr!… Lieber will ich sterben… auf der Stelle sterben!


GOLAUD

Je pourrais la retirer facilement; l’eau n’est pas très profonde. MÉLISANDE

Je n’en veux plus! Si vous la retirez, je me jette à sa place!… GOLAUD

Non, non; je la laisserai là. On pourrait la prendre sans peine cependant. Elle semble très belle. Y a-t-il longtemps que vous avez fui? MÉLISANDE

Oui, oui. Qui êtes-vous? GOLAUD

GOLAUD

Ich könnte sie leicht herausholen; das Wasser ist nicht sehr tief. MÉLISANDE

Ich mag sie nicht mehr! Wenn Ihr sie herausholt, so werfe ich mich an ihrer statt hinab!… GOLAUD

Nein, nein; ich will sie liegen lassen. Man könnte sie trotzdem ohne Mühe fassen. Sie scheint sehr schön zu sein. Ist’s lange her, dass Ihr geflohen seid? MÉLISANDE

Ja, ja. Wer seid Ihr? GOLAUD

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Je suis le prince Golaud le petit fils d’Arkel le vieux roi d’Allemonde… MÉLISANDE

Oh! vous avez déjà les cheveux gris! GOLAUD

Oui; quelques-uns, ici, près des tempes… MÉLISANDE

Et la barbe aussi… Pourquoi me regardez-vous ainsi? GOLAUD

Je regarde vos yeux. Vous ne fermez jamais les yeux? MÉLISANDE

Si, si, je les ferme la nuit… GOLAUD

Pourquoi avez-vous l’air si étonnée? MÉLISANDE

Vous êtes un géant! GOLAUD

Je suis un homme comme les autres… MÉLISANDE

Pourquoi êtes-vous venu ici? GOLAUD

Je n’en sais rien moi-même. Je chassais dans la forêt.

Ich bin Prinz Golaud, der Enkel Arkels, des alten Königs von Allemonde… MÉLISANDE

Oh, Ihr habt schon graue Haare! GOLAUD

Ja, einige, hier an den Schläfen… MÉLISANDE

Und im Bart auch… Warum schaut Ihr mich so an? GOLAUD

Ich betrachte Eure Augen. Schliesst Ihr die Augen nie? MÉLISANDE

Doch, doch, des Nachts schliesse ich sie… GOLAUD

Warum blickt Ihr mich so erstaunt an? MÉLISANDE

Ihr seid ein Riese! GOLAUD

Ich bin ein Mensch wie die andren… MÉLISANDE

Warum seid Ihr hierhergekommen? GOLAUD

Das weiss ich selbst nicht. Ich jagte im Walde.


Programmheft PELLÉAS ET MÉLISANDE Drame lyrique in fünf Akten von Claude Debussy Libretto von Maurice Maeterlinck Premiere am 8. Mai 2016, Spielzeit 2015/16

Herausgeber

Intendant

Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Studio Geissbühler

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Dmitri Tcherniakov für dieses Programmheft (Übersetzung aus dem Russischen: Beate Breidenbach). – Die Zitate zur Traumatherapie entnahmen wir einem Ge­spräch,das Beate Breidenbach am 12. April 2016 mit Prof. Ulrich Schnyder führte. – Die Gespräche mit Dmitri Tcherniakov und Alain Altinoglu sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Roman Brotbeck schrieb seinen Text «Beredte Stille. ‹Pelléas et Mélisande› von Claude Debussy» für dieses Programmheft. Maurice Maeterlinck, Vor dem grossen Schweigen, Berlin 1935. Maurice Maeterlinck,

Fineprint AG

Prosa und kritische Schriften, Bad Wörrishofen 1983. Claude Debussy, Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hg. von François Lesure, Paris 1971. Bildnachweise: Toni Suter fotografierte das «Pelléas»-Ensemble bei der Klavierhauptprobe am 27. April 2016. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

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