Le Comte Ory

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LE COMTE ORY

GIOACHINO ROSSINI


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LE COMTE ORY GIOACHINO ROSSINI (1792-1868)


Teresa Sedlmair, Liliana Nikiteanu, Javier Camarena Spielzeit 2010 / 11



En la vertu même, le dernier but de notre visée, c’est la volupté.


Selbst in der Tugend ist der letzte Zweck unseres Trachtens die Wollust. Michel de Montaigne (1533-1592)


ERSTER AKT Als Eremit und Wunderheiler verkleidet, führt Graf Ory die Bewohner eines französischen Dorfes an der Nase herum. Raimbaud, der – ebenfalls verkleidete – Freund des Grafen, kassiert von den Dorfbewohnern Geschenke zum Empfang des Eremiten ein, der längst ungeduldig erwartet wird. Ragonde, die Gesellschafterin der Gräfin Adèle, beschwert sich über die Ruhestörung: ihre Herrin hat mit einigen anderen Frauen der Gesellschaft, deren Männer, Väter und Brüder zu einem Kreuzzug aufgebrochen sind, ein Keuschheitsgelübde abgelegt und sich auf ihr Schloss zurückgezogen. Nun leidet sie unter unerklärlicher Melancholie. Der Eremit –­ alias Graf Ory – erscheint und verspricht allen Glück in der Liebe, in der Ehe und im Beruf. Ragonde bittet den Eremiten, ihre Herrin zu empfangen, was Ory, der schon lange ein Auge auf Adèle geworfen hat, gern gewährt, bevor er sich mit dem weiblichen Teil der Bevölkerung in seine Klause zurückzieht. Der Page Isolier und der alte Erzieher Orys treffen auf der Suche nach ihrem seit Tagen verschwundenen Herrn im Dorf ein. Während der Alte über seinen Dienst beim Grafen Ory klagt, hofft Isolier, hier Adèle wiederzutreffen, in die er sich unsterblich verliebt hat. Die Frauen kommen beglückt aus der Klause. Der Erzieher schöpft Verdacht und vermutet hinter diesen Therapieerfolgen die erotischen Aktivitäten seines entlaufenen Zöglings. Er eilt davon, um seine Gefolgsleute zu holen. Isolier hingegen beschliesst, den Eremiten zu konsultieren. Ohne zu ahnen, wem er sich anvertraut, schildert Isolier seine verzehrende Leidenschaft für die Gräfin und verrät seinen Plan, sich als Nonne verkleidet Einlass in das Schloss Adèles zu verschaffen. Er bittet den Eremiten um Unterstützung für seine Liebe. Ory ist überrascht über die Intimitäten, die ihm sein Page anvertraut. Er verspricht Hilfe, beschliesst aber, die Gräfin selbst zu erobern. Gräfin Adèle erscheint und vertraut sich dem Eremiten an, der ihr daraufhin den Rat gibt, sich zu verlieben, und sie von ihrem Keuschheitsgelübde entbindet. Adèle blüht auf und wendet sich mit Begeisterung Isolier zu. Da warnt der Eremit sie nachdrücklich vor Isolier, dem Pagen des berüchtigten

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Wüstlings Ory. Erschrocken will sich Adèle in Begleitung des Eremiten auf ihr Schloss zurückziehen, als der Erzieher erscheint und den vermeintlichen Eremiten enttarnt. Inmitten des allgemeinen Entsetzens trifft eine Nachricht von Adèles Bruder ein: Der Kreuzzug ist siegreich beendet, die Rückkehr der Brüder, Väter und Ehemänner steht bevor. Ory bleibt nur ein Tag, um eine neue List zu ersinnen und die Gräfin zu erobern.

ZWEITER AKT Adèle, Ragonde und ihre Freundinnen wähnen sich im Innern ihrer luxuriösen Behausung vor den Anfechtungen der Welt sicher. Ein Gewitter entlädt sich. Voller Mitleid gedenkt man jener, die den Unbilden der Witterung schutzlos ausgeliefert sind, als draussen plötzlich Pilgerinnen mit einem Bittgesang um Einlass flehen. Ragonde, die die Ankömmlinge empfangen soll, kommt zurück und berichtet empört, es handele sich um vierzehn reifere Damen, die vom Grafen Ory belästigt worden seien. Gern gewährt man ihnen Asyl für eine Nacht. Als eine der Pilgerinnen, «Schwester Colette», um ein Gespräch mit der Gräfin unter vier Augen bittet, kommt es zu einer merkwürdigen Annäherung. Die gemeinsame Erfahrung, vom Grafen Ory belästigt worden zu sein, verbindet die beiden Frauen und führt auf Anhieb zu grosser Sympathie. Gräfin Adèle bemerkt nicht, dass es sich bei ihrer neuen Freundin und den anderen Pilgerinnen um Ory und seine Gefährten handelt. Adèle lässt den Herren Damen einen gesunden Imbiss servieren und zieht sich zurück. Die «Nonnen» haben ihren Spass an der Situation. Als Raimbaud von einem Streifzug durch das Schloss zurückkehrt, bei dem er auch den gräflichen Weinkeller geplündert hat, stimmen sie ein ausgelassenes Trinklied an. Zweimal werden sie unterbrochen, einmal von Ragonde und dann von Adèle: jedes Mal verschwinden die Weinflaschen unter den Kutten, und man gibt sich in inbrünstige Gebete für das Heil der Schlossherrin vertieft. Alle ziehen sich

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zum Schlafen zurück. Da erscheint unerwartet Isolier und kündigt noch für die Nacht das Eintreffen der Kriegsheimkehrer an. Als er von Adèle und Ragonde erfährt, dass Pilgerinnen im Haus sind, erzählt er, dass er selbst einmal den Plan hatte, als Frau verkleidet ins Schloss zu gelangen. Schlagartig wird allen bewusst, wer die Pilgerinnen in Wahrheit sein müssen: Ory und seine Kumpane. Isolier empfiehlt, bis zur Ankunft der Brüder und Ehemänner auf Zeit zu spielen, und verspricht der Gräfin, sie zu schützen. Ory tritt in das verdunkelte Zimmer und bedrängt die Gräfin, ohne zu bemerken, dass er statt ihrer den als Frau verkleideten Isolier liebkost, während dieser selbst die Gräfin bedrängt, sie im Glauben lassend, es handle sich um die Annäherungsversuche Orys. Als Fanfaren die Ankunft der Kreuzritter verkünden, gibt sich Isolier seinem Herrn zu erkennen. Ory muss sich geschlagen geben und bittet für sich und seine Gefährten um Gnade, die ihm von Adèle unter der Bedingung gewährt wird, das Schloss unverzüglich – und von den Heimkehrern unbemerkt – durch einen Geheimgang zu verlassen. Die Kriegsheimkehrer empfängt ein Siegesgesang.

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Javier Camarena, Liliana Nikiteanu Spielzeit 2010 / 11


VON DER KOMIK DER SITUATION Moshe Leiser und Patrice Caurier im Gespräch Moshe Leiser, Patrice Caurier, mit Le Comte Ory widmen Sie sich Rossinis einziger komischer Oper in französischer Spra­che. Was ist das Besondere an diesem Werk? PC: Das Libretto, das Eugène Scribe und Charles Gaspard Delestre-Poirson geschrieben haben, ist von seinem Grundcharakter her wirklich französisch. Im Mittelalter spielende Troubadour-Stücke waren am Beginn des 19. Jahr­hunderts in Paris sehr beliebt, und so lag es nahe, dass Rossini für seine erste französische komische Oper einen Stoff wählte, bei dem er auf die Gunst des Publikums hoffen konnte. Im Unterschied zu seinen italie­nischen Buffo-Opern orchestrierte er die Rezitative, anstatt sie vom Cembalo begleiten zu lassen. Ausserdem sind die einzelnen Nummern, die Arien, viel umfang­ reicher als in den italienischen Buffo-Opern, die wir bislang inszeniert haben. Die handelnden Perso­nen sind keine italienischen Charakte­re, es ist ein ganz anderer Figurentyp. ML: Das Libretto ist eine Parodie auf die klassische Tragédie. Wie bei Racine und Corneille, bei Gluck und Quinault ist das Libretto gereimt. Rossini und seine Librettisten nehmen die Tragédie auf die Schippe. Der französische Reim folgt anderen Gesetzmässigkeiten als im Italienischen, auch die Sprechgeschwin­digkeit ist eine andere. Auf den Text, der ihm oft zu moralisch erschien, hat Rossini immer wieder Einfluss genommen und Scribe zu einer ganzen Reihe von Änderungen gedrängt. Auch in der Musik paro­diert Rossini die Tragédie. Nehmen wir nur den Beginn des zweiten Aktes, wenn die Comtesse und ihre Damen mit Gebeten das Ende eines Sturms erflehen. Mit eben dieser Konstellation beginnt Glucks Iphigénie en Tauride, wo Iphigé­nie und ihre Prieste­rinnen zu den Göttern um Besänftigung der Natur­gewalten und um einen anderen, weniger unglücklichen Zufluchtsort bitten.

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Ein grosser Teil von Rossinis Musik stammt aus seiner Krönungsoper Il viaggio a Reims. Welchen Einfluss hat dieser Kontext auf Ihre Arbeit? PC: Natürlich haben wir uns auch Il viaggio a Reims angehört und genau registriert, wie Rossini sein eigenes Material im französischen Geist umgeformt hat. Letztlich ist es jedoch unerheblich, wem eine Melodie in einem Vor­ gängerwerk in den Mund gelegt war oder mit welchem Ausdruck sie in jenem anderen Kontext vorgetragen wurde. ML: Wenn man Rossinis Musik hört, weiss man nicht, ob eine Figur gerade glücklich oder unglücklich ist. Die gleiche Musik kann bei ihm das eine wie das andere ausdrücken. Erst der Text und seine Interpretation entscheiden über Fröhlichkeit oder Unglücklichsein. Das Fantastische an Rossini ist, dass er immer ein szenisches Grundgerüst vorschlägt, das man dann mit je eigenem Leben erfüllen muss. Was in Il viaggio a Reims funktio­nierte, bewährt sich auch in Le Comte Ory.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Wie macht man eine mittelalterliche Geschichte für ein Publikum am www.opernhaus.ch/shop Beginn des 21. Jahrhunderts interessant? ML: Dass es ein Stoff aus dem Mittelalter ist, heisst noch nicht, dass er für ein oder am Vorstellungsabend imwirdFoyer modernes Publikum uninteressant wäre. Doch was für eine Geschichte da erzählt? Das Libretto spricht von den Männern, die ausgezogen sind, um Jerusalem Sie haben ihre Frauen zu Hause zurückgelassen, die deszu befreien. Opernhauses erwerben des endlosen Wartens schon bald müde werden. Es geht um Sexualität und sexuelle Frustration. Das war uns Anlass, die Geschichte in unsere Generation zu überführen – in das Frankreich vor 1968, die Zeit vor der sexuellen Be­freiung. Der Lebens­entwurf vieler bürgerlicher Familien fuss­te damals auf ei­nem sehr verklemmten Kon­zept von Sexualität sowie auf moralischen Werten, die ganz von Kirche und Staat geprägt waren. Die 68er Bewegung brachte diese schein­­­bar festgefügte Konstellation ins Wanken. PC: Graf Ory glaubt an keinen dieser überkommenen Wertbegriffe. Für ihn zählt allein sein Vergnügen. Das hat Rossini sehr modern komponiert, und das kann man mit direkten Bezügen in die jüngere Geschich­te für ein heutiges Publikum sehr viel besser erzählen. So haben wir die Handlung an den Anfang der 60er Jahre verlegt, als viele Franzosen im Algerienkrieg kämpften.

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ML: Was diese Inszenierung zeigen sollte, ist eine Gesellschaft, die kurz davor ist zu explodieren. Eine Gesellschaft, in der der Einfluss von Kirche und Staat dominiert und wo eine junge Generation auf grössere Freiheit und Öffnung drängt. Ory und Isolier als Repräsentanten dieser neuen Gesellschaft bringen mit ih­rem Handeln die hohen Moralvorstellungen auf Schloss For­mou­tiers ins Wanken. Ory ist zerstö­re­ri­scher in der Art, in der er die Wert­begriffe ablehnt. Ein Libertin, den die Comtesse nur als Objekt seiner Begierde interessiert. In den letzten Jahren haben Sie mit Insze­nierungen von Rossinis Barbiere und Il turco in Italia oder auch Halévys Clari reichlich Komödien­er­ fahrung sammeln können. Dennoch ist eine Ihrer immer wiederkehren­ den Regieanweisungen an die Sänger «No comedy!». Liegt hier der Schlüssel zum Erfolg? ML: In einer Komödie sollte das Publikum über die Situation lachen, in der die Protagonisten stecken. Die Sänger müssen jede Situation mit absolutem Ernst spielen. Als Zuschauer sollte man nie den Eindruck gewinnen, die Comtesse, Ory oder die Nonnen wüssten, dass sie Teil einer Komödie sind. Ansonsten besteht schnell die Gefahr, dass man anfängt, oberflächlich zu spielen und eigene «Kommentare» hinzuzufügen, um das Ganze lustig zu machen. Mir sind Komödienaufführungen suspekt, wo es eine Art Komplizen­ schaft zwischen Darstellern und Publikum gibt und ständig behauptet wird: «Das ist eine Komödie», während das, was man sieht, stattdessen nur eine unerträgliche Schwere und Unglaubwürdigkeit hat. Der Reiz der Ko­mödie liegt darin, an mögliche Situationen zu glauben. Travestieszenen bergen nicht nur in der Oper oft die Gefahr des Pein­ lichen. Welche Lösung haben Sie für Ory und seine Gefähr­ten gefun­den, die als Nonnen verklei­det Einlass im Schloss der Comtesse finden? PC: Ory und seine Freunde wollen unerkannt ins Schloss gelangen. Deshalb benutzen sie ihre Verkleidung als Maske. Wenn sie sich im Salon der Gräfin unbeobachtet wähnen, vergessen sie ihre Verkleidung ganz schnell. ML: Auch in einer Szene mit betrunkenen Nonnen gilt es wieder, einzig und allein die Situation zu erfassen. Das Motto ist nicht «Let’s have fun, weil

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wir als Nonnen verkleidet sind!». Denken Sie an jene Szene aus dem Film «Hair», wo die Hippies bei der piekfeinen Hochzeitsgesellschaft auftauchen. Wenn bei uns die jungen Männer in das bürgerliche Heim der Comtesse ein­dringen, den Kühlschrank leer fressen und mit steigendem Alkoholpegel immer grössere Schwierigkeiten bekommen, die Façon als Nonne zu be­ wahren, dann könnte das vielleicht lustig werden. Als Höhepunkt der Partitur gilt das Terzett «À la faveur de cette nuit obscure», das Ory, die Comtesse und Isolier im zweiten Akt sin­gen. Was macht es zu etwas Beson­derem? ML: Dieses Terzett ist einer der grossen «coups de théâtre», die Rossini immer wieder gelingen. Nicht umsonst lässt er den Pagen Isolier von einem Sopran singen. In dieser Szene spielt Rossini mit dem Wechsel der Identität. Im Dunkel der Nacht bedrängt Ory die Gräfin, ohne zu bemerken, dass er statt ihrer Isolier liebkost, während dieser selbst die Gräfin bedrängt, sie im Glauben lassend, es handle sich um die Avancen Orys, die sie über sich ergehen lassen müsse. Eine besondere Art von Erotik liegt in der Luft. Man spürt die Sinnlichkeit in jedem Takt der Musik, ähnlich dem Finale von Le nozze di Figaro, und für mich tritt an dieser Stelle einmal mehr zutage, worum es in Le Comte Ory eigentlich geht: den entspannten, lustvollen Umgang mit Sexualität. Die sexuelle Frustration, die die Welt der Comtesse –­ ganz gleich ob im Mittelalter oder der Ära De Gaulle –­ bis dahin geprägt hatte, verschwindet. Hoffnung, Angst und Erregung von Ory, Isolier und der Comtesse schwingen in dieser Musik. Wie weit können sie gehen? Rossini schafft hier einen magischen Moment, in dem alles möglich scheint.

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Der Schluss der Oper ist überraschend: Die Männer kehren aus dem Krieg nach Hause zurück. Ob Isolier und die Comtesse eine Zukunft haben, bleibt ungewiss, und Ory geht leer aus. Wie deuten Sie dieses Ende? PC: Für dieses Mal ist Ory der Verlierer, für dieses Mal bleiben «L’armée» und «La religion» als Werte bestehen. Die Oper endet mit dem Empfang der Kriegsheimkehrer und einer Hymne auf die «Söhne des Sieges». Die Moral scheint offiziell gewahrt, um die bürgerlichen Kritiker zu beruhigen. Doch es

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ist klar, dass diese Männer nicht unversehrt von der anderen Seite des Mittel­ meers zurückkehren. Die Institution «Armee» – nicht zuletzt als Verur­ sacherin der sexuellen Frustration bei Männern und Frauen – wird in Frage gestellt. Und wer weiss, was geschieht, wenn der Vorhang fällt und sich die so lange Getrennten endlich wieder in die Arme schliessen! Nur kurze Zeit nach Le Comte Ory – es folgt nur noch die Oper Guil­lau­me Tell – zieht sich Rossini als Komponist von der Opernbüh­ne zurück. Haben Sie eine Erklärung für diese Entscheidung? ML: Bei einem derart begabten Mann überrascht so ein Schritt natürlich. In seiner Musik hört man so viel Freude und Energie. So etwas kann man nur schreiben, wenn man über einen Kraft- und Inspirationsquell verfügt. Irgend­­was muss geschehen sein, dass er sagt: «Das war’s!». Vielleicht war er einfach nur ent­täuscht, dass die Interpreten seiner Werke sei­ne Musik nicht ernst genug genommen haben: seine Dynamik, seine Phrasierung, sei­ne Situa­tions­ charakteristik – all die Mühe, die er sich beim Komponieren gemacht hat. Enttäuscht, dass man ihn nur für einen Komödien­schrei­ber hielt und die grosse Menschlichkeit, die sich unter der spassigen Oberfläche seiner Werke verbirgt, nicht bemerkte. Wenn man die­ses Un­verständnis einmal realisiert hat, kann man nicht wie bisher weiter­machen: Man muss aufhören! Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine Komödie weit­aus schwieriger auf die Bühne zu bringen ist als ein tragischer Stoff. Bei einer Tragödie kommt man oft mit einer Bewegung in drei Minuten aus, in der Komödie ist es umgekehrt. Hier ist alles ständig in Bewegung. All diese Bewegungen müssen richtig sein, die Artikulation muss stimmen, die Situation muss klar sein. In einem Rossini-Ensemble muss jeder wissen, was und warum er es singt. Ernsthaftigkeit ist der einzige Weg. PC: Ein Clown hat es immer schwer. Er wird weniger akzeptiert, als wenn er tragische Sachen machen würde. Wer fragt schon, welchen Aufwand es be­deutet, so von einem Stuhl zu fallen, dass die Leute lachen! Auch bei den Re­gisseuren ist das so. Und ganz ehrlich: Der Ring ist leichter zu inszenieren als Le Comte Ory.

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Gesprächspartner von Moshe Leiser und Patrice Caurier war Michael Küster. 14


Rebeca Olvera, Cecilia Bartoli Spielzeit 2010 / 11


Cecilia Bartoli Spielzeit 2010 / 11



Rebeca Olvera, Javier Camarena, Oliver Widmer, Carlos Chausson und Mitglieder des Internationalen Opernstudios Spielzeit 2010 / 11



DER GRAF ORRY UND DIE NONNEN VON FARMOUTIER Alte picardische Romanze

Der Graf Orry sagte, um sich zu erheitern, dass er das Kloster Farmoutier erobern wolle, um den Nonnen zu gefallen und ihnen die Langeweile zu vertreiben. Dieser Graf Orry, ein gefürchteter Schlossherr, liebte nach der Jagd nichts mehr als die Fröhlichkeit, die Völlerei, die Kämpfe und die Schönheit. – He da! Mein Page! Komm her, mich zu beraten! Die Liebe gaukelt mir etwas vor und ich kann nicht schlafen ... Wie stelle ich es an, in dieses Kloster zu gelangen? – Mein Herr, Ihr müsst vierzehn Ritter sammeln und müsst sie alle dann als Nonnen kleiden; sodann in tiefer Nacht an die Pforte klopfen gehen. Orry holt vierzehn Ritter her; er lässt sie alle sich als Nonnen kleiden; sodann gehen sie in tiefer Nacht an die Pforte klopfen. – He da! Wer klopft? ... Wer macht so grossen Lärm? – Es sind Nonnen, die nur des Nachts reisen, weil sie der verfluchte Graf Orry in Angst versetzt! Die Äbtissin erscheint, die Augen noch voll Schlaf ... – Ihr seid, Mesdames, in diesem Nachtquartier willkommen! Aber wie sollen wir das machen? ... Wo finden wir vierzehn Betten?


Jedes Nönnchen, mit wahrhaft christlichem Herzen, bietet einer fremden Dame die Hälfte ihres Bettes an ... – Es sei (sagt die Äbtissin): Schwester Colette kommt in das meine. Schwester Colette, das war der Graf Orry, der Appetit auf die Äbtissin hatte und darauf brannte, die Elster in ihrem Nest zu fangen. Frisch, üppig, schwarze Augen und weisse Zähne, wohlgeformter Busen, Haut wie Hermelin und Kinderfüsse: die Frau Äbtissin zählte keine fünfundzwanzig Jahre. Zusammen im Bett, beide fest aneinander gepresst ... – Ah! sagt die Äbtissin... Himmel, wie Sie mich umarmen! – Beim wahren Gott, Madame! Kann man Sie genug lieben? – Ach, Schwester Colette, was haben Sie für ein gutes Herz! ... Aber, Schwester Colette, was haben Sie für ein raues Kinn? – Wahrhaftig! Madame, so haben es meine Begleiterinnen auch! – Alle meine Nonnen, kommt mir zur Hilfe! Holt Kreuz und Kirchenfahnen, das Weihwasser! Denn mich hält umschlungen der verfluchte Graf Orry! – Ach! Frau Äbtissin, Ihr habt gut rufen: Lasst Kreuz, Kirchenfahne und Weihwasserkessel an ihrem Platz, denn jede Nonne ist mit ihrem Ritter. Als sich nach einem lauteren Schrei keine Nonne blicken lässt, hofft auch die arme Äbtissin nicht mehr auf Gnade und fasst Geduld mit Schwester Colette. Neun Monate später, es geht auf den Monat Januar zu, ergänzt die Geschichte (als merkwürdigen Vorfall!), dass jede Nonne einen kleinen Ritter zur Welt gebracht.


DIE LETZTE PARALLELAKTION Ulrich Schreiber

Seine letzte italienische Oper schrieb Rossini schon in Frankreich. Am 9. Juni 1825 wurde im Théâtre-Italien im Rahmen der Festlichkeiten zur Krönung Karls X. von Frankreich Il viaggio a Reims ossia L’Albergo del giglio doro (Die Reise nach Reims oder Die Herberge zur goldenen Lilie) uraufgeführt. Das Lib­ ret­to von Luigi Balocchi thematisiert seinen Zweck: auf der Reise zur Krönung des französischen Königs trifft sich in Plombières eine illustre Gesellschaft. Ihr Zeitvertreib wird zu einer facettenreichen Charakterisierung der höheren Stände genutzt, bis die Nachricht eintrifft, dass für die Reise nach Reims keine Pferde zur Verfügung stünden: ein «Gran pezzo concertato» für vierzehn Solisten. Doch schliesslich arrangiert man sich zu einer privaten Feier für den König. Das Werk, in der Uraufführung vor dem König ohne seine später berühmt gewordene Ouvertüre gespielt (hauptsächlich montiert aus Tanzstücken zu Le Siège de Corinthe), hatte wegen der notwendig hochkarätigen Sängerbesetzung keine Chance im Repertoire, geriet alsbald in Vergessenheit und galt als verloren – bis auf jene fünf von insgesamt neun Musiknummern, die in Rossinis ‹Opéra comique› Le Comte Ory (1828) überlebt haben. In den 1970er Jahren setzte dann eine kriminalistische Spurensuche ein, die schliesslich zur Rekonstruktion der Reise nach Reims führte. Beim Festival von Pesaro fand sie 1984 eine weltweit mit Begeisterung aufgenommene Wiederaufführung, in der Claudio Abbado ein Starensemble nach der von Janet Johnson rekonstruierten Partitur dirigierte. Dennoch wird Il viaggio a Reims, aus demselben Grund, der 1825 zu einem Auf­führungsverbot durch den Komponisten geführt hatte, kaum Eingang ins moderne Repertoire finden: Die Oper verlangt tatsächlich vierzehn Vokalstars. Unterhalb eines Weltklasse-Standards gesungen, würde die Musik viel von ihrem Reiz verlieren, zu viel. Sehr viel wirkungssicherer, wenngleich im deut-

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schen Sprachraum nur in einem kleinen Kreis von Kennern geschätzt, ist die andere Seite der Parallelaktion: Le Comte Ory (Graf Ory). Die komische Oper wurde auf einen Text von Eugène Scribe und Charles Gaspard Delestre-Poirson nach beider Boulevard-Einakter von 1816 komponiert. Para­doxerweise spiegelt sich die musikalische Parallelaktion auch im Text. Während Rossini die Hälfte (wenngleich mit diversen Änderungen) aus Viaggo a Reims übernahm, mussten die Librettisten ihre Vorlage verdoppeln, da das Original handlungsmässig nur den zweiten Akt der Oper abdeckt. Es ist die Hauptaktion der um das Jahr 1290 angesiedelten Handlung: Graf Ory, verkleidet als Mutter Oberin, dringt mit seinen als Nonnen kostümierten Freunden in das Schloss Formoutiers ein, wo er (vergebens) die Gräfin zu verführen versucht, deren Bruder und Schlossherr sich auf einem Kreuz­zug befindet. Von seinem eigenen Pagen Isolier, der ebenfalls in die Gräfin verliebt ist, wird Ory genasführt. Als die Kreuzritter zurückkehren, muss er mit den angeblichen Nonnen schnell das Schloss verlassen. Dieser Hauptaktion ist nun der erste Akt als Variante vorgeschaltet: Ory, in der ganzen Touraine als Bonvivant bekannt, stellt sich der Dorfgesellschaft als weiser Eremit vor. Er verspricht den Mädchen und Frauen Hilfe von ihrem anscheinend nur aus einem Punkt kurierbaren Leid. Als Isolier ihm den Plan entwickelt, als Nonne versteckt ins Schloss zur Gräfin zu dringen, heisst er ihn gut. Erst aber erteilt er als Eremit der Gräfin, die wie ihre Frauen unter männerloser Lange­weile leidet, eine Absolution für die von ihm angeratene Kur. Doch seine Maskerade fliegt auf. Trotz dieser Verdoppelung des Handlungsablaufs, der im ersten Akt musikalisch nicht ganz auf der Höhe des zweiten steht, enthält das Werk einiges von Rossinis bester Musik, die zudem von ungeheurer Theaterwirksamkeit ist. Das Trinkgelage der vermeintlichen Nonnen, die den Weinkeller des Grafen entdeckt haben, ist von umwerfender Komik, zumal ihre Alkoholseligkeit in fromme Gesänge umschlägt, wenn die Gräfin oder deren Vertraute erscheinen. Und das Trio, in dem Ory der Gräfin Adèle nächtens nachstellt, verfolgt von Isolier, ist eine sogar von Rossinis Intimfeind Berlioz hochgeschätzte Nummer: «À la faveur de cette nuit obscure» («Im Schutz dieser finste­ren Nacht»). Die Registrierung für sordinierte Streicher und Holzbläser ist exquisit, die Formbe­ handlung steht auf der ironischen Höhe des Barbier-Quartetts. Nun allerdings

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mit einer anderen Stossrichtung: die Kabaletta mit ihren verkappten Musik­zu­ ord­nun­gen für die Personen weist auf einen intern abgelaufenen Prozess hin, und nicht – wie im Barbier – auf dessen Abbremsung durch Musik. Was zu Beginn für die Gräfin eine Prüfung war, hat sich für sie zum Spiel gewandelt: Ory, der grosse Spielerfinder, ist selbst zum Objekt einer Maskerade geworden. Wie sehr Rossini in dieser komischen Oper den von ihm selbst entscheidend geprägten Typus des italienischen ‹Tenore di grazia› in den der französischen ‹Opéra comique› à la Auber und sogar Offenbach ummünzt, vermittelt Graf Ory höchst persönlich auf die vergnüglichste Weise. Er stellt sich mit seinen protzenden hohen C’s sowie unvermuteten Oktav- und Sextsprüngen als ein Balztenor dar, aber wenn in der Kabaletta des nächtlichen Trios die Gräfin den Lärm der aufziehenden Kreuzritter meldet, kann er sich soeben noch zum A der Tonika hochschwingen («J’entends d’ici le bruit» – «Ich höre von hier den Lärm»), ehe er sich in einer fünftaktigen Halbtonbewegung abwärts orien­tiert: alle Avancen muss er zurückschrauben. Da hat Rossini die Gefilde der italienischen Oper verlassen und sich gleichzeitig nicht in der Tradition der französischen ‹Opéra comique› domestiziert: Sein Comte Ory kam in der Grossen Oper heraus. Mag sein, dass der Verzicht auf den gesprochenen Dialog die Aufführungsstätte der Opéra-Comique aus stilistischen Gründen unmöglich machte. Tatsächlich aber hat Rossini mit dem Grafen Ory eine wahrhaft europäische komische Oper geschrieben: zwischen allen Stühlen triumphierend.

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Rebeca Olvera, Javier Camarena Spielzeit 2010 / 11


AUF DER SUCHE NACH DEM WAHREN «COMTE ORY» Damien Colas

Le Comte Ory, die vorletzte Oper von Gioachino Rossini, wurde im August 1828 auf der Bühne der Académie royale de musique, also der Opéra in Paris uraufgeführt. Es ist die dritte der vier französischen Opern von Rossini, komponiert nach Le Siège de Corinthe und Moïse et Pharaon und vor Guillaume Tell. Die Handlung ist an einigen Stellen nicht ganz ‹jugendfrei›: Besungen werden die Abenteuer eines jungen Libertins, der sich lieber den Freuden der Liebe hingibt, als in den Krieg zu ziehen. Ein solches Verhalten mag in gewissen Breitengraden als politisch «korrekt» empfunden werden, jedoch nicht überall! Worum geht es? Eines Nachts dringt Graf Ory mit dreizehn seiner abenteuerlustigen Gefährten, als Nonnen verkleidet, in das Schloss der Gräfin von Formoutiers, in der Touraine gelegen, ein. Hier liegt das Problem: Es gibt nicht genug Betten für alle. Also wird man wohl zusammenrücken müssen. «Wie viele Damen sind es?», fragt die Gräfin. «Vierzehn», antwortet Ragonde, die Pförtne­rin. «Das ist viel. Und was haben sie für Gesichter?» – «Furchterregende.» Aber noch bevor das Unaussprechliche in der vorletzten Szene der Oper tatsächlich geschieht, schil­dert der zweite Aufzug ein riesiges Trinkgelage, das immer dann von Gebeten unterbrochen wird, wenn sich die vermeintlichen Nonnen von den Damen der Burg beobach­tet fühlen. Wein und Sex in Verbindung mit «Rossinis himmlischer Musik», um Balzacs Wort zu zitieren: Kein Wunder, dass das Publikum die Oper liebte. Sie wurde ohne Unter­brechung mehr als 40 Jahre lang mit grossem Erfolg an der Pariser Opéra gegeben. Wenn man bedenkt, wie sehr Le Comte Ory dem französischen Publikum gefiel, scheint es offensichtlich, dass die Oper etwas vom «esprit français» wider­ spiegelt. Trotz­dem wäre es eine Provokation, den Comte Ory als typisch für

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diesen Esprit zu be­zeich­nen: Es ist kein Geheimnis, dass Le Comte Ory zur Hälfte italienisch ist. Der gröss­te Teil des ersten Aufzugs stammt, was die Musik betrifft, aus der Oper Il viaggio a Reims, uraufgeführt 1825 im Théâtre-Italien aus Anlass der Krönungsfeierlich­keiten Karls X., während der zweite Aufzug nur zwei Nummern der italienischen Vorgängeroper beibehält. Alles Andere wurde neu kom­po­niert. Die Wiederaufführung und Umarbeitung bereits aufgeführter Musik war in Italien üblich, nicht jedoch in Frankreich, wo die wichtigsten Theater vom Staat kontrolliert wurden. Hier hatte jedes Theater nicht nur eine bestimmte Aufgabe, sondern war auch auf ein bestimmtes Repertoire festgelegt, so dass die Weitergabe eines seiner Werke an ein anderes Theater nicht nur ver­ boten, sondern schlicht unmöglich war – und zwar aus dem einfachen Grund, dass die verschiedenen Gattungen je verschiedenen Theatern zugeteilt waren. Wir kennen jedoch einige Fälle, in denen Opern, die ursprünglich für ein bestimmtes Theater konzipiert worden waren, dann umgearbeitet und in einem anderen zur Auf­führung gebracht wurden – aus welchen Gründen auch immer. Donizettis La Favorite (1840) etwa wurde zuerst als italienische Oper komponiert (unter dem Titel Adelaide), danach als französische Oper bearbeitet (unter dem Titel L’Ange de Nisida) und schliesslich noch einmal verändert und angereichert, um den Anforde­r un­gen der Bühne der Opéra zu entsprechen. «Ory» ist demnach keine Ausnahme. Trotz­dem kann man bei diesem Werk eine er­ staun­liche Feststellung machen: Die Handlung der Opern Il viaggio a Reims und Le Comte Ory hat eigentlich nicht das Geringste miteinander zu tun. Der Librettist Eugène Scribe hatte über das Sujet des Comte Ory 1816 ein Vaudeville in einem Aufzug geschrieben, das neun Jahre später immer noch sehr be­liebt war. Als Rossinis zweiaktige Oper 1828 uraufgeführt wurde, fanden einige Leute so­gar, das Vaudeville sei komischer. In vielen späteren Vaudevilles aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird eine bestimmte Melodie verwendet, die im Comte Ory vorkommt. Ohne eingehende Untersuchung ist es allerdings nicht möglich zu sagen, ob diese Melodie aus Scribes Vaudeville stammt oder aus einer Romance, die Pierre-Antoine de La Place 1785 in seiner Sammlung Pièces inté­ res­­santes et peu connues pour servir à l’histoire de la littérature veröffentlicht hatte. Diese Romance, die wiederum angeblich auf ein Volkslied zurückgeht, das der Autor in der Picardie gehört haben will, wurde während des ganzen

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19. Jahr­hunderts bis hinein ins 20. immer wieder neu verlegt. Die besagte Melodie war offensichtlich sehr bekannt, und es ist kein Zufall, dass Rossini sie schon in der orchestralen Einleitung zur Introduktion und auch im Trinklied des zweiten Aufzugs verwendet. Man könnte annehmen, dass die Beliebtheit der Legende des «Ory» auf Rossinis Oper zurückgeht. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt: Es ist nicht auszuschliessen, dass der Erfolg dieser Oper – unab­hän­ gig von der Qualität des Werkes – gerade darin begründet lag, dass darin eine sehr beliebte Legende in Musik gesetzt wird. Dem dichterischen Talent eines Scribe haben wir es wohl zu verdanken, dass bei der Umarbeitung des Viaggio in den Comte Ory keine einfache Neufassung einer ursprünglich italienischen Oper, sondern ein echt französisches Werk entstanden ist – sowohl was den Text als auch den Geist des Werkes angeht. Indem er die Hand­lung seines Vaudeville von 1816 und damit die berühm­ te Romance von La Place wieder aufnahm, konnte Scribe den genialen Einfall verwirklichen, auf der Bühne der Académie eine Welt in Szene zu setzen, die nicht aus dem Fundus der historisierenden Grand opéra, sondern direkt aus der Epik eines Rabelais zu stammen schien. Auf diese Weise knüpfte er an die Wurzeln der kulturellen Identität Frankreichs an. Aber bevor wir diesen Punkt näher untersuchen, sollten wir zunächst beschreiben, wie es Scribe gelang, eine französische Fassung für Melodien zu erfinden, die auf ein italienisches Libretto komponiert worden waren. Denn diese Kunst der Umdichtung beherrschte er vorzüglich. Schauen wir auf eine Strophe der Stretta aus der Introduktion des ersten Aufzuges:

Jeune fillette Et bachelette Dans ma retraite Venez me voir.

Hier erkennen wir unschwer das rhythmische Muster der ursprünglich italienischen Verse aus Viaggio wieder: «...più dell’usato, cogliendo il punto, non dubi­ tate, si parlerà». Die regelmässige Disposition der Akzente sowie der «Verso tronco» am Ende springen ins Auge. Auf den ersten Blick hat diese Verskunst

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nicht viel mit der französischen Vers-Tradition des Opernlibrettos gemeinsam, die durch die ständige Vermi­schung von Versen verschiedener Längen gekennzeichnet ist. Seit der Mitte des 18. Jahr­hun­derts haben viele Verfasser Kritik an dieser Tradition geübt, weil sie ihnen der Melodik nicht angemessen schien. So empfahl Chastellux den französischen Libret­tisten schon 1765, nur einige Jahre nach der als «Querelle des Bouffons» bekannt gewordenen Kontroverse zwischen dem Komponisten Jean-Philippe Rameau und dem Philosophen JeanJacques Rousseau, in der Oper die Italiener nachzuahmen und von ihnen zu lernen. In der oben zitierten Strophe sieht es so aus, als ob Scribe den Ideen solcher pro-italienischer Theoretiker gefolgt wäre. Das war aber nicht der Fall. Denn seine dichterische Herangehensweise hat sich allein aus den Erfahrungen heraus gebildet, die der Librettist als Vaudeville-Dichter gemacht hatte. Es war für die französischen Dichter üblich, neue Verse zu Volksliedern, die man «timbres» nannte, zu schreiben. Im Vaude­ville vom Beginn des 19. Jahrhunderts wurden häufig bekannte Melodien mit immer neuen Texten unterlegt. So hatte zum Beispiel Scribe in seinem «Ory»-Vaude­ville von 1816 einen französischen Text geschrieben, der sich der Arie «Fin ch’han dal vino» aus Mozarts Don Gio­ vanni unterlegen liess. Diese Verse sind sowohl für sich genommen, als eigen­ ständige Dichtung, als auch in Verbindung mit der Musik sehr ge­lungen. Und doch, für französische Ohren klingt die Strophe «Jeune fillette» seltsam vertraut. In ihr finden wir nämlich zwei typische Merkmale des sogenannten Troubadour-Stiles. Da ist einmal das Zurückgreifen auf archaische Wörter wie «bachelette» (womit man ein Mädchen im heiratsfähigen Alter bezeichnet). Zum anderen ist es das Auslassen kurzer, grammatikalisch entbehrlicher Wörter, wie Artikel und Pronomen. In Jean de La Fontaines Dichtung Janot et Catin (1674) findet sich ein sehr ähnliches Versmuster:

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Un beau matin Trouvant Catin Toute seulette, Pris son tetin De blanc satin Par amourette

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Aber La Fontaine schrieb ja kein Vaudeville auf Melodien italienischer Arien. Der Dichter selbst erklärt, dass er in seinem Gedicht einen alten Stil nachahmt, den er in Le Grand blazon des fausses amours, 1529 verfasst von dem Bene­dik­ ti­ner­­­pater Guillaume Alexis, vorgefunden hatte. Daraus kann man schliessen, dass Scribe, darin vielleicht La Fontaine oder anderen Vorbildern nacheifernd, den Stil der alten französischen Dichtung vom Ende des Mittelalters nachahmen wollte. Diese geniale Vorgehensweise ermöglich­­­te es ihm, zwei verschiedene Probleme gleich­­­zei­­tig zu lösen – sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Einerseits konnte er an eine alte, sehr beliebte literarische Tra­di­tion Frankreichs, die immer noch in Volksliedern weiterlebte, anknüpfen; andererseits konnte er sich einer vorklassischen, und damit dem Italieni­schen näher stehenden Verskunst bedienen, die sich perfekt mit Rossinis Melodien vereinbaren liess. Ebenso faszinierend wie die oben zitierte Stelle ist die erste Strophe des Terzetts vom Ende des zweiten Auf­zugs (N. 12) «À la faveur de cette nuit obscure», das zu den neu komponier­ ten französischen Teilen der Oper gehört. À la faveur | de cette nuit obscure, Avançons-nous, | et sans la réveiller. Il faut céder | au tourment que j’endure; Amour me berce, | et ne puis sommeiller. Im ersten, 1828 von Bezou veröffentlichten Abdruck des Librettos wurde der vierte Vers kursiv gedruckt. Warum? Man findet ihn schon in gleicher Form im Vaudeville von 1816 und auch in der Romance von La Place. Diese Strophe ist in einem Versmass geschrieben, das in der klassischen französischen Dichtung weniger gebräuchlich war. Der fünfhebige Zehnsilber, mit einer Zäsur nach der vierten Silbe, war nämlich das im Mittelalter für die epische Dichtung gültige Vers­mass; während der Renaissance wurde es dann durch den sechshebigen Alexandriner ersetzt. In dem Vers «Amour me berce, et ne puis sommeiller» steht das Wort «amour» ohne Artikel und das Verb «puis» ohne Pronomen. Schon im 16. Jahrhundert galten solche Auslassungen als Fehler. Zu der Zeit aber, als der Troubadour-Stil in Mode kam, wurden sie bewusst eingesetzt, um den

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typischen Charme des «français d’autrefois» in Erinnerung zu rufen; die Sprach­ wissen­schaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom «style marotique» (unter Anspielung auf den Dichter Clément Marot, 1496-1544).

Esprit gaulois Heutzutage ist der sogenannte Troubadour-Stil vor allem durch das negative Urteil vieler Kritiker bekannt. Von den 1830er Jahren bis zum Ende des 19. Jahr­hunderts gab es darüber einen breiten Konsens; sehr oft machte man sich über diesen Stil, den man albern und gekünstelt fand, lustig. Obwohl die franzö­ sischen Romantiker das Mittel­alter anbeteten, lehnten sie den Troubadour-Stil ab. Théophile Gautier, zum Beispiel, setzte den von ihm so bezeichneten «Mâchicoulis-Stil» dagegen. (Der Aus­druck «Mâchicoulis», auf Deutsch etwa «Pechnase», bezeichnete im Mittelalter die in der Aussenmauer einer Befesti­ gungs­­anlage ausgesparten Öffnungen, durch die man kochenden Teer auf die anstürmenden Angreifer herabgiessen konnte.) Wie Georges Matoré jedoch in seiner 1951 veröffentlichten Abhandlung über den Wortschatz in der Zeit von Louis-Philippe unterstreicht, ist die Frage berechtigt, ob man wirklich von einem fundamentalen Unterschied zwischen dem verächtlich gemachten Troubadour-Stil und dem romantischen Stil sprechen kann. Bei näherer Betrachtung kam der Ver­fasser jedenfalls zu dem Schluss, dass ein solcher Unterschied nicht existiert. Also muss man die Verachtung gegenüber dem Troubadour-Stil anders erklären. Der Zeitpunkt, als dieser literarische Stil in den 1820er Jahren in Mode kam, fällt mit der Rückkehr vieler französischer Adliger, die während der Revolution emigriert waren, zusammen. Boieldieus Oper La Dame blanche, eine weitere berühmte Troubadour-Oper, wurde 1825 uraufgeführt; im gleichen Jahr wurde ein als «loi du milliard aux émigrés» bekannt gewordenes Gesetz beschlossen. Der Zweck dieses Gesetzes war es, die Adeligen für die Enteignung ihres Grundbesitzes während der französischen Revolu­tion zu entschädigen. Auch wenn sie von der Vergangenheit fasziniert waren, konnten sich die Roman­ tiker, die sich als politisch progressiv bezeichneten, nicht auf die Seite einer sol­chen reaktionären Ideologie stellen.

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Noch auffälliger als die Ablehnung des Troubadour-Stils war die Geringschätzung der Original-Literatur der Troubadoure, die manche Autoren des 19. Jahrhunderts, die sich mit dem Mittelalter befassten, deutlich zum Ausdruck brachten. In seinen 1828 veröffentlichten Mélanges philosophiques et littéraires erklärte Louis-Simon Auger, die Gedichte der südfranzösischen Troubadoure enthielten zum grössten Teil nichts weiter als Allerweltsweisheiten über die Liebe, während die Gedichte der Trouvères aus der Normandie, der Picardie und der Champagne, also aus dem Norden Frankreichs, voll Witz und Volksweis­ heit seien. Namentlich die berühmten «fabliaux» hatten es Autoren wie Auger angetan; mit diesem, aus dem Dialekt der Picardie stammenden Ausdruck bezeichnet man die in Nordfrankreich entstandene mittelalterliche Schwankdich­ tung, die nicht nur adlige, sondern auch bürgerliche Verfasser kannte und durch fahrende Sänger und Spielleute, die sogenannten «ménestrels», weite Verbreitung fand. Der Gegensatz zwischen der höfischen Dichtung der Troubadoure und der Dichtung der Trouvères, den man entlang der Sprachgrenze zwischen der «langue d’oc» und der «langue d’oïl» nachverfolgen kann, überschneidet sich teilweise mit einem anderen, noch tiefer gehenden Gegensatz, den der berühmte Mediävist Joseph Bédier (1864-1938) einige Jahrzehnte später in seiner Abhandlung über die Fabliaux untersuchen sollte. Die lebensnahe Einstellung der Fabliaux, wie sie auch im Roman de Renart aus dem 12./13. Jahrhundert (dem Goethe seinen Reineke Fuchs nachempfunden hat) oder im Roman de la rose zum Ausdruck kommt, war seines Erachtens nach das genaue Ge­gen­­teil der idealistischen Einstellung, die für die Lyrik bzw. die Romane um Lanze­lot, Parsifal und die Ritter der Tafelrunde kennzeichnend ist. Charles Lenient wie­ der­um stellt in seinem Buch La Satire en France au Moyen Âge (1859) fest, dass Frauen- und Kirchen­­feindlichkeit zwei konstante Hauptmerkmale der Fabliaux sind; darüber hinaus räumt er freimütig ein, dass er die Kürze dieser Literaturgattung schätzt, die im Ge­gen­­­satz zu den endlosen Dimensionen der MinneRomane steht. Es sind genau diese drei Elemente – Kürze, Frauenfeindlichkeit und eine kirchenkritische oder antiklerikale Tendenz – die den Stoff um den Grafen Ory kennzeichnen, sei es in der Romance, im Vaudeville oder in der Oper. Folglich war es logisch, in mittelalterlichen Fabliaux nach dem Ursprung des

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Mär­chens um den Grafen Ory zu suchen. Der spanische Forscher Arturo Delga­ do hat jedoch in einer Studie nachgewiesen, dass es eine solche Quelle nicht gibt. Frauen- und Kirchenfeindlichkeit in Frankreich sind auch von dem Eth­ no­logen Paul Sébillot (1843-1918) sehr eingehend erforscht worden. Er hat viele Jahre seines Lebens damit zugebracht, Legenden und Sprichwörter zu sammeln. In seinem Buch Folklore de France führt Sébillot verschiedene Gründe für das Misstrauen gegenüber Priestern, Mönchen und Nonnen aus. Er schildert den Volksglauben an unterirdische Gänge zwischen Frauen- und Männerklöstern und gibt verschiedene Beispiele für die volkstümliche Missbilligung der Wollust der Nonnen. Eine Legende aus der Normandie erzählt von Nonnen, die Höllen­ sarabanden tanzen mussten – als Strafe für die Orgien, die sie im Laufe ihres Lebens gefeiert hatten. Diese Legende könnte die Quelle für die be­­rühmte Szene in Meyerbeers Oper Robert le diable sein. In Bezug auf die Figur des Graf Ory erwähnt Sébillot die Romance von La Place, aber auch andere Fassungen, einschliesslich einer im Dialekt des Béarn geschriebenen (La mounjo gourri­ nayro, herausgegeben 1868 von Cénac-Moncaut). Eine ganz ähnliche Version gibt es sogar im Dialekt der Gegend von Monferrato, im Piemont. In dieser italienischen Fassung (herausgegeben 1870 von Ferraro) ist es der Fürst von Carignan, der in das Haus einer Dame eindringt, um mit ihrer Tochter zu schlafen. Am Tag darauf – nachdem er be­kommen hat, was er wollte – empfiehlt der Fürst seiner Gastgeberin, eine Wiege und eine Amme zu suchen, da «ihre Tochter Glück gehabt hat». Alle diese Legenden, einschliesslich der Romance von La Place, sind verschiedene Versio­nen ein und desselben Archetyps. Da sie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts veröffentlicht wurden, kann man sich fragen, ob Rossinis Oper etwas mit ihrer Be­liebt­heit zu tun hatte. Doch das ist nicht sehr wahrscheinlich. Auch wenn sie oft von gebildeten Adligen niedergeschrieben wurden, waren diese Legenden in regionalen Dia­lekten abgefasst und vor allem für Personen bestimmt, die weder lesen noch schreiben konnten, die niemals reisten und bestimmt nicht ins Theater gingen. Die Tatsache, dass diese Geschichten so bekannt waren, bedeutet nur, dass sich darin eine weit verbreitete Vorstellung vom Leben in Ordensgemeinschaften widerspiegelt. Nachdem wir nun festgestellt haben, dass ganz ähnliche Geschichten in verschiedenen Sprachen erzählt wurden, klingt es allerdings paradox, wenn man

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ausgerechnet die Legende vom Grafen Ory als Beispiel für den Esprit gaulois bezeichnet. Taine, Sainte-Beuve und Lénient, die einen solchen französischen (wörtlich «gallischen») Geist in der Geschichte um den Grafen Ory auszumachen versucht haben, haben jedoch nie behauptet, dass dieser Geist nicht auch bei anderen Völkern existieren könnte. Sie beschreiben nur, dass einige konstante Merkmale in verschiedenen Epochen der französischen Literatur wiederkehren, so dass daraus denen eine nationale literarische Tradition entstanden ist. So meint Louis-Simon Auger in seinen 1828 in Paris erschienenen Mélanges philosophiques et littéraires: «Rabelais, Regnier und La Fontaine, all jene unserer Schriftsteller, die sich besonders durch den französischen Geist auszeichnen, haben in ‹diesen alten Sammlungen von Volks-Satiren, diesem unsterblichen Archiv anzüglicher Schwänke› ihren Schatz gefunden. Zahllos sind die geistreichen Bemerkungen und die treffenden Ausdrücke, die sie zum Nutzen ihrer Werke daraus geschöpft haben.»

Wer steckt hinter den Figuren? Es steht heute fest, dass die Ory-Legende weder auf einen Fabliau noch auf irgend­eine Begebenheit aus der Ge­schich­te zu­rückgeht, und dass man sie geografisch nicht eindeutig lokalisieren kann. Das hat aber das Publikum von 1828 sicher nicht gehindert, sich präzise Individuen hinter den Figuren des Stückes vorzustellen. Versuchen wir einmal zu erraten, wen das Publikum der 18201830er Jahre im Kopf gehabt haben könnte. Zuerst die Gräfin: In den Primär­ quellen des Libret­tos, die ich bei der Er­arbei­tung meiner kritischen Ausgabe der Oper herangezogen habe, hat die Gräfin keinen Namen. Erst in der italieni­ schen Über­setzung von Cajani (1829) wird sie zu «Adele». Es ist allerdings historisch be­legt, dass Erz­bischof Hilde­bert von Tours am Ende des 11. Jahr­ hun­derts Briefe an eine sogenannte «Gräfin A.» geschrieben hat, die die Herausgeber dieser Briefe im 19. Jahr­hun­dert als «Gräfin Adela» identifiziert haben. In einem seiner Briefe bringt der Erzbischof seine tiefe Bewun­derung für diese starke Frau zum Aus­druck, die grosse Verant­wor­tung zu tragen hatte, weil ihr Ehemann in einen Kreuzzug gezogen war. In einem anderen Brief erfahren wir, dass die Gräfin ins Kloster gegangen ist; Hilde­bert schreibt ihr von den mögli-

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chen Ver­suchungen, die mit ihrer neuen Lebens­weise verbunden sind, und warnt sie vor dem Werk des Teufels. Bei der Lektüre dieser Briefe fällt es schwer, nicht an ähnliche Situationen im Comte Ory zu denken. Die Gräfin, die in Hildeberts Briefen lebendig wird, war Adela von Blois, Gattin des Grafen Étienne und Tochter Wilhelms des Eroberers. Sie muss mehr als eigensinnig gewesen sein. Sie war es, die ihren Mann dazu trieb, nach Palästina aufzubrechen, so dass sie allein die Ländereien der Grafschaft kontrollieren und verwalten konnte. Als er aus dem Heiligen Land zurückkam, empfing ihn seine Frau mit einem eiskalten Willkommensgruss: Sie erklärte sich schockiert, mit einem Feigling verheiratet zu sein. Also brach ihr Mann ein zweites Mal nach Palästina auf, wo er letztlich getötet wurde. Adela war’s zufrieden und wurde Nonne. Wenn wir es für möglich halten, dass das französische Publikum die Gräfin aus dem Comte d’Ory als Adela von Blois identifizierte, so können wir verschiedene Szenen der Oper in einem neuen Licht sehen. Die Gräfin ist demnach eine kalte Hexe, wohingegen Ory den sinnlichen, lebenslustigen Menschen verkörpert, mit dem sich die Leute identifizieren konnten. In dieser Perspek­tive klingt die Klage-Arie der Gräfin aus dem ersten Akt wie eine scharfe Kritik an der Selbstsucht und Scheinheiligkeit dieser Frau. Und Ory ist dann nicht mehr der Böse­wicht, der Frauen misshandelt, sondern ein Libertin, der weiss, wie man das Leben geniesst, und den Frauen seine Dienste anbietet, um ihnen die Langeweile zu vertreiben. Wen aber konnte sich das Publikum hinter der Figur des Ory vorstellen? Wir müssen dazu nur in einem 1814 von Pétrus-Borel veröffentlichten Text nach­ ­lesen, wo der Graf Ory zusammen mit dem französischen König Heinrich IV. (1553-1610) erwähnt wird: «Kurz vor den Stadtmauern von Paris gefiel es Heinrich IV., die Zelle mit der Äbtissin von Montmartre, Marie de Beauvilliers, zu teilen. Diese Marie hat der gute Monsieur Dulaure mit Claudine, der Äbtissin von Pont-aux-Dames, verwechselt, so dass er aus den beiden Klosterschwestern eine einzige Person machte, die vom König verführt wurde. Das Kloster von Montmartre war für die Ritter des Königsheeres eine allzeit empfangsbereite Herberge, wo die hübschen Nonnen, allen voran die Äbtissin, jedem Wunsch der Adeligen nachkamen, wenn sie – wie der Graf Ory – an die Klosterpforte klopften. […] Eine andere

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Nonne, Catherine de Verdun vom Kloster Longchamp, war 22 Jahre alt, als sich Heinrich IV. in sie verliebte. Der spendable König gab ihr später das Priorat von Saint-Louis de Vernon...» In der langen Liste der Mätressen von König Heinrich IV. (wie sie Mathurin François Lescure in seinem Buch Les amours de Henri IV von 1864 aufzählt) sind Catherine de Verdun und Marie de Beauvilliers die Nummern 25 und 26. Diese lange Reihe von Mätressen hinderte die Franzosen übrigens keineswegs, Heinrich IV. zu verehren und für den besten ihrer Könige zu halten. Es gibt also noch eine andere Verbindung zwischen Il viaggio a Reims und Le Comte Ory: Indem er in Le Comte Ory erotische Erfolge im Gefolge König Heinrichs IV. verherrlichte, schuf Rossini eine zweiaktige Oper, wohingegen es im einaktigen Viaggio nur eine Variation über das berühmte Volkslied «Vive Henri IV» gegeben hatte.

Die Wiederentdeckung eines Meisterwerkes Seit der Uraufführung des Comte Ory 1828 in Paris ist die Oper weltweit stets nach der von dem Verleger Eugène-Théodore Troupenas herausgegebenen Partitur aufgeführt worden. Diese Partitur wurde aber offenbar sehr schnell gedruckt, enthält viele Fehler und gibt nur eine verfälschte Fassung der ursprünglichen Pariser Version wider. Troupenas hat bestimmt unter grossem Zeitdruck arbeiten müssen; dennoch bereiten einige der Fehler, die ihm unterlaufen sind, bei aktuellen Produktionen der bei ihm publizierten letzten vier Rossini-Opern immer wieder erhebliche Schwierigkeiten. Philip Gossett bemerkt zum Beispiel, dass der französische Verleger in Le Siège de Corinthe verschiedene Kompositionsschichten im Manuskript durcheinander gebracht hat, so dass an einer Stelle ein Chor von griechischen Soldaten singt, obwohl diese eigentlich schon tot sind. Abgesehen von ähnlichen Fehlern und Kürzungen findet man in der von Troupenas verlegten Partitur des Comte Ory sogar eine Reduzierung der Sängerzahl im Finale des ersten Aufzugs. Die Partitur respektiert folglich in keiner Weise die Pariser Originalfassung. Dass das Finale solcherart verstümmelt wurde, erklärt sich wahrscheinlich durch die Aufführungspraxis an Provinztheatern, die natürlich nicht über die gleichen Mittel verfügten wie die Académie. Paris

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bildet insofern eine Ausnahme, als die Oper nur hier nach einer Originalabschrift des heute verlorenen, von Rossini selbst erstellten Manuskriptes einstudiert und aufgeführt wurde. Bei der Arbeit an der neuen kritischen Ausgabe stiess ich in den der Pariser Urauf­füh­rung zugrundeliegen­­den, in der Bibliothek der Opéra befindlichen Abschriften auf einige bisher unbekannte Teile der Original­­­fassung des Ich entdeck­te zum Beispiel, dass die Arie des Gouverneurs (Nr. 2) schon sehr früh gekürzt worden war; das geschah wahrscheinlich deshalb, weil sie mit sechs hohen und sechs tiefen F für den Bass-Bariton Nicholas-Prosper Levasseur zu schwer war. Die beiden Hauptunterschiede zwischen der Troupenas-Partitur und der Original­fassung finden wir jedoch in den Finali des ersten und zweiten Auf­zu­ges. Beim ersten Finale handelt es sich in Wirklich­keit um eine komplexe­ re Bearbeitung des Gran pezzo concertato a 14 voci aus Viaggio, und nicht etwa um eine vereinfachte Version dieses Concertato, wie es bei Troupenas erscheint. In einigen Takten wird die Zahl von 13 Solisten erreicht, begleitet von einem 10-stimmi­gen Doppelchor; solche Anforde­r un­gen übersteigen so­gar die monu­ mentalen Dimen­sionen des Guillaume Tell. Viel­leicht noch erstaunlicher ist eine Reihe von Veränderungen, die im Finale des zweiten Aufzuges vorgenommen wurden. Von ur­sprünglich 122 Takten blieben schliesslich noch 56 Takte übrig. Heute kennt man weder die genauen Gründe für diese Kürzun­gen noch den Zeitpunkt, zu dem sie gemacht wurden. Wahrscheinlich entschied man sich noch während der Proben für die ersten Kürzungen, also schon sehr früh; weitere Striche erwiesen sich offenbar erst später als notwendig – nämlich zu dem Zweck, Teile der Oper aufzuführen, wie es an der Académie in Repertoirevorstellungen häufig vorkam. Mit dem originalen Pariser Aufführungs­material war es mir möglich, dieses Finale in seiner Ganzheit wieder neu entstehen zu lassen: Das Zürcher Publikum ist also das erste, das die Oper vom Anfang bis zum Ende so zu hören bekommt, wie es sich Rossini gewünscht hätte.

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Damien Colas ist Directeur de recherches am Centre national de la recherche scien­ti­fique (CNRS) und Heraus­geber der im Bärenreiter-Verlag erscheinen­den Neu­­­­edition von Rossinis «Le Comte Ory», die der Zürcher Inszenierung zugrunde liegt.

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Carlos Chausson Spielzeit 2010 / 11

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AN DIE LIBERTINS Marquis de Sade

Wollüstige jeden Alters und jeden Geschlechts, euch allein widme ich dieses Werk: Nährt euch von seinen Lehren, sie befeuern eure Leidenschaften, und diese Leiden­schaften, vor denen euch nüchterne und kalte Moralisten Angst einjagen, sind nichts anderes als die Mittel, die die Natur gebraucht, um den Menschen zu den Anschauun­gen hinzuführen, die sie über ihn hat. Hört nur auf diese köstlichen Leidenschaften; ihre Stimme allein kann euch zum Glück führen. Lustvolle Frauen, euch möge die wollüstige Madame Saint-Ange ein Vorbild sein. Ver­achtet wie sie alles, was den göttlichen Geboten des Vergnügens entgegensteht, die sie ein Leben lang fesselten. Junge Mädchen, die ihr allzu lang in den absurden und ge­fähr­lichen Schlingen einer phantastischen Moral und einer geschmacklosen Religion gefangen wart, macht es wie die feurige Eugénie. Zerstört und zertretet mit derselben Unbedenklichkeit wie sie all die lächerlichen Vorschriften, die törichte Eltern euch eingeschärft haben. Und ihr, liebenswerte Lüstlinge: ihr, die ihr von Jugend auf keine anderen Zügel kanntet als eure Begierden und keine anderen Gebote als eure Launen, euch möge der zynische Dolmance als Beispiel dienen; geht genauso weit wie er, wenn ihr – wie er – all die blumigen Pfade durchlaufen wollt, die euch die Lüsternheit bereitet; in seiner Schule mögt ihr euch überzeugen: Nur indem es den Spielraum seiner Neigungen und Phantasien erweitert, nur indem es alles auf dem Altar der Wollust hingibt – nur so kann jenes unglückliche Individuum, das unter dem Namen Mensch bekannt ist und gegen seinen Willen in dieses traurige Universum geworfen wurde, dahin gelangen, eine paar Rosen über die Dornen des Lebens zu streuen. Aus: «La Philosophie dans le Boudoir», 1795

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Mass für Mass Angelo Bet’ ich und denk’ ich, geht Gedank’ und Beten Verschiednen Weg. Gott hat mein hohles Wort, Indes mein Dichten, nicht die Zunge hörend, An Isabellen ankert. Gott im Munde – Als prägten nur die Lippen seinen Namen; Im Herzen wohnt die giftig schwell’nde Sünde Des bösen Trachtens. – Der Staat, mein Studium einst, Ist wie ein gutes Buch, zu oft gelesen, Schal und verhasst: ja meine äussre Würde, Die sonst – o hör es niemand! – all mein Stolz, Ich gäb sie für ein Federchen mit Freuden, Das müssig spielt im Wind. O Rang! O Würde! Wie oft durch äussre Schal’ und Form erzwingst du Ehrfurcht von Toren; lockst die Bessern selbst Durch falschen Schein! – – Blut, du behältst dein Recht; Schreibt «Guter Engel!» auf des Teufels Hörner, So sind sie nicht sein Zeichen mehr. William Shakespeare



Oliver Widmer, Zusatzchor und Zuzüger der Oper Zürich Spielzeit 2010 / 11



Javier Camarena, Cecilia Bartoli Spielzeit 2010 / 11


MEMOIREN EINER TOCHTER AUS GUTEM HAUSE Simone de Beauvoir

I Zwischen Polonaisen, Reigen und der «Reise nach Jerusalem» wurde der Tanz ein Gesellschaftsspiel unter anderen und befremdete mich nicht mehr. Ich fand sogar einen meiner Tänzer, der gerade sein Medizinstudium beendete, recht hübsch. Eines Tages blieben wir auf einem benachbarten Landsitz bis in die frühen Morgenstunden zusammen; eine Zwiebelsuppe wurde in der Küche gemeinsam hergestellt; wir fuhren im Auto bis an den Fuss des Mont Gargan und bestiegen ihn, um den Sonnenaufgang zu ge­nies­sen; in einem Gasthaus tranken wir unseren Morgenkaffee; es war meine erste durch­tollte Nacht. In einem meiner Briefe erzählte ich Zaza von diesen Extra­vaganzen; sie schien etwas schockiert, dass ich so grosses Vergnügen daran fand und dass Mama dergleichen duldete. Weder meine Tugend noch die meiner Schwester waren übrigens in Gefahr; wir hiessen «die beiden Kleinen»; da wir offenbar noch zu ungewitzt waren, war der «Sex-Appeal» nicht unsere starke Seite. Indessen wimmelten die Gespräche von Anspielungen und Zweideutigkeiten, deren Unverblümtheit mir oft peinlich war. Made­leine vertraute mir an, dass sich abends in den Bosketten, den Autos alles mögliche zutrug. Die jungen Mädchen nahmen sich nur so weit in acht, dass sie eben noch junge Mädchen blieben. Yvonne hatte diese Vorsichts­mass­nahme missachtet, die Freunde Roberts, die sich abwechselnd mit ihr amüsiert hatten, waren so aufmerksam, meinen Vetter davon in Kenntnis zu setzen, und die Heirat zerschlug sich. Die andern Mädchen kannten die Spielregeln und respektierten sie; diese Vorsicht beraubte sie jedoch nicht angenehmer kleiner Vergnügungen. Zweifellos gingen diese über das Mass des Er­laub­ten hinaus: diejenigen, die zu Gewissens­skrupeln neigten, liefen am nächsten Tag zur Beichte und kehrten mit befreiter Seele zurück. Ich hätte gern gewusst, durch welchen Mechanismus die Berührung zweier Münder Lust er-

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zeugt: Oft, wenn ich die Lippen eines Burschen oder eines Mädchens betrachtete, verspürte ich das gleiche Staunen wie einst angesichts der Metro oder eines gefährlichen Buches. Die Be­leh­r ung durch Madeleine hatte stets etwas Bizarres; sie erklärte mir, die Lust hänge von den Nei­gun­gen jedes einzelnen ab: Ihre Freundin Nini verlange, dass ihr Partner ihr die Fusssohlen küsste oder kitzelte. Voller Neugier, aber doch mit einem Gefühl des Unbe­hagens fragte ich mich, ob mein eigener Körper auch verborgene Quellen enthielte, aus denen eines Tages ungeahnte Empfindungen hervorbrechen würden. Um nichts in der Welt hätte ich mich zu dem bescheidensten Versuch auf diesem Ge­biete hergegeben. Die Sitten, die Madeleine mir beschrieb, fand ich durchaus empö­rend. Die Liebe, so wie ich sie sah, bezog den Körper kaum in ihre Bereiche mit ein; den­noch lehnte ich ab, dass der Körper Befriedigung für sich ohne Liebe suchte. Ich trieb die Intransigenz nicht so weit wie Antoine Redier, der Herausgeber der Revue française, an der mein Vater arbeitete: in einem Roman hatte er das rührende Porträt eines «wirk­li­chen» jungen Mädchens gezeichnet: Sie hatte einmal einem jungen Mann erlaubt, ihr einen Kuss zu rauben; ehe sie aber diese Schmach ihrem Verlobten eingestand, entsagte sie ihm lieber. Ich fand die Geschichte einfach grotesk. Als aber eine meiner Kameradinnen, die Tochter eines Generals, mir nicht ohne Melancholie in der Stimme erzählte, dass bei jedem ihrer Ausgänge mindestens einer ihrer Tänzer sie küss­te, fand ich tadelnde Worte für sie, dass sie sich darauf einliess. Es schien mir traurig, unangemessen und schliesslich sogar unrecht, einem Gleichgültigen die Lippen darzubieten. Einer der Gründe meiner Prüderie lag zweifellos in der mit Grauen gemischten Ab­nei­gung, die ein Mann gemeinhin Jungfrauen einflösst; ich fürchtete vor allem meine eigenen Sinne und ihre möglichen Launen: Das Unbehagen, das ich in der Tanz­stunde verspürt hatte, ärgerte mich, weil ich es ungewollt über mich hatte ergehen lassen; ich wollte nicht zugestehen, dass durch eine blosse Berührung, einen Druck oder eine Umarmung der erste Beste einen zum Straucheln bringen konnte. Ein Tag würde kommen, an dem ich selber in den Armen eines Mannes die Lust kennenlernen würde: ich wollte meine Stunde wählen, und meine Entscheidung sollte durch die Heftigkeit meiner Liebe gerechtfertigt sein. Zu diesem rationalistischen Hochmut traten noch durch meine Erziehung geschaffene Stilisierungen hinzu. Ich hatte diese

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unbefleckte Hostie, meine Seele, geliebt; in meiner Erinnerung spielten noch Bilder wie besudelter Hermelin oder entweihte Lilie eine Rolle; wenn die Lust nicht durch das Feuer der Leiden­schaft reingeglüht war, blieb sie etwas Beschmutzendes. Zudem neigte ich zu Extremen: Ich wollte alles oder nichts. Wenn ich liebte, würde es fürs Leben sein, ich würde ganz und gar, mit Körper, Herz, Kopf und Vergangenheit, in meiner Neigung auf­gehen. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich nie Gelegenheit, diese Prinzipien auf die Probe zu stellen, denn kein Verführer versuchte je, sie ins Wanken zu bringen. Mein Verhalten richtete sich nach der in meinen Kreisen geltenden Moral; dennoch nahm ich diese nicht ohne wichtige Einschränkung hin; ich wollte die Männer dem gleichen Gesetz unterstellt sehen wie die Frauen. Tante Germaine hatte in verhüllten Worten meinen Eltern gegenüber ihr Bedauern ausgedrückt, dass ihr Sohn Jacques allzu zahm sei. Mein Vater, die meisten Schriftsteller und der allgemeine Konsens der Gesellschaft ermunterten die jungen Leute, sich die Hörner abzulaufen. Im gegebenen Moment würden sie dann ein junges Mädchen ihres Milieus heiraten; inzwischen aber fand man in der Ordnung, dass sie sich mit Mädchen von geringem Stand amüsierten, ob es nun Loretten, Grisetten, Midinetten oder Cousetten waren. Dieser Brauch widerte mich an. Oft war mir gesagt worden, die unteren Stände hätten keine Moral; das un­gehörige Verhalten einer Wäscherin oder eines Blumenmädchens kam mir demgemäss so natürlich vor, dass ich deswegen nicht in Wallung geriet; ich hatte Sympathie für diese besitzlosen jungen Frauen, die die Romanschriftsteller gern mit den rührendsten Vorzügen ausstatteten. Indessen war ihre Liebe von vornherein dem Untergang ge­weiht; eines Tages, je nach Laune oder Gelegenheit, würde ihr Lieb­ha­ber sie um einer jungen Dame willen versetzen. Ich war demokratisch und romantisch zugleich: ich fand es em­pörend, dass ein Mann, weil er ein Mann war und Geld hatte, berechtigt sein sollte, mit einem Herzen zu spielen. Andererseits lehnte ich mich dagegen auch im Namen der Braut in ihrer Unschuldsweisse auf, mit der ich mich identifizierte. Ich sah keinen einzigen Grund, weshalb ich meinem Partner Rechte zuerkennen sollte, die ich für mich selbst nicht in Anspruch nahm. Unsere Liebe würde nur zwingend und alles umfassend sein, wenn er sich ebenso für mich aufbewahrte, wie ich bereit war, es für ihn zu tun. Zudem musste unbedingt das sexuelle Leben seinem Wesen nach und demnach

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für alle eine ernste Angelegenheit sein, denn sonst hätte ich meine eigene Haltung revidieren müssen, und da ich im Augenblick ausserstande war, etwas an ihr zu ändern, hätte mich das in die grösste Verlegenheit gebracht. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung versteifte ich mich also darauf, für beide Geschlechter gleiche Keuschheit zu fordern.

II Stépha kam ein paar Tage später als ich nach Paris zurück und ging oft in die Nationale, um Goethe und Nietzsche zu lesen. Mit ihrem immer bereiten Lächeln und Blick gefiel sie den Männern zu sehr, und diese interessierten sie zu sehr, als dass sie wirklich emsig hätte arbeiten können. Wenn sie sich kaum an einem Platz eingerichtet hatte, warf sie schon ihren Mantel über die Schultern und traf draussen irgendeinen ihrer Flirts: den, der sich auf die agrégation, die ausserordentliche Professur, in Deutsch vorbereitete, den Studenten aus Preussen, den rumänischen Doktor. Wir assen zusammen zu Mittag, und obwohl sie nicht sehr reich war, lud sie mich in eine Bäckerei zu Kuchen oder zu einem Kaffee in der Bar Paccardi ein. Um sechs gingen wir an den Boulevards spazieren oder – was noch häufiger geschah – tranken bei ihr Tee. Sie bewohnte in einem Hotel in der Rue Saint-Sulpice ein kleines, sehr blau gehaltenes Zimmer; an die Wände hatte sie Reproduktionen nach Cézanne, Renoir und Greco geheftet sowie Zeich­nun­gen eines spanischen Freundes, der Maler werden wollte. Ich war gern mit ihr zusammen. Ich lieb­te die zärtliche Weiche ihres Pelzkragens, ihre kleinen Toques, ihre Kleider, ihr Parfüm, ihr Gurren, ihre schmeichelnden Bewegungen. Meine Beziehungen zu meinen Freunden – Zaza, Jacques, Pradelle – waren durch äusserste Strenge charakterisiert gewesen. Stépha hakte mich auf der Strasse ein; im Kino schob sie ihre Hand in die meine; sie küsste mich bei jeder Gelegenheit. Sie erzählte mir eine Menge Geschichten, begeister­te sich für Nietzsche, empörte sich gegen Madame Mabille, machte sich über ihre Ver­ehrer lustig: sie hatte grosses Talent, andere nachzumachen, und führte zwischen ihren Berichten kleine Komödien auf, die mich sehr amüsierten. Sie war auf dem Wege, sich mit einem alten Bestand an Religiosität auseinanderzusetzen. In Lourdes hatte sie gebeichtet und kommuniziert: In Paris

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kaufte sie sich im Bon Marché ein kleines Messbuch; sie kniete in einer Seitenkapelle von Saint-Sulpice nieder und versuchte zu beten, aber es gelang ihr nicht. Während einer ganzen Stunde war sie vor der Kirche auf und ab gegangen und hatte sich weder entschliessen können, wieder hineinzugehen, noch sich zu entfernen. Mit den Händen hinter dem Rücken und sorgen­voll gefalteter Stirn mimte sie diese ganze Szene mit so viel Behagen, dass ich an ihrem Ernst zu zweifeln begann. Tatsächlich waren die Gottheiten, die Stépha im Grunde verehrte, das Denken, die Kunst, das Genie; wo sie fehlten, schätzte sie immerhin den Ver­stand, das Talent. Jedesmal, wenn sie einen «interessanten» Mann entdeckt hatte, richtete sie es so ein, dass sie ihn kennenlernte und ihn «in die Hand bekam». Das sei das Ewigweibliche in ihr, gab sie mir zu verstehen.

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EROTIK DER KEUSCHHEIT Karl Hauer

Während das Laster «immer schärfere Reizmittel suchen muss, genügt der Keuschheit schon der Gedanke, dass der Mensch nackt in seinen Kleidern steckt, um ein wonniges Gruseln zu empfinden. Der Wüstling betätigt sich in der Wirklichkeit des Lebens, und diese Wirklichkeit ist nicht nur oft recht rauh und unerfreulich, sie ist auch enge und begrenzt; keusche Herzen aber leben im holden, unbegrenzten Reich der Phantasie. An der genauen Kenntnis der leidigen Wirklichkeit scheitert die Phantasie, zerstiebt jede Illusion. Von dem aber, was man nicht genau weiss, was mit pochendem Herzen sich nur ahnen lässt, davon kann man köstlicher träumen, als alle Wirklichkeit je zu gestalten vermag.

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Liliana Nikiteanu, Cecilia Bartoli, Zusatzchor und Zuzüger der Oper Zürich Spielzeit 2010 / 11

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DIE LIEBKOSUNGEN Guy de Maupassant

Nein, mein Freund, denken Sie nicht mehr daran. Das, was Sie von mir verlangen, em­pört mich und ekelt mich. Es ist, als habe Gott, denn ich, ich glaube an Gott, einst alles Gute, das er geschaffen hat, verderben wollen, indem er es mit etwas Scheusslichem verband. Er hatte uns die Liebe gegeben, das Köstlichste, was es auf der Welt gibt, fand das dann aber zu schön und zu rein für uns und verfiel auf die Sinne, die niedrigen, schmutzigen, empörenden, brutalen Sinne, die Sinne, die er wie zum Hohn geschaffen und mit dem Unrat des Körpers vermengt hat, die er sich so ausgedacht hat, dass wir nicht ohne Erröten an sie denken und nur mit leiser Stimme über sie sprechen können. Ihr abscheulicher Akt ist in Scham eingehüllt. Er verbirgt sich, verletzt das Gefühl, be­lei­digt das Auge und wird, von der Moral angeprangert, vom Gesetz verfolgt, im Dunkeln vollzogen, als sei er ein Verbrechen. Sprechen Sie darüber nie mit mir, nie! Ich weiss nicht, ob ich Sie liebe, aber ich weiss, dass ich gern mit Ihnen zusammen bin, dass Ihr Blick mir angenehm ist und dass Ihre Stimme mir das Herz liebkost. Von dem Tag an, da Sie von meiner Schwäche das erhalten hätten, was Sie begehren, wären Sie mir verhasst. Die zarten Bande, die uns aneinander­ fesseln, würden reissen. Ein Ab­grund der Schande wäre zwischen uns. Bleiben wir, was wir sind. Und ... lieben Sie mich, wenn Sie wollen, ich erlaube es. Ihre Freundin Geneviève Madame, wollen Sie nun mir erlauben, schonungslos mit Ihnen zu sprechen, ohne galante Rücksichtnahme, so, wie ich mit einem Freund sprechen würde, der ein ewiges Gelübde ablegen möchte?

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Auch ich weiss nicht, ob ich Sie liebe. Wirklich wissen würde ich es erst nach dieser Sache, die Sie so sehr empört. Haben Sie Musset vergessen? «Sie sind mir noch in Erinnerung, diese schrecklichen Krämpfe, diese stummen Küsse, diese glühenden Muskeln, dieses besessene Wesen, fahl, die Zähne zusammengepresst. Sind sie nicht göttlich, diese Augenblicke, so sind sie entsetzlich.» Dieses Gefühl des Entsetzens und des unüberwindlichen Ekels empfinden auch wir, wenn wir uns, übermannt vom Ungestüm des Blutes, in irgendwelche Liebesabenteuer hineintreiben lassen. Wenn aber eine Frau für uns das auser­ lesene, anhaltend bezaubernde, unendlich verführerische Wesen ist, das Sie für mich sind, dann wird die Lieb­ko­sung zur glühendsten, vollkommensten und unermesslichsten aller Glücks­empfin­dungen. Die Liebkosung, Madame, ist der Beweis der Liebe. Erlischt unsere Glut nach der Um­armung, dann haben wir uns getäuscht. Wird sie kräftiger, dann lieben wir uns. Ein Philosoph, der diese Lehren mitnichten anwandte, hat uns vor dieser Falle der Natur gewarnt. Die Natur will Lebewesen, sagt er, und um uns dazu zu nötigen, diese hervor­zubringen, hat sie den zweifachen Köder der Liebe und der Sinnenlust neben die Falle gelegt. Und er fügt hinzu: Sobald wir uns haben erwischen lassen, sobald die Betörung des Augenblicks verflogen ist, erfasst uns eine unendliche Traurigkeit, denn wir durchschauen die List, auf die wir hereingefallen sind, wir sehen, wir fühlen, wir berühren die heimliche und verschleierte Ursache dessen, was uns gegen unseren Willen vorangetrieben hat. Das trifft oft zu, sehr oft. Und dann erheben wir uns angewidert. Die Natur hat uns be­siegt, hat uns, nach Belieben, in Arme getrieben, die sich ausbreiteten, denn sie will, dass Arme sich ausbreiten. Ja, ich kenne die kalten und heftigen Küsse auf unbekannte Lippen, die starren und brennenden Blicke in Augen, die man nie gesehen hat und nie mehr sehen wird, und alles, was ich nicht sagen kann, alles, was in unserem Herzen eine bittere Schwermut hinterlässt. Wenn aber diese Art Wolke der Zuneigung, die man Liebe nennt, zwei Wesen eingehüllt hat, wenn sie beide aneinander gedacht haben, lange, immer, wenn während der Abwesenheit die Erinnerung ohne Unterlass wacht, tags,

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nachts, und dem Herzen die Gesichtszüge zuträgt, und das Lächeln, und den Klang der Stimme, wenn man von der abwesenden und dennoch immer sichtbaren Gestalt verfolgt und beherrscht worden ist, ist es dann nicht natürlich, dass die Arme sich schliesslich ausbreiten, die Lippen sich treffen und die Körper sich vereinen? Haben Sie nie das Verlangen nach einem Kuss verspürt? Sagen Sie mir, ob Lippen nicht nach Lippen rufen und ob die helle Wachsamkeit, die in den Adern zu fliessen scheint, nicht eine rasende, unwiderstehliche Glut entfacht? Gewiss, genau das ist die Falle, die ekelhafte Falle, sagen Sie? Macht nichts, ich weiss es, ich falle hinein und liebe sie. Die Natur gibt uns die Liebkosung, um ihre List vor uns zu verbergen, um uns gegen unseren Willen dazu zu zwingen, für eine ewige Folge der Geschlechter zu sorgen. Also gut, stehlen wir ihr die Liebkosung, nehmen wir sie in Be­sitz, verfeinern wir sie, verändern wir sie, idealisieren wir sie, wenn Sie wollen. Be­trü­gen wir unsererseits die Natur, diese Betrügerin. Tun wir mehr, als sie gewollt hat, mehr, als sie uns beizubringen ver­ mocht oder gewagt hat. Möge die Liebkosung wie ein edler Stoff sein, den man roh aus der Erde holt, nehmen wir sie, bearbeiten wir sie, verfeinern wir sie, un­bekümmert um die ursprünglichen Absichten, um den verborgenen Willen dessen, was Sie Gott nennen. Und da es der Gedanke ist, der alles verklärt, ver­ klären wir sie, Madame, bis hinein in ihre schrecklichen Roheiten, ihre schmutzigsten Schliche, ihre ungeheuerlichsten Erfindungen. Lieben wir die köstliche Liebkosung wie den Wein, der berauscht, wie die reife Frucht, die den Mund mit ihrem Duft erfüllt, wie alles, was unseren Körper mit Glück durchdringt. Lieben wir das Fleisch, weil es schön ist, weil es weiss und fest ist, und rund und weich, und zart unter den Lippen und unter den Händen. Als die Künstler die erlesenste und reinste Form suchten für die Schalen, aus denen die Kunst die Berauschung trinken sollte, wählten sie die Rundung der Brüste, deren Blüte jener der Rosen gleicht. In einem gelehrten Buch, das den Titel «Wörterbuch der Medizin» trägt, habe ich eine Definition der weiblichen Brust gelesen, die Monsieur Joseph Prudhomme, zum Doktor der Medizin geworden, erfunden haben könnte: «Die Brust kann bei der Frau als etwas Nützliches und Angenehmes zugleich angesehen werden.» Lassen wir, wenn Sie einverstanden sind, das Nützliche bei­

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seite und betrachten wir das Angenehme. Hätte sie diese bewundernswerte Form, die unwiderstehlich der Liebkosung ruft, wenn sie nur dazu da wäre, die Kinder zu ernähren? Ja, Madame, lassen wir die Moralisten Züchtigkeit predigen und die Ärzte Vorsicht; lassen wir die Dichter, diese stets selbst betrogenen Betrüger, die keusche Vereinigung der Herzen und das geistige Glück besingen; überlassen wir die hässlichen Frauen ihren Pflichten und die vernünftigen Männer ihren unnützen Obliegenheiten; überlassen wir die Dok­tri­näre ihren Doktrinen, die Priester ihren Geboten; und wir, lieben wir vor allem die Liebkosung, die berauscht, verwirrt, erregt, erschöpft, belebt, die süsser ist als ein Wohl­geruch, leichter als eine Brise, stechender als eine Wunde, rasch und verzehrend, die beten macht, die einen alle Verbrechen und alle mutigen Taten begehen lässt! Lieben wir sie, nicht ruhig, normal, legal; sondern heftig, ungestüm, unmässig! Suchen wir sie, wie man Gold und Diamanten sucht, denn sie ist mehr wert, da sie unschätzbar und vergänglich ist! Verfolgen wir sie ohne Unterlass, sterben wir für sie und durch sie. Und wenn Sie erlauben, Madame, sage ich Ihnen eine Wahrheit, die Sie, so glaube ich, in keinem Buch finden werden: Die einzigen glücklichen Frauen auf dieser Erde sind diejenigen, denen es nicht an Liebkosungen fehlt. Diese Frauen leben ohne Sorge, ohne quälende Gedanken, ohne ein anderes Verlangen als das nach dem nächsten Kuss, der so köstlich und besänftigend sein wird wie der letzte. Die anderen, jene, für die die Liebkosungen bemessen sind, oder un­ vollständig, oder selten, sie leben geplagt von tausend erbärmlichen Bangnissen, von Begierden, ausgelöst durch Geld oder Eitelkeit, von all den Dingen, die zu Kümmernissen werden. Aber die Frauen, die mit Liebkosungen gesättigt werden, benötigen nichts, begehren nichts, vermissen nichts. Sie träumen, ruhig und lächelnd, kaum berührt von dem, was für andere nicht wiedergutzumachende Katastrophen wären, denn die Liebkosung er­setzt alles, heilt alles, tröstet über alles hinweg! Und ich hätte noch so vieles zu sagen! ...

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Henri Diese beiden Briefe, auf japanisches Reispapier geschrieben, sind gestern Sonntag nach der Ein-Uhr-Messe in der Madeleine in einer kleinen Brieftasche aus Juchtenleder unter einem Betstuhl gefunden worden. (14. August 1883)

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RATSCHLÄGE FÜR VERFÜHRER Kyril Bonfiglioli

«(A)», sagte der Earl – wobei die Aussprache der Klammern perfekt geriet – «schleimen Sie Ihr Ziel pausenlos ein und so saftig Sie können, ohne dass Sie über sich selbst kichern müssen. – Sie können den Schmeichel gar nicht dick genug auftragen. Es macht nichts, wenn Ihnen keiner glaubt, allein die Tatsache wird als faszinierend empfunden. (B) Denken Sie immer daran, dass Frauen wahre Frostküken sind. Ich kann gar nicht genug darauf hinweisen. Eine Frau in einer zugigen Ecke ist nichts weiter als unbelebte Materie, eine Frau mit warmen Händen und Füssen gleicht einer überlaufbereiten Armee – die Schlacht ist halb gewonnen. Sorgen Sie dafür. (C) Ganzen Generationen von Lesern der Männermagazine hat man beigebracht, wie Frauen die Herzen der Männer gewinnen. Indem man sie ermuntert, von sich zu erzählen. Also erzählen Sie kein Wort über sich, derartige Zurückhaltung lässt sie platzen vor Neugier, dass sie vorauseilend ihr Schatzkästchen öffnen, um Ihr Vertrauen zu gewinnen. (D) Füttern Sie sie beständig mit üppigen warmen Mahlzeiten; das ist besser und billiger als Alkohol, von dem sie nur weinen oder kotzen muss. Eine gute Mahlzeit versetzt sie in jene köstliche Trägheit, welche die Wollust befördert. Sie bekommen die Delikatessen bei Fortnum’s & Mason, Harrods, Paxton & Whit­fields und, äh, Fortnum’s ... Na, Sie wissen schon. (E) Bevor Sie Ihren endgültigen Anschlag auf den weiblichen Tugendsitz ausführen, über­reden Sie sie, unter allen Umständen, die Schuhe auszuziehen. Das schaffen Sie leicht, ohne auch nur den Anschein von Indezenz zu erwecken; sie wird sich sofort an­ge­nehm ausgezogen und irgendwie ausgeliefert fühlen. (Sie wird sich sowieso glücklicher fühlen, denn ihre Schuhe sind mit Sicherheit eine Nummer zu klein.) Ermuntern Sie sie, sich nach und nach weiterer Kleidungsstücke zu entledigen; das bringt Sie in eine vorteilhafte Ausgangslage.

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(F) Beruhigen Sie ihre Angst bis zum letzten Stadium; reden Sie beruhigend mit bedeutungslosen Worten auf sie ein, so wie Sie auf ein feuriges Pferd einreden, besonders wenn sie religiös sein sollte. Notfalls beteuern Sie, dass Sie sie nicht anrühren werden. Sie wird es glauben, auch wenn alle Anzeichen dagegen sprechen. Nur so gehts mit den Frommen. (G) Achten Sie besonders darauf, keine Laufmaschen zu machen, keine BHTräger abzureissen oder frisch ondulierte Frisuren zu zerstören – besonders wenn es sich um ein armes Mädchen handelt. Die Jungfernschaft ist zum Verschenken da, aber eine gute Frisur kann ein Vermögen kosten, wussten Sie das? Alles schön und gut, höre ich Sie sagen, und ich bin echt dankbar dafür. Aber wie werde ich sie wieder los, wenn das Interesse erloschen ist, das Auge auf Frisch­fleisch fällt? Gibt’s da auch ein paar Tips? Tja, sag ich dann, da haben Sie mich erwischt. So eine Frau kann eine unheimliche Anhänglichkeit entwickeln und eine Belastung für die Umwelt darstellen, wie man heute zu sagen pflegt. Da gibt es keine festen Regeln. Vielleicht ge­lingt es Ihnen, sie zu recyclen – um beim Umweltgedanken zu bleiben – und sie bei einem weniger begabten Freund zu entsorgen. Ich persönlich find es immer noch am besten, frank und frei zu sein, und der Person in freundlichen Worten mitzuteilen, sie sei das Spielzeug einer müssigen Stunde gewesen und Sie möchten sie nun ablegen wie einen dreckigen Handschuh. Einige werden ätzend antworten, dass sie leicht was Besseres haben können; die meisten aber werden derart wütend, dass ihre Liebe verschwindet wie die Ratte im Rinnstein, so dass sie sich von selbst in Höchstge­ schwindigkeit zum Abfallkübel für dreckige Handschuhe begeben.» Sein fettes Kichern ging in Keuchen über und endete in einem beängstigenden Husten.

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Cecilia Bartoli, Rebeca Olvera Spielzeit 2010 / 11



LE COMTE ORY GIOACHINO ROSSINI (1792-1868) Oper in zwei Akten Libretto von Eugène Scribe und Charles Gaspard Delestre-Poirson nach einer mittelalterlichen Ballade Uraufführung: 20. August 1828, Académie Royale de Musique, Paris Personen

Le Comte Ory Tenor La Comtesse Adèle Sopran Isolier Sopran Ragonde Mezzosopran Le Gouverneur Bariton Raimbaud Bariton Alice Sopran Coryphée Sopran 1 Sopran Coryphée Sopran 2 Sopran Coryphée Tenor Tenor Coryphée Bariton 1 Bariton Coryphée Bariton 2 Bariton Gérard Tenor Mainfroy Tenor Chor

Kreuzritter, Ritter aus dem Gefolge des Grafen Ory, Knappen, Bauern, Bäuerinnen, Hofdamen der Gräfin


Nº 1 INTRODUCTION

NR. 1 INTRODUKTION

ACTE PREMIER

ERSTER AKT

SUITE DE L’INTRODUCTION

FORTSETZUNG DER INTRODUKTION

SCÈNE PREMIÈRE

ERSTE SZENE

Le théâtre représente un paysage. Dans le fond, à gauche du spectateur, le château de Formoutiers, dont le pont-levis est praticable. A droite, bosquets à travers lesquels on aperçoit l’entrée d’un ermitage. Raimbaud, Alice, paysans et paysannes occupés à dresser un berceau de feuillage et de fleurs.

Die Bühne zeigt eine Landschaft. Links vom Zuschauer aus im Hintergrund das Schloss von Formoutiers mit einer funktionierenden Zugbrücke. Rechts Büsche, durch die hindurch man den Eingang zu einer Einsiedelei sieht. Raimbaud, Alice, Bauern und Bäuerinnen errichten einen Laubengang aus Zweigen und Blumen.

RAIMBAUD

RAIMBAUD

Jouvencelles, venez vite! Ecoutez le sage ermite! Il va paraître en ces lieux. Qu’en rentrant à l’ermitage, Il reçoive à son passage Nos offrandes et nos vœux.

Kommt, ihr Mädchen, rasch! Hört den weisen Eremiten! Sogleich wird er hier erscheinen. Wenn er in die Klause zurückkehrt, soll er im Vorübergehen unsere Spenden und Wünsche empfangen.

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

L’on respecte sa science Car il donne l’opulence, Le savoir et des époux.

Wir achten seine Gelehrsamkeit, gibt er doch Reichtum, Wissen und auch einen Mann zur Ehe.

RAIMBAUD cachant sous son manteau son habit de chevalier

RAIMBAUD verbirgt unter dem Mantel sein Ordensrittergewand

Taisez-vous, du silence! II faut craindre ma puissance. J’ai l’honneur de le servir.

Schweigt! Ruhe! Man muss meine Macht fürchten. Ich habe die Ehre, ihm zu dienen.

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Il faut craindre sa puissance.

Man muss seine Macht fürchten.

RAIMBAUD

RAIMBAUD

Vous riez?

Ihr lacht?

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Ah, ah, ah, quel plaisir!

Ha, ha, ha, was für ein Spass!

RAIMBAUD

RAIMBAUD

Quand on rit de ma puissance ...

Lacht man über meine Macht ...

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Sir Robert, ah, calmez-vous.

Herr Robert, beruhigt Euch.

RAIMBAUD

RAIMBAUD

… c’est le ciel que l’on offence.

… so beleidigt man den Himmel.


ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Nous allons obéir tous, Mais apaisez votre courroux.

Wir alle wollen gehorsam sein, doch besänftigt Euren Zorn.

RAIMBAUD d’un air d’impatience

RAIMBAUD ungeduldig

Placez là sous cet ombrage Et des fruits et du laitage.

Stellt nun dort in den Schatten Früchte, Milch und Käse.

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Allons vite à l’ouvrage, Préparons sous ce feuillage Nos fruits les plus délicats.

Wohlan und frisch ans Werk! Unter dieses Laubwerk lasst uns unsere schönsten Früchte legen.

RAIMBAUD

RAIMBAUD

Allons, vite!

Los denn, rasch!

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Patience!

Geduld!

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RAIMBAUD

Mais plus vite!

Schneller doch!

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Patience, Sir Robert, patience, Surtout ne vous fâchez pas.

Geduld, Herr Robert, nur Geduld! Vor allem, erregt Euch nicht.

RAIMBAUD

RAIMBAUD

Placez aussi sur la table Quelques flacons de vin vieux; Car c’est un présent des cieux!

Stellt auf den Tisch auch einige Fläschchen alten Weins, ist’s doch ein Geschenk des Himmels.

ALICE, LE CHŒUR

ALICE, CHOR

Plaçons aussi sur la table Quelques flacons de vin vieux; Car c’est un présent des cieux!

Wir stellen auf den Tisch auch einige Fläschchen alten Weins, ist’s doch ein Geschenk des Himmels.

SCÈNE DEUXIÈME

ZWEITE SZENE

Les précédents, dame Ragonde

Die Vorigen, Dame Ragonde

RAGONDE sortant du château, à gauche

RAGONDE kommt links aus dem Schloss

Quand Madame la Comtesse Est, hélas! dans la tristesse, Pourquoi donc ces chants d’allégresse De la part de ses vassaux? Quand on aime sa maîtresse, On s’afflige de ses maux. Elle veut au bon ermite Dans ce jour rendre visite, Pour que du mal qui l’agite Il cherche à la délivrer.

Da doch unsre Frau Gräfin leider so betrübt ist, warum dann diese Freudenlieder, angestimmt von ihren Vasallen? Wenn man seine Herrin liebt, grämt man sich um ihren Kummer. Sie will den guten Eremiten heute noch aufsuchen, auf dass er sie von dem Übel, das sie plagt, zu befreien sucht.


Programmheft LE COMTE ORY

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Oper von Gioachino Rossini (1792-1868)

Premiere am 23. Januar 2011, Spielzeit 2010/11

Wiederaufnahme am 31. Dezember 2021, Spielzeit 2021/22

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Michael Küster

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Michel de Montaigne: Essais I. Hrsg. v. Emmanuel Naya, Delphine Reguig-Naya und Alexandre Tarrête. Paris 2009. – Inhaltsangabe: Michael Küster. – Michael Küster: Von der Komik der Situation – Moshe Leiser und Patrice Caurier im Gespräch. Origi­nal­beitrag für dieses Programmheft. – Romanze: Der Graf Orry und die Nonnen von Farmoutier. Nach: «Interessante und wenig bekannte Zeugnisse zur Geschichte und Literatur von Herrn D. L. P. [Pierre-Antoine de La Place] Übersetzt von Ursula Gessat, Catherine Debacq-Gross und Sergio Morabito. In: Pro­ grammheft «Le Comte Ory» der Staatsoper Stuttgart. Stuttgart 2008. – Ulrich Schreiber: Die letzte Parallelaktion. In: ders.: Opern­ führer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Mu­siktheaters. Das 19. Jahrhundert. Kassel 1991. – Damien Colas: Auf der Suche nach dem wahren «Comte Ory». Originalbeitrag für dieses Programmbuch. – Marquis de Sade: An die Libertins. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. In: Die allerneueste klassische Sau. Das Handbuch der literarischen Hocherotik. Hrsg. v. Eva Zutzel und Adam Zausel. Zürich 1999. – William Shakespeare:

Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Studio Geissbühler

Fineprint AG

Mass für Mass. Übersetzt von Wolf Graf Baudissin. In: William Shake­speare: Sämtliche Werke. Band 2. Berlin und Weimar 1975. – Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Berlin 1976. – Karl Hauer: Vom Unzüchtigen im Sittlichen. Essays zu Kultur und Erotik. Tübingen 1987. – Guy de Maupassant: Die Liebkosungen. Aus dem Französischen von Irene Riesen. In: Die allerneueste klas­sische Sau. Das Handbuch der literarischen Hocherotik. Hrsg. v. Eva Zutzel und Adam Zausel. Zürich 1999. – Kyril Bon­fig­ lioli: Ratschläge für Verführer. Aus: Something Nasty on the Wood­shed. Aus dem Englischen von Gerd Haffmans. ebd. Bildnachweise: Jef Rabillon fotografierte das «Comte Ory»-Ensemble bei der Klavierhauptprobe am 18. Januar 2011. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Clariant Foundation

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

PROJEKTSPONSOREN Baugarten Stiftung René und Susanne Braginsky-Stiftung Freunde des Balletts Zürich

Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Swiss Life

Hans Imholz-Stiftung

Swiss Re

Kühne-Stiftung

Zürcher Kantonalbank

GÖNNERINNEN UND GÖNNER Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Familie Thomas Bär Bergos Privatbank Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Fritz Gerber Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG

Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Die Mobiliar Fondation Les Mûrons Mutschler Ventures AG Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung

Landis & Gyr Stiftung FÖRDERINNEN UND FÖRDERER CORAL STUDIO SA Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland

Horego AG Richards Foundation Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar



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