Belshazzar

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BELSHAZZAR

GEORG FR IEDR ICH HÄNDEL


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BELSHAZZAR GEORG FRIEDRICH HÄNDEL (1685-1759)

Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich






HANDLUNG Erster Akt Nitocris, die Mutter des babylonischen Kronprinzen Belshazzar, hat das ge­walt­ tätige Auf und Ab menschlicher Herrschaft vor Augen: Mächte streben ehr­geizig nach Grösse, setzen sich brutal gegen alle Widerstände durch, verwüsten die Welt, verfallen in Dekadenz – bis sich eine andere aufkommende Macht ge­­­ waltsam an ihre Stelle setzt, und der Kreislauf von Aufstieg und Niedergang von vorne beginnt. Nur Gottes Reich bestehe ewig. Nitocris sorgt sich, dass Babylon untergeht. Die Königin sympathisiert mit dem Glauben des jüdischen Propheten Daniel, der mit seinem Volk in Babylon gefangengehalten wird. Er rät ihr, auf den Willen Gottes zu vertrauen und sich diesem zu unterwerfen. Von den Stadtmauern herab verspotten die Babylonier den persischen Feld­ herren Cyrus und seine Truppen, die Babylon belagern: Erst wenn die Belagerer dereinst von den Hunden gefressen seien, würde Babylon ans Verhandeln den­ ken. An der Seite von Cyrus steht Gobrias, ein babylonischer Adeliger, der zu den Persern übergelaufen ist, weil er auf Rache für seinen Sohn hofft, den Bel­ shaz­zar töten liess. Cyrus erzählt Gobrias, wie er im Traum den ausgetrockneten Fluss Euphrat vor sich sah. Cyrus plant, den Fluss umzuleiten und nachts durch das trockene Flussbett in die Stadt einzudringen. Dies soll am Tag des SesachFestes geschehen, wenn die ganze Stadt im Rausch liegt. Gobrias beschimpft Belshazzar als Monster, das sich in Wollust und Völlerei ergehe. Die in Babylon gefangenen Juden glauben, dass der Augenblick ihrer Be­ frei­ung naht. Daniel preist die göttlichen Verheissungen der Propheten, die den Untergang Babylons voraussagen und den Perser Cyrus als ihren Befreier nennen. Belshazzar trifft letzte Vorkehrungen für das Sesach-Fest, an dem der Wein in Strömen fliessen und Zügellosigkeit herrschen soll. Verärgert über die an­­ we­senden Juden befiehlt er, die heiligen Gefässe der Juden, die sein Vorfahre Ne­bu­kadnezar im Tempel von Jerusalem erbeutet hatte, bei dem Fest zu ver­

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wenden. Die Juden warnen Belshazzar vor den Folgen dieser Gotteslästerung. Auch Nitocris warnt. Sie gerät in einen Streit mit Belshazzar: Er möge die Macht Gottes bedenken und dessen Rache fürchten. Belshazzar entgegnet ihr, sie solle sich nicht gegen ihren Sohn stellen und viel eher die Macht der babyloni­ schen Götter und deren Rache fürchten. Die Juden prophezeien Belshazzar, er werde der Strafe Gottes nicht entgehen.

Zweiter Akt Cyrus hat den Euphrat umgeleitet. Siegesgewiss rücken die Perser in die Stadt vor. Die Babylonier begehen ihr ausgelassenes Fest unter Verwendung der hei­ ligen Gefässe der Juden. Belshazzar verhöhnt den Gott der Juden. Da erscheint eine Schrift mit den rätselhaften Worten «Mene, Mene, Tekel Upharsin». Die Babylonier erschrecken über den unerklärlichen Vorgang. Belshazzar lässt seine Magiere holen, aber sie können die Zeichen nicht deuten. Auf Bitten von Nitocris wird Daniel herbeigerufen. Er vermag die Schrift­ zei­chen zu entziffern und interpretiert sie: MENE bedeute, dass Gott die Tage von Belshazzars Herrschaft gezählt und für beendet erklärt habe. TEKEL be­ deu­te, dass Belshazzar gewogen und für zu leicht befunden wurde. UPHARSIN bedeute, dass sein Reich an die Perser falle. Nitocris fleht ihren Sohn an, in sich zu gehen und die Autorität Gottes an­ ­zu­erkennen. Daniel ist überzeugt, er sei dazu nicht in der Lage: Ein Leopard könne sein Fleckmuster nicht ablegen. Belshazzar huldigt jetzt erst recht seinen babylonischen Göttern und will das Fest fortsetzen.

Dritter Akt Vor dem entscheidenden militärischen Schlag gegen die Babylonier dankt Cyrus Gott, dass er ihm zur Seite steht. Er kündigt an, nur Belshazzar zu töten und das babylonische Volk zu schonen. Nitocris hofft unterdessen noch immer auf Reue ihres Sohnes, weiss jedoch um die Vergeblichkeit ihrer Hoffnung.

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Es kommt zum Kampf. Belshazzar wird getötet. Gobrias dankt Gott und Cyrus für den Vollzug der Rache. Cyrus ruft das Ende des Krieges aus. Nitocris verneigt sich vor dem neuen Herrscher, bittet um Schonung ihres Volkes und trauert um den Verlust ihres Sohnes. Cyrus erklärt, dass ihr Volk sicher sei und sie in ihm einen neuen Sohn erhalte. Daniel und die Juden machen Cyrus mit der Prophezeiung Jesaias bekannt, dass er der von Gott Auserwählte sei, das jüdische Volk aus der babylonischen Gefangen­schaft zu befreien. Cyrus kündigt an, die Juden aus der Gefangenschaft zu entlassen und den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Alle beten.

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EIN NEUES TIER STEHT VOR DER TÜR Regisseur Sebastian Baumgarten über die Dramatik, die ein Händel-Oratorium birgt

Sebastian, mit Belshazzar bringen wir am Opernhaus Zürich keine Oper von Georg Friedrich Händel auf die Bühne, sondern ein Oratorium, das eigentlich für konzertante Auf­führun­gen gedacht ist. Was macht die Oratorienform für dich als Regisseur interessant? Es geht hier nicht um das Ausspinnen ei­nes verästelten Handlungsfadens wie sonst in der Barockoper. In einem Oratorium gibt es immer wieder Unter­ brechungen in der Handlung, Schnitte, übergeordnete Reflexionen und etwa einen kommentierenden Chor, wie man ihn aus der griechischen Antike kennt. Das kommt mir in meinem Interesse, mit epischen Theatermitteln zu arbeiten, sehr entgegen. Die sind einem Oratorium gewissermassen schon einkomponiert. Ist Belshazzar überhaupt ein dramatischer Stoff? Er ist erstaunlich dramatisch. Händel baut starke Situationen und formt kon­turenscharfe Charaktere, was für Oratorien nicht unbedingt selbstver­ständ­ lich ist. Man muss sich nur anschauen, was Händel in Belshazzar mit dem Chor macht: Er unterteilt ihn in drei verschiedene Völker – die Baby­lo­nier mit ihrem tyrannischen Herrscher Belshazzar; die Juden, die sich in babylonischer Gefangenschaft befinden und von dem charismatischen Seher Daniel ge­führt werden; und die Perser, die unter ihrem Feldherren Cyrus Babylon belagern und die Stadt schliesslich erobern. Händel lässt in Belshazzar unterschiedliche Kulturen und Religionen aufeinanderprallen und thematisiert Konflikte, wie wir sie auch in unserer heutigen Zeit erleben. Die Kultur Babylons befindet sich in einem Stadium der Dekadenz. Die Babylonier müssen

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sich gegen Feinde von aussen verteidigen, besitzen aber offensichtlich noch ge­nügend Macht und Reichtum, um ihr verschwenderisches Leben fort­zu­ setzen. Ihnen gegenüber stehen die Perser, die eine neue Zeit repräsentieren, das Zukunftsträchtige, das sich gegenüber den babylonischen Herrschafts­ strukturen als überlegen erweist. Das Neue ist ein anderer Glaube, nämlich die monotheistische Religion. Genau. Die Babylonier sind Polytheisten, sie glauben an viele Götter und stehen in konkretem Kontakt mit ihnen, indem sie etwa rauschhafte Feste feiern. Ihnen treten die Perser entgegen, die eine modernere Form der Religion repräsen­tieren. Sie glauben an den einen unsicht­baren Gott, der einen universalen mo­ralischen Anspruch auf die Welt erhebt.

Das komplette Programmbuch Ist es nicht seltsam, dass Händel und sein Librettist Charles Jennens die können Sie auf Perser als gottgläubiges Volk einführen? Es ist in der Tat eine Konstruktion. Historisch betrachtet waren die Perser www.opernhaus.ch/shop nicht unbedingt Monotheisten, sondern eher liberal in ihrem kulturellen Selbstverständnis. Aber als militärische Er­oberer stellen Händel und Jennens sie oder am Vorstellungsabend im Foyer aus ihrer kirchlichen Sicht natürlich an die Seite der rechtmässig Gläu­ bi­gen, zumal ihr Anführer Cyrus im Alten Testament bei Jesaia als der ver­­heisse­ne Retter genanntOpernhauses wird, der das auserwählte Volk auserwerben der Knechtschaft Babylons des befreien wird. In Belshazzar bilden die Perser sozusagen gemeinsam mit den Juden eine moralische Gemeinschaft gegen Babylon. Aber man muss da sehr aufpassen, denn der Stoff kennt viele Perspektiven: Es gibt die histori­ schen Fakten aus der Hochkultur zwischen Euphrat und Tigris, soweit sie uns bekannt sind; die alttestamentarische Überlieferung der Vorgänge in Babylon; dann der weit ausgreifende Mythos um «die Hure» Babylon, der sich aus dieser Überlieferung entwickelt hat; schliesslich das, was Händel im 18. Jahr­hundert aus dem Stoff gemacht hat – und natürlich unser heutiger Blick darauf. Ich finde es theatralisch auch sehr interessant, dass die zentrale Quelle für die Belshazzar-Handlung das Buch Daniel aus der Bibel ist und dieser Daniel im Oratorium als zentrale Figur anwesend ist. Der Autor der Geschich­te ist selbst ein Teil von ihr.

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Was bedeuten diese unterschiedlichen Perspektiven für die Inszenierung? Man bekommt als Regisseur ein Material in die Hand, das bewegbar ist für die Bühne und mehrschichtig interpretierbar. Mit einem Spielort wie Babylon betritt man einen ganz starken Fantasieraum, da öffnen sich sofort sehr viele Fenster – etwa in cinematografische Über­schreibungen des Mythos Babylon oder in die modernen Megacities, die so stark wuchern, dass sie bald für keinen Staat und keine Polizei der Welt mehr zu kontrollieren sind. Beim Sturz des babylonischen Herrschers steht uns das Ende moderner Macht­haber wie Muammar al-Gaddafi oder Saddam Hussein vor Augen. Bei Babylon geht es immer auch um apokalyptische Visionen. Das alles kann man für die In­sze­nie­r ung nutzen, deshalb werden wir uns nicht in einer genau definierten Zeit bewegen. Wir zitieren, mon­tieren und arbeiten mit Fragmenten und Brüchen, die sich allerdings innerhalb eines klar gefassten Ganzen bewegen müssen. In welcher Hinsicht ist der Religions­konflikt für uns heute von Relevanz? In vielerlei Hinsicht. Er markiert zum Beispiel eine Zeitenwende, die auch wir spüren. Aus Sicht der Babylonier kündigt sich mit Daniel und dem jüdischen Glauben etwas Neues an, das keiner kennt und deshalb zurückgewiesen und bekämpft werden muss. Ein neues Tier steht vor der Tür, hätte Bertolt Brecht ge­sagt. Und dieses neue Tier flösst uns Angst ein, dass wir mit seinem Erscheinen untergehen. Dass aber dieses Neue womöglich eine Wende zum Besseren bringt und vielleicht sogar mehr noch als das Alte in der Lage ist, zu erhalten, was uns wichtig ist, sehen wir nicht. Wir wissen heute nicht, ob das Aufkommen von künstlicher Intelligenz und Cyborgs wirklich so eine Katastrophe ist, wie wir uns das im Moment vorstellen. Belshazzar beharrt in dieser Situation auf der angestammten Tradition. Er besteht darauf, ein ausschweifendes Sesach-Fest zu feiern, und lässt die heiligen Gefässe der Juden durch hedo­nistischen Missbrauch schänden. Das ist aus seiner Sicht ja durchaus legitim. Für ihn sind die Gegenstän­de des neuen Glaubens nur Plunder, und das will er den Juden provozierend vor Augen führen. Mich erinnert das an den Streit

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um die Mohammed-­Karikaturen. Aus westlich aufge­klär­ter Sicht erscheint es uns völlig okay, religiöse Symbole dem Spott aus­­zu­setzen. Wir halten es sogar für einen notwendigen Akt von Kunstfreiheit, dass das passieren darf. Für die fun­da­mentalistischen Muslime war es ein Sakrileg. Es ist immer ein Problem, wenn sich ge­schlossene Weltbilder gegenüberstehen und sich die Orthodoxie durchsetzt. Die säkularisierten Religiösen sind da die konstruktivere Gruppe, weil sie sich am tatsächlichen Leben ausrichten. Auf Belshazzars Schändung der Gefässe folgt die berühmteste Szene des Oratoriums: Es erscheint eine über­irdische Hand und schreibt «Mene, mene tekel, upharsin» an die Wand, ei­ne Prophezeiung des Untergangs von Babylon. Und nicht einmal die weisen Männer Belshazzars können die geheimnisvolle Schrift entziffern, sondern nur Daniel, der Vertreter der neuen Religion.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Auf den ersten Blick scheinen die Rollen, die Händel den Parteien in www.opernhaus.ch/shop seinem Oratorium zuweist, klar verteilt: Die Babylonier sind die bösen Heiden und die Juden und die Perser die guten Gottgläubigen, die oder am Vorstellungsabend im Foyer am Ende siegen. Ist das so? Ich weiss nicht, ob das so eindeutig ist. Die Chöre, die Händel für die Baby­lonier geschrieben hat, haben durchaus festlich positiven Charakter. Sie des Opernhauses erwerben besitzen eine Heiterkeit, die nicht unsympathisch ist. Die Babylonier sind ja auch historisch betrachtet nicht die sündige Negativgesellschaft, die der Mythos aus ihnen gemacht hat. Babylon besass eine extrem hoch entwickelte Kultur mit enormem Wissen und Fähigkeiten, was etwa Astronomie, Schrift oder Buch­­haltung angeht. Die Zivilisation ver­dankt Babylon sehr viel. Ich finde, Händels Musik offenbart ein diffe­ren­zier­teres Bild der aufeinander­ prallenden Kulturen. Es gibt da beispielsweise auch noch Nitocris, die Mutter von Bel­shazzar, eine hochspannende, rätselhaft ambivalente Figur. Sie sympathisiert mit dem neuen Glauben. Sie hat offenbar dem Druck der Veränderung nach­ge­geben und stellt sich gegen ihren eigenen Sohn, gibt ihn dem Untergang preis. Einerseits hat sie visionäre Fähigkeiten: Gleich in ihrem ersten Accom­pagnato-­Rezitativ beschreibt sie von einer überge­ordneten

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Warte aus den Zyklus von ehrgeizigem Aufstieg und dekadentem Zerfall der menschlichen Kulturen. Andererseits könnte man durchaus auch eine Art Opportunismus vermuten hinter der Art und Weise, mit der sie sich dem machtvollen Neuen anvermittelt. Händel schrieb, nachdem er sich vom Opernbetrieb abgewendet hatte, nur noch Oratorien. Als Opernunter­nehmer hatte er sich aufgerieben. Die Spektakelsucht, Sängereitelkeiten, der Konkurrenzdruck, die finan­ ziel­len Risiken hatten ihn zermürbt. Im Oratorium fand er zu einer neuen Form, die ihn von den Zwängen des Betriebs befreite. Wir holen Händel nun mit unserer szenischen Pro­duktion eines seiner Oratorien gleich­sam wieder in den Betrieb zurück. Ist das ein Problem? Nein. Es war ja unsere bewusste künstle­rische Entscheidung. Und, wie gesagt, das Material bietet sich in seiner grossen dramatischen Kraft für eine szenische Umsetzung an. Wir hatten zwischenzeit­lich auch kurz erwogen, die Matthäus-­Passion von Johann Sebastian Bach zu inszenieren. Das wäre mir in meiner grossen Liebe zu Bach sehr entgegengekommen, aber die Matthäus-­ Passion ist so stark in ihrer Auf­führungstradition und den daran gebundenen Bildern, dass das die theatralischen Möglich­keiten eher zu­stellt als öffnet. Ich finde Händels Abkehr vom Operngeschäft einen hochspannenden Vor­ gang. Er wagt etwas Neues, Experimentelles. Mich erinnert das an den französischen Filme­macher Jean-Luc Godard, der trotz seiner gros­sen Erfolge irgendwann die Nase voll hatte vom kommerziellen Filmgeschäft. Ähnlich wie Händel ist er am industriellen System und der Dominanz des Geldes verzweifelt. Er hat dann die neuen elektronischen Medien für sich entdeckt und entwickelt nur noch hoch­ästhetisierte, collagierte Kunstformate, die in die Zukunft weisen und fast ausschliesslich über das Internet zugänglich sind. Vielleicht können damit im Moment nur wenige Leute etwas an­fan­gen, aber ich bin mir sicher, in zwanzig Jahren wird man Godard mit gros­sem Interesse verfolgen. Das sind die jeweils modernen Geister ihrer Zeit: Sie lassen das, was sie künstlerisch zu sehr eindämmt, konsequent hinter sich.

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Sympathisiert man als Opernregisseur nicht automatisch mit der bilder­ prallen babylonischen Welt? Steht dir Belshazzar näher als die anderen Protagonisten? Das kann man so allgemein nicht sagen. Im Stück ist es ja so: In dem Augen­ blick, in dem Belshazzar spürt, dass etwas Neues kommt, dem er nicht mehr standhalten kann, radikalisiert er sich und agiert anarchisch. Das ist als Reaktion der Figur nachvollziehbar. Die Taten, die daraus hervorgehen, sind aller­­dings nicht zu verteidigen. Da ich in der ehemaligen DDR aufge­ wachsen bin, habe ich schon einmal erlebt, wie die Verhältnisse von einem auf den anderen Tag umschlugen und ein radikaler Systemwechsel stattfand, bei dem ich weder wollte, dass die alten Verhältnisse weiter bestehen, noch dass das, was kam, für mich in irgendeiner Form bindend gewesen wäre. Man lernt in so einer Situation, das vermeintlich Verbindliche in beide Richtun­gen zu hinterfragen, zu unterlaufen und sich anarchisch zu positionieren. Deshalb würde ich eher so sagen: Ich arbeite in der Kunst immer mit ba­ bylonischer, anarchischer Energie dagegen an, wenn sich Posi­tionen zu sehr manifestieren. Jede Position, die Konsens wird, ist für die Kunst völlig uninteressant. Ich finde zum Beispiel die politischen Korrektheit, auf die die Arbeit zur Zeit an vielen Theatern verpflichtet ist, ein grosses Problem. Sie mündet immer weniger in fruchtbare künstlerische Prozesse, es werden nur noch moralische Positionen festgeklopft. Man ist sich zu einig. Die Querulanz, die die Kunstproduktion braucht, geht dabei verloren. Und bei solcher Ein­deutigkeit mit den Ausschliessungen und Verboten, die mit ihr einhergehen, fange ich als Dialektiker sofort an, da­gegen zu sein.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Claus Spahn

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MYTHOS BABYLON Insgesamt gilt, dass ein Mythos weitaus komplexer organisiert ist als eine kon­ ventionelle Erzählung. Das trifft insbesondere auf den Babylon-Mythos zu. Schon die Lektüre der alttestamentarischen Urquellen ist eine diffizile Sache. Das liegt daran, dass in der Bibel gar kein zusammenhängender Text existiert. Vielmehr sind die Nachrichten über Babylon netzwerkartig auf ganz unter­ schiedliche Bücher verteilt, deren Entstehungsdaten oft weit auseinander liegen. Eine erzählerische Linearität ist nicht erkennbar. Die einzelnen Textstellen im 1. Buch Mose, im Buch Judit, bei Jeremias oder Daniel haben den Charakter von Video-Clips, deren richtige Reihenfolge der Regisseur mit ins Grab genom­ men hat. Sie lassen sich nicht narrativ, sondern nur thematisch ordnen, also nach den unterschiedlichen Rollen, in denen Babylon gesehen werden kann – als Baustelle des Turms, als Stadt der Knechtschaft, als Stadt der Sünde, als Metro­ pole der Sprachverwirrung, als Schaubühne der Apokalypse oder als Residenz monströser Gestalten wie Nebukadnezar.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Moritz Wullen

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HÄNDELS KINO IM KOPF Der «Belshazzar»-Dirigent Laurence Cummings über eine wichtige Zeitenwende in Händels Schaffen

Laurence, Belshazzar wurde 1745 in London uraufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Georg Friedrich Händel sich von der Oper ab- und dem Oratorium zugewandt. Warum vollzog er diesen radikalen Umschwung? Er hat sich schon mit der Oratorienform befasst, während er noch Opern komponier­te. Die ganze Geschichte beginnt 1732 mit Esther, das war sein erstes englischsprachiges Oratorium. Die Hinwendung zu Oratorien steht eigentlich in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Niedergang des Opernbetriebs. Die Sprache spielte eine wichtige Rolle! Opern wurden auf Italienisch gesungen, und die Menschen hatten damals zunehmend das Bedürfnis, die Texte zu verstehen. Händel aber wollte keine englischsprachigen Opern schreiben, warum genau, wissen wir nicht. Er liebte die Opera seria, ihre spezifische Form, die italienische Sprache. Da wurde das Oratorium für ihn zu einer echten künstlerischen Alternative. Das Ende des Londoner Opernbooms, an dem Händel ja ganz wesentlich beteiligt war, hat also auch damit zu tun, dass das Publikum nicht länger gewillt war, Werke in italienischer Sprache zu hören? In den späteren Opern Händels wurden die Rezitative tatsächlich immer kürzer, weil das Publikum keiner Sprache mehr zuhören wollte, die es nicht verstand. Es gab damals grundsätzlich ein grosses Bedürfnis nach Dramen in Englisch. Das mussten nicht unbedingt biblische Dramen sein. Aber Händel war fähig, die spe­zi­fischen Eigenheiten der Oper im Oratorium zu etwas völlig Neuem zu führen.

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Er spielte auf neue Weise mit den Formen, mit dem Orchester, den verschie­ de­nen Klangfarben und den rhetorisch-musikalischen Mitteln. Er schuf sich dadurch eine grosse Palette an neuen dramatischen Ausdrucksmitteln. Wie aufregend muss das für ihn gewesen sein, in Belshazzar ganze Völker zu imaginieren – die Babylonier, die Perser, die Juden. Auf der Opernbühne wäre das undenkbar gewesen. Das Oratorium also als eine Art Bühne der Fantasie, bei der sich keiner mehr Gedanken darüber machen muss, wie Verwandlungen und Auf­ tritte zu bewerkstelligen sind. Er hat sich befreit vom Theaterapparat, denn die Oratorien wurden ja konzertant aufgeführt. Richtig. Das verlieh ihm eine unglaubliche kreative Freiheit, er konnte all seinen Ehrgeiz in die Musik setzen. Die Chöre in den Oratorien sind sehr komplex und lebendig geschrieben. Wir verlangen in unserer BelshazzarPro­duktion von unserem Chor, alles auswendig auf der Bühne zu singen. Aber zur damaligen Zeit konnte der Chor aus den Noten lesen, was es Händel ermöglichte, beispielsweise auch Fugen in einem dramatischen Werk zu ver­ wenden. Was verändert sich stilistisch im Schreiben Händels beim Wechsel zum Oratorium? Ging er weg von der Virtuosität des italienischen Arien-­ Gesangs? Ja und nein. Natürlich war es keine Notwendigkeit mehr, jeder Figur eine Bravour-­Arie zu schreiben. Trotzdem findet man noch unglaublich viele virtuose Arien in den Oratorien. Aber es stimmt: Solche Arien wurden weniger. Das hängt auch damit zusammen, dass nun nicht mehr jede Arie in der Da-capo-Form geschrieben ist. Man kann eine allmähliche Hinwendung zu simpleren Formen beobachten. Händel ging es immer weniger um die Zurschaustellung vokaler Fähigkeiten, sondern mehr um den emotionalen Zustand der Figuren und eine Verinnerlichung der Gefühle. Er konnte auch mehr in diese Richtung gehen, weil das Publikum nun ja die Sprache verstand. Es konnte im Textbuch während der Aufführung mitlesen. Sogar Regieanweisungen waren darin notiert.

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Regieanweisungen für eine Bühne, die in den Köpfen der Zuhörer existierte? Genau. Und Händel setzt dieses Kopfkino mit einer sehr bildhaften Musik in Gang. Denken wir etwa an die berühmte Menetekel-Szene in Belshazzar. Das Libretto beschreibt sehr deutlich, wie da plötzlich Gottes Hand erscheint und rätselhafte Zeichen an die Wand schreibt. Zeichen, die die Babylonier nicht entziffern können. Händel illustriert das Schreiben durch Musik, durch kurze, hingetupfte, sehr leise Noten in den Violinen. Dann erscheint der Prophet Daniel und liest die Worte auf eine sehr eindringliche Weise vor: Das Orchester setzt aus, er singt ganz allein. Seine Gesangsmelodie ist mit langen und kurzen Notenwerten so angelegt, dass man glaubt, die Schnörkel der Handschrift erkennen zu können. Eine einzige, reine Stimme ohne Begleitung bringt die ganze Geschichte, die zuvor wie eine Maschine ablief, zum Stillstand. Es ist eine sehr lebendige und bildhafte musikalische Szene, fast wie ein Barock-Gemälde. Händel mietete Theater für seine Oratorien und legte Aufführungsserien auf. Schrieb er sie womöglich nur, weil das die neue Attraktion am Markt war? Ich glaube, es wäre zynisch zu behaupten, Händel hätte sich nur deshalb dem Orato­rium gewidmet, weil es sich gut verkaufen liess. Es war die künstlerische Freiheit, die er hier für sich in dieser Form entdeckte. Händel hatte einen ungeheuren Drang, diese Oratorien zu Papier zu bringen. Er schrieb sie in einer rasenden Ge­schwindig­keit nieder, und er wurde zu einem regelrechten Workaholic. Bei Bel­shazzar war das extrem. Man kann in Händels Briefen an seinen Textdichter Charles Jennens nachlesen, wie sehr er auf die Lieferung der Texte drängte und Jennens angesichts des Vertonungshungers Händels mit der Arbeit kaum nachkam. Die Oratorien wurden so gut wie nie in Kirchen aufgeführt. Wie muss man sich die Situation konkret in den Theatern vorstellen? Die Konzerte wurden oft in den Theaterkulissen, die noch vom vorherigen Abend herumstanden, gegeben. Die Sängersolisten trugen ihre privaten

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Kleider und sangen aus Noten. Sie waren im Chor positioniert und sangen auch im Chor mit. Die Uraufführung von Belshazzar war kein Erfolg. Woran lag das? Am Abend der Uraufführung von Belshazzar hatten Händels alte Rivalen von der Adelsoper offenbar eine konkurrierende Veranstaltung angesetzt, und das Publikum blieb aus. Aber es ist nicht immer leicht zu verstehen, welche Faktoren über Erfolg oder Nichterfolg bei Händels Oratorien entschieden haben. Vielleicht war Händel in seinen Werken manchmal zu experimentier­ freudig, vielleicht gab es politische Gründe – oder die Leute hatten einfach keine Lust auszugehen. Wie religiös war Händel? Wie idealistisch waren seine Oratorienprojekte? Händel war sehr gläubig und wollte mit seinen Oratorien die Menschen besser machen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Das Geld war für ihn ein Mittel zum Zweck, um zu Opernzeiten etwa seine nächsten Projekte zu finanzieren und die besten Sängerinnen und Sänger aus Italien engagieren zu können. Natürlich wollte er sich auch guten Wein und gutes Essen leisten können. Aber es ging ihm nie um die eigene Bereicherung. Als Händel 1723 in sein Haus am Rand von London einzog, möblierte er es zwar mit erlesenen Möbeln, danach aber kaufte er ausser ein paar Gemälden bis an sein Lebensende nichts Neues mehr. Händel war definitiv kein Mensch, der an materiellen Dingen interessiert war. Händels Librettist Jennens schreibt, die Oratorien seien «for great enter­tainment» geschrieben. Unterhaltung waren diese Stücke insofern, als sie direkt die Herzen er­ reichten. Wir müssen uns zudem die Situation von damals vergegenwärtigen. Dreieinhalb Stunden konzentriert einem konzertant aufgeführten Werk zu lauschen, mag uns heutigen Menschen sehr lange vorkommen. Aber in einer Zeit ohne Kino und Fernsehen waren die Menschen empfänglich für jede Art von Zerstreuung. War man adelig, stand man am Morgen auf und hatte – nichts zu tun.

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Stand Händel den Ideen der Aufklärung nahe? Ja. Aber für einen gläubigen Künstler muss das ein zweischneidiges Schwert gewesen sein. Händel war wohl vor allem von dem Gedanken überzeugt, dass die Menschen unterschiedlich sind. Es ist einfach meisterhaft, wie er individuelle Gefühlsregungen in Musik zu übersetzen vermochte. Händel urteilt nie, auch nicht in Bel­shazzar. Man kann in seiner Musik nicht er­ kennen, auf wessen Seite er sich schlägt. Er macht uns nicht glauben, die Babylonier seien schreckliche Menschen. Wenn ein Fest gefeiert wird, schreibt Händel eben Festmusik und keine furchtbare Musik. Es ist nur Belshazzar, der zu weit geht. Belshazzar verhält sich doch nur so, wie es seine religiöse Traditionen von ihm verlangen. Aber er geht eindeutig zu weit, wenn er die heiligen Gefässe der Juden für sein Gelage benutzt. Das muss eine Inszenierung, meiner Meinung nach, sehr deutlich zeigen. Aber insgesamt ist Händel durchaus den Babyloniern zugetan, und das zeugt letztlich von seiner tief empfundenen Humanität. Händel vereint oft Gegensätze in sich, und gleichzeitig plädiert er für das Massvolle. Als er L’Allegro ed il Penseroso nach einem Gedicht von John Milton vertonte, fügte er einen dritten Teil hinzu, nämlich Il Moderato, die Mässigung. Frohsinn und Schwermut können zwar gut neben­einander existieren, aber es braucht für Händel immer auch die Balance. Warum wählte Händel in seinen Oratorien bevorzugt Stoffe aus dem Alten Testament? Das hängt mit der Herkunft der Gattung zusammen, die im 17. Jahrhundert durch Komponisten wie Giacomo Carissimi oder Luigi Rossi in Rom be­ gründet wurde. Händel erfand das englische Oratorium, aber die Urform gab es schon vor ihm, er hat sie als Zwanzigjähriger in Italien kennengelernt. Als in Rom während der Fasten­zeit die Theater geschlossen wurden, förderten die Kardinäle und der Adel die Aufführung dramatischer Werke in einem sakralen Rahmen, und es wurden hauptsächlich alttestamentarische Texte vertont.

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Welches sind deine persönlichen musikalischen Highlights in Belshazzar? Es ist schwer, einzelne Höhepunkte in einem solchen Meisterwerk herauszu­ picken. Die Menetekel-Szene haben wir ja bereits erwähnt, aber natürlich ist schon der Beginn des Werks bemerkenswert, das Accompagnato ed Arioso von Nitocris, in dem Händel gleichsam aufklärerisches Gedankengut ver­ arbeitet. Dann die letzte Arie von Gobrias, «To pow’r immortal», die ein unglaublich schönes Lamento ist, in dem Gobrias seinen Sohn beklagt und sein Verständnis dafür äussert, weshalb alles so weit kommen musste. Auch das letzte Duett «Great Victor, at your feet I bow» zwischen Mutter und Sohn ist sehr berührend. Der geschlagene Held will nicht mehr länger Held sein, sondern Sohn. Umgekehrt hören wir, was in einer Mutter vorgeht, deren Sohn ein Mörder ist – eine tiefmenschliche Schilderung dieser Beziehung, die natürlich auch eine Metapher für die Muttergottes und Gottes Sohn ist. Vergessen wir Daniel nicht: In seinem «O sacred oracles of truth» hören wir bereits zu Beginn, dass er derjenige ist, der alles versteht und auserwählt sein wird. Seine Klangwelt in es-Moll ist hochsymbolisch und war auch für Bach eine Schlüssel­tonart. Wunderschön ist auch die Hymne, die das Werk be­ schliesst. Händel hat sie oft und in den verschiedensten Tonarten verwendet, zum ersten Mal in Italien als Violin-Konzert. Es ist ein überaus beseeltes Stück, mehr ein Gebet als ein Festgesang, und hat grosse meditative Qualität. Das Werk endet eben nicht mit einem jubilierenden Halleluja. Das Gespräch führte Claus Spahn

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STADT DER SÜNDE Der Mythos von Babylon als Stadt der Sünde reicht zurück bis zu dem griechi­ schen Geschichtsschreiber Herodot, der in seinen Historien berichtet, einem babylonischen Brauch zufolge müsse jede Frau sich einmal im Jahr öffent­lich prostituieren. Tausend Jahre später wurde dieser Mythos durch den spät­antiken Philosophen und Kirchenvater Augustinus aufgegriffen. In seiner Schrift De civitate dei entwickelte Augustinus die Idee vom Gottesstaat, verkörpert durch das himmlische Jerusalem. Demgegenüber stellte er Babylon als die nega­ti­ve Fiktion eines Staates, der sich von Gott losgesagt hat und dem Reich des Bösen verfallen ist. In der Renaissance aktualisiert Martin Luther dieses Denk­bild für seine programmatische Schrift De captivitate babylonica ecclesiae. Hier wird Rom als Mittelpunkt der katholischen Welt mit dem höllischen und sündhaften Ba­ bylon gleichgesetzt. Auch wenn der Begriff der Sünde bei Luther und Augustinus das Spektrum aller Laster erfasst, dominieren im abendländischen Babylon-Mythos die sexuel­ len Metaphern. Bereits in der Bibel taucht die Babylonische Hure als Verfüh­ re­rin und Vorreiterin der Apokalypse auf: «Und ich sah eine Frau auf einem schar­lachroten Tier sitzen, das war voll lästerlicher Namen und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und die Frau war bekleidet mit Purpur und Schar­ lach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll von Greuel und Unreinheit, und auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: Das grosse Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.» (Offenbarung 17, 3-5). Im Mythos von Sündenbabel sind die Grenzen zwischen Abscheu und Faszination oft fliessend. Als verbotene Stadt der Lüste wurde Babylon zum Sehn­suchtsziel unbefriedigter sexueller Wünsche.

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DIE BEFREIUNG VON DER ITALIENISCHEN KNECHTSCHAFT Georg Friedrich Händel und sein Weg zum englischen Oratorium Felix Michel

Am 17. Januar 1745 wendet sich Englands berühmtester, als «G.F. Handel» unter­zeichnender Komponist in der Londoner Tagespresse an die Öffentlichkeit. Im «Daily Advertiser» erscheint seine Ankündigung, die laufende OratorienSaison vorzeitig abbrechen zu müssen, da sie bei weitem nicht kostendeckend sei. In der Klage, mit der er seinen offenen Brief beginnt, resümiert er knapp die Entwicklung des englischsprachigen Oratoriums. Zuerst dankt er der «Nobility and Gentry» des Landes für die langjährige Unterstützung. Tatsächlich darf man sich nicht darüber täuschen, dass auch das Oratorium zumindest in den Anfangsjahren seiner Entstehung eine vom Adel getragene Gattung dar­stellt, deren Publikum sich allenfalls auf das städtische Besitzbürgertum erstreckt. Um diesem Publikum seine Werke zu empfehlen, so Händel, habe er sich stets be­ müht, nur sinnvolle Worte und Handlungen in Musik zu setzen. Geradezu mit Forscherdrang habe er zeigen wollen, wie gut sich die englische Sprache, die doch die erhabensten Empfindungen auszudrücken wisse, zu einer vollstimmigen und feierlichen Musik füge. Gleich zwei seiner – modern gesprochen – Alleinstellungsmerkmale wirft Händel hier in die Waagschale: Niemand sonst versteht es, so grossbesetzte und wirkungsvolle Musik zu schreiben. Und er ruft zwischen den Zeilen in Erinne­ rung, dass unter den international renommierten Komponisten nur er quasi ein «Einheimischer» ist. 1685 in Halle an der Saale geboren, lebt er seit gut drei Jahr­zehnten in Eng­land, dessen Bürgerrecht er seit 1727 besitzt. Schliesslich

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erneuert er sein Bedauern, Publikum verloren zu haben. Wie kaum ein Kompo­ nist vor ihm richtet er seine Existenz nämlich auf eine allgemeine Öffentlichkeit hin aus. Obwohl auch er regelmässig lukrative Aufträge (und seit 1723 eine be­ trächtliche jährliche Leibrente von 600 £) vom Königshof erhält, stellt Händel eine Frühform des selbständigen Musikunternehmers dar. Als solcher ist er von der Publikumsgunst abhängig. Nun, im Winter 1745, bietet er an, dreiviertel des bezahlten Abonnementpreises zurückzuerstatten und die Saison vorzeitig zu beenden, um nicht noch grössere Verluste einzufahren. In den folgenden Tagen erscheinen im «Daily Advertiser» Reaktionen auf Händels Angebot. Ein Abonnent ruft dazu auf, auf die Rückerstattung freiwillig zu verzichten, um dem «Charakter der Nation, und den Verdiensten dieses Man­ nes» gerecht zu werden – Händels nationalistische Argumentation verfängt also. Der Zyklus geht darauf noch einige Vorstellungen weiter, nicht zuletzt er­klingt am 27. März das neue Werk Belshazzar zum ersten Mal. Doch nach dessen dritter Aufführung ist Schluss: Die Saison wird abgebrochen, und Bel­shaz­zar ist das letzte Werk, das Händel im King’s Theatre am Haymarket uraufführt. Seit 1711 hatte Händel hier 27 neue Werke und unzählige Wiederaufnah­ men produziert. Die meisten darunter waren italienische opere serie, und mit der Seria-Oper Rinaldo hatte seine Londoner Karriere überhaupt begonnen. Damals erlebte die italienische Oper einen ersten Höhepunkt; in den 1720ern brach das Opernfieber in London dann vollends aus. Das Königshaus, insbe­ sondere aber wohlhabende Adlige wendeten Unsummen für extravagante Pro­ duktionen mit den besten Sängerinnen und Kastraten wie Senesino, Faustina Bordoni oder Francesca Cuzzon auf, die eigens in Italien rekrutiert wurden. Und Händel liefert Oper um Oper; als Beispiele seien Radamisto (1720) und Giulio Cesare in Egitto (1724) genannt. Nachdem 1728 das als «Royal Academy of Music» fungierende Unterneh­ men bankrott gegangen war, übertrugen die adligen Anteilseigner Kostüme und Bühnenbilder Händel und dem Impresario J.J. Heidegger zur Nutzung. Johann Jakob Heidegger, 1666 in Zürich zur Welt gekommen, veranstaltete schon seit 1709 Opern, aber auch ebenso berüchtigte wie einträgliche Maskenbälle in London, was ihm einen gewissen finanziellen Spielraum gab. Auch Händel, der nun zunehmend finanzielle Verantwortung trug, benötigte einen solchen Puffer,

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um die Unstetigkeiten des Opern-Business, das von musikalischen Moden, wech­ selnden Stars und adligen Parteikämpfen bestimmt war, finanziell abzufedern. Umso mehr, als der Unternehmung ab 1733 Konkurrenz in der sogenann­ten «Opera of the Nobility» entstand. Händel und Heidegger wurden bald in das neu errichtete Schauspielhaus am Covent Garden verdrängt, und die beiden Opernkompanien schonten einander nicht: Man machte sich die Opernstars ab­spenstig und spielte an denselben Wochentagen; bisweilen wurden gar die­ selben Stoffe in konkurrierenden Vertonungen gezeigt. Da Händel im Gegensatz zur Nobility-Opernpartei rund um den Prince of Wales nur beschränkte Ressourcen hatte, war er auf Diversifikation angewie­ sen. Die Suche nach neuen Einkommensquellen war – und dies ist für Händel bezeichnend – oft zugleich ein künstlerisches Experimentieren. Dies gilt etwa für die Orgelkonzerte, mit denen er ab 1732 für Aufsehen sorgte, und deren Neuartigkeit das Publikum als attraktive Eigenschaft wahrnahm. Insbeson­dere gilt es für diejenige «Erfindung» Händels, die schliesslich so stark mit ihm identifiziert wurde, dass sein einstiger Ruhm als Opernkomponist noch bis ins 20. Jahrhundert völlig verdeckt blieb — das englische Oratorium.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Das Oratorium als Synthese Nundes darf manOpernhauses sich diese «Erfindung» nicht im Sinnerwerben des romantischen Kompo­ nistengenies vorstellen, der aus innerem Drang die Welt neu erfindet. Händel passte vielmehr bestehende Gattungen und Werke flexibel an neue Erfordernis­ se an. Dies geschah über einen längeren Zeitraum – und manchmal sogar ohne sein Zutun. Am Anfang der Londoner Oratorien-Aufführungen stehen Produk­ tionen von zwei Werken, die Händel um 1718 in Cannons komponiert hatte, wo er zu dieser Zeit Teil der musikalischen Prachtentfaltung des späteren Duke of Chandos war. 1731 wurde Acis and Galatea, 1732 Esther ohne Händels Mitwirken aufgeführt. In beiden Fällen brachte er darauf selbst überarbeitete Fassungen heraus und verlieh den Stücken, die zuvor in der Tradition der früh­ barocken englischen «Masque» bzw. der italienischen «Serenata» standen, bereits viele Züge, die für seine Oratorien kennzeichnend werden sollten: So die Tei­ lung in drei Akte und die bedeutende Rolle der Chöre. Und nun tauchte auch

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der Begriff des «englischen Oratoriums» auf: Als «The Sacred Story of Esther: an Oratorio in English» wurde Händels überarbeitete Fassung angekündigt. Vielfältige Einflüsse kamen in dieser neuen Gattung zusammen: Händel griff auf Teile eines protestantischen Passions-Oratoriums, das er vermutlich 1716 für Hamburg komponiert hatte, ebenso zurück wie auf anglikanische Anthems und auf festliche Oden für königliche Anlässe. Im Hintergrund stehen zudem stets seine Erfahrungen mit italienischer Kammerkantate, Oper und Oratorium, die er insbesondere 1707/08 in Rom gemacht hatte. (Als letztes englisches Oratorium bearbeitet der bereits blinde Händel 1757 bezeichnen­ derweise sein erstes neu: das 1707 in Rom entstandene «Oratorio» Il trionfo del tempo e del disinganno.) Händel nutzt sofort die Möglichkeiten, nicht mehr an die formalen Kon­ ventionen der opera seria gebunden zu sein, und kombiniert in den Folgewer­ ken «Accompagnato-Rezitativ, Arioso, Arien und mehr oder weniger kurze Chorsätze zu dramatischen Tableaus, wie sie die Oper, aber auch das italienische Oratorium zuvor nicht kannte», so die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold. Händels neue Oratorien fallen zudem in eine Zeit, wo seit dem Überraschungs­ erfolg der Beggar’s Opera (1728) plötzlich englisches Musiktheater als Gegen­ modell zur italienischen Oper am Horizont auftaucht. Aaron Hill, der einst Händels Erstling Rinaldo inszeniert hatte, zwischenzeitlich aber mit der Ge­ winnung von Bucheckern-Öl und anderem beschäftigt war, schreibt denn 1732 auch an Händel: «Meine Überzeugung ist, dass Sie fähig wären, uns aus unserer italienischen Knechtschaft zu entlassen, und zu beweisen, dass die englische Sprache biegsam genug ist für die Oper.» Die «italienische Knechtschaft», von der Hill befreit zu werden hofft, ist damals wohl gleichermassen ästhetisch wie institutionell gemeint: Eine Alter­ native zur opera seria zu haben, bedeutet auch die Aussicht auf ein kulturelles Leben jenseits der damit verbundenen exklusiven Zirkel. Dass die englische Sprache dazu ins Spiel gebracht wird, weist hinwieder auf die nationale Dimen­ sion hin, die um 1740 an Gewicht gewinnen sollte (und an die ja auch Händel im eingangs zitierten Aufruf appelliert). Als sich im Sommer 1738 abzeichnet, dass es Heidegger nicht gelingen wird, eine weitere Opernsaison zu sichern, komponiert Händel zwei Oratorien, die auf ganz unterschiedliche Weise Meilen­

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steine in der Gattungsentwicklung darstellen: Saul in der dramatischen Zu­ spitzung und der geradezu psychologisieren­den Figurenbehandlung, Israel in Egypt in der demgegenüber episch-erzählenden Sperrigkeit, die sich auch aus dem ausschliesslich auf Bibeltexten basie­renden Textbuch speist. So kommt es in der opernlosen Saison 1738/39 im King’s Theatre erstmals zu einem Zyklus von Oden und Oratorien, bevor Händel neue Konkurrenz entsteht. Direkt gegenüber bringt ein von Lord Middlesex geführtes Opernunternehmen Pro­ duktionen heraus; am 11. April 1739 sogar in gleichzeitiger Konkurrenz zur dritten Aufführung von Israel in Egypt. In den Folgejahren überwirft sich Händel mit diesem neuen, wiederum vom Hochadel getragenen Unternehmen. Offenbar ist er nicht bereit, nach seiner in der eigenen Saison 1740/41 uraufgeführten letzten Oper (Deidamia) neue opere serie zu schreiben – er brüskiert Lord Middlesex (und dessen Auf­ traggeber, den Prince of Wales), indem er ein Angebot über 1000 £ ausschlägt. Einen Eindruck vom Künstlerstolz des Komponisten vermittelt der Brief einer seiner Anhängerinnen, gemäss welchem Händel ihr berichtet habe, der Prince of Wales sei gründlich aus seiner (d.h. aus Händels!) Gnade gefallen. Der Miss­ erfolg der Oratorien-Saison 1744/45, der Händel zu besagtem Aufruf zwingt, hat seine Ursache bestimmt in dieser Brüskierung gewisser adliger Schichten. Charles Jennens, der Händel u. a. die Textvorlagen zu Saul und Belshazzar geliefert hat, schreibt einem Freund gegenüber, dass sich Händel auch schlicht übernommen habe. Nachdem das Unternehmen von Lord Middlesex einge­ gangen war, hatte Händel erstmals eine eigene Vollsaison aus Oratorien und Konzerten geplant – zuvor beschränkte er sich auf die Fastenzeit, in der er kaum Konkurrenz im Londoner Kulturleben ausgesetzt war.

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Unterhaltung für ein patriotisch-frommes Publikum Auch ein Grund mag darin gelegen haben, dass Händel mit Semele (1744) und Hercules (1745) weltliche Stoffe «after the manner of an oratorio» verarbeitete, was wiederum Teile seines neuerschlossenen Publikums ebenso in Aufregung versetzte wie die Tatsache, dass er im Messiah (1742) an die Grenzen des Zu­

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läs­sigen gegangen war: Neutestamentliche Texte, die Teil des anglikanischen Gottesdiensts waren, durften nicht ausserhalb der Kirche verlesen werden. Denn nicht nur patriotisch, auch fromm war Händels neues Zielpublikum. Die Praxis, Oratorien zwar im Theater, aber ohne Handlung aufzuführen, war wohl eine pragmatische Gratwanderung, dieser Tatsache Rechnung zu tragen: Musiktheater in der Kirche schien gleichermassen verpönt, wie biblische Stoffe in Opern-Art zu zeigen, obwohl bereits die sofort nach Händels Ableben er­ schienene erste Biografie anmerkte, die Stoffe wären eigentlich dazu geeignet, «daß sie sowol agiret, als gesungen und gespielet würden». Es ist nicht auszu­ schliessen, dass nach 1750 eine szenische Produktion – wie sie die allerersten, nicht von Händel verantworteten privaten Aufführungen 1731/32 nämlich noch aufwiesen – auch geduldet worden wäre. Vielleicht kam es Händel durch­ aus entgegen, durch den Wegfall der Bühnenproduktion ein geringeres wirt­ schaftliches Risiko einzugehen. Die biblischen Stoffe selbst vereinten Patriotismus und Andacht: England identifizierte sich im 18. Jahrhundert mit dem Volk Israel, dessen auserwählte Rolle es auf sich übertragen sah. Gerade in einem Land, wo Religion staats­ kirchlich organisiert war, liess sich darum manches Oratorium als politische Parabel verstehen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dies gerade Belshazzar aus­ nahmsweise zum Nachteil gereichte. Denn während Händel gemeinhin die politischen Andeutungen kalkuliert vage liess, um Parteigänger aller Lager an­ sprechen zu können, drängte sich in Belshazzar vermutlich eine bestimmte Lesart auf. Die Geschichte vom fremdbeherrschten Volk Israel einerseits, den Fragen um dynastisch (Belshazzar) versus göttlich bestimmte (Cyrus) Herr­ schaft andererseits hatte zu deutliche Parallelen in der Zeitgeschichte. Weil das englische Parlament 1701 im sogenannten Act of Settlement fest­ gelegt hatte, nur protestantische Thronfolger anzuerkennen, wurde das unter­ dessen mit Schottland vereinigte britische Königreich seit 1714 von Herrschern aus dem Haus Hannover regiert. Die sogenannten «Jakobiten», zu denen der Belshazzar-Textdichter Jennens tatsächlich gehörte, erachteten hingegen die katholischen, im französischen Exil lebenden Stuarts als rechtmässige Thron­ folger. Dass wenige Monate nach der Uraufführung des Oratoriums der jün­gere dieser Stuart-Thronprätendenten über den Ärmelkanal setzte und eine (letztlich

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erfolglose) Revolte anzettelte, liess Belshazzar – wo Cyrus seine Perser durch den Euphrat führt! – endgültig in politisch unpopulärem Lichte erscheinen. Händel reagierte im folgenden Jahr mit dem unmissverständlich patriotischen und königstreuen Occasional Oratorio, das weder biblische Texte noch eigent­ liche Handlung aufweist, bevor er mit Judas Maccabaeus die Reihe seiner Bibel­ oratorien fortsetzte.

Erhabenes Hör-Theater Das Alte Testament bot dabei nicht nur Möglichkeiten nationalistisch-religiöser Identifikation. Es galt damals zugleich in Stil und Stoff als Musterbeispiel eines ästhetischen Wirkungsparadigmas, das als «Erhabenheit» die Debatten des 18. Jahrhunderts beherrschte. Als «grossartig und ungewöhnlich» beschreibt der Librettist Charles Jennens das Sujet des gerade entstehenden Belshazzar im September 1744 gegenüber dem Komponisten. Damit nennt er die Schlüssel­ wörter dessen, was als «erhaben» (englisch «sublime») gilt. «Ungewöhnlichkeit vereint mit Grösse» bilde dessen Grundlage gemäss einer einflussreichen Arti­ kelserie, die 1712 in der Zeitschrift «The Spectator» erschienen war. Den dort folgenden, Schrecken und Wohlgefallen vermischenden Beispielen brausender Ozeane oder bestirnter Himmel liesse sich Händels auf grösstmögliche Wirkung berechnete Musik schlüssig anfügen. Als Mitte des Jahrhunderts auch die Musik ins Blickfeld der Erhabenheits­ debatten gerät, sind es u.a. Eigenschaften wie «masslose Tongewalt» und «das Geschrei der Massen», die als musikalisch «erhaben» gelten. Händel bedient beides planvoll, wobei da an den vielstimmigen Orchestersatz gedacht werden kann, dort an die Chöre, die in Belshazzar zudem drei Völker darstellen – was wiederum der musikalischen Darstellung besser zugänglich scheint als der sze­ nischen. Nicht zufällig betont die erwähnte Artikelserie übrigens die Wichtigkeit der «Einbildungskraft» bei der Entstehung erhabener Empfindungen. Der Modus, dramatische Stoffe in überwältigender musikalischer Gestalt, aber ohne sichtbare Bühnenhandlung zu vergegenwärtigen, fügt sich gut in diese Über­ legungen. Nicht zufällig waren die Textbücher, die teils ausführliche Szenenan­ weisungen enthielten, stets vorab für einen Schilling zu erwerben.

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«Erhabenheit» wird überdies als Gegenfigur zu stilistisch abgerundeter, gemä­ ssigter Schönheit in Anschlag gebracht, wie man sie bei Händels italienischen Konkurrenten zu finden glaubt. Händels eigentümliche Synthese aus Gattungen und Stilen, aus Bühne und Konzert schien den Zeitgenossen auch insofern ein Vorzug zu sein. So fasste Newburgh Hamilton, der Textdichter von Händels Samson (1743), die nunmehr etablierte Gattung wie folgt zusammen: «Mr Handel hat hier erfolgreich Oratorien eingeführt, musikalische Dramen, deren Stoff biblisch sein muss, und in welchen die Feierlichkeit von Kirchenmusik angenehm vereint wird mit den gefälligsten Melodien der Opernbühne.» Dass es gerade «Mr Handel» war, der diese Mischung aus feierlich-erhe­ bender Kirchenmusik und wohlgefälligem Bühnengesang in London eingeführt hatte, war vielleicht der wichtigste Aspekt für Händels Erfolg. War er noch im Umfeld der Oper ein relativ austauschbarer Komponist, so blieb das englische Oratorium mit Händel als «Marke» untrennbar verbunden. Spätestens ab 1747 verfügte er über ein ausreichend grosses und bekanntes Repertoire an Oratorien, um Fasten­zeit-Zyklen im offenen Kartenverkauf profitabel durchführen zu kön­ nen. Von adliger Protektion weitgehend unabhängig, konnte Händel im letzten Lebensjahrzehnt jährlich rund 1000 £ in seine festverzinslichen Anlage-Fonds einbezahlen. Während er dank diesen Erträgen ein wohlhabendes Leben führte, sicherten die Werke seinen Nachruhm: Oratorien, deren eigentlich merkwürdig zu­sam­mengesetzte Qualität uns heute so selbstverständlich vorkommt und die vielleicht nur Händel mit seiner eigentümlichen Mischung aus Welt­läufig­keit, unerschrockenem Tatendrang, stilistischer Vielseitigkeit, dramatischem Ge­ schick und unternehmerischer Vorsicht «erfinden» konnte.

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DIE GÖTTER BABYLONS Jede grössere Stadt Babyloniens besass ein grosses Turmbauwerk, eine Stufen­ pyra­mide, auf deren Spitze sich jeweils ein Heiligtum befand. Das war ein Ver­ ehrungs­ort für eine Gottheit. Man hat später gemutmasst, dass dort auch astro­ nomische Beobachtungen angestellt wurden, beweisbar ist das aber nicht. Ne­ben diesen Türmen hatten die Götter noch zu ebener Erde einen eigentlichen Wohn­tempel, in dem sie mit ihren Familien – die Götter waren als Familien auf­ gebaut – lebten. Die Götter stiegen die Treppen von den Türmen herab zu den Wohnstätten der Menschen. In welcher Gestalt? Als Priester? Nein. Als Figuren? Das ist durchaus denkbar, denn wir wissen, dass die Götterfiguren nicht grösser als durchschnittliche Menschen waren, weil man sie tragen musste. Es war üblich, Götterreisen zu unternehmen, und es war üblich Prozessionen durchzuführen, sodass der normale Babylonier, der ja nicht in das Allerheiligste eines Tempels durfte, die Gelegenheit hatte, seinen Gott zu betrachten. Zum grossen Neujahrs­ fest in Babylon, das das bedeutendste religiöse Fest war, kamen sämtliche Götter aus den anderen Städten des Landes angereist, um im Tempel des Reichsgotts Marduk Wohnstatt zu nehmen. War das wie ein Theater? Das war ein richtig grosse, bunte Veranstaltung. Die dauerte elf Tage, und ein Teil davon war eine grosse Prozession, an der die Bevölkerung teilnahm.

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Der Assyriologe Dr. Joachim Marzahn in einem Gespräch mit Alexander Kluge

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DER TOD IRAKISCHER TYRANNEN Schneller als erwartet ist der zum Tod verurteilte irakische Ex-Diktator Saddam Hussein am Samstag gehängt worden. Der 69-jährige Ex-Diktator wurde im Morgengrauen in einem früher von seinem Geheimdienst genutzten Gebäude in einem schiitischen Stadtteil Bagdads zum Galgen geführt. Knapp zwei Mo­ nate zuvor war er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode ver­ urteilt worden. Neue Zürcher Zeitung

Wer durch die Strassen Bagdads kam, der konnte Saddam Hussein in allen seinen Posen besichtigen. Saddam betend in der Moschee, Saddam als Staats­ führer mit Schlips und Anzug, Saddam als Stammesführer mit der kefiyah auf dem Kopf, Saddam als volksnaher Held mit Tirolerhut. Saddams Bühne war eine Schlachtbank, auf der Hunderttausende er­schos­ sen, erdrosselt und gehängt wurden. Im April 2003 griff die US-Armee den Irak an. Saddam Husseins gewaltiger Unterdrückungsapparat brach nicht zu­sam­ men – er löste sich binnen drei Wochen in Luft auf. Ein paar gezielte, massiv geführte Schläge von aussen reichten aus, und die Terrormaschine Saddams verschwand. So überraschend das war, so wenig erstaunlich ist es. Die Iraker waren schlicht ausgelaugt. Sie waren hintergangen, betrogen, ausgebeutet und in immer neuen Krisen und Kriegen gnadenlos verheizt worden. Warum sollten sie für den sterben, der ihnen ein Leben in solcher Qual bereitet hatte? Die Erschöpfung des Volkes ist das eine. Das andere ist die restlose Plünde­ rung sämtlicher ideologischer Ressourcen des Landes. Wie ein ewig gieriges Tier hatte Saddam Hussein bis auf den Grund der reichen irakischen Geschichte nach Nahrung gesucht und sie gefressen. Er hatte Ideen, Traditionen, Passionen,

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Utopien und Glauben verschlungen, so lange, bis die innere und die äussere Landschaft des Iraks blank war wie eine Wüste. Die Denkmäler Saddams ragten daraus hervor wie ein monströses Ungeheuer. Sie hatten alle Kraft in sich aufge­ sogen und nichts zurückgegeben. Als die US-Soldaten in Bagdad ankamen, dort, wo Saddams Macht den Höhepunkt architektonischen Deliriums erreicht hatte, stellten sie fest, dass die Zitadelle der Macht ausgehöhlt war, von innen zerfressen durch seinen eigenen Schöpfer. Sogar Saddam selbst blieb zunächst verschwunden, ganz so, als hätte er sich in einem letzten, konsequenten Akt seiner Politik selbst vernichtet, es war eine Art Selbstkannibalisierung. Als er wenige Monate nach seinem Sturz aus einem Erdloch bei Tikrit gezogen wur­ de, verdreckt und verlaust, war es, als würde ein Gespenst aus der Vergangenheit auftauchen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Gewaltsame Machtwechsel verliefen im Irak meist blutig. Nach dem Sturz des Präsidenten Qassem 1963 zeigte das irakische Fernsehen dessen mit Einschüssen oder am imdassFoyer übersäte LeicheVorstellungsabend an mehreren Abenden, um alle davon zu überzeugen, er wirklich tot war. Nach dem Sturz der irakischen Monarchie war 1958 nicht nur König Faisal II., sondern auch seine Familie samt Frauen und Kindern getötet des Opernhauses erwerben DIE ZEIT

worden. Die Leiche des besonders verhassten früheren Regenten Abdul Ilah übergaben die Putschisten dem Mob, der sie durch Bagdad schleifte und zer­ stückelte. Die Leichenteile des wenige Tage später getöteten Ministerpräsiden­ ten Nuri Said wurden wie Trophäen durch die Hauptstadt getragen. Ein Begräb­ nis wurde diesen Getöteten ebenso verweigert wie später den meisten Opfern des Saddam-Regimes, die oft in Massengräbern verscharrt wurden. Frankfurter Allgemeine Zeitung

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DER GROSSE AUFBRUCH UND DIE FOLGEN In Georg Friedrich Händels Oratorium «Belshazzar» stehen sich Juden und Babylonier gegenüber und tragen einen uralten Konflikt aus – zwischen dem polytheistischen und dem monotheistischen Glauben. Er prägt den Blick auf die Welt bis heute Thomas Assheuer

Es gibt Auseinandersetzungen, die gehen so tief und sind so unversöhnlich, dass niemand bemerkt, wie alt die Ideen sind, die in ihnen aufeinanderprallen. Fast immer geht es in diesen Konflikten um Moral, zum Beispiel dann, wenn Men­ schen aus anderen Weltteilen nach Europa kommen. Entweder, weil sie Opfer eines Bürgerkriegs sind. Oder einfach deshalb, weil sie sich im Norden ein besseres Leben versprechen. Die eine Position, vermutlich die einer Minderheit, ist kristallklar und lautet: Wir sind alle Menschenkinder. Wir müssen uns den Planeten teilen, denn schliesslich war es reiner Zufall, in welchem Herrgottswinkel wir geboren wur­ den. Alle Menschen teilen dasselbe Schicksal, alle verdienen denselben Schutz. Jeder ist ein Jemand, niemand ein Niemand. Und auch wenn wir unsere Heimat lieben und Verpflichtungen gegenüber uns selbst haben, so müssen die Ansprü­ che der Moral hinter den Ansprüchen unserer eigenen Kultur zurückstehen. Kriegsflüchtlinge müssen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten aufnehmen, und bei Menschen, die aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen, müssen wir praktikable Regelungen finden. Auf jeden Fall wäre es besser gewesen, wir hät­ ten uns schon vorher moralisch und nicht bloss ökonomisch verhalten. Waren wir es nicht, die afrikanische Märkte mit Waren überschwemmten, gegen die niemand konkurrieren konnte?

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Und die Gegenposition? Sie sagt ganz einfach: Träumt weiter! Es gibt keine Moral, die für alle Menschen gleichermassen gültig ist. So eine Vorstellung überfordert uns, und jeder ist seines Glückes Schmied. Klar, es gibt Hilfspflich­ ten gegenüber Fremden, das ist unbestritten. Doch die Fremden sind uns nun einmal fremd, und ihre Kulturen weitgehend unverständlich. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen: In Wahrheit sind die Völker radikal verschieden. Die Menschheit gibt es nicht, das ist eine Fiktion. Gleichheit? Man sieht doch, wie unterschiedlich alle sind! Schon immer waren Mythen mächtiger als die Moral, Mythen sind voller Leben, sie sind bunt und satt, reich, prall, aufregend. Mythen sind so real wie die Macht, sie kommen aus der Tiefe des Menschlichen. Der moralische Universalismus dagegen kommt nur aus dem Kopf, deshalb ist er so blutleer und farblos. Wir dürfen unser konkretes Leben nicht einer abstrakten Moral opfern. Das Leben sei ein Fest! Gewiss, das ist ziemlich zugespitzt, doch so ungefähr verläuft die Linie, an der die Geister sich scheiden. Die universalistische Moral steht gegen eine parti­ kulare Moral – eine, die ihre Gültigkeit nur für die eigene Gemeinschaft be­ hauptet und die das natürliche Macht- und Eigeninteresse des Menschen betont. Dieser Konflikt, und hier ist das pathetische Wort einmal angebracht, besitzt eine abendländische Dimension, denn er verweist auf eine Gründungsszene der Zi­ vilisation: auf die Auseinander­setzung zwischen Mythos und Monotheismus – zwischen Juden und Christen auf der einen und polytheistischen Griechen, Ägyptern und Römern auf der anderen Seite. Dieser Weltbildstreit findet seinen Widerhall auch in Händels Oratorium Belshazzar, nein: er ist deren zentrales Thema. Mit der Gründungsszene ist natürlich der Auszug der Juden aus Ägyp­ ten gemeint, ihre Befreiung von Knechtschaft und Ausbeutung. Der Ägyptolo­ge Jan Assmann nennt das Buch Exodus «die grandioseste und folgenreichste Ge­ schichte, die sich Menschen jemals erzählt haben»; die «narrative Inszenie­r ung» einer «gottgeschützten Widerstandsbewegung» sei eine «Wende der Mensch­ heit», ein «evolutionärer Einschnitt ersten Ranges». Assmann hat recht. Tatsächlich war der Gründungsakt des jüdischen Monotheis­mus eine Revolution. Nicht länger akzeptierten die Juden die angeb­ liche Natürlichkeit von Sklaverei und Unterdrückung – Gott habe vielmehr alle Menschen gleich ge­schaffen und sei mit allen solidarisch. Die Juden vertraten

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also keine partikulare Moral, sondern eine allgemeine. Entsprechend verlange das göttliche Gesetz, dass nicht nur die Juden befreit werden, sondern alle Menschen, die in Knechtschaft leben. Wer einen Bund mit Gott schliesst, dem stehe der Weg ins gelobte Land offen, ins Land des Friedens und der Freiheit. In den Ohren der damaligen Herrscher waren solche Sätze skandalös. Denn während die mythischen Götter mit den Königen im Bunde waren, so schlug sich der Gott der Juden auf die Seite der Sklaven. Völlig zu recht sah man dar­ in einen Angriff auf die Stammesreligionen mit ihrem kosmologischen Weltbild. In den alten Kosmos-Lehren ging der Weltenschöpfer vollständig in seinem Werk auf und stellte keine weiteren Ansprüche an die Menschen – ausser, dass sie ihr Leben gehorsam am Lauf der Sterne ausrichten sollten. Ganz anders die Exodus-­ Erzählung. Sie trennt den Kosmos in das Weltliche und das Transzendente. Das Gött­liche ist nicht mehr unmittelbarer Teil der Welt und kann durch magische Praktiken nicht mehr direkt beeinflusst werden – fortan ist ein Baum nur noch ein Baum, und kein Waldgott versteckt sich darin, der ein Opfer verlangt. Mit einem Wort: Das mono­theistische Gesetz steht noch über der Natur, selbst die Sterne müssen vor ihm zittern. Und bei den Christen leuchtete der Stern von Bethlehem heller als alle anderen Sterne. Heute haben wir vergessen, wie provozierend die Exodus-Erzählung für die antiken Sklavenhaltergesellschaften war. Mit aller Macht bricht die unbe­ dingte Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit in die alten Reiche ein; sie erschüttert die bestehenden Ordnungen und droht den Belshazzars mit Umsturz und Machtverlust. «Der Herrscher», schreibt der Religionssoziologe Hans Joas, «kann nicht mehr gottgleich sein (…). Von nun an kann er gezwun­ gen werden, sich vor den göttlichen Pos­tulaten zu rechtfertigen.» Kurzum, jede Ordnung ist gemacht, man kann sie ver­ändern, sogar Revolutionen sind denk­ bar. Mit dieser Überzeugung attackierte der Monotheismus überdies den mythi­ schen Glauben, wonach Krieg und Leid so natürlich sind wie Sommer und Winter. Nein, antwortete er: Eine überzeitliche Tragik existiert nicht. Alle Tra­ gik ist menschengemacht. Die jüdischen Schriftgelehrten ahnten natürlich, mit welcher Skepsis die Menschen diese Botschaft aufnehmen würden. Befreiung war schön und gut. Aber Befreiung als Unterwerfung unter ein unbedingtes Gesetz? Befreiung als

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Bundesschluss mit Gott? Jedenfalls stand Moses klar vor Augen, wie hart der Bruch mit der Gewohnheit sein würde, um frei zu sein für eine Wahrheit, die man nicht sehen konnte. Sein Bruder Aaron zum Beispiel verlor die Geduld, er verstiess gegen das Gesetz und wollte das Leben in seiner ganzen Fülle genies­ sen: beim Tanz ums Goldene Kalb, als Glück im Hier und Jetzt, so intensiv wie ein Fest am Hof in Babylon. Auch für Belshazzar stehen die Götter auf der Seite des Lebens, während das karge Gesetz, auf das sich seine Mutter Nitocris beruft, auf Seiten von Verzicht und Versagung zu stehen scheint. Damit greift Händel einen Verdacht auf, der seit jeher gegen die Moral ins Feld geführt wird: Der Glaube an den Einen Gott entfernt uns von der Fülle des Daseins, vom rauschenden Fest des gelebten Lebens. Der andere Vorwurf, den Händel zumindest andeutet, lautet, dass Moral und Gottesglauben den Selbstbehauptungswillen des Volkes schwächen. Wo war denn ihr Gott, höhnt Belshazzar, als die Juden in Gefangenschaft gerieten? Dass die religiöse Moral den Kampfeswillen untergräbt und die Unterscheidung von Freund und Feind aufweicht, mussten sich auch die Christen nach der Zerstörung Roms anhören. Ihre Friedensbotschaft, das ganze Gerede von «Fein­ desliebe», habe den römischen Truppen gleichsam das Genick gebrochen, wo­ raufhin Augustinus die Römer zurück fragte: Wo waren denn Eure Götter, als ihr sie brauchtet? Vielleicht gibt es sie ja gar nicht! Und auch diese Kritik war immer wieder zu hören: So grossartig der Monotheismus auch sein mag, seine Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion machte die Menschen nicht friedlicher, sondern brachte eine ganz neue, bis dato unbekannte Form der Gewalt in die Welt, die viel grausamer gewesen sei als die übliche Gewalt in den grossen Reichen. Die religiöse Moral kämpfte eben nicht bloss für weltliche Interessen, nein, sie kämpfte in Gottes Namen. Und darum zieht sie eine Blut­ spur durch die Ge­schichte. Man sieht, immer wieder sitzt der Monotheismus auf der Anklagebank, auch bei den konservativen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Mono­ theismus, behaupteten sie, sei politisiert worden und habe die Weichen in die Moderne falsch ge­stellt, noch die Französische Revolution gehe auf sein Konto. Mit Moses und Jesus, so hiesse das, beginnt die sündhafte Entfernung von den mythischen Ursprungsmächten, der Exodus aus der «Tagesordnung des Ewigen»

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(Botho Strauss). Und wohin er führte? Er führte in die Sackgasse einer freud­ losen Aufklärung und eines sinnlosen Fortschritts. Wie heiter, wie herrlich bunt und tiefgründig war dagegen die polytheistische Götterwelt! Die antiken My­ then, so heisst es oft, kannten auch noch die Tragik des Lebens, die Moderne kennt sie nicht mehr. In Wahrheit aber lasse sich das Tragi­sche nicht besiegen, und je heftiger man es mit Moral bekämpfe, desto gewaltsamer kehre es zurück. Ist die moderne Gesellschaft nicht eine einzige «Wiederkehr der Tragik» – die Wiederkehr verdrängter Gewalt? Solche mythischen Wahrheiten («Gewalt ist ewig!») hätte auch Belshazzar seiner sanftmütigen Mutter Nitocris entgegenhalten können. In seinem mythi­ schen Weltbild ist es nicht vorgesehen, dass die Welt und die Menschen sich ändern können; alles bleibt so, wie es ist, es gibt nur den ewigen Kreislauf der Macht. Ganz anders bei Händel. Hier ist von Umkehr und Wandlung die Rede, zum Beispiel wenn der Chor singt, dass die «Erd’ ein Himmelreich» werde. Nur Belshazzar bleibt eine mythische Figur, auch wenn die Königsmutter bis zuletzt auf die innere Wandlung ihres Sohnes hofft, auf den Augenblick der Reue: «Kehre in dich, schau zu Gott empor.» Nitocris hofft vergeblich, denn ihrem (betrunkenen) Sohn gelingt nicht, was die Religion ver­langt – die Verwandlung des Menschentiers in ein humanes Wesen. Daniel spricht es aus, hart ist sein Urteil: «Kann der schwarze Äthiopier seine Hautfarbe ändern, der Leopard sein Fleckmuster ablegen?» Händel und sein Librettist Charles Jennens atmeten den Geist der Früh­ aufklärung; sie hofften, dass der Glaube an den Einen Gott der Welt Frieden bringen und die Mächtigen in die Schranken weisen werde. Zudem hatten sie eine andere Vorstellung vom Königtum. Der Herrscher sollte kein Gewalt­ mensch sein, sondern einer, der das monotheistische Gesetz in seinem Herzen trägt – also jemand, für den das Wesen des Politischen nicht in Feindschaft und Krieg besteht, sondern in der Beförde­r ung von Frieden und Ausgleich. Händel besingt etwas ganz Unwahrscheinliches – er bricht mit der Natur der Macht, mit ihrem Gewaltcharakter. «Wär’ jeder Thron dem deinen gleich,  dann wär’ die Erd ein Himmelreich. Der Streit der Völker hätt’ ein End’.» Der Umstand, dass diese alten theologischen Gedanken immer noch ak­ tuell sind, ist grossartig. Doch das Erscheinungsbild der Religion hat sich ver­

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ändert. Sie ist zwar nicht, wie ihr prophezeit wurde, einfach verschwunden, und nicht zu Unrecht sprechen viele von einem postsäkularen Zeitalter. Doch der tausendfache Kindesmissbrauch lässt die katholische Kirche in einem teuflisch düsteren Licht erscheinen, und der ter­roristische Islam scheint jenen Recht zu geben, die der Religion vorwerfen, sie habe das Blutopfer in Wirklichkeit gar nicht überwunden. Und hinzu kommt: Bei Händel wurde die universalistische Moral von der Autorität Gottes beglaubigt und ermutigt. Wir hingegen beglau­ bigen sie nur noch durch unsere Überzeugungen, durch gute Gründe. Wenn nicht alles täuscht, dann ist die von Händel gefeierte Menschheits­ moral der­­zeit so verloren wie seit langem nicht mehr. Stattdessen regieren die modernen Bel­shazzars mit unfassbarer Rücksichtslosigkeit, all die Trumps, Putins und Bolsonaros. Sie betrachten die Welt wie einst der Mythos: als eine Kampf­ arena, in der es allein um radikale Interessen geht. Ihre babylonische Macht ver­lieren diese Belshazzars derzeit nur an einem Ort: in der Oper.

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I

m ersten Jahr Belschazzars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum; auf seinem Lager hatte er eine Vision. Daraufhin schrieb er den Traum auf. Der Be­ginn seiner Worte ist folgender. Daniel sagte: Ich schaute in meiner Vision während der Nacht und siehe: Die vier Winde des Himmels wühlten das grosse Meer auf. Dann stiegen aus dem Meer vier grosse Tiere herauf; jedes hatte eine andere Gestalt. Das erste war einem Löwen ähnlich, hatte jedoch Adlerflügel. Während ich es betrachtete, wurden ihm die Flügel ausgerissen; es wurde vom Boden emporgehoben und wie ein Mensch auf zwei Füsse gestellt und es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben. Dann erschien ein zweites Tier; es glich einem Bären und war nach einer Seite hin aufgerichtet. Es hielt drei Rippen zwischen den Zähnen in seinem Maul und man ermunterte es: Auf, friss noch viel mehr Fleisch! Danach sah ich ein anderes Tier; es glich einem Panther, hatte aber auf dem Rücken vier Flügel, wie die Flügel eines Vogels; auch hatte das Tier vier Köpfe; ihm wurde die Macht eines Herrschers verliehen. Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte grosse Zähne aus Eisen. Es frass und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füssen. Daniel 7, 1-7


BELSHAZZAR GEORG FRIEDRICH HÄNDEL (1685-1759) Oratorium Text von Charles Jennens Uraufführung: 27. März 1745, King’s Theatre, London Fassung Opernhaus Zürich, 2019

Personen

Belshazzar, Kronprinz von Babylon Nitocris, Belshazzars Mutter Cyrus, persischer Prinz

Tenor

Sopran

Mezzosopran

Daniel, ein jüdischer Prophet

Alt

Gobrias, ein babylonischer Edelmann Chor der Babylonier Chor der Juden Chor der Perser und Meder

Bass


ACT 1

1. AKT

SCENE 1

1. SZENE

The Palace in Babylon.

Der Palast in Babylon.

NITOCRIS

NITOCRIS

Vain, fluctuating state of human empire!

The victor state, upon her ruins rais’d, Runs the same shadowy round of fancied greatness, Meets the same certain end.

Trügerisches, unbeständiges Los menschlicher Herrschaft! Erst klein und schwach, erhebt sie kaum das Haupt, streckt kaum die hilflosen Kinderarme aus und erfleht Schutz von ihren mächtigen Nachbarstaaten, die diesen zum eigenen Nachteil gewähren. Bald strebt sie Macht und Reichtum an und unterdrückt jeden Widerstand. In voller Reife ergreift sie alles in Reichweite, über­schreitet alle Grenzen, raubt, verwüstet und vernichtet die verängstigte Welt. Zuletzt, alt geworden und zu Riesengrösse aufgebläht, ernährt das Ungeheuer in den eigenen Eingeweiden Stolz, Völlerei, Bestechlichkeit, Niedertracht, Streitigkeit – fürchterliche Krankheiten eines Staates, die ihm die Lebenskraft rauben. Aus seiner Schwäche zieht eine andere aufkommen­ de Macht ihren Vorteil (ungleicher Kampf!) und befällt mit wiederholten Schlägen seinen gebrechli­ chen, greisen Stamm: Es wankt und schwankt, um – weh! – nie mehr aufzustehen! Der siegreiche Staat, auf dessen Ruinen errichtet, durchläuft denselben Kreis erträumter Grösse und findet ein ebensolches Ende.

NITOCRIS

NITOCRIS

Thou, God most high, and Thou alone, unchang’d for ever dost remain: Through boundless space extends thy throne, through all eternity thy reign.

Du allerhöchster Gott, Du allein bleibst ewig unverändert: Im unendlichen Raum steht Dein Thron, in Ewigkeit dauert Deine Herrschaft.

As nothing in thy sight the reptile man appears, howe’er imagin’d great. Who can impair thy might? In Heav’n or earth, who dares dispute thy pow’r? – Thy will is fate.

In Deinen Augen erscheint Dir der Mensch wie ein Nichts, der gleich einem Reptil kriecht, egal wie gross er sich wähnt. Wer reicht an Deine Macht heran? Wer im Himmel und auf Erden wagt, Deine Macht zu bestreiten? – Dein Wille ist das Schicksal.

Thou, God most high, and Thou alone, unchang’d for ever dost remain:

Du allerhöchster Gott, Du allein bleibst ewig unverändert:

NO. 2 RECIT. ACCOMPAGNATO

First, small and weak, it scarcely rears its head, scarce stretching out its helpless infant arms, implores protection of its neighbour states, who nurse it to their hurt. Anon, it strives for pow’r and wealth, and spurns at opposition. Arriv’d to full maturity, it grasps at all within its reach, o’erleaps all bounds, robs, ravages and wastes the frighted world. At length, grown old and swell’d to bulk enor­ mous, the monster in its proper bowels feeds Pride, luxury, corruption, perfidy, contention, fell diseases of a state, that prey upon her vitals. Of her weakness some other rising pow’r advantage takes, (unequal match!) plies with repeated strokes her infirm aged trunk: she nods, she totters, She falls, alas, never to rise again!

NO. 3 AIR

NR. 2 ACCOMPAGNATO

NR. 3 ARIE


Through boundless space extends thy throne, through all eternity thy reign.

Im unendlichen Raum steht Dein Thron, in Ewigkeit dauert Deine Herrschaft.

NO. 3X RECITATIVE

NR. 3X REZITATIV

NITOCRIS

NITOCRIS

The fate of Babylon, I fear, is nigh. I have sought to avert it; small my skill, had not the hebrew prophet with his high counsel supported my weak steps.

Das Ende Babylons, fürchte ich, ist besiegelt. Ich habe versucht, es abzuwenden; gering mein Können, hätte nicht der hebräische Seher meine schwachen Schritte durch seinen erhabenen Rat unterstützt.

Enter Daniel

Daniel tritt ein.

Say, is there aught can save this sinking state?

Sag, gibt es irgendetwas, das diesen Staat vor dem Untergang retten könnte?

DANIEL

DANIEL

Great Queen, ’tis not in man to pry into the counsels of omniscience. But you have done your duty. I mine. No more remains, but to submit to what God, only wise and just, ordains.

Grosse Königin, es liegt nicht im Wesen des Menschen, die Ratschläge des Allwissenden zu hinterfragen. Du aber hast Deine Pflicht getan. Ich meine, es bleibt nichts anderes, als sich den Bestimmungen zu beugen, die Gott, der einzig weise und gerechte, uns auferlegt.

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DANIEL

Lament not thus, O Queen, in vain! Virtue’s part is to resign all things to the will divine, nor of its just decrees complain.

Klage nicht so, O Königin, vergeblich! Die Rolle der Tugend besteht darin, alles dem göttlichen Willen zu unterwerfen, und nicht über seine gerechten Weisungen zu klagen.

The sins of Babylon urge on her fate: but virtue still this comfort gives; on earth she finds a safe retreat, or bless’d in heav’n forever lives.

Die Sünden Babylons beschleunigen ihr Schicksal, doch die Tugend spendet noch diesen Trost. Auf Erden findet sie eine sichere Zuflucht, oder lebt selig im Himmel in Ewigkeit.

Lament not thus, O Queen, in vain! Virtue’s part is to resign all things to the will divine, or of its just decrees complain.

Klage nicht so, o Königin, umsonst! Die Rolle der Tugend besteht darin, alles dem göttlichen Willen zu unterwerfen, oder über seine gerechten Weisungen zu klagen.

SCENE 2

2. SZENE

The camp of Cyrus before Babylon. A view of the city, with the River Euphrates running through it.

Das Lager des Cyrus vor Babylon. Eine Ansicht der Stadt mit dem hindurchfliessenden Euphrat.

NO. 4 CHORUS

NR. 4 CHOR

BABYLONIANS Upon the walls, deriding Cyrus, as engaged in an impractical undertaking.

BABYLONIER Auf den Stadtmauern, Cyrus verspottend wegen seiner unnützen Unternehmung.

Behold, by Persia’s hero made in ample form, the strong blockade!

Seht, wie Persiens Held die Stadt weiträumig mit einer starken Mauer umstellt!


Programmheft

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Oratorium von Georg Friedrich Händel (1685-1759) Text von Charles Jennens

Premiere am 3. Nov 2019, Spielzeit 2019 /20

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Claus Spahn

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung, die Gespräche mit Sebastian Baumgarten und Laurence Cummings, sowie die Essays von Felix Michel und Thomas Assheuer sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch. – Die Texte «Mythos Babylon» und «Stadt der Sünde» sind zitiert aus dem Katalog zur Ausstellung «Babylon Mythos», Staatliche Museen zu Berlin, Hirmer-Verlag 2008. – Das Gesprächszitat über «die Götter von Babylon» entstammt der DCTP.TV-Sendung «Es geschah in Babylon», www.dctp.tv – Das Bibelzitat aus dem siebten Buch Daniel zitiert nach www.bibelserver.com Bildnachweis: Herwig Prammer fotografierte die Klavierhauptprobe am 25. Oktober 2019. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach­träglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.

Studio Geissbühler Fineprint AG



Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Evelyn und Herbert Axelrod

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

PROJEKTSPONSOREN Baugarten Stiftung René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Kühne-Stiftung

Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Swiss Life Swiss Re Zürcher Kantonalbank

GÖNNER Accenture AG Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Ars Rhenia Stiftung Familie Thomas Bär Bergos Berenberg AG Beyer Chronometrie AG Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Fritz Gerber Stiftung Gübelin Jewellery Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG

LANDIS & GYR STIFTUNG Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Stiftung Lyra zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Die Mobiliar Fondation Les Mûrons Mutschler Ventures AG Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Elisabeth Stüdli Stiftung Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung

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