Don Pasquale

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DON PASQUALE

GAETANO DONIZETTI


Don quattro

elettrico

audi.ch Audi e-tron 55, 265 kW, 24.6 kWh/100 km (Benzinäquivalent: 2.7 l/100 km), 0 g CO₂/km (Durchschnitt aller erstmals immatrikulierten Personenwagen: 137 g CO₂/km), CO₂-Emissionen aus Treibstoff- und/oder Strombereitstellung: 34 g/km, Energieeffizienzkategorie A.


DON PASQUALE GAETANO DONIZETTI (1797-1848)

Partner Opernhaus Zürich


Pasquale: Mir fehlen die Worte, mir ist heiss und kalt ‌ ich bin tot.




HANDLUNG Don Pasquale, ein älterer, wohlhabender Junggeselle, hat seinen Neffen Ernesto an Kindes statt grossgezogen. Nun, da Ernesto im heiratsfähigen Alter ist, hat der Onkel für ihn eine standesgemässe Frau ausgesucht. Pasquale hält seinen Neffen für einen romantischen, lebensunerfahrenen Träumer und glaubt, für ihn diese Entscheidung treffen zu müssen, die doch auch dazu dienen soll, dass sein Besitz für weitere Generationen erhalten bleibt. Doch Ernesto widersetzt sich, er ist unsterblich in Norina verliebt, eine ver­armte junge Witwe. Diese hat er über den Dottore Malatesta kennengelernt, den Lebensberater und Arzt seines Onkels. Weil sich Ernesto kontinuierlich weigert, die Frau zu heiraten, die sein Onkel ihm vorgeschlagen hat, will Don Pasquale in seiner Sturheit nun ander­ weitig sichergehen, dass das Erbe des Hauses nicht verschleudert wird. Er, der sich nie einer Frau genähert hat, will nun trotz seines Alters eine junge und hübsche Traumfrau finden, diese heiraten und zu seiner Universalerbin machen. Don Pasquale weiht Dottore Malatesta, nicht wissend, dass dieser auch mit Norina und Ernesto befreundet ist, in seine Heiratspläne ein. Malatesta verspricht Pasquale, ihm bei der Suche nach der Traumfrau behilflich zu sein. Malatestas Plan jedoch ist in Wirklichkeit, Pasquale von seinem Heiratsplan abzubringen und Ernesto zu helfen, Norina zu heiraten. Damit wäre er selbst auch in Zukunft dem Hause Pasquale verbunden, mit allen finanziellen Vorteilen, die das mit sich bringen könnte.

Erster Akt Malatesta hat gute Nachrichten für Don Pasquale. Die Traumfrau ist gefunden: Es ist seine eigene Schwester, Sofronia. Sie hat gerade ihre Schulausbildung im Nonnenkonvent abgeschlossen und ist eine junge, bescheidene Person mit dem Aussehen eines Engels. Noch am heutigen Tag wird er sie Pasquale vorstellen.

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Pasquale ist ausser sich vor Freude und sieht sich schon als Vater einer um ihn herumtanzenden Kinderschar. Ein neues Leben kann beginnen und wichtige Ent­scheidungen müssen getroffen werden. Er unterrichtet etwas voreilig seinen Neffen von seinen Heiratsplänen, enterbt ihn kurzerhand und setzt ihn vor die Tür. Für ihn sei nun kein Platz mehr im Haus. Ernesto sieht sich plötzlich in alle Ewigkeit verarmt auf der Strasse sitzen und glaubt, dass er nun auch seiner Freundin Norina keine gesicherte Existenz bieten kann. Schmerzvoll teilt er ihr in einem Brief mit, dass er sich aus diesem Grund von ihr trennen muss. Norina ist entsetzt, als sie den Abschiedsbrief liest, zumal darin steht, dass Malatesta, dem auch sie vertraut, dem alten Pasquale seine Schwester als Frau verschachern will. Doch Malatesta klärt das Missverständnis auf: Diese Ehe soll eine Scheinehe sein. Norina selbst soll sich als die Klosterschülerin Sofronia aus­ ­geben, während Malatestas Cousin Carlotto den Notar spielen und die Ehe schliessen soll. Innerhalb von wenigen Stunden würde sich die falsche Sofronia Pasquale als keifende Ehefrau zeigen und ihn für immer von seinen Heirats­ plänen kurieren. Und damit würde einer offiziellen Ehe zwischen Ernesto und Norina nichts mehr im Wege stehen. Norina lässt sich auf das Abenteuer ein.

Zweiter Akt Malatesta präsentiert Norina als seine scheue Schwester Sofronia. Pasquale ist entzückt, mehr als das: Er verliebt sich in sie und möchte sie auf der Stelle hei­ ra­­ten. Schon ist der falsche Notar zur Stelle und die Heiratsurkunde soll unter­ schrieben werden, als Ernesto die Zeremonie unterbricht und sich mit gepackten Koffern tief gekränkt von seinem Onkel verabschieden will. Malatesta hatte, um Komplikationen und Einwände zu vermeiden, Ernesto nicht in die Intrige eingeweiht. Nun sieht Ernesto seine Norina als Ehefrau seines Onkels vor sich und wird zudem noch gezwungen, als Zeuge den Ehe­ vertrag zu unterschreiben. Er traut seinen Augen nicht. Doch kaum ist der Vertrag unterzeichnet, zeigt die sanftmütige Sofronia

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ein anderes Gesicht und Ernesto versteht, dass auch er eine Rolle in einer Komö­ die spielt. Die falsche Sofronia ordnet im Befehlston grundlegende Änderungen in dem laut Ehevertrag ihr gehörenden Haus an: vollkommen neue Möblierung und Dekoration, neue Wagen, deutliche Aufstockung der Dienerschaft, höhere Gehälter für diese und so weiter und so fort. Pasquale traut seinen Augen nicht, es packt ihn Wut und Verzweiflung, dass er so leichtgläubig war. Malatesta gibt vor, seine Schwester Sofronia nicht mehr wiederzuerkennen.

Dritter Akt Innerhalb weniger Stunden hat sich das Leben in dem bislang so bescheiden ge­führten Haus verwandelt. Rauschende Feste werden gefeiert, Dienstboten kommen und gehen, man weiss gar nicht, woher so viele neue Diener und Gäste plötzlich aufgetaucht sind. Und zum Entsetzen Pasquales will Norina in der Hochzeitsnacht selber in grosser Abendrobe das Haus verlassen und ausgehen. Als er sie daran hindern will, macht sie ihm handgreiflich klar, dass er ihr nichts zu sagen hat, so wie er es selbst in dem Ehevertrag diktiert hat. Pasquale will nur noch eines, und dies nach wenigen Stunden Ehe: die Scheidung. Erst recht, als er einen an seine Frau adressierten Liebesbrief findet. In dieser Nacht erwartet sie im Garten des Hauses einen Liebhaber zum Rendez­ vous. Pasquale, der immer noch nicht ahnt, dass er einer Intrige erliegt, bittet noch einmal seinen Ratgeber Malatesta um Hilfe und Unterstützung. Nun kommt Malatesta aber auch ins Schwitzen, als er hört, dass Pasquale seine Frau bei dem Rendezvous mit dem Liebhaber überraschen und die Ehebrecherin dann sofort der Polizei ausliefern will. Malatesta verspricht ihm, auch ohne Hilfe der Obrigkeit, dafür zu sorgen, dass seine Schwester in eine Scheidung einwilligt. Im nächtlichen Garten treffen sich Don Pasquale, Norina als seine Ehefrau Sofronia, Ernesto, der weiterhin von Norina träumen darf, Malatesta und sein Cousin Carlotto. Pasquale bezichtigt seine Frau der Untreue, und nun führt Malatesta für ihn das Wort, denn Don Pasquale hat ihm Carte blanche gegeben: Er erklärt seiner vermeintlichen Schwester, dass sie sich damit abfinden muss,

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dass ab dem nächsten Tag eine weitere Frau das Haus beziehen wird: Ernestos Braut, eine gewisse Norina. Die falsche Sofronia ist entsetzt, nie würde sie es dulden, dass diese Norina mit ihr unter einem Dach leben wird. Sie besteht auf einem Beweis, dass dies keine Finte ist, um sie aus dem Haus zu vertreiben. Malatesta überzeugt Pasquale, dass er Ernesto nun doch mit Norina verheiraten muss. Pasquale ist zu allem bereit, was ihn aus der Ehehölle mit Sofronia be­ freien könnte. Augenblicklich soll Norina kommen. Doch nun fallen die Mas­ ken: Man erklärt ihm, dass Norina die Frau ist, in die er sich verliebt hat, die er geheiratet hat, die er gehasst hat und die er nun los werden wollte. Die echte So­fro­nia sei nach wie vor in der Klosterschule. Pasquale hat von allem genug und erklärt sich einverstanden mit dem, wo­gegen er sich so sehr gewehrt hatte: dass sein Neffe Norina, eine junge Wit­ we mit zwei­fel­haftem Ruf, heiratet. Norina versucht, Pasquale versöhnlich zu stimmen. Christof Loy

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ORIENTIERUNGSLOSE WELT Regisseur Christof Loy über Donizettis vielschichtige Figuren jenseits der gängigen Buffa-Klischees

Christof Loy, Don Pasquale gehört zu Donizettis letzten Werken. Ein Jahr nach der Uraufführung brach Donizettis tödliche Syphilis-Erkrankung vollends aus. Merkt man der Oper diese letzten Dinge an, obwohl wir es hier mit einer Komödie zu tun haben? Als Donizetti das Stück schrieb, war er zwar erst 45 Jahre alt, und doch muss man es als sein Alterswerk oder zumindest als sein Spätwerk einstufen, wenn man bedenkt, dass Don Pasquale die drittletzte von ungefähr 70 Opern war. Von Donizettis Briefen weiss man, dass er die ersten Anzeichen seiner Krankheit, die ihn schliesslich in den Wahnsinn geführt hat, während der Kom­position von Don Pasquale bereits gespürt hat. Donizetti nennt sein Stück im Untertitel interessanter­weise nicht «Opera buffa», sondern «Dramma buffo», und tatsächlich liegt über Don Pasquale ein leicht melancholischer Schleier. Man spürt die Nähe zum Tod und dass Dinge zu Ende gehen. Für mich ist die Traurigkeit Don Pasquales ein grosses Thema. Don Pasquale ist ein älterer Herr an die Siebzig, ihm gegenüber steht die junge Generation. Es gibt diesen Generationenkonflikt zwischen Pasquale und Ernesto, der zu­sätzlich dadurch angeheizt wird, dass sich die beiden zu ähnlich sind, fast wie Vater und Sohn. Grundsätzlich sind «Jung» und «Alt» in diesem Stück jedoch keine unver­rück­baren Kategorien, sondern greifen auf paradoxe Weise ineinander – wie in dieser Oper insgesamt Werte immer wieder auf den Kopf gestellt werden. Ernesto ist zum Beispiel trotz seiner Rebellion gegen den Onkel auch ein introvertierter, fast rückwärtsgewandter Charakter. Don Pasquale ist trotz seines Alters ein Träumer ge­blieben, jemand, der durchaus jugendliche Seiten hat. Er ist sehr naiv und ist daher durch Menschen,

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die ihm viel Schönes versprechen, ziemlich gefährdet. Allen voran Dottore Malatesta, der sich wie ein Erbschleicher in Pasquales Haus einge­nis­tet hat und eigene finanzielle Interessen verfolgt, wozu ihm auch die vielleicht nicht ganz aufrichtige Freundschaft zu Ernesto dient. Bei der Scheinheirat, die Ma­latesta einfädelt, geht es ihm primär um seinen eigenen Einfluss auf Don Pasquale. Malatesta und Norina verhalten sich in diesem Gefüge wie ein Ganovenpärchen, ein wenig wie Bonnie und Clyde. Diese kriminelle Energie, die von den beiden ausgeht, diese Lust, Pasquale zu hintergehen, hat durchaus etwas Subversives und stellt die eingefahrenen Strukturen bei Don Pas­quale in Frage – ganz im Gegenteil zu Don Pasquales Dienern, die das Alte unhinterfragt lassen. Interessanterweise überträgt sich die subversive Lust von Norina und Malatesta auch auf das Publikum, so dass wir zu Komplizen dieses Paares werden.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Man weiss in diesem Stück nie, auf wessen Seite man sich schlagen soll. Für alle Figuren gibt es hier ein Dafür und ein Dagegen, und es geht nicht darum,www.opernhaus.ch/shop den Stab über jemanden zu brechen. Als Regisseur kann ich in diesem Fall nicht parteiisch sein. In Don Pasquale muss ich mich mit jedem identi­ oder am Vorstellungsabend fizieren können, damit das energetische Gefüge in den einzelnenim Szenen Foyer wie auch im Ganzen stimmt. Auch wenn meine Sympathien vordergründig bei Dondes Pasquale Opernhauses liegen, weil er im Laufe des Stückeserwerben mehr und mehr zum Opfer wird, ist die Rache der Jüngeren an ihm sehr verständlich: Er ist verbohrt und gönnt der Jugend nichts. Im Figurenverzeichnis wird er zudem als «gei­zig» und «eigensinnig» beschrieben...

...und gleichzeitig als «gutmütig»! Wie geht das zusammen? Die Adjektive, die Donizetti im Libretto jeder Figur zuschreibt, sind zum Teil vollkommen widersprüchlich. Norina ist in die heutige Sprache übersetzt ein Flittchen, aber dann heisst es auch: Sie hat ein gutes Herz! Doch durch diese scheinbar widersprüchlichen Charaktereigenschaften werden Donizettis Figuren zu wahr­haftigen Figuren. Das ist etwas, was mich sehr an die literarische Welt von Georges Simenon erinnert. Seine Menschen fallen oft aus der Norm und sind nach bürger­lichen Massstäben moralisch nicht ganz korrekt;

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Simenon bringt für diese ge­brochenen Figuren grosses Verständnis auf. Mich hat Don Pasquale schon immer an Simenons Titelfigur im Roman Die Verlobung des Monsieur Hire und an dessen undurchsichtige Liebes­geschichte erinnert, die in der Verfilmung mit Michel Blanc und Sandrine Bonnaire kongenial umgesetzt wird. Don Pasquale hat für mich eindeutig ein französi­ sches Flair. Die Oper entstand ja auch für das Théâtre-­Italien in Paris: Donizetti kehrte seiner Heimat als bereits etablierter Künstler den Rücken zu – wie vor ihm Rossini und Bellini oder später auch Verdi –, um sich in der Musikmetropole Paris noch einmal neu zu erfinden. Don Pasquale geht in der Schreibweise und französischen Verfeinerung auch weg vom buffo­ nesken Stil, der in der Opera buffa nach wie vor vorherrschend war. Donizetti lässt Rossinis schablonenhafte Buffo-Charaktere, wie wir sie aus seinem Barbiere di Siviglia kennen, der übrigens einen ähnlichen Grundkonflikt hat, weit zurück. In Donizettis Don Pasquale, der im Grunde keinem Genre richtig zuzuord­ nen ist, kann ich viel mehr Schichten finden als bei Werken von Rossini. Grundsätzlich hat in einer Komödie jede Figur ihren Plan, sie verfolgt ein bestimmtes Ziel. Beim Barbiere di Siviglia hinterfragen sich die Figuren nie, anders als in Don Pasquale, wo immer auch Selbstbespiegelungen stattfinden und charakterliche Schwankungen zu beobachten sind. Hauptmotor ist bei allen Figuren ihre Sehnsucht nach Liebe, auch wenn dies bei jedem immer anders aussieht: Ernestos Liebe zu Norina ist primär eine romantische Liebe, die in der Figur von Don Pasquale gespiegelt wird. Don Pasquales Sehnsucht nach einer Partnerin hängt wiederum eng mit der Überwindung seiner eigenen Einsamkeit zusammen. Norina trägt die Liebessehnsucht durchaus in sich, doch diese ist überlagert von einem grossen Wissen um die eigene sexuelle Attraktivität. Sie ist eine Figur, die verwandt ist mit der Colombina aus der Tradition der Commedia dell’arte, die in der deutsch­spra­ chigen Literatur zu Lulu wird, oder auch mit Zerbinetta. Bei Malatesta sehe ich hingegen überhaupt keinen Platz für die Liebe, sein Grundmotor ist das Geld oder die grundsätzliche Lust an Manipulation.

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Norina und Ernesto sind also keineswegs ein klassisches Liebespaar, und man muss anzweifeln, ob die beiden je ein gemeinsames Liebesglück finden werden... Deren Liebe hat in diesem Stück kaum Platz, es sei denn als plötzlich auf­scheinende Utopie in ihrem einzigen Duett im letzten Akt – aber auch das ist eine paradoxe Konstellation, wenn mit Ernesto die aufrichtigste und mit Norina die unaufrichtigs­te Figur in diesem Stück zusammenkommen. Du hast bereits vier Donizetti-Opern inszeniert, allesamt tragische Werke. Hilft dir diese Erfahrung bei Don Pasquale? Mit Sicherheit. Besonders, weil ich Donizetti über dessen ernste Opern als Musikdramatiker sehr zu schätzen gelernt habe. Von den ernsten DonizettiOpern ist für mich Roberto Devereux das absolute Meisterwerk. Da ist er sehr kompromisslos gegenüber der Tradition verfahren.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Genau das kann man ja auch bei Don Pasquale feststellen. Es gibt hier keine www.opernhaus.ch/shop konventionellen Nummern-Arien mit einem langsamen und einem schnellen Teil, sondern sie sind aufgebrochen und dienen ganz dem oder am Vorstellungsabend im Foyer musikdramatischen Fluss, dem Schauspiel. Es gibt tatsächlich gross angelegte Erzählformen wie im zweiten Akt, wo man einzelne Nummern kaum mehr voneinander unterscheiden kann. Nicht des Opernhauses erwerben nur in grossen Gesangsbögen, sondern auch in grossen dramatischen Bögen zu denken, ist bei Donizetti auf Bellinis Einfluss zurückzuführen und hat später ja auch Wagner so sehr inspiriert. Und doch kann man nicht sagen, dass Don Pasquale ein durchkomponiertes Drama sei, denn es hat zuweilen etwas von einem französischen Vaudeville. Die Auftrittsarie von Norina ist zum Beispiel nicht mit der Handlung verknüpft, sie wirkt wie eine Einlage. Dass Figuren immer wieder aus dem eigentlichen Handlungsstrang heraustreten, ist essenziell für dieses Stück. In diese Kategorie fällt auch das an die Zuschauer gerichtete «a parte»-Sprechen. Ich war überrascht, dass manche Sänger in unserer Produktion diese Form gar nicht mehr kannten, während es für deut­sche Schauspieler alltäglich ist, die vierte Wand zu durchbrechen, weil es mit der Brecht-Tradition zu tun hat und zugleich älteste Komödientradition ist.

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Komik zu erzeugen ist immer eine Gratwanderung für die Darstellerinnen und Darsteller. Was ist hier die wichtigste Aufgabe? Zusammen mit Enrique Mazzola versuche ich meinen Darstellern zu ver­ mitteln, dass sie nie an die komische Wirkung denken sollen, sondern nur an die Situation, in der die Figur gerade steckt. Erst dadurch entwickelt sich so etwas wie Komik. In einer Komödie muss der Darsteller andererseits immer eine leichte ironische Distanz zu seiner Figur haben. Gerät diese Distanz zu gross, wird die Figur ver­raten, und die Komik kippt in etwas vordergründig Klamaukiges. Zu denken, dass diese Komödiengestalten immer gut gelaunt und putzmunter wären, ist ein Missverständnis und stammt aus einer Ästhetik der 1950er-Jahre. Komik entsteht jedoch, wenn die Figuren ernsthafte Konflikte austragen und deren Aufregung in keinem Verhältnis zur eigentlichen Ausgangslage steht. Eine Rolle zu spielen ist im Übrigen auch im Stück selbst ein grosses Thema. Etwas vorzugeben, was man nicht ist, zeigt sich ganz besonders bei Norina und Malatesta. Nicht immer können Ehrlichkeit und Unehrlichkeit in dieser Oper so klar voneinander unterschieden werden. Wie ehrlich ist denn Norinas/Sofronias Ohrfeige gemeint, die sie Don Pasquale im dritten Akt im Streit verpasst? Das Uraufführungspublikum zeigte sich damals äusserst schockiert über diesen Moment. Die Szene hat ja etwas von einem bürgerlichen Ehedrama. Die Ohrfeige führt dazu, dass Don Pasquales Liebe zu Sofronia/Norina vollkommen erlischt, denn danach spricht er das Wort «Scheidung» unzählige Male aus. Der Skandal bei der Uraufführung hatte wohl mit dem damaligen konventionellen Frauenbild zu tun, gerade auch, weil Frauen zu jener Zeit auf Pariser Bühnen als zerbrechliche, femini­ne Wesen präsentiert wurden. Wenn sich Norina hier zur Wehr setzt, erfüllt sie dieses Bild überhaupt nicht. Ein zusätzlicher Tabubruch war es, dass Norina aus einem sozial niederen Milieu stammt, während Pasquale vermutlich adeliger Herkunft ist. Dazu kommt, dass Norina insgesamt unaufrichtig ist, denn sie spielt ihre Rolle als Ehefrau ja nur. Es ist also keine ehrliche Ohrfeige, aber sie ist durchaus real für Don Pasquale. Bei Norina wiederum passiert etwas, wie wenn sich eine Schauspielerin zu sehr mit ihrer Rolle identifizieren würde. Norina er­schrickt selbst darüber, wie

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weit sie sich gerade gehen liess. Sie muss sich fragen: Spiele ich zu brutal mit ihm? Darüber findet sie jedoch auch eine Art Interesse und Mitgefühl zu Don Pasquale. Nach der Ohrfeige wird auch für sie eine Verwirrung der Gefühle stattfinden. Nach der Ohrfeige denkt man, dass Don Pasquale nun endgültig mit einem Fuss im Grab steht. Das sehe ich anders. Ich glaube, dass es hier letztlich um ein Aufwachen Don Pas­qua­les geht, vielleicht um ein neues Leben, wofür der Scheidungs- oder Tren­nungs­wunsch immerhin ein erster Anfang sein kann. Wenn Don Pasquale nach der Ohrfeige behauptet, dass es mit ihm zu Ende sei, mischt sich in die Ernsthaftigkeit der Situation durchaus etwas Theatralisches. Seine Sicht auf die eigene Lage ist unverhältnismässig, denn im Grunde geht es hier um etwas ganz Alltägliches – wer kennt Trennung und Streit nicht? Don Pasquale hegt genau wie Ernesto einen Hang zur Selbstdarstellung, beide übertreiben in ihren Reaktionen gerne. Wenn Ernesto behauptet, er könne Norina nicht heiraten, weil er sie wegen der Enterbung durch seinen Onkel nicht zu er­nähren vermag, kündigt er gleich an, nach Amerika abzureisen. Don Pas­quale landet nach der Ohrfeige in einem grossen Tal von Depression und Traurigkeit; für ihn ist es das Gefühl, jetzt bin ich tot. Man wundert sich als Zuschauer, dass er sich dann erneut aufraffen kann. Es ist natürlich schrecklich mitanzusehen, dass jemand im hohen Alter noch so viel über das Leben lernen muss – und das alles im Schnelldurchlauf: Es vergehen ja nur wenige Stunden vom ersten Kennenlernen bis zur Hochzeit, anschlies­send folgt die Ehehölle und letztlich die Scheidung. Diese Stationen bergen für das Publikum einerseits ein grosses Identifikationspotenzial, andererseits sind die Situationen in ihrer Verdichtung auch völlig absurd und surreal.

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Das Gespräch führte Kathrin Brunner

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GROSSE LEBENDIGKEIT Dirigent Enrique Mazzola über falsche Traditionen in der Donizetti-Interpretation

Enrique, du hast eine Zeitlang bewusst ausschliesslich Opern des italieni­­ schen Belcanto dirigiert, Rossini, Bellini und Donizetti. Warum diese Einschränkung? Bis heute gibt es besonders im deutschsprachigen Raum das Vorurteil, dass das Repertoire des Belcanto zur leichten Muse gehöre. Doch die Zeit der frühen italienischen Romantik, das müssen wir uns bewusst machen, ist ein fundamentaler Teil der Geschichte der Oper, ohne deren Erfindungskraft und musikalische Formeln es heute weder die Opern Verdis noch Wagners gäbe! Doch leider wird dieses Repertoire oft nicht mit der nötigen Behut­sam­keit interpretiert. Das wollte ich ändern und habe daher meine künstlerische Kraft zehn Jahre lang ausschliesslich auf dieses Repertoire beschränkt. Worauf liegt bei dir der Fokus bei dieser Neueinstudierung von Don Pasquale? Bei Donizettis Don Pasquale, das zu seinen meistgespielten Werken gehört, gibt es besonders viele sogenannte Traditionen. Ich habe das Werk ja an die 100 Mal in Wien, Mailand oder Glyndebourne dirigiert und bei Wieder­ auf­nahmen auch oft selbst Traditionen übernommen oder übernehmen müssen. Doch jedes Mal, wenn ich den Taktstock hob und ein Tempo anschlug, das nur der Tradition geschuldet war, habe ich mich gefragt, warum ich das tue. Bei dieser Neuproduktion möchte ich die Chance ergreifen, um tabula rasa machen und wieder von Null zu beginnen. So, als würden wir das Werk zum ersten Mal spielen. Welche Traditionen meinst du, und wie kamen sie zustande? Es sind interpretatorische Freiheiten, die erst 40 Jahre nach der Uraufführung

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des Werks, ab dem Aufkommen des Verismo von 1880 bis weit in die 1920er-­ Jahre, entstanden sind und besonders das Tempo betreffen. Durch den Verismo änderte sich das vokale Repertoire, und die Sängerinnen und Sänger wandten sich vom Stil des Belcanto ab, hin zu einem instinktiveren, sponta­ neren Gesangsstil. Wegen der grösseren Orchesterbesetzung und oft dickeren Instrumentierung waren im Verismo plötzlich schwerere Stimmen gefragt, die dadurch aber weniger agil waren. Viele Interpreten hatten dadurch grosse Mühe, die Musik des Belcanto noch im richtigen Tempo zu singen. Sie verlangsamten schnellere Abschnitte eigenhändig, fügten eine Kadenz hinzu oder liessen ganze Wörter aus, um besser atmen zu können. Das waren im Grunde Notfalllösungen, die die Sänger anschliessend als «Tradition» an ihre Schüler weitergaben und die als «Traditionen» bis heute andauern. Ich selbst habe all diese Traditionen noch durch meinen Vater kennengelernt, der Gesangscoach an der Mailänder Scala war. Er hat die Traditionen nie hinterfragt. Doch ich gehöre zur Bärenreiter-Generation, zu einer Generation, die mit kritischen Editionen aufgewachsen ist. In unserer Zürcher-Neupro­ duktion wollen wir daher zu einer Lesart zurückfinden, die dem Don Pasquale von 1843 entspricht. Ich bin sehr stolz darauf, dass alle, die an dieser Pro­duktion beteiligt sind, neugierig und offen genug sind, um sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Immer wieder ziehst du in den Proben das Faksimile von Donizettis originalem Manuskript zu Rate. Was sagt es dir mehr als die gedruckte Ausgabe? Die Art, wie Donizetti die Taktstriche auf einer Seite einteilt, ob er Phrasen eng oder weit auseinanderschreibt, sind für einen Interpreten wertvolle Informationen, die keine gedruckte Ausgabe transportieren kann. Zwischen dem Faksimile und der nach dem Autograph der Partitur revidierten Fas­sung von Piero Rattalino, die wir verwenden, gibt es ausserdem noch immer ein paar Abweichungen. Donizetti schreibt ja äusserst differenziert, gerade was die Artikulation in dieser Oper betrifft. Auch eine wiederholte Abfolge von Tönen kann durch die unterschiedliche Artikulation, die Donizetti mit Punkten oder Bögen versieht, sehr variantenreich erscheinen. Dadurch entsteht

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eine grosse Lebendigkeit, die bis in die Rezitative hineingeht. Dazu kommt eine verfeinerte Dynamik, die im selben Takt von Stimme zu Stimme variieren kann und darin mit Schubert vergleichbar ist. Die Partitur ist voller Informationen und ein Indiz dafür, dass es Donizetti dem Sänger nicht überlassen wollte, eigene Kadenzen oder sonstige Erfindungen hinzuzufügen, wie das noch zu Zeiten Rossinis üblich war. Die Botschaft Donizettis ist klar: Bitte musiziert so, wie ich es hier geschrieben habe! Diese subtile Kompositionsweise setzt sich ja auch in der Orchester­ besetzung fort, die das oft gehörte Vorurteil Lügen straft, Donizetti habe das Orchester stiefmütterlich behandelt. Welche Innovationen findest du hier? Donizettis Dramma buffo wurde ja massgeblich durch die Romantik beein­ flusst. Die Orchesterbesetzung ist daher nicht mehr länger mit dem durch­ sichtigen Orchester Rossinis zu vergleichen, sondern viel eher mit einer frühen Verdi-Oper wie Luisa Miller. Anstatt zwei Hörnern, wie noch bei Rossini, verlangt Donizetti vier. Dazu kommen drei Posaunen, eine Pauke, grosse Trommel und Becken. Die Posaunen, die von einigen Dirigenten gerne auch mal weggelassen werden, sind eine charakteristische Farbe in dieser Partitur und sind nicht nur für die rhythmische Komponente wichtig, sondern be­ stätigen immer auch Harmoniewechsel. Die Hörner sind äusserst präsent und oft sehr heroisch eingesetzt wie zum Beispiel im Allegro molto der Ouver­ türe, dem stürmischen Teil. Hier gibt es klare, direkte Akzente in den HornStimmen, die kontrapunktisch zu den Streichern gesetzt und ganz eindeutig von Beethoven beeinflusst sind. Sowieso hat Donizetti sehr sensibel auf die Strömungen seiner Zeit, auf das Publikum oder die jeweiligen National­ stile reagiert. Natürlich ist viel Französisches in die Partitur eingeflossen. Seit 1838 lebte Donizetti ja in Paris, dem Sillicon Valley für Komponisten zu jener Zeit, wenn man so will. Doch auch seine Nähe zum Habsburgerreich, zur Kaiserstadt Wien, wo er 1842 zum Kammerkomponisten und Leiter der privaten Konzerte des Kaisers ernannt wurde und sechs Monate pro Jahr anwesend sein musste, ist in dieser Partitur sehr spürbar. Donizetti und Schubert sind ja im selben Jahr geboren – auch in Don Pasquale gibt es viele

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harmonische Abstufungen, die sehr an Schubert erinnern. Auffällig oft schreibt Donizetti im Don Pasquale ein «tempo di Walzer». Don Pasquales erste Arie «Un foco insolito» zum Beispiel, wenn er sich durch die Aussicht auf eine Heirat wie verjüngt fühlt und sprichwörtlich seinem Verderben entgegentanzt, ist ein Walzer. Aber auch, und das ist äusserst bissig, im Duett «Via, caro sposino, non far mi il tiranno» (Komm, kleiner Ehegatte, spiel mir nicht den Tyrannen) zwischen Norina und Don Pasquale nach der Ohrfeige im dritten Akt. Don Pasquale verlangt hier auf einen Walzer­­ rhyth­mus die Scheidung. Im Stile eines Walzers klatscht und tratscht auch der Chor im dritten Akt über die Hausbewohner. Aussergewöhnlich sind auch die Rezitative, die in dieser Oper nicht mehr Das komplette Programmbuch länger vom Cembalo oder Fortepiano, sondern vom gesamten Orchester begleitet werden. können Sie auf Das empfand das damalige Publikum offenbar als zu trocken. Das gesamte Werk hat durch die Beteiligung des Orchesters bei den Rezitativen dadurch www.opernhaus.ch/shop immer einen Grundklang, der die Rezitative mit den Arien, Duetten und Ensembles miteinander verbindet. Diese durchkomponierte Form oder imführt,Foyer ist imam Übrigen Vorstellungsabend eine Besonderheit, die uns direkt zu Richard Wagner dessen Fliegender Holländer ja im selben Jahr wie Don Pasquale uraufgeführt wurde. des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Kathrin Brunner

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VERKLEIDETES ICH Das Faszinosum der Intrige als eines elementaren Geschehens, eines eigentli­ chen Motors der Literatur, ist mit dem Faszinosum der Verkleidung verknüpft. Denn es wird kaum eine Verkleidung in der Literatur geben, die nicht zu einem intrigenähnlichen Geschehen, einer geplanten und zielgerichteten Verstellung, gehört. In der Verkleidung, die nicht inszenierte Ironie ist, die also nicht durch­ schaut wird und nicht durchschaut werden soll, vielmehr täuschen soll und also lügen, in dieser Verkleidung, und nur in ihr, bin ich allen andern gegenüber nicht mehr ich selbst. Ich ist jetzt tatsächlich ein anderer, um Rimbauds Diktum zu zitieren. Erfolgreich verkleidet, kann ich zusehen, wie die andern in mir einem ganz andern als mir begegnen. Ich selbst bin dahinter, bin unsichtbar hinter diesem andern. Ich bin also da und nicht da zugleich.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Peter von Matt

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ER SITZT IM KÄFIG UND KANN NICHT ENTKOMMEN In «Don Pasquale» steckt viel Realität und Doppelsinn – so viel, dass selbst das tragische und groteske Ende des Komponisten darin anzuklingen scheint Volker Hagedorn

Sie holen ihn an einem Sonntag. Es ist der 1. Februar 1846, als in der Rue Gram­ mont, im 2. Pariser Arrondissement, eine Kutsche hält. Zwei junge Männer bringen Gepäck aus dem Haus, es sind der Diener und der Neffe des Mannes, der dann, auf seinen Neffen gestützt, unsicheren Schrittes, auf die Strasse tritt und einsteigt. Ein 48-Jähriger, für eine längere Reise gekleidet. Gaetano Doni­ zetti wird in Wien erwartet. Seit drei Jahren ist er dort Hofkapellmeister, mit 4 000 Gulden (etwa 140 000 Euro) Gehalt für sechs Monate Anwesenheit. Seine Basis ist Paris – er wohnt in nächster Nähe aller drei Häuser, an denen hier seine Opern triumphieren. Ganz besonders Don Pasquale, uraufgeführt am 3. Januar 1843 im Théâtre-Italien in der Salle Ventadour. Gut möglich, dass die Kutsche an diesem Theater vorbeifährt, statt auf den Boulevard des Italiens einzubiegen. Denn der Kutscher wählt eine sonderbare Route. Er fährt keineswegs in Richtung Wien, wie der 27-jährige Andrea Donizetti seinem berühmten Onkel weisgemacht hat. Das Ziel ist nur acht Kilometer nach Südosten entfernt – die Maison Esquirol in Ivry vor den Mauern von Paris, eine Privatpsychiatrie für Wohlhabende. Drei Stunden lang dauert das Zickzack dorthin – vermutlich bei geschlossenen Vorhängen. Dann wird dem Komponisten erklärt, es habe eine Panne gegeben, die Reparatur werde eine Weile dauern, glücklicherweise sei aber ein gutes Gasthaus in der Nähe. Donizetti lässt sich in eine komfortable

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Suite mit Gartenblick führen. Er ist durchaus klaren Geistes, wird nach einer Weile misstrauisch und will hinaus. Man verwehrt es ihm und tischt weitere Lügen auf, eine haarsträubender und fadenscheiniger als die andere. «Der arme Teufel weiss nicht, was ihn erwartet: Er bebt vergebens, er zürnt vergebens, er sitzt im Käfig und kann nicht entkommen.» Diese Zeilen hat Gaetano Donizetti drei Jahre zuvor selbst vertont. Malatesta singt sie, der fal­ sche Freund des Don Pasquale, den er in einer Intrige sondergleichen an den Rand des Ruins und des Wahnsinns treibt, einen Mann übrigens, der sich selbst recht realistisch sieht: «Ich bin, schon klar, ziemlich bejahrt, aber noch immer gut in Fahrt», hat Pasquale erklärt. Sein Schöpfer, der auch nach fünf Tagen in Ivry festsitzt, schreibt am 6. Februar 1846: «Meine Gesundheit ist schwach, aber dumm bin ich nicht.» Er verfasst Briefe an Freunde und Freundinnen und weiss sehr gut, wo er sich befindet. «Madame, kommen Sie nach Ivry … in einer Stunde! Ich bin eingesperrt worden.» Die Briefe werden nicht zugestellt. Schwache Gesundheit ist freilich ein Euphemismus für den Zustand des Erkrankten. Im vergangenen August haben ihm vor seinem Haus die Beine den Dienst versagt, er verlor das Bewusstsein. Schon länger sind seiner Umgebung nicht nur Unregelmässigkeiten des Ganges aufgefallen, auch Gedächtnisaus­fälle und Wutanfälle, wie man sie von diesem so selbstbewussten wie souveränen Mann sonst nicht kannte. Als sein Neffe Andrea zu Weihnachten eintraf, fand er den Onkel abgemagert, den Blick erloschen, die Äusserungen konfus, die Launen extrem. Donizetti hatte Mühe, den Kopf gerade zu halten. Dieselben Ärzte, die ihm im August nur rieten, das Pariser Klima zu verlassen, Aufregung und Arbeit zu vermeiden, konstatierten Ende Januar 1846, er sei nicht länger «fähig, die Konsequenzen seiner Entscheidungen und Handlungen einzuschät­ zen». Dass er an den Folgen einer Syphilis litt, wurde, wie üblich, umschrieben. Kopfschmerzen plagten Donizetti schon seit Jahren. «Wenn du das im Kopf aushältst, mit diesem Hammer, ist es ein Wunder», singt Pasquale. Er meint seine Fassungslosigkeit über die Demütigung, die ihm bereitet wird, doch was ein martello im Kopf ist, wusste der Komponist wortwörtlich. Zum Triumph der französischen Fassung seiner Lucia di Lammermoor im August 1839 konn­ te er nicht kommen, mit Schädelweh im Bett liegend und sich nur erhebend, weil ihm das ganze Ensemble unter seinen Fenstern ein Ständchen brachte. Das

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Publikum liebte seine Stücke so, dass Hector Berlioz, der sie nicht liebte, grimmig von einer «Invasion» sprach. Innerhalb von zwei Monaten wurden in Paris 1840 La Fille du régiment und Les Martyrs uraufgeführt, bis 1842 folgen fünf weite­ re Opern für Paris, Rom, Mailand, Wien, zwischendurch zum Zeitvertreib ein Einakter für die Schublade, in einer Woche komponiert. Donizetti arbeitete ständig an der Grenze zum Burn-out. Und immer wieder: Kopfweh. «Höchst unwahrscheinlich», schreibt sein Biograf William Ashbrook, «dass er nie einen Verdacht zur wahren Natur seines Zustands und möglicher Konse­ quenzen hatte, denn Menschen, die an fortgeschrittener Syphilis litten, waren in diesen Tagen nicht selten. Donizettis exzessive Arbeit in den letzten Monaten des Jahres 1842 und im ganzen Jahr 1843 legt nahe, dass er so viel komponie­ ren wollte wie möglich, solange er dazu noch fähig war.» In elf Tagen ist im Herbst 1842 Don Pasquale skizziert, aber alles in allem dauert die Arbeit drei Monate, und sie geht mit Sorgfalt vonstatten. Der Komponist zieht eine Summe seiner Erfahrungen und greift dabei auch massiv ins Libretto ein. Donizetti, Mitte 40, blickt zurück – doch er verwandelt ein historisch gewordenes Genre, die Opera buffa, in etwas Neues, ein Dramma buffo, so neu, dass er auf zeitge­ nössischen Kostümen besteht und die Gestalten ambivalent macht. Selbst dem Strippenzieher Malatesta («schlimmer Kopf») tut der Erfolg seiner Intrige leid: «Er scheint nicht mehr derselbe. Es tut mir im Herzen weh.» Ähnlich geht es den Freunden, Kollegen, Angehörigen, die Donizetti in Ivry besuchen. Der altvertraute Tenor Gilbert Duprez inspiriert mit einer Arie aus Lucia den Komponisten dazu, ans Klavier zu tappen – immerhin gibt es eines! –, doch gehorchen die Finger nicht mehr. Die Italiener möchten ihn in seinen Geburtsort Bergamo heimbringen, die Ärzte widersetzen sich. Andrea mobilisiert den österreichischen Botschafter in Paris – immerhin ist Donizetti als Hofkapellmeister Ferdinands I. dessen Untertan und dazu noch Mitglied des kaiserlichen Haushalts. Da tritt überraschend der Pariser Polizeipräfekt Gabriel Delessert aus der Kulisse und untersagt jegliche Reisepläne. Mit welchem Recht und welchem Motiv, bleibt so unklar, dass sich konspirative Züge abzeich­nen. Steckt Donizettis Pariser Bankier August de Coussy dahinter, der die Kontrolle über die sprudelnden Tantiemen behalten möchte? Dessen Frau Zélie hat Do­ nizetti seinen Don Pasquale gewidmet – und ihre Mischung aus «Katzbuckeln

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und Tyrannisieren» (Ashbrook) vielleicht auch in Norina verewigt. «Peggiore consorzio di questo non v’ha», klagt Pasquale, als er das Ausmass der Intrige erkennt, «einen schlimmeren Verbund als diesen gibt es nicht». Nachdem Neffe Andrea im September 1846 frustriert abgereist ist, ergreift der österreichische Baron Eduard von Lannoy die Initiative, mit Musikwelt und Diplomatie gleichermassen vertraut. Er nötigt den Neffen zur Rückkehr, mo­ bilisiert die Presse und erzwingt Donizettis «Freilassung». Nach fast siebzehn Monaten kann Donizetti von Ivry in eine neue Pariser Wohnung ziehen, verliert seine Apathie und geniesst tägliche Ausfahrten, die alsbald vom Polizeipräfekten unterbunden werden: Delessert postiert Gendarmen vor dem Haus, damit der Kranke nicht doch noch nach Italien transportiert wird. Diese Besessenheit erinnert an den Polizeispitzel Javert aus Victor Hugos Les Misérables, die freilich noch nicht geschrieben sind, während Honoré de Balzac längst geschildert hat, zu welcher Skrupellosigkeit in Paris die Geldgier führt. Auch mit Le Père Goriot von Balzac im Sinn kann man Don Pasquale lesen, diese Demontage eines altmodischen Seniors in soliden Verhältnissen. Freilich endet sie im Libretto versöhnlich mit «Ich will alles vergessen», während Goriot verarmt und einsam stirbt. Und Donizetti? Sein letztes Kapitel gleicht dem eines Romans zwischen Balzac und Hugo: Erst als internationale diplomatische Verwerfungen drohen, geht der Polizeichef in die Knie, und nach einer Reise von siebzehn Tagen er­ reicht der todkranke Komponist im September 1847 seine Heimat Bergamo. Fast wirkt es als Prophetie, wie er zwei Jahre zuvor einen Brief endigte, der im Duktus einem Rezitativ ähnelt: «Pazienza! La tomba! È finita.» «Geduld! Das Grab! Es ist vollendet.» Konkret bezieht sich das wohl auf das Mausoleum, das Donizetti in Neapel für die Liebe seines Lebens bauen liess, Virginia, 1837 gestorben. Doch mit Blick auf Don Pasquale und seinen Komponisten kann man nicht anders, als mehr zwischen den Worten zu lesen.

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Pasquale: Träum’ ich? Wach’ ich? Was ist geschehen?





SCHADENFREUDE Schadenfreude ist die Lust an fremdem Unglück – und viel mehr als nur eine kleine, gerade noch akzeptierte Bösartigkeit. Schadenfreude ist die kleine Schwester der Niedertracht, sie ist verwandt mit dem Neid und wird gespeist von dem Minderwertigkeitsgefühl. Sie ist evolutionär betrachtet überlebensnot­ wendig, weil sie das Gruppenrudel vor Einzelschmarotzern schützt, sagen ei­ nige Experten. Und sie ist ein gut funktionierender Sich-Vergewisserungs-Kitt in einer sozialen Gemeinschaft. «Seht her, der macht es falsch.» Heisst übersetzt: «Seht her, wir machen es also richtig.» Wer im Bus brav eine Fahrkarte gelöst hat, geniesst die Genugtuung, wenn jemand vom Kontrolleur erwischt wird, der es nicht nötig hatte, für die Fahrt wie alle anderen zu zahlen. Mangels Be­fug­nis hätte man ihn nicht selbst bestrafen dürfen, somit wird es als ausgleichen­de Gerechtigkeit empfunden, dass jemand anders es erledigt. Schadenfreude setzt einiges voraus. «Das belachte Objekt muss Überlegen­ heit ausstrahlen, sonst wäre es Häme», sagt die Psychologin Brigitte Boothe von der Universität Zürich. «Und der Schaden muss von begrenztem Ausmass sein. Wäre Clinton über seine Sexaffäre gestürzt, hätte sich zumindest ein Teil der Schadenfrohen mitleidig abgewendet.» Der Grat zwischen «Hihi» und «Oh, der Arme!» verläuft – politisch gesehen – genau zwischen Bill Clinton und Rudolf Scharping. Über den ehemaligen Verteidigungsminister, der erst baden ging und sich dann PR-gesponserte Krawatten umband, lachen heute weniger Menschen als über Clinton. «Es gibt viele, vor allem Frauen, die aufgrund seines Pechs eher Mitleid mit ihm haben», sagt Boothe. «Würde ihm jetzt noch die Ehefrau weglaufen, wäre das Mass übervoll.» Forscher von der Universität London haben mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie, fMRT, jene Hirn­region entdeckt, die aktiv wird, wenn sich Schadenfreude einstellt. In einem Experiment sollten Männer und Frauen Geldbeträge miteinander tauschen. Die Versuchs­ personen wussten nicht, dass unter ihnen vier Schauspieler sassen, deren Auf­ gabe es war, entweder besonders kooperativ zu spielen (was vom Spielleiter belohnt wurde) oder besonders bösartig. Danach wurde die Hirnaktivität der

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Probanden aufgezeichnet, während die Schauspieler vermeintlich mit Elektro­ schocks bestraft wurden. Bekamen die Fairen Senge, zeigten die Mitspieler Mitgefühl. Der Teil des Gehirns, der signalisiert, wie unangenehm man Schmerz emotional empfindet, wurde aktiv. Wurden die unfairen Schauspieler bestraft, regte sich stattdessen vor allem bei den Männern jener Bereich, der immer dann angesprochen wird, wenn es um Essen, Sex, Drogen, kurz: Belohnung geht. Männer sind mit sich und der Welt zufrieden, wenn bösartige Rudelmitglieder von der Gemeinschaft bestraft werden. Forscher untersuchen derzeit, ob Frauen tatsächlich weniger Schadenfreude empfinden – oder ob die Bestrafung nur subtiler als mit Elektroschocks hätte sein müssen. Auf jeden Fall ist es egal, ob das Schadensopfer ein hyperaktiver Überflieger ist oder ein Otto-Normalver­ braucher-Phlegma besitzt, vermutet Nancy Brigham vom Psychologischen In­ stitut der Universität von Kentucky. Schadenfreude entsteht immer dann, wenn einem Beneidenswerten scheinbar unerwartetes Unglück widerfährt. «Schadenfreude ist in der psychoanalytischen Theorie neben der Vorfreude das einzige Gefühl, das unmittelbare Entspannung gibt», sagt Boothe. «Das funktioniert ohne jeden weiteren Energieaufwand. Manchmal reicht es, nur ein Interview zu lesen, in dem etwas steht, über das man sich erheben kann. Das ist dann wie ein Geschenk des Schicksals, und deswegen mögen sich so wenige Menschen von der Schadenfreude lösen.» Schadenfreude ist ein gesellschaftlicher Gleichmacher. Mit ihrer Hilfe können sich auch sozial Schwächere wenigstens für einen Augenblick auf einem Niveau mit den vermeintlich Besseren, Stärkeren, Schöneren fühlen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Katrin Wilkens

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ÄLTERER HERR SUCHT JUNGE FRAU Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer im Interview über das erotische Begehren, das Generationen überspringt

Herr Schmidbauer, Don Pasquale, ein nobler Herr von gut 70 Jahren, will zum ersten Mal in seinem Leben heiraten. Das Sujet des verliebten, heiratswütigen Alten ist eines der ältesten und beliebtesten der Komödien­literatur. Warum ist das so? Don Pasquale ist in Not, weil sein verliebter Neffe sich weigert, seine dy­nas­ tische Pflicht zu erfüllen. Er scheint wenig Erfahrung mit Frauen zu haben, er verlässt sich da ganz auf den Rat eines Intriganten. Die alten, reichen Männer, die in der Regen­bogenpresse als Ehemänner junger Frauen auftreten, sind ein ganz anderer Schlag: befehlsgewohnt, eheerfahren, glauben sie, sich an der Seite einer jüngeren Frau selbst zu verjüngen, wie der biblische König David. Sie bleiben auch in ihren Beziehungen zu den jüngeren Geliebten oder Ehefrauen macht­bewusst. Don Pasquale aber entpuppt sich in der Ehe als ein im Grund gutherziger Tölpel, völlig hilflos, wenn seine Erwartun­gen nicht erfüllt werden, am Ende einsichtig und bereit, nachzugeben. Die Entwicklung dieses gebrochenen Helden in Donizettis Werk spiegelt den Umbruch von der feudalen zur bürgerlichen Epoche, der sich in den grossen Opern Mozarts und Rossinis bereits ankündigt. Donizettis Oper zeigt den Sieg der romantischen Liebe über die feudale Ord­nungs­­ehe. In Le nozze di Figaro ist das noch ein Kampf mit ungewissem Ausgang, im Don Giovanni bleibt der adelige Wüstling dem Bauern- und Dienervolk weit überlegen. Er spielt mit Zerlina, Masetto und Leporello, während Don Pasquale, ein adeliger Trottel, den Emporkömmlingen ausgeliefert ist. Nur dass Don Gio­­van­ni seinen Diener über seine Amouren Buch führen lässt, spricht für den Einbruch der bürgerlichen Wirtschaft in die laszive Welt des Rokoko. Es braucht ein

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Gespenst, um den adeligen Herrn aus seiner Bahn zu werfen; die Macht der Frauen hat da noch keine Chance. Warum empfinden wir das Ansinnen, dass ein Mann im höheren Alter eine jüngere Frau heiraten möchte, auch noch im Jahr 2019 als Anmas­sung? Ich würde sagen: nicht «auch noch im Jahre 2019», sondern «endlich im Jahre 2019». In feudalen Zeiten war die Hochzeit alter, mächtiger Männer mit viel jüngeren Frauen eine dynastische Selbstverständlichkeit. Auch in mächtigen Unternehmerfamilien der Gegenwart spielen Frauen eine Rolle, die als Sekretärin oder Kindermädchen in den Haushalt des Patriarchen kamen und den Statusgewinn durch eine Ehe zu nutzen wussten. Was erhofft sich ein älterer Mann gemeinhin von einem solchen Schritt? «Erhofft» klingt sehr geplant und rational. Ich würde sagen: Er kann der Versuchung nicht widerstehen, sich seine Potenz zu beweisen und die imaginäre Rivalität um eine von vielen begehrte Frau zu gewinnen. Denken wir an den amerikanischen Bauunternehmer, der inzwischen leider in die Politik gegangen ist. Jüngere Geliebte sind eine narzisstische Aufwertung, das gilt inzwischen, freilich in bescheidenerem Umfang, auch für Frauen. Was kann ein älterer Mann einer jüngeren Frau bieten? Teilhabe an seiner Macht, seinem Reichtum, seiner Erfahrung. Aber es gibt auch subtilere Einflüsse. Manche Frauen finden gleichaltrige Männer unreif und selbstbe­zogen; sie suchen in ihren erotischen Beziehungen etwas wie die Reparatur einer unbefriedigenden, enttäuschenden Beziehung zu ihren Eltern. Das Versprechen des älteren Partners liegt dann eher in der Sehnsucht, doch noch einen guten Vater, eine liebevolle Mutter zu finden. Don Pasquale ist begeistert von der Idee, eine Frau zu ehelichen, die, wie er selbst, eher menschenscheu ist und sich von Vergnügungen fernhält – würden Sie ihm bei der Suche nach einer solchen Frau behilflich sein? Eheanbahnung ist nicht mein Gewerbe. Aber ich würde grundsätzlich davon ab­raten, jemanden zu heiraten, den man nicht gründlich kennt. Ist nicht

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originell, hat schon Schiller gesagt: «Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich auch Herz zum Herzen findet!» Don Pasquale lässt seine Ehe von einem Betrüger arrangieren; ein Menschenkenner ist er nicht. Welches sind die häufigsten Konflikte in Beziehungen mit grossem Alters­unterschied? Oft wünscht sich eine junge Frau Kinder; der ältere Partner will das nicht, er hat schon welche aus seiner ersten Ehe. Viele Probleme ergeben sich erst im Lauf der Zeit, wenn etwa der ältere Partner pflegebedürftig wird. Andere Konflikte hängen mit der Asymmetrie zusammen: Anfangs wird der ältere Partner bewundert, die junge Frau lernt viel von ihm. Dann hat sie ausgelernt und will jetzt gemeinsame Unternehmungen starten, Neues erobern, wäh­ rend er ruhebedürftiger und in ihren Augen zu bequem ist, an seinem alten Stiefel festhält.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Welche Probleme können grundsätzlich innerhalb einer Familie auftreten, wenn www.opernhaus.ch/shop ein älteres Familienmitglied sich entscheidet, nochmals zu heiraten? oder am Vorstellungsabend im Foyer Das biedermeierliche Bild von Greis und Greisin, die sich still bescheiden und – ver­witwet – möglichst viel des im Lauf ihres Lebens Erworbenen ihren Kindern ver­­erben, entspricht allein den Interessenerwerben der jüngeren Generation. des Opernhauses Es engt den Spielraum älterer Menschen ein. Viele 70-Jährige erleben sich noch vital und erotisch aktiv. Das ist durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung und des verbrei­teten Wissens über gesunde Lebensführung im 21. Jahrhundert viel häufiger der Fall als zu Rossinis und Donizettis Zeiten. Auch gegenwärtig gibt es heftigen Streit in Familien, wenn ältere Männer oder Frauen eine neue Beziehung eingehen. Wenn erwachsene Kinder Partei gegen die neue Beziehung ergreifen, gibt es viel böses Blut. Kritische Kinder werden enterbt, wenn sie sich weigern, die neue Be­ziehung zu akzeptieren. Die Familie findet kein Patchwork, sie zerbricht in Graben­kriegen. Don Pasquale denkt dynastisch und fühlt sich verpflichtet, die Erbfolge zu überwa­ chen. Deshalb streitet er mit Ernesto und stellte sich anfangs dessen Liebe in den Weg. Damit gehört er eigentlich in die feudale Epoche. Die war 1840

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an sich ein alter Hut, aber sie sollte doch nach Revolution und Napoleons Scheitern in Teilen wiederhergestellt werden. Don Pasquales Tölpelhaftigkeit ist eine politische Aussage im Kleid der Opera buffa. Warum ist der Wunsch Don Pasquales nach Verjüngung – eine junge Frau heiraten, Kinder zeugen – in den Augen der Öffentlichkeit auch heute noch oft Anlass zur Heiterkeit? Warum fällt uns das so schwer, Verständnis dafür aufzubringen, wenn ein alternder Mann vor dem Schreckensszenario der Einsamkeit, der Krankheit und des Todes zu fliehen versucht? In die Erheiterung mischt sich oft Häme. Ich sehe beides kritisch. Gewaltfreie sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen sollten inkommensurabel sein. Daher möchte ich moralisierende Bewertungen grundsätzlich auf die Interessen der Urteilenden hin in Frage stellen. Ich finde auch die Frage albern, die dann in den Illustrierten auftaucht: Warum tun Männer (seltener Frauen) das? Ich würde ant­wor­ten: weil sie es können – und warum denn nicht? In den oft hämischen, ab­wertenden Reaktionen auf die Erotik zwischen alt und jung (und ähnlich zwischen reich und arm) sehe ich neben Sexualneid auch unsere sexualfeindlichen kulturel­len Traditionen am Werk. Die Konsumenten solcher Stories finden einen doppelten Genuss: Sie können an der geschilderten und bebilderten Erotik teilhaben – und sich gleichzeitig moralisch über die dargestellten Personen erheben. Dabei ist es an sich egal, ob Herr Müntefering eine jüngere Frau heiratet oder Frau Klum einen jüngeren Mann. Auch diese umgekehrte Verbindung, ältere Frau – junger Mann, wird vorwiegend hämisch kommentiert. Sie profitiert allenfalls ein wenig vom Triumph, dass Frauen jetzt ein bisher Männern vorbehaltenes Gebiet erobern.

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Don Pasquale ist reich und adelig. Wie oft ist auch heute noch die Partner­­wahl nicht nur durch Amors ominöse Pfeile gelenkt, sondern durch den Austausch von Ressourcen und Bedürfnissen, beispielsweise durch den Tausch von Attraktivität gegen sozialen (männlichen) Status? Amors Pfeile werden von komplexen Situationen gelenkt. Es ist ein Unding, diese wertend aufzudröseln nach dem Motto: «Du liebst nicht mich, du liebst nur meinen Körper» (sagt die schöne Frau) oder «Du liebst nicht mich,

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du liebst nur mein Geld und meinen Status» (sagt der ältere, erfolgreiche Mann). Müssen wir hässlich und arm sein, um die reine Liebe zu finden? Das kalendarische Alter sagt an sich wenig über eine Person. Fitte Sechzigjährige haben oft ein aktiveres Sexual­leben als Dreissigjährige; das biologische Alter unterscheidet sich bei Personen, die auf ihre Gesundheit achten, erheblich vom kalendarischen. Das Alter als Unterschei­dungs­merkmal erfreut sich einer trivialen, aussagearmen Beliebtheit; es zur «Ursache» von Störungen oder Schwächen zu erklären ist einfach schlechte Psycho­logie oder Me­­dizin. Der Altersunterschied in der Liebe fällt auf, weil er das Bild des Aus­klin­gens, des «Lebensabends» durch einen Neuanfang stört. Aber es ist doch ein Mythos, dass wir alle im Alter ruhiger werden! Das triviale Bild vom Altern in Würde und Stille ist ein dummes Klischee, das überhaupt nicht zu einem im Prinzip sein Leben lang von Leidenschaften bestimmten Wesen wie dem Menschen passt. Oft gilt eher das Gegenteil: Ältere Menschen haben den Leidenschaften, die in ihnen hochsteigen, weniger entgegenzusetzen als junge, die sich besser kontrollieren können. Würden Sie als Paartherapeut die Verbindung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau grundsätzlich gutheissen? Ein Therapeut sollte kein Sittenrichter sein. Bindungen können sich unter zunächst günstig erscheinenden Bedingungen auflösen und ebenso unter ungüns­tigen Voraussetzungen festigen. Es geht in dauerhaften Liebesbeziehungen immer darum, Illusionen in einer Weise zu korrigieren, welche Nähe und Zuneigung nicht gefährdet, sondern festigt. Wenn der ältere Partner aus früheren Beziehungen etwas wie Lebensweisheit mitgenommen hat und seine Erfahrungen konstruktiv ein­bringen kann, ist das sehr produktiv. Don Pasquale zeigt da exakt, wie es gerade nicht sein sollte: Er hat keine Ahnung, was eine Ehe bedeutet, er fühlt sich nur in seinem Junggesellenleben gestört, überlässt seiner Frau alle Initiative und macht eine jämmerliche Figur. Stimmt es, dass in den meisten Fällen erfolgreiche und glückliche Paare einan­der ziemlich ähnlich sind, was Alter, Bildung und Attraktivität betrifft?

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Im Prinzip ja. Selbst ein Tennisspiel wird langweilig, wenn immer nur eine oder einer die Punkte macht. Aber andere Faktoren sind ebenso wichtig, beispielsweise die Fähigkeit zur Selbstdistanz, zum Humor. Wenn sich in Bildung, Alter und Attraktivität ähnliche Partner auch in Punkto Humor­ freiheit gleichen, sehe ich schwarz und würde einem Paar, das different, aber humorbegabt ist, die besseren Aussichten zuschreiben. Kaum hat Don Pasquale seine Unterschrift unter den Ehevertrag gesetzt, macht ihm die angeblich so schüchterne Ehefrau das Leben zur Hölle: neue Möbel sollen her, anderes Personal, und Norina/Sofronia kündigt an, künftig ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen. Was geschieht mit Menschen, wenn sie erkennen, dass Wunsch und Realität auseinanderklaffen? Natürlich ist das in der Oper überzeichnet. Aber auch heute lassen sich heftige Veränderungen im Verhalten nach dem Gang zum Traualtar beobach­ ten. Bisher haben sich die Beteiligten Mühe gegeben, einen guten Eindruck zu machen. Jetzt lässt das nach, man hat einander ja «sicher». Es gibt da krasse Fälle, wie den Künstler, der sich bisher mit Jobs durchgeschlagen hat und nach der Trauung seiner gut verdienenden Frau erklärt, er werde sich jetzt ganz seiner (brotlosen) Kunst widmen, sie sei ja verpflichtet, ihn zu unterhalten. Das trifft, durchaus analog zur Oper, vorwiegend Paare, die Tage oder Wochen verlobt sind und sich nicht einige Jahre Zeit geben. Auch interkulturelle Ehen bieten oft dramatische Beispiele für Krisen unmittelbar nach der Hochzeit. Plötzlich mischen sich die Angehörigen in einer während der frühen, verliebten Zweisamkeit undenkbaren Weise ein. Religiöse Dif­ ferenzen, die bisher ignoriert wurden, werden während einer Schwan­ger­schaft virulent: Soll das Kind getauft werden? Soll es beschnitten werden, falls ein Sohn geboren wird? Theoretisch wäre es gut, diese Fragen zu klären, so lange man noch den Ausweg hat, lieber nicht zu heiraten. Deshalb finde ich auch Eheverträge im Prinzip nicht lieblos, sondern fürsorglich.

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Die Fragen stellte Kathrin Brunner

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DON PASQUALE GAETANO DONIZETTI (1797-1848) Dramma buffo in drei Akten Libretto von Giovanni Domenico Ruffini und Gaetano Donizetti Uraufführung: 3. Januar 1843, Théâtre-Italien, Paris

Personen

Don Pasquale

Bass

Dottor Malatesta Ernesto Norina

Bariton

Tenor

Sopran

Carlotto, der falsche Notar

Bass

Diener und Kammermädchen


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

Sala in casa di Don Pasquale, con porta in fondo d’entrata comune, e due porte laterali che guidano agli appartamenti interni.

Ein Salon im Hause Don Pasquales, im Hintergrund eine Eingangstür, seitlich zwei Türen, die zu den Gemächern führen.

SCENA PRIMA

ERSTE SZENE

DON PASQUALE passeggiando coll’orologio alla mano

DON PASQUALE mit der Uhr in der Hand auf- und abgehend

Son nov’ore; di ritorno il Dottore esser dovria.

Es ist neun Uhr; der Doktor wollte längst zurück sein.

ascoltando

horchend

Zitto!... Parmi... È fantasia... Forse il vento che soffiò. Che boccon di pillolina, nipotino, vi preparo! Vo’ chiamarmi don Somaro se veder non ve la fo.

Still!... Mir scheint... Ich habe mich getäuscht... Es war nur der Wind. Eine bittere Pille, werde ich dir zu schlucken geben, lieber Neffe! Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich es ihm nicht zeigte.

MALATESTA di dentro

MALATESTA hinter der Szene

È permesso?

Darf ich?

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Avanti, avanti.

Herein! Herein!

SCENA SECONDA

ZWEITE SZENE

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Dunque?...

Also?...

MALATESTA

MALATESTA

Zitto, con prudenza.

Nicht so überstürzt.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Io mi struggo d’impazienza. La sposina?

Ich quäle mich vor Ungeduld. Die Braut?

MALATESTA

MALATESTA

Si trovò.

Ist gefunden.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Benedetto!

Seid gesegnet!

MALATESTA

MALATESTA

(Che babbione!) Proprio quella che ci vuole. Ascoltate, in due parole il ritratto ve ne fo.

(Was für ein Dummkopf!) Ganz genau die Richtige für Euch. Hört zu, ich werde sie Euch in ein paar Worten beschreiben.


DON PASQUALE

DON PASQUALE

Son tutt’occhi, tutt’orecchie, muto, attento a udirvi sto.

Ich bin ganz Ohr, ich schweige und höre Euch aufmerksam zu.

MALATESTA

MALATESTA

Bella siccome un angelo in terra pellegrino, fresca siccome il giglio che s’apre sul mattino, occhio che parla e ride, sguardo che i cor conquide, chioma che vince l’ebano, sorriso incantator.

Schön wie ein Engel, der auf Erden wandelt, frisch wie eine sich öffnende Lilie am Morgen, Augen, die zu einem sprechen und lachen, ein Blick, der das Herz erobert. Haar, schöner als Ebenholz und ein verzauberndes Lächeln.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Sposa simile! Oh, giubilo! Non cape in petto il cor.

Was für eine Braut! Welche Freude! Mein Herz schlägt wie verrückt!

MALATESTA

MALATESTA

Alma innocente, ingenua, che sè medesma ignora; modestia impareggiabile, bontà che v’innamora. Ai miseri pietosa, gentil, dolce, amorosa, il ciel l’ha fatta nascere per far beato un cor.

Eine unschuldige, reine Seele, ihrer selbst nicht bewusst, von unvergleichlicher Bescheidenheit und liebenswürdiger Güte. Barmherzig zu den Armen, freundlich, sanft, liebevoll. Der Himmel hat sie geschaffen, um ein Herz glücklich zu machen.

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DON PASQUALE

Oh giubilo! Famiglia?

O Freude! Und die Familie?

MALATESTA

MALATESTA

Agiata, onesta.

Wohlhabend, angesehen.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Il nome?

Ihr Name?

MALATESTA

MALATESTA

Malatesta.

Malatesta.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Sarà vostra parente?

Ist sie etwa mit Euch verwandt?

MALATESTA

MALATESTA

Alla lontana un po’... È mia sorella.

Entfernt, ein wenig... Sie ist meine Schwester.

DON PASQUALE

DON PASQUALE

Oh gioia! E quando di vederla, quando mi fia concesso?

Welche unfassbare Freude! Und wann kann ich sie sehen?


Programmheft DON PASQUALE

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Dramma buffo in drei Akten von Gaetano Donizetti

Libretto von Giovanni Domenico Ruffini und Gaetano Donizetti Premiere am 8. Dezember 2019, Spielzeit 2019/20

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Kathrin Brunner

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Studio Geissbühler

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Inhaltsangabe von Christof Loy, die Interviews sowie der Artikel von Volker Hagedorn («Er sitzt im Käfig und kann nicht entkommen») sind Originalbeiträge für dieses Heft.– Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München, Wien 2001. – Schadenfreude. Artikel von Katrin Wilkens in DIE ZEIT, 5. Februar 2007. https:// www.zeit.de/zeit-wissen/2007/02/Schadenfreude Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte das «Don Pasquale»En­semble während der Klavierhauptprobe am 28. November 2019. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach­träglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.

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Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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