Madama Butterfly

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MADAMA BUTTERFLY

GIACOMO PUCCINI


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MADAMA BUTTERFLY GIACOMO PUCCINI (1858-1924)




Svetlana Aksenova, Saimir Pirgu Spielzeit 2017/18



HANDLUNG Erster Akt Der amerikanische Marineleutnant Pinkerton ist im japanischen Nagasaki statio­ niert. Goro, ein Heiratsvermittler, zeigt Pinkerton das Haus, das dieser sich für die Dauer seines Aufenthalts gemietet hat. Hier will Pinkerton die junge Geisha Cio-Cio-San heiraten und mit ihr zusammenleben. Der Ehevertrag gilt solange, bis er ihn auflöst. In Anwesenheit des amerikanischen Konsuls Sharpless schwärmt Pinkerton von seiner Freiheit, überall auf der Welt tun zu können, was ihm beliebt. Sharpless steht dieser unbedachten Haltung und der arrangierten Ehe mit Skepsis gegenüber. Er warnt Pinkerton davor, dem Mädchen das Herz zu brechen. Doch dieser ignoriert Sharpless’ Bedenken und stösst mit ihm auf den Tag an, an dem er in Amerika eine «richtige» Braut heiraten wird. Cio-Cio-San, genannt Butterfly, trifft mit ihren Freundinnen ein. Sie ist fünfzehn Jahre alt und stammt aus einer einst wohlhabenden Familie. Seit dem Tod ihres Vaters ist sie gezwungen, als Geisha zu arbeiten. Pinkerton ist von dem Mädchen fasziniert. Der kaiserliche Kommissar, ein Standesbeamter und Butterflys Verwandt­ schaft treffen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten ein. Butterfly zeigt Pinkerton ein paar Dinge, die sie mitgebracht hat. Darunter befindet sich auch ein Dolch, mit dem sich ihr Vater einst das Leben genommen hat. Zudem vertraut sie Pinker­ ton an, dass sie heimlich zum christlichen Glauben übergetreten sei. Die Trau­ ung der beiden wird vollzogen. Mitten in die Feierlichkeiten platzt der wütende Onkel Bonze. Er hat von Butterflys Glaubensübertritt erfahren und verflucht sie. Pinkerton jagt ihn aus dem Haus. Die empörte Verwandtschaft verstösst das Mädchen und verlässt das Haus. Pinkerton tröstet Butterfly. Allmählich fasst sie Vertrauen zu ihm. Während die Nacht hereinbricht, werden beide vom Gefühl der Liebe überwältigt.

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Zweiter Akt Drei Jahre später. Butterfly wartet auf Pinkerton, der nach Amerika zurückge­ kehrt ist. Das Geld ist knapp geworden. Butterfly vertraut fest auf seine Rück­ kehr, ihre Dienerin Suzuki zweifelt aber daran. Der Konsul Sharpless kommt mit einem Brief von Pinkerton zu Besuch, doch bevor er ihn vorlesen kann, werden sie von Goro gestört. Er will Butter­ fly mit dem reichen Fürsten Yamadori verkuppeln. Doch Butterfly erklärt, dass ihre Ehe mit einem Amerikaner nicht so leicht gelöst werden könne und weist Yamadori von sich. Pinkerton hat Sharpless in seinem Brief gebeten, Butterfly schonend beizubringen, dass er nicht mehr zu ihr zurückkehren werde. Doch es gelingt Sharpless nicht, diese Nachricht zu übermitteln. Stattdessen fragt er Butterfly, was sie tun würde, wenn Pinkerton nie mehr zurückkehrte. Sie weiss, dass sie dann nur eine Wahl hätte: den Tod. Das Schlimmste befürchtend, ent­ hüllt sie Sharpless, dass aus ihrer Ehe mit Pinkerton ein Sohn hervorgegangen ist. Sharpless geht, tief bewegt, und will Pinkerton davon in Kenntnis setzen. Vom Hafen dröhnt ein Kanonenschuss. Butterfly erkennt das Schiff Pinker­ tons. Sie weint und lacht gleichzeitig vor Freude über die bevorstehende Rück­ kehr. Gemeinsam mit Suzuki schmückt sie das Haus mit Blumen. Wartend durch­ wacht sie die Nacht. In der Morgendämmerung legt sich Butterfly erschöpft schlafen. In der Zwischenzeit kommen Sharpless und Pinkerton im Haus an. Suzuki erfährt, dass Pinkerton in Amerika «richtig» geheiratet hat und dass er gemeinsam mit seiner Frau hier ist und entschieden hat, das Kind – von dessen Existenz er unter­ dessen erfahren hat – nach Amerika mitzunehmen. Pinkerton bringt es nicht übers Herz, Butterfly zu begegnen. Während Suzuki mit Pinkertons neuer Frau Kate spricht, kommt Butterfly in den Raum. Sie erkennt ihre ausweglose Situation. Für das Wohl ihres Kindes entscheidet sie, Pinkertons Willen zu gehorchen. Unter Qualen verabschiedet sie sich von ihrem Sohn. Dann nimmt sie sich das Leben.

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Svetlana Aksenova, Chor Spielzeit 2017/18


VIEL RAUM FÜR DIE DARSTELLER Ted Huffman im Gespräch über seine Inszenierung von «Madama Butterfly»

Ted Huffman, du inszenierst zum ersten Mal am Opernhaus Zürich. In den letzten Jahren hast du vermehrt an europäischen Bühnen gearbeitet, aber deine Wurzeln liegen in den USA. Wie bist du dort zum Theater gekommen? Ich habe schon als Kinderdarsteller viel Zeit im Theater verbracht. In New York, wo ich aufgewachsen bin, lernte ich die faszinierende Welt des Broadways kennen, zuerst als Zuschauer, dann auch in kleineren Rollen auf der Bühne. Als Zwölfjähriger durfte ich in einem von Luciano Pavarotti organisierten Konzert den Hirten in Puccinis Tosca singen. Und er hat den Cavara­dossi ge­sungen! – Bis dahin hatte ich keine Ahnung, wer Pavarotti war, und von Puccinis Tosca kannte ich nur die fotokopierten Seiten meiner Singstimme. Aber dieses Erlebnis hat mich so stark beeindruckt, dass ich danach anfing, regelmässig Knabenrollen an der Metro­politan Opera zu singen. Deine Inszenierungen lassen aber nicht durchblicken, dass du deine ersten Opernerfahrungen an der Met in New York gemacht hast. Mit dem pompösen Aus­stattungstheater, das dort vor zwanzig Jahren gepflegt wurde, hat deine Ästhetik gar nichts gemein … Neben den Erfahrungen auf der Opernbühne habe ich in New York auch eine ganz andere Art des szenischen Arbeitens kennengelernt. In der Freien Szene haben wir in kleineren Gruppen und mit beschränkten Mitteln soge­ nann­tes «Devised theatre» gemacht, also im Kollektiv Stücke selbst erfunden und auf die Bühne gebracht. Diese beiden ganz unterschiedlichen Arten des Theaters haben mich damals geprägt. Auf den ersten Blick stehen sie völlig

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getrennt nebeneinander. Und dennoch glaube ich, dass die Arbeit, die ich jetzt mache, gerade eine Kombination aus diesen beiden Bereichen ist. Und wie gelingt es dir, grosse tradi­tionelle Oper und die experi­mentellen Erfahrungen aus der Freien Szene mit­einander zu ver­binden? Ich finde, gutes Theater muss stark formalisiert, aber trotzdem organisch sein. In der Oper sind viele Parameter genau festgelegt. In unseren Kollek­tiv­ theater-­Produk­tionen sind wir hingegen immer von Körperlichkeit und Be­­we­gung ausgegangen. Diesen Aspekt versuche ich in meine Operninszenie­ rungen einzubeziehen und arbeite deshalb auch gerne mit Choreografen zu­sammen. Die Sängerinnen und Sänger müssen in ihrer Körperlichkeit frei werden. Nur so kann das Formalisierte auch eine Geschichte erzählen. Puccinis Madama Butterfly ist für uns Europäer eine Geschichte über zwei konträre Welten, die japanische und die amerikanische. Als Amerikaner bist du Teil der einen Welt. Verändert das deine Sichtweise auf das Werk? Ich möchte das Stück nicht aus der Sicht des Amerikaners erzählen. Mich in­te­r­essiert, wie Butterfly die Geschichte erlebt. Aus diesem Grund versuche ich, die Erzählperspektive ein wenig zu verschieben. Madama Butterfly spielt zwar in Japan, aber im ersten Akt wird zunächst einmal erzählt, wie der Marineleutnant Pinkerton als Amerikaner in Japan ankommt. Und diese Ge­­schichte ist eingebunden in den historischen Kontext des Imperialismus im 19. Jahrhundert. Ich gehe in dieser Inszenierung deshalb – wie übrigens oft in meinen Stücken – von einem leeren Raum aus, der dann zunehmend mit den Möbeln und Objekten gefüllt wird, die Pinkerton aus seiner Heimat mitbringt. Die Kolonialisierung wird gewissermassen räumlich versinnbild­ licht. Dadurch schauen wir mehr durch die Augen von Butterfly auf das Stück. Was sie wahrnimmt, ist ja vor allem die Verfremdung der Welt, in der sie bis dahin aufgewachsen ist. Pinkerton heiratet die junge Geisha Butterfly nur auf Zeit. Im zweiten Akt der Oper bleibt sie allein in einer Welt zurück, die sich der Amerika­ ner für die Dauer seines Aufenthalts eingerichtet hat …

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Butterfly glaubt auch drei Jahre nach Pinkertons Abreise noch an die Be­zie­ hung zu ihm. Und deshalb eignet sie sich die Gewohnheiten des Westens bis hin zum Kleidungsstil stark an. Man muss immer mitbedenken, dass Japan vor seiner Öffnung zum Westen hin, also bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts, ein vollkommen in sich geschlossenes gesellschaftli­ches System bildete. Als Commodore Perry in den 1850er-Jahren mit seiner Flotte von «Schwarzen Schiffen» in Japan anlegte, wurde die politische Öffnung Japans er­zwungen. Und der erste Akt von Puccinis Oper, in dem die japanischen Familienangehörigen auf­treten, in dem es um japanische Rituale, Zeremonien und Fragen des Rechts geht, zeigt für mich, dass dieser bis dahin sehr ge­schlossenen, traditionellen Kultur auch in der Oper etwas angetan wird und eine starke Veränderung stattfindet. Butterfly ist deshalb nicht nur Opfer eines untreuen Mannes, sondern auch der politischen Umstände der damaligen Zeit. Du willst also auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der kultu­ rel­len Vermischung thematisieren? Darum geht es im Text und vor allem auch in Puccinis Musik, die dauernd östliche und westliche Idiome miteinander in Verbindung bringt und dadurch etwas Neues entstehen lässt. Die Verschiebung des Blickwinkels in meiner Inszenierung, also die stärkere Thema­tisierung des amerikanischen Einflusses auf das Japanische, hat vielleicht zur Folge, dass dieser kulturelle Gegensatz unmittelbarer wahrgenommen werden kann als sonst. Puccini zeichnet in seiner Oper ja ein klischiertes Japan-­Bild, das stark durch die Mode des euro­­päischen Japonismus geprägt ist. In unserer Produktion versuchen wir, gerade was die Kostüme angeht, auf die Zeit des amerikanischen Imperialismus in Japan Ende des 19. Jahrhunderts einzugehen – allerdings in abstrahierter Form, das ist mir auf der Opernbühne immer sehr wichtig. Du hast vorher vom leeren Raum gesprochen, von dem du szenisch oft ausgehst. Auch in den Proben weist du immer wieder darauf hin, dass der Raum für dich keine realistische Situation bedeutet. Warum ist dir Abstraktion so wichtig?

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Die Reduktion der Mittel und die Abstraktion in meinen Produktionen gehen auf meine früheren Erfahrungen als Darsteller zurück. Mich interessiert grundsätzlich immer der Bezug zwischen Körper und Raum. Das heisst aber nicht, dass das Bühnenbild für mich unwichtig ist. Ich möchte einfach viel Raum um die Darsteller haben. Das Bühnenbild soll das Wesentliche nicht erdrücken, und das sind die Figuren. Dazu kommt, dass Theater für mich stets mit Künstlichkeit zu tun hat. Das Reale ist immer vorgetäuscht. Ich will es also nicht abbilden, sondern nur ange­deu­­tet zeigen. Es ist mir wichtiger, das Publikum zum Miterleben anzu­regen als ihm alles vorzuführen und zu verraten. Die Magie des Szenischen muss gewahrt bleiben. Das bedeutet, dass die Darsteller im Zentrum stehen. Sie allein müssen den Raum durch ein intensives und detailliertes Spiel füllen. Bei­ spielsweise hast du auf einer Probe eine Bewegung «wie von Bill Viola» ge­fordert, einem amerikanischen Videokünstler, der in seinen Kunst­ werken sehr ausdrucksvolle, abstrahierte Bewegungsvorgänge zeigt. Lässt du dich oft von anderen Medien inspirieren? Ja, für das organische Theater, das ich anfangs angesprochen habe, lasse ich mich vor allem vom Tanz inspirieren, aber eben auch von anderen abstra­ hierten Formen der Bewegung. Für Madama Butterfly habe ich zum Beispiel auch japanische Druckgrafiken studiert. Wir haben ja vom Bühnengeschehen nie nur einen narrativen sondern immer auch einen grafischen Ein­druck. Deshalb denke ich neben dem Erzählen der Geschichte viel über Form, Geo­metrie und Haltung nach – wobei es mir, wie ge­sagt, nie um eine statische, sondern immer um eine bewegte Bildlichkeit geht. Du hast gerade das Liebesduett zwischen Butterfly und Pinkerton am Ende des ersten Akts geprobt. Die Musik Puccinis spricht hier deutlich von der überwältigenden Macht der Liebe. Aber wie echt ist diese Liebe wirklich? Ich verstehe dieses Duett schon als einen Moment der aufrichtigen Liebe. Pinkerton ist für mich nicht ein klassischer Opernbösewicht wie beispielsweise Scarpia in der Tosca. Natürlich haftet die ganze Thematik des Imperialismus,

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des Chauvinismus und des Sexualtourismus an dieser Figur. Aber das hängt eben auch mit dem System zusammen, in das er eingebunden ist. Ich glaube, dass Pinkerton dieser jungen Frau und ihrer ganzen Faszination trotz allem verfällt. In meiner Fantasie stelle ich mir vor, dass Pinkertons Familie in Ame­rika ihm niemals erlauben würde, eine solche Frau zu heiraten und nach Hause zu bringen. In diesem Sinn verstehe ich ihn eher als Feigling denn als Bösewicht. Er ist vielleicht auch selber zu jung und begreift nicht, was er hier anrichtet. Auch den amerikanischen Konsul Sharpless willst du wegrück­en von den Rollenklischees, die dieser Figur hartnäckig anhaften … Ich erfinde eigentlich nicht viel. Ich halte mich einfach gerne genau an das Textbuch der Oper. Was Sharpless angeht, hat sich seltsamerweise die Tra­dition durchgesetzt, dass er sich zu Beginn des ersten Akts genau so chauvinistisch verhält wie Pinkerton. Dabei steht im Text sehr deutlich, wie besorgt er über Pinkertons leichtfertig arrangierte Heirat und deren Folgen ist. In unserer Produktion ist er deshalb von Anfang an eine skeptische und ernsthafte Figur. Wie siehst du die Figur der Butterfly? Ist sie eine typische Femme fragile, wie sie in Puccinis Opern immer beschrieben werden? Ich verstehe sie als Frau mit einem äusserst starken Willen. Im Gegensatz zu Pinkerton, der feige ist und um diese Liebe nicht zu kämpfen scheint, geht sie ihren Weg ja mit grosser Konsequenz. Aber die Umstände machen sie krank. Es ist interessant, wie fein und modern die Psychologie Butterflys in diesem Stück gezeichnet ist. In der Szene, in der sie und Suzuki aus Freude über die Rückkehr von Pinkertons Schiff alles mit Blumen schmücken, weint und lacht Butterfly gleichzeitig. Für mich sind das Anzeichen einer Psychose. Diesen Feinheiten des Stücks möchte ich mit meiner Inszenierung gerecht werden. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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Svetlana Aksenova, Chor Spielzeit 2017/18


BUTTERFLYS WEG IN DEN TOD Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Gespräch über die Faszination, die vom weiblichen Operntod ausgeht

Frau Bronfen, die Opern von Giacomo Puccini füllen seit gut einem Jahr­ hundert die Theater dieser Welt. Und immer wieder schauen wir, zu Tränen gerührt, dabei zu, wie eine Manon, Mimì oder Butterfly auf der Bühne stirbt. Was ist der Grund für diese seltsame Faszination? Der Tod der Sopranistin im letzten Akt kann als Kern der Oper überhaupt ver­stan­den werden. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch der Tod eines Tenors inter­essant sein kann, aber es ist auffallend, wie konsequent Opern auf den Tod der Sopranistin hinauslaufen. Die Todesszene gehört zu den stärksten Momenten eines Stücks, weil sich die Stimme hier ein letztes Mal in ihrer vollen Intensität entfaltet. Der Philosoph Walter Benjamin schreibt in einem anderen Kontext, dass der Er­zähler seine Autorität vom Tod leiht. Analog würde ich sagen, dass die Sängerin sich die Autorität ihrer Darbietung vom Verklingen ihrer Stimme als Sterbende leiht. Der Tod, der ja auf der Opernbühne beliebig reproduziert werden kann, steht immer für ein Ende: der Musik, des Lebens, der Darbietung an sich. Und diese Vorstellung der Endlichkeit verleiht der Handlung, die davor stattfindet, erst ihre wahre In­tensität. Das erklärt die grosse Bedeutung des Todes auf der Opernbühne. Aber warum sind es so oft schöne Frauen, die auf der Bühne sterben? Die Schönheit der Frau potenziert das Erlebnis des Operntodes: Wir erleben dann nicht nur das Verklingen der Stimme, sondern zugleich die Ver­ gänglichkeit des Schönen. Dass es aber eine weibliche Schönheit ist, hat damit zu tun, dass das Weibliche kulturell seit Jahrtausenden mit dem Bereich

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des Todes, der Sterblichkeit und der Verwesung in Verbindung gebracht wird. Der Körper in all seiner Schönheit und Faszination, aber eben auch in seiner Zerbrechlichkeit und Versehrtheit ist in unserer Kultur mit dem Weiblichen konnotiert. Und das geht bis hin zu Ritualen, in denen das Unreine – das ja auch mit dem Tod zusammenhängt – durch die Opferung der Frau ins Reine gebracht wird. Um es auf eine Formel zu bringen, könnte man sagen: Der Tod der Frau bestätigt das Überleben des Mannes. In Ihrem Buch Nur über ihre Leiche verweisen Sie auf Puccinis Butterfly und beschreiben, dass durch ihren Tod eine moralische Erneuerung stattfinden könne … Es sind ja nicht irgendwelche Frauen, die auf der Opernbühne sterben, sondern immer die extrem gefährlichen, verführerischen und bedrohlichen. Jede Frau, die politische, psychologische oder sexuelle Macht hat, produziert Angst. Und deshalb hat die Opferung der Frau immer auch mit einer Stabilisierung der Ordnung und der Normalisierung der Moral zu tun. Cio-Cio-San, genannt Butterfly, ist ein 15-jähriges Mädchen, das seinen Vater verloren hat, in Armut lebt und sich als Geisha durchschlagen muss. Wo liegt ihr bedrohliches Potenzial? Im Fall von Butterfly wird das Weibliche durch das Exotische potenziert. Das ver­grös­sert auf der Seite der Männer einerseits die Faszination, andererseits aber auch die Angst: Zur Frage, wie man mit dem Weiblichen umgeht, kommt die Frage, wie man mit dem Fremden umgeht – die Angst vor Überfremdung war auch schon in der Kolonialzeit ein grosses Thema! In der Handlung der Oper geht der amerikanische Offizier Pinkerton, der in Nagasaki stationiert ist, eine «andere» Art des erotischen Bündnisses mit der jungen Japanerin Butterfly ein, das laut der amerikanischen Moral im 19. Jahrhundert eigentlich nicht möglich ist. Butterfly muss deshalb in dop­peltem Sinn geopfert werden: Pinkerton hat nicht die Möglichkeit, sie nach Amerika mitzunehmen. In Verbindung mit seiner eigentlichen amerikanischen Frau würde sie dort ihr bedrohliches Potenzial entfalten. Indem er Butterfly ihrem Schicksal überlässt, wird aber auch Pinkertons «andere» erotische

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Lust ge­opfert. Und über diese doppelte Opferung wird der «normale» amerikanische Alltag wiederhergestellt. Ich glaube, dass diese Möglichkeit, das Andere, Exotische auszuleben und es dann wieder auszulöschen, viel vom Reiz dieser Geschichte ausmacht. Denn dadurch wird ja auf der anderen Seite auch die Langweiligkeit des Alltäglichen und Normalen bestätigt. Für Pinkerton bleibt diese Erfahrung also letztlich Episode, während sie für Butterfly über Leben und Tod entscheidet … Butterfly wird in eine ausweglose Situation gedrängt – und damit in die Situation, in der wir sie auf der Opernbühne sehen wollen. Wir lieben es, wenn auf der Bühne jemand an seine Grenzen geht und sich verausgabt. Je inten­ siver und bedrohlicher diese Szene ist, desto grösser ist unser Genuss! Wir glauben, in der Sterbearie der Sopranistin den Tod einer Anderen mitzuerleben und denken dabei: Uns hat er diesmal noch nicht getroffen! Es ist ein Stell­vertretergenuss. Und dieses Sterben der Sopranistin ist ja nichts Plötzliches: Die Opernheldinnen sind in ihrer extremen Künstlichkeit nicht mehr ganz lebendig, und das stark ästhetisch Formalisierte der Oper rückt uns an sich schon in die Nähe des Todes. Künstlich wirkt die Oper auch, weil keine reale Konversation stattfindet, sondern zu den Klängen eines riesigen Orchesters gesungen wird. Puccinis Musik ist von grosser Wirkung, oft wird sie aber auch als senti­ mental kritisiert … Sentimentalität finde ich deshalb sehr interessant, weil sie uns erlaubt, grosse Gefühle ohne Konsequenzen auszuleben. Wir haben heute verständlicher­ weise Angst vor Pathos. Aber wenn man das Pathos auch als ironische Geste versteht – wenn man mitdenkt, dass man den Tod auf der Bühne rückgän­gig machen kann –, dann hat es eine besondere Qualität. Puccini hat seine Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts komponiert; da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Kino – der Butterfly-Stoff wurde in kürzester Zeit mehrfach verfilmt – und das bringt seine Musik auch in die Nähe der Pop­kultur. Aber nicht nur die Musik ist eingängig: Auch Puccinis Figuren sind greifbarer als die Charaktere Verdis oder Wagners. Bei Puccinis Frauenfiguren haben

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wir immer diese Mischung aus hochgradiger ästhetischer Formalisierung und einer Psychologisierung, die für ein breites Publikum nachvollziehbar ist. Und genau in diesem Punkt definiert sich ja die Popkultur. Ist denn Puccinis Bild der Frau als zerbrechliches, fragiles Wesen der Zeit seines Schaffens, also dem beginnenden 20. Jahrhundert, angemessen? Puccinis Frauenfiguren wirken auf mich viel stärker als Subjekt ihrer Handlun­ gen als viele Opernfiguren des 19. Jahrhunderts. Mit der Epoche Puccinis geht die grosse Zeit des Bürgertums allmählich zu Ende und damit auch eine Zeit, die stark unter dem Zeichen der Frauenfrage stand. Parallel zum fortschreitenden Kapita­lismus, zur Industrialisierung und zum Kolonialismus versuchte man im 19. Jahrhundert auch, das «Problem der Frauen» zu lösen. Allmählich entwickelte sich ein Frauenrecht, und man versuchte, die Frauen nicht mehr rein als Anhängsel des Mannes zu begreifen. Zunehmend be­ standen die Frauen auf einer eigenen Position, einer eigenen Stimme und einer eigenen Sichtbarkeit. Und ich habe das Gefühl, dass man diesen Wandel in Puccinis Opern spüren kann. Noch ist nichts ausgereift, aber vieles weist darauf hin, dass sich etwas ändern muss – in der Madama Butterfly ist es vor allem die Funktionsweise des amerikanischen Imperialismus. Man spürt in diesen Opern, dass der Erste Weltkrieg kommt und damit die Zerstörung der Lebens­formen des 19. Jahrhunderts, die ja schön und schrecklich zugleich waren. In David Belascos Bühnenstück Madame Butterfly aus dem Jahr 1900, das Puccini inspirierte, können sich die beiden Japanerinnen, Butterfly und ihre Bedienstete Suzuki, nur in einer entstellten Pidgin-Sprache mit den Amerikanern verständigen. Diese Form der Entwertung der Frau finden wir bei Puccini nicht mehr. Und dennoch nennt sich Butterfly nach der Hochzeit mit Pinkerton stolz und dezidiert Madama B(enjamin) F(ranklin) Pinkerton … Man kann es auch so verstehen, dass hier mit aller Kraft und Energie die Logik der Frau als Anhängsel des Mannes ad absurdum geführt wird. Butterfly anerkennt ihren Platz in der gesellschaftlichen Ordnung und beharrt darauf.

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An der Bindung mit Pinkerton hängt für sie schliesslich auch die Hoffnung auf ein neues Leben in der für sie exotischen und scheinbar besseren amerika­ nischen Welt. Butterflys Be­diens­tete Suzuki ahnt die Unmöglichkeit dieses Unterfangens und versucht, das Tragische abzuwenden. Aber Butterfly kann nicht zurück. Ihr Weg in den Tod ist eine Apotheose – einerseits weil sie als Objekt ihrer Kultur und als Objekt der Männer ohnehin bereits «tot» ist, und andererseits auch, weil sie mit ihrem ster­ben­­den Körper noch einmal Anklage erheben kann. In diesem Sinn verstehe ich Pu­cc­ inis Opern schon als einen letzten grossen Kommentar auf das 19. Jahrhundert und gleichzeitig als Beginn von etwas Neuem. Und zwar einfach deshalb, weil er seinen Frauenfiguren – die zumindest ihren Tod selbst determinieren können – auf der Bühne und in seinen Geschichten so viel Platz einräumt. Tosca begeht durch die Tötung Scarpias sogar Tyrannenmord! Immerhin! – Wo sind unsere Toscas heute? Und dennoch steht dieser künstlerischen Erhöhung der Frau in Puccini ein Mensch gegenüber, der privat einen erniedrigenden Umgang mit Frauen pflegte. Zur Zeit der Butterfly-Komposition hatte er ein Verhältnis mit einer Minderjährigen. Als er erfuhr, dass sie sich mit anderen Männern trifft, sich also als Frau Freiheiten gestattete, war er beleidigt, fürchtete um seinen Ruf und musste sie loswerden. Hat die Tragik von Butterflys Tod nicht auch damit zu tun, dass der Frau generell keine Freiheiten zugestanden werden? Dass die Frau in ihrer Freiheit beschränkt wird, dass sie auf ein Liebesobjekt des Mannes reduziert wird, dass ihr keine eigene Position gewährt wird, also dass sie eine eigenständige Handlungsermächtigung nur in dem Moment bekommen kann, in dem sie das Messer nimmt und sich umbringt: das ist, glaube ich, die Tragik. Deswegen meine ich, dass das Stück eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen ist: Gerade durch die Erhöhung der Frau wird auch ihre Hoffnungslosigkeit ange­prangert. Butterflys Selbstmord ist ja eine ironische, höchst widersprüchliche Form der Selbstbestimmung. Dass man als Frau zu einer so grossen Geste greifen ­muss, um sich selbstbe­ stimmen zu können, macht auch deutlich, welch unzähligen Kränkungen die Frau im täglichen Leben ausgesetzt ist.

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In dieser Komplexität hat Giacomo Puccini seinen Opernstoff wohl kaum begriffen … Das Werk versteht manchmal mehr als der Künstler. Obwohl Puccini noch in das patriarchalische Denken des 19. Jahrhunderts eingebunden ist, drückt sich in seinem Werk aus, dass an den herrschenden Verhältnissen etwas nicht mehr stimmt. Interessanterweise ist es am Ende Butterfly, die als einzige aus den überkommenen Normen ihrer eigenen Kultur, aber auch des ameri­ka­ nischen Imperialismus ausbrechen kann – allerdings nur durch Selbsttötung. Ist Butterflys Suizid also ein positiver Vorgang? Butterfly erkennt, dass der Tod die einzige Wahl ist, die sie hat. Sie weiss, dass jede andere Entscheidung – wieder zu ihrem alten Leben zurückzukehren und als Geisha zu arbeiten – auch eine Todeswahl wäre. Sie entscheidet sich also für die einzig mögliche Wahl, obwohl sie offenkundig keine andere hat. Und gerade in dieser Affirmation sehen die Philosophen um Jacques Lacan die Definition des Subjekts. Der Suizid der Butterfly ist also ein Zeichen ihrer Freiheit. Gleichzeitig zeigt sich daran, wie unglaublich beschränkt die Freiheitsmöglichkeiten dieser Frau sind. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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Martin Zysset, Svetlana Aksenova Spielzeit 2017/18



UMGEBEN VON LEERE UND NICHTS UMRAHMEND Der Philosoph Roland Barthes betrachtet den japanischen Raum als ein «Kabinett der Zeichen» ohne Zentrum Roland Barthes

Überall in diesem Land stellt sich eine besondere Organisation des Raumes her: Unterwegs (in den Strassen, im Zug durch die Vororte oder durchs Gebirge) bemerke ich die Verbindung eines Hintergrundes mit einer Zerstückelung, das Nebeneinander von Feldern (im ländlichen wie auch im visuellen Sinne), die zu­gleich diskontinuierlich und offen sind (Parzellen mit Tee, Kiefern, malven­ farbenen Blumen, eine Komposition aus schwarzen Dächern, ein Rechteckmus­ ter von Gässchen, eine asymmetrische Anordnung niedriger Häuschen): keine Einfriedungen (oder allenfalls niedrige), und dennoch springt mich nie der Horizont an (mit seinem Geschmack nach Traum): kein Bedürfnis, tief einzu­ atmen und die Brust zu schwellen, um mich meines Ich zu versichern, mich als Zentrum zu konstituieren, welches das Unendliche in sich aufnähme: Angesichts einer leeren Grenze bin ich, ohne jede Idee von Grösse, ohne metaphysischen Bezug, unbegrenzt. Von den Hängen der Berge bis hin zu den Ecken des Viertels ist hier alles Wohnung, und ich bin beständig im luxuriösesten Zimmer dieser Wohnung: Dieser Luxus (der anderswo der Luxus von Kiosken, Korridoren, Bordellen, Ateliers und Privatbibliotheken ist) rührt daher, dass der Ort keine anderen Grenzen hat als seinen Teppich von lebhaften Empfindungen und auffälligen Zeichen (Blumen, Fenstern, Blattwerk, Bildern und Büchern); nicht mehr die grosse, ununterbrochene Mauer bestimmt den Raum, sondern die Abstraktion

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von Blickbuchstaben (von «Blicken»), die mich einrahmen: Die Mauer ist unter der Inschrift zerstört; der Garten ist ein mineralischer Teppich aus winzigen Körpern (aus Steinen, aus den Spuren der Harke im Sand); der öffentliche Raum ist eine Folge von momentanen Ereignissen, die in einem so lebhaften und kurzen Aufleuchten bemerkbar werden, dass sich das Zeichen verflüchtigt, noch bevor irgendein Signifikat die Zeit gehabt hätte «zu nehmen». Man möchte sagen, eine säkulare Technik erlaube es der Landschaft oder dem Theater, sich in einer reinen, abrupten, leeren und umrissartigen Bedeutung zu schaffen. Ein Reich der Zeichen? Ja, wenn man berücksichtigt, dass diese Zeichen leer sind und das Ritual ohne Gott ist. Betrachten Sie einmal das Kabinett der Zeichen (den Mallarméschen Raum), das heisst sehen Sie dorthin, ganz Blick, städti­ scher, häuslicher, ländlicher Ausblick, und damit klarer wird, woraus es besteht, nehmen Sie als Beispiel den Shikidai-Korridor: Tapeten aus Licht, eingerahmt von Leere und nichts umrahmend, zweifellos dekoriert, aber derart, dass die Bilder (Blumen, Bäume, Vögel, Tiere) dem Blick enthoben, sublimiert und ferngerückt sind. Hier ist kein Raum für ein Möbelstück (Möbel, ein paradoxes Wort, denn es bezeichnet gewöhnlich ein Besitzstück, das recht wenig mobil ist und mit dem man alles mögliche anstellt, damit es dauerhaft wird: Bei uns hat das Möbel eine immobile Bestimmung, während in Japan das Haus, das oft umgebaut wird, kaum mehr als ein Möbelstück ist). In diesem Korridor – ganz wie im japanischen Idealhaus –, der frei von Möbeln ist (oder nur sehr wenige Möbel enthält), gibt es keinen Ort, der auch nur das geringste Eigentum be­ zeichnete: weder Sessel noch Bett noch Tisch, von denen aus der Körper sich als Subjekt (oder Herr) eines Raumes konstituieren könnte: Ein Zentrum soll es nicht geben (welche brennende Frustration für den westlichen Menschen, der allüberall mit seinem Sessel, seinem Bett versehen, Besitzer eines häuslichen Platzes ist). Da der Raum kein Zentrum hat, ist er auch umkehrbar. Sie können den Shikidai-Korridor umdrehen und nichts wird geschehen – oder allenfalls eine folgenlose Verkehrung von Unten und Oben, Rechts und Links: Der Inhalt ist ohne Wiederkehr entlassen: ob man den Flur entlang geht, ihn überquert oder sich auf dem Boden (oder der Decke, wenn Sie das Bild herumdrehen) niederlässt, es gibt nichts zu greifen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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Judith Schmid, Svetlana Aksenova Spielzeit 2017/18



DAS RÄTSEL DES SCHATTENS Abendländer wundern sich, wenn sie japanische Räume anschauen, über ihre Einfachheit und haben den Eindruck, es gebe da nur graue Wände ohne die geringste Ausschmückung. Das ist von ihrem Standpunkt her gesehen durchaus plausibel; aber es zeigt, dass sie das Rätsel des Schattens nicht begriffen haben. Wir hingegen bringen auf der Aussenseite der Zimmer, in die die Sonnenstrah­ len ohnehin nur mit Mühe eindringen, zusätzlich noch Schutzdächer oder Ve­ randen an, um das Licht noch mehr fernzuhalten und um zu bewirken, dass sich nur der diffuse Widerschein vom Garten her durch die shōji hindurch ins Innere stehlen kann. So besteht das ästhetische Element unserer Räume in nichts anderem als eben in dieser mittelbaren, abgestumpften Lichtwirkung. Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens

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Judith Schmid Spielzeit 2017/18


EINE ERZÄHLUNG FÜR DIE BÜHNE Puccini hat von David Belascos englischem Bühnenstück «Madame Butterfly» kaum ein Wort verstanden. Trotzdem war er sofort von der Bühnenwirksamkeit des Stoffs überzeugt. Mosco Carner

Im Januar 1898 war im amerikanischen «Century Magazine» unter dem Titel Madam Butterfly eine realistisch geschriebene Geschichte erschienen, die von einer kleinen Geisha erzählt: Sie hatte ein Kind von einem amerikanischen Ma­ rineoffizier, aber der Amerikaner hatte sie längst vor der Geburt verlassen. Der Autor dieser Geschichte, die angeblich auf einem wahren Vorkommnis beruht – das wurde Puccini später von der Frau des japanischen Botschafters in Italien bestätigt –, war ein gewisser John Luther Long. Long war Rechtsanwalt in Philadelphia und nie in Japan gewesen, aber seine Schwester, Mrs. Irwin Corell, war die Frau eines amerikanischen Missionars in Nagasaki; sie kannte das Land durch langjährige Erfahrung und hat ihn mit den authentischen Einzelheiten über Gebräuche und Sitten in Japan vertraut gemacht. Es ist wahrscheinlich, dass sie ihm auch die traurige Geschichte der Geisha übermittelte, die, wie wir aus Longs Erzählung erfahren, im amerikanischen Missionshaus in Nagasaki zum christlichen Glauben übergetreten ist. Long nahm für seine Erzählung den damals überaus erfolgreichen Roman Madame Chrysanthème von Pierre Loti zum Vorbild, und mit dieser Hilfe ge­ lang es ihm sehr überzeugend, die Atmosphäre im Japan der Jahrhundertwen­ de ein­zu­fangen, als der westliche Einfluss sich mit wachsender Kraft auszubreiten be­gann. Die Geschichte erregte in Amerika grosses Aufsehen, und Lang gab die Rechte, den Stoff für die Bühne umzuarbeiten, an David Belasco, der damals als Theaterautor und -produzent auf der Höhe seines Ruhmes stand. In Zu­sam­men­ ­arbeit mit Lang erarbeitete er eine dramatisierte Fassung. Belasco soll von der

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Bühnentauglichkeit der Erzählung so überzeugt gewesen sein, dass er die Arbeit schon halb fertiggestellt hatte, bevor der Vertrag mit Long noch perfekt war. Die Madame Butterfly wurde ein Einakter und am Uraufführungsabend, am 5. März 1900, im Herald Theatre in New York gezeigt. Wie auch die Erzäh­lung, wurde das Stück sofort ein Hit, und Belasco brachte es sieben Wochen später nach London, wo es am Duke of York’s Theatre aufgeführt wurde. Das Stück wieder­holte seinen New Yorker Erfolg und wurde vor ausverkauftem Haus bis in den Juli hinein gespielt. Die Londoner Presse bezeichnete es als «eine wichti­ ge Ent­­deckung, ein Prachtstück an Einfachheit», und der Theaterkritiker der Times schrieb, dass die Episode, wenn sie nicht in diesem exotischen Rahmen erschiene, unerträglich peinlich sein könnte; «aber da es durch feine Grazie und vor allem durch seine Fremdheit davon erlöst ist, erscheint das kleine Stück kei­nes­­wegs so tragisch, wie die reine Handlung es nahelegen würde, und den­ noch rührt es zu Tränen. Eine Tragödie sicherlich, aber eine Spielzeugtragödie.» Es gab je­doch auch kritische Stimmen, die sich gegen diesen «quälenden Schluss» aus­­­sprachen, von dem sie meinten, er hätte sich besser hinter der Bühne voll­ zogen. Auch Puccini war im Sommer 1900 in London, wo seine Tosca aufgeführt werden sollte. Es ist nicht eindeutig festzustellen, wer ihn auf Belascos Stück auf­merksam machte: der Direktor des Opernhauses Covent Garden, Frank Niel­ son, oder Puccinis italienische Freunde, die Familie Angeli. Puccini besuchte eine Aufführung der Madame Butterfly; und genau so wie bei seiner ersten Begegnung mit Sardous Tosca verstand er nichts vom Dialog und war dennoch tief bewegt von der Handlung. Dies schien ihm ein ausgezeichneter Beweis für die Klarheit und die Theaterwirksamkeit der Geschichte. Butterfly und ihr Schicksal schlugen verborgene Saiten in ihm an, und die exotische Umgebung faszinierte ihn. Wie Belasco erzählt, kam Puccini nach der Aufführung in seine Garderobe, umarmte ihn und bat um die Erlaubnis, die Madame Butterfly kom­ ponieren zu dürfen. «Ich habe sofort zugestimmt», schreibt Belasco weiter, «und ihm auch zugestanden, dass er alles damit machen könne, was er wolle, und dass er jede Art von Vertrag aufsetzen könnte, denn man kann doch keine Geschäfts­ bedingungen aushandeln mit einem impulsiven Italiener, der Tränen in den Augen hat und beide Arme um deinen Hals schlingt.»

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Martin Zysset, Svetlana Aksenova, Brian Mulligan Spielzeit 2017/18



UND DOCH WARTE ICH Soll ich denn auf dich warten, der du abfuhrst mit der Absicht, mich niemals wie­­­­derzusehen? Soll ich auf Segel warten, die es auf meinem Meere nicht geben wird? Und doch warte ich – oh kehre, wenn auch spät, zu der zurück, die dich liebt, und zeige so, dass deine Treue nur durch die Umstände verletzt worden ist. Was flehe ich, Unglückliche? Dich hält vielleicht schon eine andere Gattin fest und eine Liebe, die mir schadet; und schon bin ich aus deiner Erinnerung entschwunden. Dennoch gehe ich traurig auf die Klippen und an den schattigen Strand und dorthin, wo sich vor meinen Augen die weite Küste erstreckt. Ob am Tag der Boden auftaut oder ob die kalten Sterne leuchten, ich schaue in die Ferne, welcher Wind wohl das Meer peitscht; und welche Segel ich auch immer aus der Ferne kommen sehe, ich vermute sofort, dass sie die Antwort auf meine Gebete sind. Es gibt da eine Bucht, leicht sichelartig geformt zu engen Bögen; die äus­ sersten Hörner stehen in steil abfallender Masse strotzend da. Mir kam der Gedanke, mich von hier aus in die unter mir liegenden Wogen zu stürzen, und da du nun mal nicht aufhörst, mich zu betrügen, wird es auch so kommen. Wenn ich hinuntergestürzt bin, sollen mich die Fluten an deine Küsten tragen; dort sollst du mich unbestattet liegen sehen. Oft verlange ich nach Gift; oft geniesse ich die Vorstellung, vom Schwert durchbohrt blutig zu sterben. Es freut mich auch, den Nacken, da er sich von verräterischen Armen umschlingen liess, mit einem Strick zu umwickeln. Es ist beschlossene Sache, durch einen frühen Tod den jugendlichen Fehltritt zu büssen. Ovid: Briefe der Heroinen, Phyllis an Demophoon

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Svetlana Aksenova Spielzeit 2017/18


MIT DEM HERZEN LAUSCHEN Ein Zwischenspiel im zweiten Akt schildert, wie Butterfly eine ganze Nacht lang auf Pinkerton wartet Fabio Dietsche

Die Uraufführung von Madama Butterfly am 17. Februar 1904 an der Mai­län­ der Scala endete in einem Fiasko. Das Publikum schrie, pfiff und johlte. Giacomo Puccini zog seine Partitur sofort zurück. Trotz des Erfolgs, der sich ab der zwei­ ten Aufführung in Brescia, nur drei Monate später, einstellte, überarbeitete er sie in den nächsten Jahren mehrfach. Erst 1907 wurde eine verbindliche Version gedruckt, die heute als Aufführungsfassung gilt. Eine besonders empfindliche Änderung erfuhr die Oper im Zuge dieser Umarbeitungen durch eine Teilung des zweiten Akts als Möglichkeit für eine zusätzliche Theaterpause. In der Urfassung bestand die Oper aus zwei in sich geschlossenen Akten: der erste war der Hochzeit Butterflys mit Pinkerton und deren Liebesnacht gewidmet, der zweite dem hoffnungslosen Warten Butterflys auf Pinkertons Rückkehr und ihrem Tod. Die spätere Unterteilung des zweiten Akts mitten in der Szene, in der Butterfly eine ganze Nacht lang auf Pinkerton wartet, zerstör­ te das Gleichgewicht der beiden ursprünglichen Akte. Es verwundert, dass Puccini sich aus theaterpraktischen Gründen zu dieser Änderung entschieden hat, oder sich dazu drängen liess. Offenbar wurde ihm nahegelegt, dass die Überlänge des zweiten Akts zum Misserfolg der Urauffüh­ rung beigetragen habe. Heute vermutet man jedoch, dass der Mailänder Skan­ dal keine inhaltlichen Gründe gehabt, sondern durch Konkurrenten von Pucci­ nis Verleger Ricordi bewusst provoziert worden war. Das nächtliche Warten der Butterfly auf die Rückkehr Pinkertons muss jedenfalls einer der eindrücklichsten Momente in David Belascos Einakter Madame Butterfly gewesen sein, welcher Puccini zu seiner Oper inspiriert hat.

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David Belasco war Anfang des 20. Jahrhunderts einer der erfolgreichsten The­ atermacher Amerikas, der mit seinen wirkungsvollen Inszenierungen für Auf­ sehen sorgte. In Madame Butterfly machte er in einer vierzehn Minuten langen stummen Szene von den modernsten Mitteln der damaligen Technik Gebrauch: Um das Vergehen einer ganzen Nacht zu illustrieren, zeigte er in einer Folge von spektakulären Lichtwechseln das Hereinbrechen der Nacht, das Erleuchten der Sterne und die darauffolgende Morgendämmerung mit Sonnenaufgang. «Bei Belasco hat die Nachtwache der Butterfly die Vorstellungskraft des gesam­ ten Publikums ergriffen, Puccinis Musik hat sie zu einer der poetischsten Situa­ tionen der ganzen Oper gemacht», schreibt der Puccini-Biograf Mosco Carner. Glücklicherweise wird die Teilung des zweiten Butterfly-Akts heute in der Praxis kaum mehr durch eine unnötige Theaterpause unterbrochen. Auch un­ sere Zürcher Inszenierung folgt zwar der gedruckten Partitur aus dem Jahr 1907, verbindet die beiden Akt-Teile aber szenisch zu einem Ganzen. Der berühmt ge­wordene Chor von Sopran- und Tenorstimmen hinter der Szene, «mit ge­ schlossenem Mund», beschreibt also, wie ursprünglich vorgesehen, das Herein­ brechen der Nacht. Darauf folgt ohne Unterbruch das lange Orchesterinter­ mezzo, das in Puccinis überarbeiteter Fassung zur Einleitung des letzten Akt-Teils bei geschlossenem Vorhang verkommen ist, aber nicht so gedacht war. Das Zwischenspiel in seiner ganzen Dichte und Komplexität ist als Ganzes betrachtet zweifellos der Dramaturgie von David Belascos Nachtszene nachemp­ funden: Mosco Carner will im Nocturno mit dem gesummten Chor ein Schlum­ merliedchen heraushören, zu dessen Klängen Butterflys Kind und Suzuki ein­ schlafen. Die folgende Sequenz beschreibt er als Reflexionen Butterflys über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein wogen­des Thema im Zwölf­ achtel-Takt deutet er gar als ein inneres Bild Butterflys von der Rückkehr Pin­ kertons über das Meer. Der letzte Teil des Zwischenspiels, in dem aus der Ferne singende Matrosen und Vögel zu hören sind, beschreibt die Morgendäm­ merung. Im Zusammenhang und bei offenem Vorhang inszeniert, gehört dieses Zwischenspiel zweifellos zu den ungewöhnlichsten Momenten dieser Oper. Dem Akt des Wartens und seiner ganzen Unerträglichkeit hat im beginnen­ den 20. Jahrhundert kaum jemand so exzessiv nachgespürt wie Marcel Proust: «Wenn man wartet,» schreibt er in seinem Roman Auf der Suche nach der ver-

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lorenen Zeit, «leidet man so sehr unter der Abwesenheit dessen, was man sich herbeiwünscht, dass man keine andere Gegenwart erträgt». Es ist dieses aufs Höchste gespannte Gefühl des Wartens, das sich auch in Puccinis langem In­ termezzo ausdrückt: Während das Kind und Suzuki eingeschlafen sind, geht Butterfly ganz im Gefühl des Wartens auf. Sie nimmt ihre Umwelt nur noch als sinnentleertes Geräusch wahr – als summende oder rufende Stimmen. Es ist interessant, dass der Puccini-Biograf Dieter Schickling gerade am Beispiel dieser Szene Ähnlichkeiten mit Debussys Pelléas et Mélisande konsta­ tiert, einer Partitur, die Puccini vermutlich zur Zeit der Butterfly-Komposition studiert hat. Schickling macht damit deutlich, dass sich Puccini in Madama Butterfly – neben der oft untersuchten Gegenüberstellung von westlichen und östlichen Klangwelten – auch intensiv mit den avantgardistischen Tendenzen seiner Zeit auseinandersetzte und – gerade auch in diesem Zwischenspiel – eine Musik von grosser psychologischer Subtilität geschaffen hat. Der Akt des Wartens ist für Marcel Proust mit einer besonderen Qualität des Hörens verbunden: «Wenn wir warten,» so schreibt er weiter, «vollzieht sich der doppelte Weg vom Ohr, das die Geräusche aufnimmt, zum Geist, der sie sondert und analysiert, und vom Geist zum Herzen, dem jener das Resultat mit­teilt, so schnell, dass wir seine Dauer nicht einmal bemerken und es scheint, als lauschten wir unmittelbar mit unserem Herzen». In diesem Sinn kann Puc­ cinis weit ausgedehnte, fast handlungsleere Warteszene auch verstanden werden: Das instrumentale Zwischenspiel schildert gewissermassen Butterflys «Lauschen mit dem Herzen», an dem das Publikum ganz unmittelbar Anteil nimmt. Das Warten dauert, wie Proust an anderer Stelle schreibt, solange, bis man die unwiederbringliche Abwesenheit des Anderen akzeptiert, oder bis man stirbt. Für Butterfly, die Pinkerton nicht wiedersehen wird, ist das Warten, das in dieser Szene seinen intensivsten Ausdruck findet, also auch der Beginn des Todes. Die nächtliche Warteszene als ein Ganzes zu verstehen, und den unschönen Bruch in Puccinis überarbeiteter Fassung zusammenzukitten, bedeutet deshalb viel mehr, als nur den ursprünglichen Absichten David Belascos gerecht zu werden. In ihrer äusserst undramatischen, aber psychologisch in die Tiefe gehen­ den Gestaltung beleuchtet diese Szene die quälende Agonie des Wartens, die aufs engste mit dem tragischen Schicksal Butterflys verbunden ist.

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Svetlana Aksenova, Martin FĂźhrer Spielzeit 2017/18


Svetlana Aksenova, Judith Schmid, Martin FĂźhrer Spielzeit 2017/18



Saimir Pirgu Spielzeit 2017/18



SEINE EHRE AUF ANDERE WEISE RETTEN Die aggressivste Handlung, die ein Japaner von heute gegen sich selbst unter­ nimmt, ist der Selbstmord. Ein nach allen Regeln der Kunst verübter Selbstmord wäscht nach japanischen Vorstellungen seinen Namen rein und stellt sein An­ den­ken wieder her. Die amerikanische Verurteilung des Selbstmords macht aus ihm eine Tat, die man nur in tiefster Verzweiflung begeht. Die japanische Hoch­ achtung vor dem Selbstmord hingegen erklärt ihn zu einer würdevollen und sinnvollen Handlung. In bestimmten Situationen ist Selbstmord der ehrenvolls­ te Weg, den man aus giri [aus moralischer Verpflichtung] gegenüber dem eige­ nen Namen einschlagen kann. Der säumige Schuldner an Neujahr, der Beamte, der sich umbringt, um zu zeigen, dass er die Verantwortung für ein unvorher­ gesehenes Ereignis übernimmt, das Liebespaar, das seine hoffnungslose Liebe mit einem Doppelselbstmord besiegelt, der Patriot, der gegen den Aufschub des Krieges gegen China durch die Regierung protestiert, sie alle verüben wie der Junge, der durch eine Prüfung fällt oder der Soldat, der der Gefangennahme entgehen will, eine allerletzte Gewalttat an sich selbst. Die Japaner lieben das Thema. Sie bauschen den Selbstmord genauso auf wie die Amerikaner Verbre­ chen und empfinden dabei die gleiche Ersatzbefriedigung. Sie befassen sich lieber mit Fällen der Selbstzerstörung als mit der Zerstörung anderer. Sie machen daraus ihren liebsten «flagranten Fall». Dies kommt einem Bedürfnis entgegen, das nicht durch die Beschäftigung mit anderen Dingen befriedigt werden kann. Der Selbstmord hat im modernen Japan auch stärker masochistische Züge, als dies an Hand historischer Erzählungen in der Feudalzeit der Fall gewesen sein muss. In diesen Geschichten legte ein Samurai auf Befehl der Regierung Hand an sich, um einer entehrenden Hinrichtung zu entgehen; oder er wählte diesen Weg, um der Folter zu entkommen, die ihn erwartete, wenn er in die Hände des Feindes fiel. Ein Krieger durfte ungefähr unter den gleichen Voraus­

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setzungen Harakiri verüben wie ein preussischer Offizier, der in Ungnade ge­ fallen war und sich in seinen eigenen vier Wänden erschiessen durfte. Seine Vorgesetzten hinterliessen eine Flasche Schnaps und eine Pistole auf einem Tisch in seinem Quartier, sobald er wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab, seine Ehre auf andere Weise zu retten. Für den japanischen Samurai ging es unter solchen Umständen nur noch um die Frage der Todesart; dass er sterben muss­ te, war gewiss. In der Moderne setzt ein Selbstmord eine Entscheidung für den Tod voraus. Ein Mensch wendet oft gegen sich selbst Gewalt an, anstatt jemand anderen anzugreifen. Der Akt des Selbstmords, in der Feudalzeit der letzte Beweis des Mutes und der Entschlossenheit eines Mannes, ist heute ein Akt gewollter Selbstzerstörung. Im Verlauf der letzten beiden Generationen, als die Japaner den Eindruck hatten, dass «die Welt aus dem Gleichgewicht» geraten ist, dass «die Seiten der Gleichung» einander nicht entsprächen, dass sie ein «morgendliches Bad» gegen Beschmutzung brauchten, haben sie in zunehmen­ dem Masse sich selbst statt andere zerstört.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Ruth Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur

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Svetlana Aksenova Spielzeit 2017/18



Der Tod einer schรถnen Frau ist ohne jeden Zweifel das poetischste Thema auf der Erde. Edgar Allan Poe


MADAMA BUTTERFLY GIACOMO PUCCINI (1858–1924) Tragedia giapponese in zwei Akten Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach der Kurzgeschichte «Madame Butterfly» (1898) von John Luther Long und dem darauf basierenden Einakter «Madame Butterfly. A Tragedy of Japan» (1900) von David Belasco Uraufführung: 17. Februar 1904, Mailand Personen

Madama Butterfly (Cio-Cio-San) Suzuki, Dienerin der Cio-Cio-San Kate Pinkerton

Sopran

Mezzosopran

Mezzosopran

B. F. Pinkerton, Marineleutnant der U.S. Navy Sharpless, amerikanischer Konsul in Nagasaki Goro, Heiratsvermittler Fürst Yamadori Onkel Bonze

Tenor

Bass

Kaiserlicher Kommissar Standesbeamter Mutter Cio-Cio-Sans Ihre Tante

Ihr Kind

Bass

Bass

Mezzosopran

Sopran

Ihre Cousine Ihr Onkel

Tenor

Sopran

Bass

Stumme Rolle

Chor

Verwandte, Freundinnen und Freunde von Cio-Cio-San, Diener Ort und Zeit

Nagasaki, um 1900

Tenor Bariton


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

Collina presso Nagasaki. Casa giapponese, terrazza e giardino. In fondo, al basso, la rada, il porto, la città di Nagasaki. Dalla camera in fondo alla casetta, Goro con molti inchini introduce Pinkerton, al quale con grande prosopopea, ma sempre ossequente fa ammirare in dettaglio la piccola casa. Goro fa scorrere una parete nel fondo, e ne spiega lo scopo a Pinkerton. Si avanzano un poco sul terrazzo.

Ein Hügel bei Nagasaki. Ein japanisches Haus mit Terrasse und Garten. Im Hinter­grund, am Fuss des Hügels, die Reede, der Hafen und die Stadt Nagasaki. Goro führt Pinkerton unter ständigen Verbeugungen durch das hintere Zimmer herein und zeigt ihm überheblich, aber stets respektvoll alle Details des kleinen Hauses. Er verschiebt eine Wand im Hintergrund und erklärt Pinkerton den Zweck dieses Mechanismus. Sie treten auf die Terrasse.

PINKERTON sorpreso per quanto ha visto, dice a Goro:

PINKERTON erstaunt von dem, was er gesehen hat, zu Goro:

E soffitto... e pareti...

Und die Decke... Und die Wände...

GORO godendo delle sorprese di Pinkerton

GORO freut sich an Pinkertons Erstaunen

Vanno e vengono a prova a norma che vi giova nello stesso locale alternar nuovi aspetti ai consueti.

Schiebt man beliebig hin und her, um im selben Haus gewohnte Seiten mit neuen abzuwechseln.

PINKERTON cercando intorno

PINKERTON blickt suchend umher

Il nido nuzial dov’è?

Wo ist das Liebesnest?

GORO accenna a due locali

GORO weist auf zwei Räume

Qui, o là... secondo...

Hier oder dort... ganz je nachdem...

PINKERTON

PINKERTON

Anch’esso a doppio fondo! La sala?

Auch dieses mit Doppelboden! Das Wohnzimmer?

GORO mostra la terrazza

GORO weist auf die Terrasse

Ecco!

Da!

PINKERTON stupito

PINKERTON erstaunt

All’aperto?...

Im Freien?...

Goro fa scorrere la parete verso la terrazza.

Goro schiebt eine Wand nach der Terrasse.

GORO

GORO

Un fianco scorre...

Die eine Seite gleitet hin...

PINKERTON mentre Goro fa scorrere le pareti

PINKERTON während Goro die Wände hin- und herschiebt

Capisco! Un altro...

Verstehe! Die andre...

GORO

GORO

Scivola!

... gleitet her!

PINKERTON

PINKERTON

E la dimora frivola...

Und das wacklige Häuschen...

GORO protestando

GORO protestiert


Salda come una torre da terra, fino al tetto.

So standfest wie ein Turm vom Boden bis zum Dach.

invita Pinkerton a scendere in giardino

Er bittet Pinkerton in den Garten.

PINKERTON

PINKERTON

È una casa a soffietto.

Es ist ein Kartenhaus.

Goro batte tre volte le mani palma a palma. Entrano due uomini ed una donna che umilmente e lenti si genuflettono innanzi a Pinkerton.

Goro klatscht dreimal in die Hände. Zwei Männer und eine Frau kommen herein und knien langsam und ergeben vor Pinkerton nieder.

GORO con un voce un po’ nasale, accennando

GORO mit leicht näselnder Stimme, auf das Personal deutend

Questa è la cameriera

Dies ist das Zimmermädchen,

lezioso

affektiert

che della vostra sposa fu già serva amorosa. Il cuoco... il servitor... Son confusi del grande onore.

das Ihrer Frau schon vorher eine liebevolle Zofe war. Der Koch... der Diener... ... sie sind verwirrt von dieser grossen Ehre.

PINKERTON impaziente

PINKERTON ungeduldig

I nomi?

Sie heissen?

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben GORO indicando Suzuki

GORO auf Suzuki deutend

Miss Nuvola leggiera.

Frau «leichte Wolke».

indicando un servo

auf einen Diener deutend

Raggio di sol nascente.

«Strahl der aufgehenden Sonne».

indicando l’altro servo

auf den anderen Diener deutend

Esala aromi.

Der «Wohlgeruch».

SUZUKI sempre in ginocchio, ma fatta ardita rialza la testa

SUZUKI noch immer kniend, fasst Mut und hebt den Kopf

Sorride Vostro Onore? Il riso è frutto e fiore. Disse il savio Ocunama: dei crucci la trama smaglia il sorriso.

Sie lächeln, Euer Ehren? Das Lächeln ist Frucht und Blume. Der weise Okunama sagte: Das Lächeln zerreisst das Netz der Sorgen.

Scende nel giardino, seguendo Pinkerton che si allontana sorridendo.

Sie folgt dem lächelnden Pinkerton in den Garten.

Schiude alla perla il guscio, apre all’uomo l’uscio del Paradiso. Profumo degli Dei... Fontana della vita... Disse il savio Ocunama: dei crucci la trama smaglia il sorriso.

Es öffnet der Perle die Muschel und öffnet dem Menschen das Tor zum Paradies. Der Duft der Götter... die Quelle des Lebens... Der weise Okunama sagte: Das Lächeln zerreisst das Netz der Sorgen.

Pinkerton è distratto e seccato. Goro, accorgendosi che Pinkerton comincia ad essera infastidito dalla loquela di Suzuki, batte tre volte le mani. I tre si alzano e fuggono rapidamente rientrando in casa.

Pinkerton blickt gelangweilt umher. Goro bemerkt, dass Suzukis Gerede Pinkerton allmählich lästig wird, und klatscht dreimal in die Hände. Die drei springen auf und eilen ins Haus zurück.


Programmheft MADAMA BUTTERFLY Tragedia giapponese in zwei Akten von Giacomo Puccini Premiere am 10. Dezember 2017, Spielzeit 2017 / 18 Wiederaufnahme am 25. November 2018, Spielzeit 2018 / 19

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Fabio Dietsche

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung, die beiden Gespräche und der Essay «Mit dem Herzen lauschen» sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch. Weitere Textquellen: Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981; Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens, Manesse, Zürich 2010; Mosco Carner, Puccini – Biographie, Insel, Frankfurt 1996; Ovid, Briefe der Heroinen, Reclam, Stuttgart 2000; Ruth Benedict, Chry­ santheme und Schwert – Formen der japanischen Kultur, Suhrkamp, Frank­furt 2006; das Zitat von Edgar Allan Poe wird zitiert nach: Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche – Tod, Weib­lichkeit und Ästhetik, Königshausen und Neumann, Würz­

Studio Geissbühler Fineprint AG

burg 2004. Quellen des Essays «Mit dem Herzen lauschen»: Mosco Carner, Puccini – Biografie, Insel, Frankfurt 1996; Dieter Schickling, Puccini – Biografie, Carus /Reclam, Stuttgart 2007; Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bände II und IV, Suhrkamp, Frankfurt 2004. Bildnachweise: T + T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavierhauptprobe am 29. November 2017. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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