Eliogabalo

Page 1

ELIOGABALO

Audi RS e-tron GT, 598 PS, 24,2 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. A Works while you recharge. Erleben Sie eine elektrisierende Outdoorsaison mit dem Audi RS e-tron GT. Future is an attitude Mehr unter audi.ch

ELIOGABALO

FRANCESCO CAVALLI (1602-1676)

Unterstützt von Atto primo

Elioga ist Go

balo tt.

HANDLUNG

Erster Akt

Eliogabalo, Kaiser von Rom, hat Eritea, die Verlobte von Giuliano, vergewaltigt. Nun fordert Eritea von Eliogabalo, sie zu heiraten und so ihre Ehre wenigstens äusserlich wiederherzustellen. Eliogabalo verspricht Eritea die Ehe, ist aber be reits von ihr gelangweilt und bittet Lenia, seine Amme, nach anderen attraktiven Frauen Ausschau zu halten.

Lenia schlägt ihm vor, die schöne Gemmira kennenzulernen.

Gemmira ist mit Alessandro verlobt, Eliogabalos Cousin. Sie durchschaut Eliogabalo besser als ihr Verlobter; vergeblich versucht sie Alessandro davon zu überzeugen, dass der Kaiser eine grosse Gefahr für ihn darstellt.

Alessandro berichtet Eliogabalo, dass er Gemmira heiraten möchte, und bittet um sein Einverständnis. Eliogabalo willigt zum Schein in die Heirat ein.

Um sich Gemmira (und vielen weiteren Frauen) leichter nähern zu können, gründet er einen Senat nur für Frauen; er selbst wird dort ebenfalls als Frau erscheinen.

Attilia ist unglücklich in Alessandro verliebt und versucht, ihn zu verführen.

Die Frauen, darunter auch Gemmira, Eritea und Attilia, haben sich im Senat versammelt. Doch Eliogabalo erreicht sein Ziel, Gemmira zu besitzen, nicht: Eritea geht dazwischen und wirft ihm vor, sie verraten zu haben.

Zweiter Akt

Attilia versucht ein weiteres Mal, Alessandro für sich zu gewinnen.

Giuliano geht fast am Schmerz darüber zugrunde, dass seine Verlobte Eritea von Eliogabalo vergewaltigt wurde und dennoch bereit ist, diesen zu heiraten.

5

Eritea und Giuliano versöhnen sich miteinander. Eliogabalo wird Zeuge dieser Versöhnung und nimmt sie zum willkommenen Anlass, Eritea endgültig loszu werden.

Da der Frauensenat ihm nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat, fasst Eliogabalo zusammen mit Lenia und Zotico einen neuen Plan: Er will Gemmi ra zum Essen einladen und ihr ein Schlafmittel ins Essen mischen, um die Wehrlose endlich zu besitzen. Sollte Alessandro versuchen, dies zu verhindern, ist Eliogabalo bereit, ihn umbringen zu lassen. Doch auch dieser Plan führt Eliogabalo nicht zum Ziel.

Dritter Akt

Gemmira und Eritea wollen Eliogabalo für sein brutales Verhalten bestrafen und versuchen Giuliano dazu zu bringen, den Kaiser umzubringen. Als Giuli ano sich endlich dazu entschliessen kann, scheitert er an Alessandro, der den Mord verhindert.

Attilia ist bereit, auf Alessandro zu warten, falls dieser sich eines Tages doch noch dazu entschliessen sollte, Gemmira zu verlassen. Gemmira hat die Szene beobachtet; sie hat Alessandros Reaktion missverstanden und ist zutiefst ent täuscht von ihrem Verlobten.

Eliogabalo schmiedet unterdessen mit Lenia und Zotico neue Pläne: Ales sandro soll bei einem Gladiatorenkampf endgültig aus dem Weg geräumt wer den, während der Kaiser selbst gewaltsam in Gemmiras Haus eindringen und Gemmira vergewaltigen will.

Doch es kommt anders: Nicht nur Zotico und Lenia, sondern auch Elio gabalo finden den Tod.

Alessandro wird zum neuen Kaiser ausgerufen.

6

HERRSCHER, LUSTMENSCH, MÖRDER

Regisseur Calixto Bieito im Gespräch

Calixto, deine letzte Arbeit hier in Zürich war Monteverdis Incoronazione di Poppea, in der der römische Kaiser Nero eine zentrale Rolle spielt. Auch der Titelheld der Oper Eliogabalo hat einen römischen Kaiser als historisches Vorbild: Varius Avitus Bassianus, genannt Elagabal, der 218 nach Christus als Vierzehnjähriger den römischen Thron bestieg und vier Jahre später ermordet wurde. Wie wichtig war für dich dieser historische Hintergrund im Zusammenhang mit Cavallis Oper? Während der Vorbereitung war es natürlich interessant, sich mit der histori schen Figur Elagabal zu beschäftigen, der als einer der grausamsten römischen Herrscher überhaupt galt – und das in einer Zeit, die an grausamen und verrückten Kaisern nicht gerade arm war. Was ihn von seinen Vorgängern und Nachfolgern unterschied, war zum einen seine Religion; er stammte ur sprünglich aus Syrien, gehörte also einer ganz anderen Kultur an und war als Kind und Jugendlicher Priester eines syrischen Sonnengottes namens Elagabal, von dem er auch den Namen übernahm. Nach Rom brachte er einen religiösen Kult mit, zu dem gehörte, dass jeden Morgen Tausende von Tieren geopfert wurden und das Blut in Strömen floss; Priester, die diesem Gott dienten, trugen Frauenkleider und haben sich in Ekstase selbst entmannt. Aber auch dass Eliogabalo in der Oper als jemand gezeigt wird, der sich selbst als Frau verkleidet, um die Frau, die er begehrt, zu verführen, geht offenbar auf historische Tatsachen zurück: Der jugendliche Kaiser ging, so liest man, in Frauenkleidern in Bordelle und bot sich Männern als Prostituierte an; er liebte sowohl Frauen als auch Männer und hatte stets wechselnde Sexualpartner. Für Politik interessierte er sich nicht. All das war selbst den Römern zu viel, die an vielerlei Ausschweifungen gewöhnt waren.

10

Was interessiert dich an Cavallis Eliogabalo?

Die Freiheit seines Geistes in Kombination mit extremer Grausamkeit ergibt für mich eine faszinierende Spannung. Eliogabalo ist grausam und brutal, wirkt aber auf andere Menschen auch verführerisch. Er ist ein Hedonist, aber gleichzeitig sehr unsicher in Bezug auf sich selbst und seine Identität. Er muss sich ausprobieren; er ist unersättlich, niemals zufrieden oder befriedigt. Eine Figur, die sich schwer einordnen lässt, eine Figur voller Widersprüche, die die Regeln einer Gesellschaft gehörig durcheinanderbringt.

Ein grausamer, empathieloser Hedonist, der aber auch eine grosse Faszination ausübt auf seine Umwelt – das erinnert an eine andere bekannte Opernfigur…

Ja, Eliogabalo ist in gewisser Weise ein Vorläufer von Don Giovanni. Beide sind für mich Nihilisten. Daneben hat Eliogabalo auch etwas von einer Künstlerfigur, die Grenzen austestet. Dabei geht es einerseits um die Frage, ob sich ein Genie gegenüber seinen Mitmenschen alles erlauben darf, weil er oder sie eben ein Genie ist. Zudem geht es darum, ob Kunst generell Grenzen hat, wie frei sie sein kann. Eine momentan sehr aktuelle Frage; für mich fühlt es sich zurzeit manchmal so an, als wären wir auf dem Weg zu einem neuen Puritanismus mit vielen Beschränkungen und der immer prä senten Angst, etwas falsch zu machen. Gleichzeitig empfinde ich unsere Zeit in vielem als sehr brutal. Wir leben zwischen Extremen, wie das häufig der Fall ist an der Schwelle zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Aber ich bin kein Soziologe. Ich beschreibe nur, was ich beobachte und empfinde.

Zurück zur Oper: Im Unterschied zu Don Giovanni ist Eliogabalo ein Mächtiger, ein tyrannischer Herrscher… der seine Macht skrupellos ausnutzt, seine Mitmenschen auf übelste Weise manipuliert und für die Erfüllung seiner sexuellen Wünsche über Leichen geht, ja. Seinen Cousin Alessandro will er umbringen lassen, um dessen Verlobte zu besitzen. Interessanterweise gründet er einen Senat, in dem nur Frauen vertreten sind; auf den ersten Blick würde man denken: Eine Regierung nur aus Frauen, wie modern! In Wahrheit ist aber auch dies für ihn

11

wieder nur ein Mittel zum Zweck – um nämlich leichter an Sex mit den von ihm begehrten Frauen heranzukommen. Der französische Schriftsteller Antonin Artaud nannte Eliogabalo einen Anarchisten. Er zerstört Emotionen und Menschen. Und trotzdem provoziert sein Tod am Ende der Oper auch Mitgefühl. Denn letztlich ist auch er – ebenso wie Don Giovanni – entsetz lich einsam.

Nicht nur der Frauensenat, auch die Tatsache, dass Eliogabalo verschie dene Geschlechteridentitäten ausprobiert, scheint sehr gut in unsere Zeit zu passen… Ja, vieles in diesem fast 400 Jahre alten Stück ist erstaunlich modern. Vor einiger Zeit hat mich jemand gefragt, warum ich diese Oper überhaupt mache – sie erzähle uns doch heute nichts mehr. Das Gegenteil ist der Fall! Diktatoren wie Eliogabalo gibt es leider nach wie vor, da muss man nicht lange suchen. Zudem leben wir in einer Zeit, in der vieles in Frage gestellt wird und wir mit vielen Unsicherheiten umgehen müssen. Die Unsicherheiten fangen in Cavallis Oper ja schon mit der Besetzung der Rollen an: Ein Tenor singt eine ältere Frau, eine Altistin singt einen jungen Mann, und Elio gabalo selbst ist mit einem Countertenor besetzt, der wie eine Frauenstimme klingt und einen Mann spielt, der sich als Frau verkleidet. Ein modernes Kaleidoskop von Identitäten, in dem sich Tragik und Komik die Waage halten. Grundsätzlich kommt mir Ambiguität sehr entgegen. Es interessiert mich nicht, mit meinen Inszenierungen eine bestimmte Message zu transportieren. Für mich ist das der grosse Unterschied zwischen Kunst und Kultur: Kunst beschäftigt sich mit unserem Innersten, mit unseren Träumen, unserem Unterbewussten, unseren Fantasien, unserer Vorstellungskraft. Kunst lässt sich – im Gegensatz zu Kultur – nicht kontrollieren.

Wir sprachen vorhin von den blutrünstigen religiösen Riten, die der historische Elagabal nach Rom mitbrachte. Inwiefern ist davon auch etwas in Cavallis Oper eingeflossen? Spielten sie für deine Inszenierung eine Rolle?

Ich komme aus einem Land, in dem der Stierkampf in der Vergangenheit eine

12

grosse und wichtige Rolle gespielt hat; das war eine wichtige Tradition, die mittlerweile in vielen Teilen des Landes verboten ist, weil sie so ungeheuer brutal und blutig ist. Ich mag den Stierkampf nicht, ich halte das fast nicht aus, muss aber zugeben, dass er auf viele Menschen, die ich kenne, eine starke Wirkung hat – als ein Ritual, das eine grosse Schönheit ausstrahlen kann und eine merkwürdige Intimität besitzt. Wir brauchen Rituale oder doch zumindest Routine in unserem Leben; das gibt uns Orientierung und Sicherheit. Natürlich müssen diese Rituale nicht so blutig sein wie ein Stierkampf. Deshalb kommt bei uns der Stier auf der Bühne auch eher als ein ironisches Zitat vor.

In was für einer Welt spielt deine Inszenierung? Die Figuren in Cavallis Oper empfinde ich als sehr modern, deshalb spielt die Oper bei uns auch in einer mehr oder weniger zeitgenössischen, aber zu gleich auch zeitlosen Welt – in einer sehr reichen und mächtigen italienischen Familie vielleicht, deren Mitglieder sich hassen bis aufs Blut, sich gegenseitig manipulieren, aber auch abhängig sind voneinander. Einen ganz konkreten zeitlichen Bezug gibt es nicht. Es interessiert mich auch nicht so sehr, die Geschichte möglichst realistisch oder sozialkritisch zu erzählen; was mich viel eher interessiert, sind authentische Emotionen. Deshalb sind auch die Räume, die auf der Bühne zu sehen sein werden, nicht unbedingt realistische Orte, sondern traumartige Räume, Seelenräume, die innere Zustände der Hauptfigur zeigen, oder aber realistische Räume, die in Traumwelten kippen können.

Eliogabalo ist eine Oper von Cavalli – aber es ist zugleich auch ein Barockprojekt, ein Stück, das während der Proben erst entsteht. Womit hängt das zusammen? Wenn wir die Oper so spielen würden, wie sie überliefert ist, würde sie über vier Stunden dauern. Aber nicht nur das: Die Rezitative sind zum Teil sehr lang und manchmal auch redundant, weil sie die Handlung nicht voranbringen und Dinge erzählen, die wir schon längst wissen. Die Instrumentation kennen wir nicht, denn wie bei Monteverdi ist auch bei Cavalli keine komplette Partitur überliefert, sondern nur ein sogenannter Generalbass; die

13

Instrumentation richtete sich damals nach den finanziellen Möglichkeiten des jeweiligen Theaters und muss heute in jeder Aufführung neu erfunden werden. Das Libretto ist in einer veralteten, zum Teil sehr verschlungenen Sprache verfasst und enthält viele Metaphern, die kaum jemand heute noch entschlüsseln kann, und ein grosser Teil der Komik, die zu Cavallis Zeit mit all ihren Anspielungen problemlos verstanden wurde, funktioniert heute nicht mehr. Wir gehen mit dem vorhandenen Material durchaus respektvoll, aber frei um. Die Arbeit an dieser Inszenierung ist ein sehr kreativer Prozess, den man fast als kollektive Arbeit bezeichnen könnte – wir kreieren alle gemeinsam eine Oper für heute mit barocker Musik! Dabei kommt es uns sehr entgegen, dass diese Oper so unbekannt ist und niemand eine bestimmte Erwartung damit verknüpft. Zu Lebzeiten Cavallis wurde sie nie aufgeführt, 1999 hat man das Manuskript überhaupt erst wiederentdeckt. Das gibt uns eine grosse Freiheit. Für mich ein grosses Geschenk. Wobei ich ganz grundsätzlich der Meinung bin, dass eine Premiere das Publikum überraschen sollte. Es wäre ja auch langweilig, in der Oper oder im Theater nur das zu sehen, was man sowieso erwartet.

Möglich ist diese ungewöhnliche Inszenierungsarbeit nicht zuletzt, weil wir mit Dmitry Sinkovsky einen Dirigenten haben, der mit BarockMusik als Geiger und als Sänger viel Erfahrung hat … … und sehr flexibel ist, wenn es darum geht, hier noch ein Ritornell einzu bauen oder dort noch ein paar mehr Rezitativ­Takte zu streichen. Auch unsere Sängerinnen und Sänger müssen sehr flexibel sein und diesen Weg mitgehen; ich bin sehr froh über unsere fantastische Besetzung, mit der das auf so kreative Weise möglich ist.

14
Das

Ich wi alle ha

ll sie ben!

LASTERHAFT, VERDORBEN UND PERVERS

Um Francesco Cavallis Eliogabalo rankt sich eine Geschichte, die einen wasch echten Krimi füllen würde. Die Oper sollte im Karneval 1668, also zum Jahres wechsel 1667/68, im Teatro SS. Giovanni e Paolo in Venedig uraufgeführt werden. Im Sommer hatte Marco Faustini, Impresario des Theaters, Cavalli den Kompositionsauftrag erteilt, im Oktober mit dem Textdichter Aurelio Aureli einen Vertrag über den Druck des Librettos geschlossen. Dann aber, Mitte Dezember, trat Faustini von allen seinen Ämtern zurück, und die Besitzer des Theaters, zwei Brüder aus der venezianischen Patrizierfamilie Grimani, ordne ten an, dass Cavallis bereits fertiggestellte Oper nicht aufgeführt werden solle. Stattdessen nötigten sie Aureli, Änderungen am Libretto vorzunehmen, und beauftragten einen jungen, noch unerfahrenen Komponisten namens Giovanni Antonio Boretti, diese neue Fassung zu vertonen. Sie wurde schliesslich im Januar 1668 aufgeführt.

Was war geschehen? Wir können darüber nur spekulieren. Anders als in einem Krimi ist die Lösung dieses Falles nicht möglich, weil zu viele Informationen verloren gegangen sind. Dennoch weisen zahlreiche Indizien auf Begebenheiten hin, die weit über das musikalische Ereignis einer Opernkomposition hinausgehen. Um zu verstehen, was es mit Eliogabalo auf sich hat, müssen wir deshalb etwas weiter ausholen und zunächst einen Blick auf die Republik Ve nedig und ihr besonderes Verhältnis zu den Päpsten werfen. Jahrhundertelang hatte sich Venedig der Macht der Päpste und ihren Versuchen widersetzt, auf das venezianische Gemeinwesen Einfluss zu nehmen, hatte sich seit Beginn der Gegenreformation Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend als liberaler Gegen entwurf zu Rom inszeniert und Menschen eine Heimstatt geboten, die mit der katholischen Lehre haderten. Galileo Galilei war nur einer von vielen.

20

1605 war die Auseinandersetzung zwischen Rom und Venedig einmal mehr eskaliert. Im Kern ging es um die Frage, wer über Mitglieder religiöser Orden Recht sprechen dürfe. Das Gericht der Republik Venedig hatte zwei straffällig gewordene Jesuiten verurteilt, und der Papst reagierte darauf mit grosser Ver ärgerung, weil die Jesuiten nach seiner Auffassung allein der kirchlichen Recht sprechung unterstanden. Er verhängte ein Interdikt über Venedig, eine Kirchen strafe, die jegliche gottesdienstliche Handlung verbot. In Zeiten, da es noch keine zivilen Standesämter gab, bedeutete dies auch: keine Taufen, keine Ehe schliessungen, keine Beerdigungen. Das Interdikt Papst Pauls V. weitete sich in den Jahren 1606 und 1607 zu einem regelrechten Krieg aus, um dessen Beile gung sich halb Europa bemühte. Er endete mit einem Kompromiss: Die beiden verurteilten Jesuiten wurden in die Obhut eines Kardinals gegeben, der Jesuitenorden in Venedig aber verboten und die Jesuiten ausgewiesen. Erst fünfzig Jahre später wurden sie in Verhandlungen zwischen einem anderen Papst und einem anderen Dogen in Venedig wieder zugelassen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Eine Oper für den Karneval

Als 1637 in Venedig das erste kommerzielle Opernhaus seine Pforten öffnete, wurden Opern zunächst nur im Karneval gespielt, in jener «fünften Jahreszeit», in der das Unterste zuoberst gekehrt wurde und Dinge gesagt, gezeigt und getan werden durften, die ansonsten verboten gewesen wären. Auf der Opern bühne durften Kaiser und Könige Zoten reissen und sich unwürdig benehmen, durften Diener ihre Herrschaften beschimpfen und lächerlich machen, durften Huren und Kupplerinnen ihre Weisheiten zum Besten geben. Der Erfolg gab den Opernmachern Recht. Innerhalb weniger Jahre buhlten zahlreiche Opern häuser um die zahlungskräftigen Besucher, die zum Karneval aus nah und fern nach Venedig reisten. Sehr bald erkannten die Opernmacher aber auch, wie man das verhasste Rom verächtlich machen konnte, ohne den Papst auch nur zu erwähnen und weitere Kirchenstrafen zu provozieren – indem man die Opern handlungen im antiken Rom ansiedelte, die Herrscher Roms als wollüstige, widerliche, mordlustige Scheusale portraitierte und den Kaiserhof in Rom als

21

Brutstätte des Verbrechens und der Unmoral darstellte. Den Anfang hatten Francesco Busenello und Claudio Monteverdi 1643 mit ihrer Incoronazione di Poppea gemacht, in der es um doppelten Ehebruch, Mordversuche und einen Kaiser ging, der Wachs in den Händen seiner ebenso ruchlosen wie berechnen den Geliebten war. Um dem (zumeist adligen) Publikum aber auch Auswege aus dieser Welt der Verkommenheit zu weisen, bürgerte es sich ein, den Protagonisten am Ende geläutert aus seiner Bühnengeschichte zu entlassen: So schul dig, wie etwa ein Alexander der Grosse oder ein Xerxes auf der Jagd nach Liebesabenteuern geworden waren, so reumütig kehrten sie am Schluss der Handlung zu ihren Verlobten zurück und stellten so ihre eigene Ehre und die Ordnung der Gesellschaft wieder her.

Sinnbild der spätrömischen Dekadenz

In der antiken Literatur, namentlich bei den Geschichtsschreibern Livius, Ta citus oder Sueton, fanden die Librettisten genügend Stoffe, aus denen sich süffige Libretti formen liessen. Um den unterhaltsamen Geschichten auf der Opernbühne, in denen die römischen Helden eher unheldenhaft auf Freiersfüssen statt in Soldatenstiefeln wandelten, einen Anstrich von historischer Wahr heit zu geben, formulierten die Textdichter ausführliche Vorworte in den ge druckten Libretti, die sich kaum von einer wissenschaftlichen Abhandlung unterschieden. Da wurden Quellen zitiert, Fussnoten verfasst und Gelehrsam keit ausgebreitet, um zu dokumentieren, dass der Autor sich auf der Höhe des historischen Wissens befand. Diese oft seitenlangen Vorworte endeten dann freilich zumeist mit dem schlichten Satz: «Il resto si finge» (Der Rest ist erfun den). Zu den drei genannten antiken Autoren, denen vor allem die alten römi schen Tugenden am Herzen lagen, kamen später weitere hinzu, darunter die spätantike Historia Augusta, eine Zusammenstellung verschiedener Kaiserviten, in denen sich historische Überlieferung, Anekdotisches und tendenziöse Lügengeschichten vermischen. Eine von ihnen ist die Biografie des Elagabal oder Heliogabalus, der im Jahre 218 als Vierzehnjähriger zum Kaiser gekrönt und vier Jahre später von meuternden Soldaten ermordet worden war. An Elagabal

22

schieden sich schon zu seinen Lebzeiten die Geister, und nach seinem Tode wurde er zum Sinnbild all dessen, was lasterhaft, verdorben, pervers war. Der Grund dafür dürfte sein Versuch gewesen sein, den syrischen Sonnengott Elaga bal in Rom zu etablieren, den römischen Gott Jupiter in die zweite Reihe zu verweisen und orientalische Sitten über die alten römischen Sitten zu stellen. Dass er, orientalischer Herkunft gemäss, beschnitten war, verabscheuten die Römer ebenso wie seine orientalisch geprägte Religionsausübung, zu der ritu elles Tanzen, sakrale Prostitution und eine Priesterkleidung gehörte, die die Grenzen zwischen Mann und Frau verwischte. Im Laufe der Jahrhunderte wur de Elagabal so etwas wie das Sinnbild all jener spätrömischen Dekadenz, die so trefflich auch für die kaum verhüllte Kritik an der Papststadt taugte. Kein römi scher Kaiser eignete sich besser, die Stadt am Tiber so eindrücklich als Sünden pfuhl zu geisseln, als dieser.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Marco Faustini, der Librettist und Francesco Cavalli hatten freilich, als sie ihren Eliogabalo planten, nicht an Politik gedacht. In den 1650er Jahren benö tigte die Republik Venedig dringend Geld für ihren Krieg gegen das osmanische Reich zur Verteidigung Kretas. Da es in diesem Krieg auch um den Kampf des Christentums gegen die (vermeintlich) Ungläubigen ging, war der Papst bereit, den Venezianern grössere Summen zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug durften die Jesuiten nach Venedig zurückkehren. Sie beeinflussten in den fol genden Jahren das intellektuelle und religiöse Klima der Stadt nachhaltig. 1667 begann die Situation im belagerten Candia auf Kreta zu eskalieren, und es schien nun nicht mehr opportun, allzu deutlich mit dem Finger auf Rom zu zeigen. Das scheinen die Grimani Brüder, die Besitzer des Teatro SS. Giovanni e Paolo, zumindest so gesehen zu haben. Ihr Auftrag, das Libretto zu bearbeiten und zu verändern, deutet in diese Richtung. Worum geht es in Eliogabalo? Der Librettist griff vor allem jene Skandal geschichten auf, mit denen die Autoren der Historia Augusta das historische Wissen frei ausgeschmückt hatten. «Il resto si finge»: Eliogabalo ist hier vor allem damit beschäftigt, den Frauen der anderen nachzustellen. Erst hat er Giuliano, dem Anführer der Prätorianer, seine Verlobte Eritea ausgespannt, indem er ihr versprochen hat, sie zu heiraten und zur Kaiserin zu machen. Dann gelüstet es ihn nach Giulianos Schwester Gemmira, die mit seinem Vetter Alessandro Se

23

vero verlobt ist. Um ihrer habhaft zu werden, plant er sogar, Alessandro zu beseitigen, einmal mit Gift, und als das fehlschlägt, durch einen gekauften Gla diator, der Alessandro während eines Zweikampfes ermorden soll. Unterstüt zung bekommt Eliogabalo von einem skrupellosen Vertrauten, von einer alten Kupplerin, die all diese Pläne ausheckt, und einem Kutscher, dem es freilich keinen Spass mehr macht, dem Kaiser immer wieder neue Heerscharen von Frauen herbeischaffen zu müssen. Das Libretto griff auch zwei Berichte aus der Historia Augusta auf, die auf die Opernbesucher besonderen Eindruck gemacht hätten. Zum einen war dort zu lesen, dass Elagabal einen Frauensenat, ein «senaculum», als weiblichen Gegenpol zum altehrwürdigen römischen Senat geschaffen habe. Und zum anderen fand sich dort eine Episode, in der Elagabal in Frauenkleidern eine Rede vor Prostituierten hielt und diese als Kampfgenos sinnen («commilitones») bezeichnete. Das Libretto führte diese beiden Erzäh lungen in einer Szene zusammen, in der Eliogabalo sich in Frauenkleidern unter die Frauen des Senats mischt, um an Gemmira heranzukommen. Aurelio Aureli, der Bearbeiter des Librettos für Boretti, kürzte diese skandalöse Szene auf wenige Rezitativverse. Die grösste Änderung aber nahm er am Schluss vor. Denn während Eliogabalo in Cavallis Version bei dem Versuch, Gemmira zu vergewaltigen, von Soldaten (hinter der Bühne) ermordet wird, darf er in der neuen, von Boretti vertonten Fassung seine Untaten bereuen und gemeinsam mit seinem Vetter weiterregieren – ein Schluss so ganz nach dem Geschmack der jesuitischen Lehre. Dieser neue Schluss erlaubte es auch, all die Verfehlun gen zuvor dennoch auf der Bühne zu zeigen, da sie ja die Umkehr, die Busse, die Läuterung umso grösser machten.

Musik, die dem Drama gerecht wird Warum aber wurde überhaupt ein neuer Komponist verpflichtet, statt Cavalli die Gelegenheit zu geben, seine Musik dem neuen Libretto anzupassen? Cavalli, 1602 geboren, als Kapellknabe im Markusdom von Monteverdi musikalisch geprägt, später als Organist und Kirchenmusiker tätig, gehörte zu den bekann testen Opernkomponisten seiner Zeit. 1639, noch bevor Monteverdi sich für

24

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop

oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

das Teatro S. Cassiano in Venedig erneut auf das Abenteuer Oper einliess, hatte er seine erste Oper präsentiert und dann im Lauf von mehr als drei Jahr zehnten dreissig Opern geschrieben, die letzte 1673. Auch diese wurde vor der Uraufführung mit der Begründung abgesetzt, sie enthielte zu wenig muntere Lieder («mancante di briose ariette»). Könnte dies auch eine Erklärung für seinen Eliogabalo sein? Cavalli hatte seinen musikalischen Stil an Monteverdi geformt, für den das dramatische Rezitativ, der theatralische Gestus des Gesangs im Vordergrund gestanden hatte, auch wenn er, namentlich den komischen Dienerrollen, immer auch muntere Lieder, lustige strophische Arien, in den Mund gelegt hatte. Cavalli seinerseits hatte für eine Reihe von Szenentypen musikalische Standards entwickelt, die auch für andere Opernkomponisten sei ner Zeit als Vorbild dienten – allen voran die grossen Lamenti, die mal rezita tivischen, mal ariosen Klagegesänge der Protagonisten beiderlei Geschlechts, aber auch Schlafszenen, Beschwörungsszenen, Wahnsinnsszenen und mehr. Eliogabalo wirkt keineswegs wie die Pflichtübung eines müde gewordenen Kom ponisten, sondern eher wie das Alterswerk eines erfahrenen Musikdramatikers, der gelernt hat, die Akzente so zu setzen und die unterschiedlichen musikali schen Sensationen so zu verteilen, dass sie, jede für sich, zur Geltung kommen konnten. Dabei lag ihm mehr an einer Musik, die dem Drama, dem inneren wie dem äusseren, gerecht wurde, als an einer, die sich den geläufigen Gurgeln der Sänger andiente. Darin unterschied er sich tatsächlich von der jüngeren Gene ration, wie sie Boretti repräsentierte. Und so ist Eliogabalo auch so etwas wie der Abgesang auf einen Operntypus, der seine Zeit hinter sich hatte. Cavalli aber beschloss, seine Version aufzubewahren, auch wenn die The aterleitung sie verworfen hatte. Das war eher ungewöhnlich, denn normaler weise wurden Opernpartituren, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, als Altpapier anderen Verwendungen zugeführt. Cavallis letzte Oper Massenzio ging auf diese Weise verloren. So aber gelangte die Partitur des Eliogabalo zu sammen mit vielen anderen nach Cavallis Tod in den Besitz der Patrizierfamilie Contarini, die sie 1843 der Biblioteca Marciana in Venedig übergab. Welch ein Glück für die Operngeschichte.

25

EIN KAISER, DER ROM AUF DEN KOPF STELLTE

In einer milden Frühlingsnacht, am 15. Mai des Jahres 218 nach Christus, stahl sich eine kleine Gruppe von Menschen aus der syrischen Stadt Emesa (heute Homs) davon und machte sich auf den Weg nach Raphanaea, ins Hauptquartier der römischen Legion in etwa 20 Kilometer Entfernung. Es war eine unschein bare Gruppe: ein paar Soldaten, ein paar ehemalige Sklaven, ein paar Mitglieder des Stadtrats. Eine ältere Dame plante einen Aufstand gegen den regierenden Imperator Macrinus. Julia Maesa beabsichtigte, ihren 14 jährigen Enkel auf dem Thron zu installieren. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit hatte sie Erfolg. Erhofft hatte sich Maesa eine Marionette auf dem Thron. Was sie bekam, war Heliogabalus.

Heliogabalus (oder Marcus Aurelius Antonius, wie sein offizieller Name lautete) sollte der merkwürdigste Herrscher werden, der je den römischen Kaiser thron bestiegen hatte. Die vier Jahre seiner Herrschaft (218 222) be schrieb ein Zeitgenosse als eine «vollkommen auf den Kopf gestellte Welt». Der junge Herrscher missachtete alle Bereiche, die zur Unterstützung seiner Herr schaft essentiell gewesen wären: Er liess viele Senatsmitglieder wegen erfundener oder trivialer Vergehen hinrichten; er verlieh seinen Günstlingen hohe Ämter, ohne auf deren niedrigen Stand Rücksicht zu nehmen; er zog es vor, sich von Wagenlenkern oder Athleten beraten zu lassen anstatt von ehrwürdigen ehe maligen Magistraten. Heliogabalus ignorierte die Armee, die ihn an die Macht geputscht hatte, besuchte nie die Soldatenlager und machte der Armee viel kleinere Geldgeschenke als dem Plebs in Rom. Er beleidigte das Protokoll des Palastes und der Kaiserlichen Familie, indem er die Zeremonien durch eigene ersetzte, und eilte vom Palatin hinab, um sich in Bars und Bordellen herumzu

30

treiben. Heliogabalus stellte grosszügig Brot und Spiele für die Stadtbewohner zur Verfügung, doch er gewann dadurch nicht deren Liebe, sondern erntete nur Hass und Verachtung. Den grössten Teil seiner Zeit und Energie widmete er Sex und Religion.

Heliogabalus heiratete mindestens viermal, möglicherweise sogar sieben mal. Kein anderer römischer Herrscher hatte einen auch nur annähernd so hohen Verschleiss an Gattinnen. Die kaiserlichen Hochzeiten liessen die öffent lichen Finanzen ausbluten, und jede Scheidung war eine Beleidigung für eine mächtige adlige Familie. Jede geschiedene Frau kehrte zu ihrer Familie zurück mit Geschichten über das, was der zeitgenössische Senator Cassius Dio delikat als «des Kaisers unwürdiges Benehmen im Hochzeitsbett» beschrieb. Helioga balus ging noch weiter. Er heiratete einen Mann, einen Wagenlenker namens Hierocles, und spielte dabei selbst die Rolle der Braut. Heliogabalus prahlte damit, dass er es geniesse, beim Sex mit einem Mann den passiven Part zu übernehmen. Es ging das Gerücht, dass er Roms Geheimdienst damit beauftragte, die öffentlichen Bäder nach gut ausgestatteten Männern zu durchforsten. Ein Athlet namens Zoticus, bekannt für die Grösse seines Penis, wurde mit Militäreskorte von Kleinasien nach Rom gebracht. Wenig hätte die römische Sexual moral jener Zeit stärker verletzen können.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Heidentum war im dritten Jahrhundert nach Christus in Rom durch aus noch lebendig. Jeder traditionell denkende Römer wusste, dass der salus Roms (die Gesundheit und Sicherheit des Reichs) abhängig war vom pax deo rum, am besten zu übersetzen nicht mit «Frieden der Götter», sondern mit «Pakt mit den Göttern». Einfach gesagt: Wenn die Römer sich gegenüber den Göttern anständig verhalten, werden sich die Götter auch Rom gegenüber anständig verhalten. Kurz vor seiner Thronbesteigung war Heliogabalus zum Oberpriester Elagabals ernannt worden, der Hauptgottheit von Homs, der Stadt, aus der seine Familie kam. Wie Mani, der Gründer des Manichaeismus, der einige Jahre später aus dem gleichen Kulturkreis des Nahen Ostens kam und im ähnlichen Alter war, scheint Heliogabalus eine göttliche Offenbarung erlebt zu haben, die ihn dazu veranlasste zu konvertieren. Heliogabalus nahm seinen Gott, verkörpert auf Erden durch einen grossen, konischen schwarzen Stein, mit nach Rom. Der junge Herrscher gab zwei grosse Tempel für Elagabal in Auftrag,

31

die in Rom gebaut wurden und hohe Kosten verursachten. Einer stand auf dem Palatin, der andere in einem Vorort. Zur Sommersonnenwende veranstaltete er eine verschwenderisch ausgestattete Prozession zu Ehren des Gottes von einer Kultstätte zur anderen. Jeden Tag bei Sonnenaufgang musste die Elite Roms Riten beiwohnen, in denen Heliogabalus, gekleidet in ein Kostüm, das wahl weise als barbarisch, syrisch oder orientalisch bezeichnet wurde, zu Ehren seines Gottes tanzte. Schlimmer noch, der Imperator befahl, dass in allen öffentlich geschworenen Eiden von nun an Elagabal vor Jupiter Optimus Maximus ange rufen werden sollte, was den König der Götter faktisch entthronte. Indem er Julia Aquilia Severa heiratete, gelang es Heliogabalus, auf einen Schlag die sexuellen und die religiösen Empfindlichkeiten seiner Zeit zu treffen. Sie entstammte einer aristokratischen Familie und war dazu bestimmt, eine jungfräuliche Vestalin zu werden. Die Vestalinnen hüteten das Herdfeuer im Tempel der Vesta, das niemals erlöschen durfte. Wenn eine Vestalin ihr Keusch heitsgelübde brach, wurde sie lebendig begraben. Um die Götter zu versöhnen, wurde der Mann, mit dem sie zusammen gewesen war, auf besonders grausame Art und Weise hingerichtet. Es ist fast unmöglich, die existentielle Gefahr für das Römische Reich zu überschätzen, die von Heliogabalus’ Entscheidung aus ging, Julia Severa zu heiraten – und zwar gleich zweimal.

Nach drei Jahren hatte sich die öffentliche Meinung endgültig gegen He liogabalus gewendet, was auch Julia Maesa nicht verborgen blieb. Im Sommer 221 überredete sie Heliogabalus, seinen Cousin Alexander, einen weiteren Enkel, zu adoptieren und ihn zum Thronerben zu machen. Ihre Argumente waren überzeugend: Alexander könnte die repräsentativen Pflichten des Reiches wahr nehmen und Heliogabalus damit mehr Freiheit geben, sich der Verehrung seines Gottes zu widmen. Doch kaum war die Adoption vollzogen, hat man sie schon wieder bereut. Heliogabalus hat offenbar gleich mehrere Methoden ausprobiert, um seinen Cousin aus dem Weg zu schaffen. Im Januar erreichte Julia Maesa eine öffentliche Versöhnung. Sie hielt nicht an. Heliogabalus versuchte erneut, seinen Cousin umzubringen. Im Frühling desselben Jahres beschloss Julia Maesa zu handeln. Am 12. März wurde Heliogabalus ins Lager der Prätorianer gelockt. Im Morgengrauen des nächsten Morgens wurde er zusammen mit seiner Mutter getötet, und Alexander wurde zum Imperator ausgerufen. Es muss

32

schon eine besondere Art von Frau gewesen sein, die den Mord an der eigenen Tochter und deren Sohn organisierte und ruhig dabei zusehen konnte, wie beide geköpft, nackt ausgezogen, verstümmelt und schliesslich durch die Strassen gezerrt wurden.

Obwohl er nie die gleiche Popularität erreichte wie Caligula oder Nero, gibt es drei faszinierende literarische Quellen für das Leben des Heliogabalus. Cassius Dio war ein Grieche, der als römischer Senator unter dem Imperator diente. Selbst tief ins System verstrickt, schrieb er seine Römische Geschichte, als er bereits pensioniert war. Herodian, ein weiterer Zeitgenosse, hatte keine so einflussreiche Position. Seine Perspektive ist die eines Mitglieds der provinziel len griechischen Elite. Beides sind äusserst negative Berichte.

Die dritte Quelle ist eins der faszinierendsten Zeugnisse der Antike über haupt. Die Historia Augusta, eine Sammlung von Kaiser Biografien von Hadrian (117 138) bis Carinus (282 5), gibt vor, von sechs Männern um das Jahr 300 geschrieben worden zu sein. Über ein Jahrhundert Forschung hat bewiesen, dass sie tatsächlich von einem einzigen Autor geschrieben wurde – und zwar hundert Jahre später. Hier haben die besonders ausgefallenen und zum Teil frei erfundenen Geschichten über Heliogabalus ihren Ursprung. Sie formten sein Nachleben.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Für den Rest der Antike sollte man sich an Heliogabalus als den schlechtesten aller römischen Herrscher erinnern. Nach dem Fall Roms geriet er zunächst vollkommen in Vergessenheit; erst mit der Wiederentdeckung der klassischen Texte während der Renaissance kehrte er ins Bewusstsein zurück. Bezeichnen derweise wurde die Historia Augusta zuerst wiederentdeckt und veröffentlicht (1475; Herodian folgte 1490, Cassius Dio erst 1551); die darin enthaltenen Erfindungen, die man für bare Münze nahm, bestimmten seither das Bild von Heliogabalus. Eine direkte Linie führt von der Historia Augusta zu Neil Gai mans 1992 veröffentlichter Graphic Novel über Heliogabalus. Im späten 19. Jahrhundert hat die Dekadenz Bewegung das Bild von Heliogabalus neu ge formt. Indem sie sich hauptsächlich auf die Historia Augusta bezog, machte sie Heliogabalus zu einem der ihren: Ein sinnlicher Hedonist und Ästhet, der die bürgerliche Moral verachtet. Heliogabalus lauert hinter dem Antihelden des ultimativen Romans der Dekadenz in A Rebours von Joris Karl Huysmans

33

(1884). Vor diesem Hintergrund schuf Sir Lawrence Alma Tadema sein be rühmtes Gemälde Die Rosen des Heliogabalus (1888): Heliogabalus, ganz in Gold gekleidet, ruht hier auf einer erhöhten Estrade und beobachtet fast desinteressiert, wie seine Gäste unter einer gigantischen Menge von Rosenblättern ersticken.

1667 erhielt Francesco Cavalli den Auftrag, für das Teatro SS. Giovanni e Paolo in Venedig die Oper Eliogabalo zu komponieren. Aurelio Aureli, der das Libretto schrieb, blieb der Tradition treu, die durch die Historia Augusta ge prägt wurde, und zeigte Heliogabalus als furchtbaren Tyrannen, setzte aller dings eigene Akzente: Der Imperator der Oper ist nicht fanatischer Anhänger einer syrischen Gottheit, sondern sieht sich selbst als Gott.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Auch die sexuellen Vorlieben Eliogabalos haben sich in Aurelios Libretto verändert; in der Oper gibt es keinen Sex unter Männern. Hierocles erscheint gar nicht, und Zoticus ist nur der Handlanger des Kaisers ohne Anspielung auf ein sexuelles Verhältnis. Der Heliogabalus der Oper ist ein Erotomane, dessen sexuelle Gier sich auf Frauen richtet. Er hat die Adlige Eritea vergewaltigt und will nun Flavia Gemmira besitzen, die tugendhafte Verlobte seines Cousins Alessandro. Der Librettist Aurelio bringt verschiedene Elemente aus der Histo ria Augusta zusammen: den Frauensenat; Eliogabalo, der sich in Frauenkleidern unter die Prostituierten Roms mischt; und die korrupte Regierung, in der hohe Ämter käuflich waren. Keines dieser Elemente taucht bei Cassius Dio oder Herodian auf und ist somit höchstwahrscheinlich frei erfunden. Aurelio führte diese Elemente im «Parlament der Prostituierten» zusammen – ein Bild, das im Venedig des 17. Jahrhunderts mühelos verstanden wurde: Sowohl die Käuflich keit hoher Ämter als auch Prostitution waren damals weit verbreitete Missstände, die als Straftaten galten und hart bestraft wurden.

Die Veränderungen, die Aurelio in seinem Libretto gegenüber der historischen Figur Heliogabalus vornahm, zeigen, wie offen diese schillernde Figur seit jeher war für die unterschiedlichsten Interpretationen. Jede Generation, jede Kultur erschafft sich ihren Heliogabalus: den blutrünstigen Tyrannen, den religiösen Extremisten, den verweichlichten Orientalen, den sexuellen Triebtäter, den dekadenten Ästheten, die queere Ikone, die Transfrau.

34

HELIOGABAL ODER DER GEKRÖNTE ANARCHIST

Jedenfalls ist Heliogabal, der päderastische König, der Frau sein will, ein Priester des Männlichen. Er verwirklicht in sich die Identität der Gegensätze, verwirklicht sie aber nicht schmerzlos, und der Ursprung seiner religiösen Päderastie ist nichts anderes denn ein hartnäckiger, abstrakter Kampf zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen.

Anarchie

Der Anarchist sagt: Weder Gott noch Herr, nur ich allein. Sowie Heliogabal den Thron innehat, lehnt er jedes Gesetz ab; er ist der Herr. Sein eigenes, persönliches Gesetz soll also Gesetz für alle sein. Seine Tyrannei ist massgeblich. Jeder Tyrann ist im Grunde genommen ein Anarchist, der nach der Krone gegriffen hat und die Welt nach seiner Elle misst. Heliogabal benimmt sich als Kaiser wie ein Strassenjunge und unehrehr bietiger Anarchist. Bei der ersten, etwas feierlichen Versammlung fragt er die Grossen im Staat, die Vornehmen, die verfügbaren Senatoren, die Gesetzgeber aller Ränge ohne Umschweife, ob sie in ihrer Jugend auch Päderastie getrieben hätten, ob sie in der Sodomie, im Vampirismus, im Sukkubat* und in der Unzucht mit Tieren bewandert seien, und er befragt sie, sagt Lampridius, mittels unflätigster Ausdrücke. Man kann sich vorstellen, wie der geschminkte Heliogabal in Begleitung seiner Lieblinge und Frauen an diesen Greisen vorbeigeht, ihnen auf den Bauch tippt und fragt, ob sie sich in ihrer Jugend auch hätten sodomi

38

sieren lassen, und wie diese, bleich vor Scham, unter der Kränkung den Nacken beugen und lange an ihrer Demütigung kauen. Ja mehr noch, er mimt in aller Öffentlichkeit die Bewegungen des unzüchtigen Aktes. «Wobei er», sagt Lampridius, «so weit ging, mit den Fingern Obszönitäten anzudeuten, war er doch gewohnt, bei den Versammlungen und vor dem Volk aller Scham zu trotzen.»

Gewiss spricht daraus nicht nur Kinderei, sondern der Wunsch, seine Individualität und seine Vorliebe für das Ursprüngliche, für die Natur, wie sie ist, gewaltsam hervorzukehren.

Es ist übrigens ein Kinderspiel, all das dem Wahnsinn und der Jugendlich keit zuzuschreiben, was bei Heliogabal nichts als die systematische Herabwürdigung der Ordnung ist und seinem Wunsch nach einer grossangelegten Entsitt lichung entspringt. Verachtung der Gesellschaft

Ich sehe in Heliogabal keinen Wahnsinnigen, sondern einen Aufrührer.

1. Gegen die polytheistische römische Anarchie.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

2. Gegen die römische Monarchie, die er sich in den Hintern gesteckt hat. Doch die beiden Revolten, diese zwiefache Auflehnung vermengt sich in ihm, prägt sein gesamtes Verhalten, beherrscht während seiner vierjährigen Regierungszeit alle seine Handlungen, selbst die unbedeutendsten.

Seine Auflehnung ist systematisch und scharfsinnig, und er richtet sie zu allererst gegen sich selbst. Verkleidet sich Heliogabal als Lustknabe und verkauft sich für ein paar Groschen vor den christlichen Kirchen und vor den Tempeln der römischen Götter, so hat er es nicht nur auf die Befriedigung eines Lasters, sondern auf die Demütigung des römischen Monarchen abgesehen.

Setzt er einen Tänzer an die Spitze seiner Prätorianergarde, verwirklicht er dadurch eine Art unbestreitbare, aber gefährliche Anarchie. Er verspottet die Feigheit der Monarchen, seiner Vorgänger Antoninus und Marcus Aurelius, und äussert die Meinung, als Befehlshaber einer Polizeitruppe genüge ein Tänzer vollauf. Er nennt Schwäche Stärke und Theater Wirklichkeit. Er bringt die über kommene Ordnung, die Ideen, die einfachsten Vorstellungen von den Dingen

39

durcheinander. Er betreibt eine gründliche Anarchie, die gefährlich ist, da er sich aller Augen aussetzt. Kurz, er riskiert seine Haut. Wie es sich für einen mutigen Anarchisten gehört.

Schliesslich führt er sein Unterfangen einer Herabwürdigung der Werte, einer ungeheuren moralischen Zersetzung weiter, indem er seine Minister nach der Länge ihres Gliedes auswählt.

«An die Spitze seiner Nachtwachen», sagt Lampridius, «setzte er den Kut scher Gordius und ernannte einen gewissen Claudius, der Sittenzensor war, zum Verwalter der Nahrungsmittel; alle anderen Ämter wurden im Hinblick darauf verteilt, ob die Männer durch die Ausmasse ihres Gliedes empfehlenswert waren. Als Prokuratoren des Zwanzigsten setzte er nacheinander einen Maultiertreiber, einen Läufer, einen Koch und einen Schlosser ein.»

Das hindert ihn nicht, aus dieser Unordnung, aus dieser schamlosen Lo ckerung der Sitten selbst Nutzen zu ziehen, die Obszönität zur Regel zu machen und hartnäckig, wie ein Besessener, wie ein Rasender ans Tageslicht zu zerren, was man für gewöhnlich verbirgt. «Bei Festessen», berichtet wieder Lampridius, «setzte er sich mit Vorliebe neben käufliche Männer, er fand an ihren Berührungen Gefallen und schätzte es über alles, aus ihren Händen den Pokal, aus dem sie getrunken hatten, entgegenzunehmen.»

Alle politischen Ordnungen, alle Regierungsformen sind in erster Linie bestrebt, die Jugend niederzuhalten. Und auch Heliogabal ist bestrebt, die lateinische Jugend niederzuhalten, doch anders als alle anderen, nämlich indem er sie systematisch verdirbt.

«Er hatte den Plan», sagt Lampridius, «in jeder Stadt Leute als Präfekten einzusetzen, deren Aufgabe es war, die Jugend zu verderben. Rom sollte vier zehn haben; und er hätte es auch verwirklicht, wenn er am Leben geblieben wäre, war er doch entschlossen, das Gemeinste, Männer niedrigster Stände, in Ehrenstellen zu erheben.»

Unbezweifelbar ist Heliogabals Verachtung der damaligen römischen Ge sellschaft. «Wiederholt legte er«, vermerkt wieder Lampridius, »eine solche Verachtung der Senatoren an den Tag, dass er sie Sklaven in der Toga nannte; das römische Volk bestand ihm zufolge aus Ackerbauern auf einem Fleck Land, und für den Stand der Ritter hatte er nur Geringschätzung übrig.»

40

Heliogabals Ende

Man hat Elagabalus Bassianus Avitus, auch Heliogabal genannt, bereits den Spitznamen Varius gegeben, weil er aus mancherlei Samen gebildet war und von einer Prostituierten abstammte; man hat ihm später die Namen Tiberinus und Tractaticius gegeben, weil er geschleift und nach dem Versuch, ihn in die Gosse zu stecken, in den Tiber geworfen worden ist; doch vor der Gosse hat man ihn zurechtzufeilen versucht, weil er zu breite Schultern hatte. Man hat ihm also die Haut abgezogen und das Skelett, das man heil zu lassen geruhte, blossgelegt; und so hätte er wohl noch die beiden Namen «Der Gefeilte» und «Der Gehobelte» verdient. Doch er ist, obzwar zurechtgefeilt, natürlich immer noch zu breit, und so wird sein Leichnam in den Tiber geworfen, der ihn, und ein paar Strudel hinter ihm Julia Soemias Leichnam, mit fortreisst ins Meer. So endet Heliogabal, ohne Inschrift und ohne Grab, doch mit einem grausigen Leichenbegängnis. Er ist feige gestorben, doch im Zustand offener Rebellion; und ein solches Leben, gekrönt von einem solchen Tod, spricht, wie mir scheint, für sich selbst.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop

oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

* Ein Succubus ist ein weiblicher, besonders schöner und lüsterner Dämon oder eine Buhlteufelin, die sich einen Mann sucht, um mit ihm geschlechtlich zu verkehren.

41

DER TANZ MIT DEM STIER

Mein Stier stürmte heraus. Vom ersten capotazo an, mit dem ich die Bestie in ihm entfesselte, hatte ich das klare Gefühl, ihn zu dominieren. Ich wuchs mit der Herausforderung des Kampfes und vergass darüber das Risiko und die Gefährlichkeit des Stiers. Der Kampf wurde zum anmutigen Spiel; kein Ringen um Heldentum oder Erstaunen, sondern eine Übung des Körpers und eine Zerstreuung des Geistes. Dieses Gefühl, zu spielen, das den Torero überkommt, wenn er wirklich den Kampf sucht, hatte ich an diesem Nachmittag wie an keinem anderen zuvor. Ich rief den Stier und führte ihn eng an den Körper, damit er ihn spürte, wenn ich ihn passieren liess, als wäre dieser aufgestachelte Koloss, der im Sand strauchelte und mit den Hörnern die Luft zerschnitt, ein sanftes und wehrloses Tier. Ein so massiges und todgefährliches Tier in etwas so Naht loses wie den Schleier einer entrückten Tänzerin zu verwandeln, gehört zu den Sternstunden des Stierkampfs.

Während der gesamten faena fühlte ich mich schwerelos und der Gefahr entrückt. Der Stier und ich waren die zwei Elemente dieses Spiels; gemeinsam von unseren ungleichen Instinkten gelenkt, zeichneten wir in das Kreisrund der Arena das reinste – mechanische – Schema der Stierkampfkunst. Der Stier dien te mir, und ich diente ihm. Es kam der Moment, da ich mich in ihn verwandelt fühlte. Irgendwann nach dem Kampf sah ich, dass mein Anzug gespickt war von Haaren seines Fells, die sich an den Verzierungen verhakt hatten. Das Publikum bemerkte dies. Es hiess danach, niemals zuvor habe jemand so episch mit einem Stier gekämpft, wie ich es tat.

Das Gefühl, das einen Torero mit einem Kloss im Hals auf einen Stier zugehen lässt, hat so etwas Unbegreifliches wie der Ursprung und die Wahrheit der Liebe. Es geht noch darüber hinaus: Ich habe ein paar unverbrüchliche

44

Übereinstimmungen zwischen der Liebe und der Kunst ausgemacht, und wäre ich anstelle eines Toreros ein Essayist, ich würde mir zutrauen, eine sexuelle Theorie der Kunst zu verfassen; wenigstens der Kunst des Stierkampfs. Man kämpft und begeistert das Publikum auf die gleiche Weise wie man liebt und sich verliebt, kraft einer geheimen spirituellen Energie, die nach meiner Erkennt nis irgendwo ausserhalb, in der absoluten Tiefe des Lebens, ein und denselben Ursprung hat. Wenn diese verborgene Quelle versiegt ist, lohnt keine noch so grosse Anstrengung. Weder verliebt man sich gemäss einem Entschluss noch entschliesst man sich, Stiere zu bekämpfen.

In Lima befand ich mich zeitweise in einem Zustand höchster Intensität der Gefühle. Neun Corridas kämpfte ich… Es waren lauter Triumphe, die auf Triumphe folgten. Ein revistero schrieb in Lima, dass ich als kämpfender Torero allenfalls zu vergleichen sei mit jemandem, der eine Frau erobert.

Das komplette Programmbuch können

45
Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

MANN ODER FRAU?

Das Kind geht ins Badezimmer. Es räumt den Spiegelschrank aus. Die Wimperntusche. Der Lidschatten. Der Lippenstift. Die Nagelschere. Die Feile mit den zwei Stärken. Es dreht den Lippenstift, bis das Rote kommt. Der Rasierschaum. Die Rasierklingen. Das Aftershave. Der Nagelklipser. Es steht vor dem Spiegel im Eingang. Es spielt Peer: Es zieht sich den Joggingkörper an. Das Hüpfen. Die Arme locker an der Seite. Es zieht sich den Fussballkörper an. Das Breitsein. Das Plötzlich Losrennen. Die Verwandlung der Schultern in Doppelschultern, Schrankbretter. Das Sich in den Schritt Fassen. So: Hmrgrmpf. Einfach nicht mit Buchstaben gesagt. Sondern mit Gliedmassen. Das Dastehen. Hände auf der Hüfte. Das Ausrufen: «Hee, das war Foul! Einwurf, Einwurf! Eckball! Scheisse! Schwuchtel!» Die Stimme aus der Hüfte. Es zieht sich Peers Feierabendkörper an. Das Schlurfen. Das Sich selbst liegen Lassen wie eine Schneckenspur. Das Tasche Hinstellen. Der Blick wie ein Sonntagabend im Januar.

Jetzt spielt es Meer: Es zieht sich den Gartenkörper an. Das Bücken mit dem geraden Rücken. Das rasche Haare zusammen binden. Das leise Selbstge spräch. Es zieht sich den Arbeits und Streitkörper an. Die Rüstung: die Eis schicht um die Haut. Die Stirnfalte. Die verschluckten Lippen. Die Stimme wie ein Messer. Es zieht sich Meers Ausgehkörper an. Der Körper aus Teig. Weich und beweglich. Das langsame Haare hinter die Ohren streichen. Das leichte Kopfneigen. Den Hals präsentieren. Den Oberkörper durchdrücken. Das Ge wicht auf ein Bein verlagern. Nicht zu laut reden. Der Ausgehkörper ist das Gegenteil des Fussballkörpers.

Das Kind fragt sich. Wann muss man sich entscheiden. Ob man Mann oder Frau wird? Es posiert oft vor dem Spiegel. Aber nie zu lange. Es hat Angst. Dass auch der Spiegel seinen Körper behält. Das Kind weiss: Es darf kein Mann werden. Meers Liebe ist riesig. Meers Liebe ist grösser als das Land. Ein ganzes Leben reicht nicht, um aus Meers Liebe herauszukommen. Meers Liebe ist ein

46

Ozean. Und sie hat eine einzige Küste: die Männlichkeit. Meer sagt: «Wenn Jungs Männer werden. Gehen sie wie Affen. Werden sie so grob. Bekommen sie Akne. Ist ihr Gesicht so ungleichmassig. Zerbricht ihnen die Stimme. Werden Frauen nur Gegenstände für sie.»

Es darf aber auch keine Frau werden. Was würde der Peer. Aber Frauen haben so schöne Haare. Und sie dürfen sich schminken. Und sie dürfen farbige Stoffe tragen. Und sie dürfen singen. Und sie dürfen Hosen UND Röcke tragen. Und sie dürfen weinen, so viel sie wollen. Aber Männer haben schöne haarige Beine. Und schöne tiefe Stimmen. Und sie dürfen rülpsen.

Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU. WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI? Es schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden. Sie stehen in der Zweierreihe und schauen erwartungsvoll. Das Kind fragt sich: Wie funktioniert diese Entschei dung? Ist das ein magischer Vorgang? MUSS man es der Sprachmeer sagen. Die dir im Körper sitzt. Und sie gibt dir einen Zauberspruch. Den musst du so oft sagen. Bis der Satz dir ins Fleisch wächst. Bis der Satz verfleischt. Einkörpert. Überblutet. Das Kind geht in den Hühnerstall. Erfindet sich Hexensprüche. Das ist aber Verwandlungsmagie. Das ist anders als die Heilzauber. Die Heil zauber hat es schon immer geübt. Für Meer. Und Grossmeer. Verwandlungs magie ist aber eine ganz andere Wissenschaft.

47

Für die Mä gibt es kein

chtigen e Strafen.

ELIOGABALO

FRANCESCO CAVALLI (1602-1676)

Dramma per musica in drei Akten Libretto von Aurelio Aureli

Personen

Eliogabalo Sopran Alessandro Sopran Atilia Macrina Sopran Giuliano Gordio Mezzosopran Anicia Eritea Sopran Flavia Gemmira Sopran

Zotico Tenor Lenia Tenor Nerbulone Bass Tiferne Bass Zwei Konsuln Tenor, Bass

Prätorianer-Garden Chor

Fassung Opernhaus Zürich 2022

ATTO PRIMO

SCENA I

Campidoglio Eliogabalo, Eritea, Giuliano Gordio, Zotico, Lenia, Coro de’ Pretoriani in atto supplichevole

SOLDATI

Alessandro frenò gl’empiti nostri e ravivò la fé. Sire, perdonaci, pietà, mercé, supplice pregati l’alma ch’errò.

GIULIANO

Un’efimera sol di fellonia che termina in poch’ore, un’ecclisse di fede, fu di guerrier l’errore. Perdonagli, signore.

ELIOGABALO

Rubo alla fantasia l’ingiuriose fantasme e in preda a cieco oblio le dono. Il «fu» non torni in «è», ch’io vi perdono.

Partono i Soldati. Nulla a me di costoro importa alfine. Dolcissima Eritea, il merto d’adorar il tuo bel crine sì di servaggio m’obligò le sfere che s’altre guardie non avessi ancelle, mi manderian le guardie lor le stelle.

ERITEA

E gli uomini e gli dèi nemici avrai se spergiuro sarai. Ogni fiato ch’esala un giuramento dal vivo sol della giustizia attratto s’alza, s’indura, in folgore s’accende, e a chi spergiuri diè fulmini rende. Della fé che giurasti termine è questo dì: deh non mancarmi; l’onor che mi rubasti solo le nozze tue ponno tornarmi.

GIULIANO

(Ah voci dispietate ch’il cor m’avelenate.)

ERSTER AKT

SZENE I

Das Kapitol Eliogabalo, Eritea, Giuliano Gordio, Zotico, Lenia, Chor der Prätorianer beim Bittgebet

SOLDATEN

Alessandro zügelte unseren gottlosen Aufstand und hat unseren Glauben wiederbelebt. Herr, vergebt uns, Gnade, Gnade! Die Seele, die sich geirrt hat, beschwört dich.

GIULIANO

Ein flüchtiger Schimmer von Illoyalität, die in ein paar Stunden endet, eine Verdunklung der Treue, das war der Fehler der Krieger. Verzeih ihnen, Herr.

ELIOGABALO

Ich pflücke die beleidigenden Phantome aus ihrer Imagination und überlasse sie der Gnade und blinder Vergessenheit. Auf dass sich das «war» nicht in ein «ist» verwandle. Ich vergebe euch. Die Soldaten gehen. Letztlich sind sie mir egal. Meine süsse Eritea, die Ehre, dein schönes Haar zu bewundern, hat die himmlischen Sphären mir zu Knechtschaft verpflichtet, sodass, hätte ich keine Mägde als Wächter, die Sterne mir ihre Wächter schicken würden.

ERITEA

Menschen und Götter werden deine Feinde sein, wenn du einen Meineid leistest. Jeder Atemzug, mit dem du einen Schwur aussprichst, richtet sich – angezogen von der lebendigen Sonne der Gerechtigkeit – auf, wird in einen Blitz verwandelt, und wer einen Meineid leistet, wird mit Blitz und Donner bestraft.

Die Treue, die du mir geschworen hast, endet heute: Aber betrüge mich nicht!

Die Ehre, die du mir gestohlen hast, kann nur die Ehe mir zurückbringen.

GIULIANO

(Ach, grausame Worte, ihr vergiftet mein Herz.)

ELIOGABALO

Sta nelle man di Giove il fulmine con legge di riverenza alla mia testa, e mai stral focoso in ver me sarà chi scocchi, se non gl’insegni tu con tuoi begl’occhi.

GIULIANO (Crudi flagelli ohimè.)

ERITEA Dunque il mancar di fé non sarà colpa in te?

ELIOGABALO

Di fé non manco no; promisi: osserverò.

GIULIANO (Ed io viver potrò?)

ELIOGABALO

Jupiter hält den Donnerkeil des Gesetzes zu meiner Bestrafung in seiner Hand, und niemals wird jemand einen feurigen Pfeil auf mich schiessen, wenn nicht deine schönen Augen ihn dazu anstiften.

GIULIANO (Schreckliche Qualen, ach.)

ERITEA Also wird ein Mangel an Treue nicht dein Fehler sein?

ELIOGABALO

Nein, es fehlt mir nicht an Treue; Ich habe es versprochen: Ich werde mich daran halten.

GIULIANO (Und werde ich leben können?)

ELIOGABALO

Volgimi deh seren il sol di tua beltà.

ERITEA Se non è lieto il sen, l’occhio non riderà.

ELIOGABALO Che vuoi per esser lieta?

ERITEA De’ sponsali la mèta.

ELIOGABALO Mia sposa oggi sarai: lascia baciarti ormai.

GIULIANO (E soffrir deggio? Ahi, ahi.)

ERITEA

Il bacio è spuro e reo dove non è Imeneo.

ELIOGABALO Oggi ti sposarò.

ERITEA Oggi ti bacerò.

ELIOGABALO Richte die Strahlen deiner Schönheit auf mich.

ERITEA Wenn mein Herz nicht glücklich ist, wird das Auge nicht lachen.

ELIOGABALO Was willst du, um glücklich zu sein?

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

ERITEA Mein Ziel ist ein Eheschwur.

ELIOGABALO Du wirst heute meine Braut sein: Lass mich dich jetzt küssen.

GIULIANO (Und muss ich leiden? Ah, ah.)

ERITEA

Ein Kuss ist unecht und schuldhaft, wo es kein Eheversprechen gibt.

ELIOGABALO Heute werde ich dich heiraten.

ERITEA Heute werde ich dich küssen.

Programmheft ELIOGABALO

Dramma per musica in drei Akten Premiere am 4. Dezember 2022, Spielzeit 2022/23

Herausgeber Opernhaus Zürich Intendant Andreas Homoki Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG

Textnachweise:

Handlung: Beate Breidenbach – Das Interview mit Calixto Bieito sowie die Texte von Silke Leopold und Harry Side bottom sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. (Übersetzung des Texts von Harry Sidebottom aus dem Englischen: Beate Breidenbach) – Antonin Artaud, Helio gabal oder der gekrönte Anarchist, zitiert nach der Ausga be von Matthes & Seitz, Berlin 2020 – Manuel Chaves No gales, Tanz mit dem Stier, aus: ders., Juan Belmonte, Stier töter, Berlin 2020 – Kim de l’Horizon, Mann oder Frau?, aus:

Kim de l’Horizon, Blutbuch © 2022 DuMont Buchverlag, Köln, S. 85-87.

Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 25. November 2022.

Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.

PARTNER

AMAG Atto primo Clariant Foundation

PRODUKTIONSSPONSOREN PROJEKTSPONSOREN

René und Susanne Braginsky-Stiftung

Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Hans Imholz-Stiftung Max Kohler Stiftung Kühne-Stiftung Marion Mathys Stiftung

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Ringier AG

Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Swiss Life Swiss Re Zürcher Kantonalbank

GÖNNERINNEN UND GÖNNER

Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Familie Thomas Bär Bergos Privatbank Margot Bodmer Maximilian Eisen, Baar Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung

KPMG AG

Landis & Gyr Stiftung Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Fondation Les Mûrons Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung

FÖRDERINNEN UND FÖRDERER

CORAL STUDIO SA

Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Dr. Samuel Ehrhardt

Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG

Garmin Switzerland Richards Foundation Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar

chanel.com SOME ENCOUNTERS YOU WEAR FOREVER. RINGE AUS BEIGEGOLD UND WEISSGOLD.

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.