Falstaff

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FALSTAFF

GIUSEPPE VER DI


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FALSTAFF GIUSEPPE VERDI (1813-1901)

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Menschen von aller Art bilden sich was darauf ein, mich zu necken.  Das Gehirn dieses närrisch zusammengekneteten Tones, der  Mensch heisst, ist nicht im Stande, mehr zu erfinden, das zum Lachen dient, als was ich erfinde, oder was über mich erfunden wird. Ich bin nicht bloss selbst witzig, sondern auch Ursache, dass andere Witz haben. Falstaff in «King Henry IV» von William Shakespeare


Ambrogio Maestri Spielzeit 2010 / 11

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HANDLUNG Erster Akt 1. Bild Im Gasthof «Zum Hosenbande» in Windsor. – Der dicke Ritter Sir John Falstaff ist hier Stammgast. Wieder einmal befindet er sich in arger Geldnot; um Aus­ wege aus dieser Situation ist Sir John jedoch niemals verlegen. Die besondere Anziehung, die er – dank seiner Figur – auf schöne Frauen auszuüben wähnt, soll ihn diesmal aus seiner finanziellen Misere retten: Liebesabenteuer mit Alice Ford und Meg Page, den hübschen Frauen zweier steinreicher Bürger von Windsor, könnten seine leeren Taschen wieder auffüllen. So hat Falstaff den beiden Damen Briefe geschrieben, die seine Diener und Kumpane Bardolfo und Pistola überbringen sollen. Eben als Sir John die beiden Billets versiegelt, stürmt Dr. Cajus herein und bezichtigt Bardolfo und Pistola, ihn nach einem Trinkgelage bestohlen zu haben. Sir John nimmt diese Anschuldigungen recht gelassen hin, und da die beiden leugnen, wird Dr. Cajus hinauskomplimentiert. Zornig wird Falstaff erst, als sich seine beiden Diener weigern, die Briefe Alice und Meg zu überbringen. Mit heuchlerischer Entrüstung lehnen sie diesen unehrenhaften Auftrag ab. Nachdem Falstaff ihnen sehr deutlich seine Meinung über den Begriff «Ehre» dargelegt hat, jagt er die beiden davon. Die Briefe lässt er durch seinen Pagen bestellen. 2. Bild Auf Fords Anwesen. – Entrüstet stellen die Freundinnen Alice Ford und Meg Page fest, dass die Liebesbriefe, die ihnen überbracht wurden, vom selben Ab­ sen­­­der stammen und sogar im Wortlaut übereinstimmen. Sie beschliessen, sich an dem frechen Kerl zu rächen, der es nicht einmal der Mühe wert fand, die bei­den Liebesbotschaften textlich abzuwandeln. Die Nachbarin, Mrs Quickly, wird als Botin zu Falstaff entsandt, um ihn zu einem Stelldichein in Alices Haus einzu­laden. Alice will damit auch ihrem misstrauischen und eifersüchtigen Gat­ ten, Mr Ford, eine Lehre erteilen. Und Nannetta, deren Tochter, hofft ebenfalls,

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aus diesem Streich Gewinn ziehen zu können. Sie liebt Fenton, will ihn heira­ ten, doch Ford möchte seiner Tochter unbedingt den langweiligen Dr. Cajus als Mann anhängen. Bardolfo und Pistola decken Ford die Pläne Falstaffs auf. Der aufgebrachte Ehemann berät sich mit Dr. Cajus und sogar mit dem ihm missliebigen Fenton, wie gegen den unverschämten Ritter vorzugehen sei. Zunächst will Ford ver­ klei­det und unter falschem Namen Falstaff aufsuchen, um ihn auszuhorchen.

Zweiter Akt 1. Bild Im Gasthof «Zum Hosenbande». – Scheinbar reumütig sind Bardolfo und Pisto­la zu Falstaff zurückgekehrt. Sie melden ihm eine Frau, die ihn dringend zu sprechen wünscht: Mrs Quickly überbringt Alice Fords Einladung. Geschickt, schamlos schmeichelnd, lockt sie den Ritter ins Garn: Sein Brief habe solche Verwirrung in den Herzen von Alice und Meg angerichtet, dass Alice ihn drin­ gend bitte, heute noch zu ihr zu kommen. – Allein geblieben, ergeht sich Sir John in wohlgefälliger Selbstbetrachtung. Da meldet Bardolfo einen weiteren Besucher: Signor Fontana. Es ist Ford, der unter falschem Namen seinen Neben­ ­buhler persönlich kennen lernen will. Er gibt sich als Alices Verehrer aus, der es nicht wage, sich ihr zu nähern. Der in Liebeshändeln erfahrene Falstaff möge die spröde Schöne bezwingen und für weitere Verführungen anfällig machen. Ein Beutel Gold als Zugabe lässt Falstaff nicht lange zögern. Er verspricht dem Unbekannten seine Hilfe und gesteht ihm vertraulich, dass er bereits heute mit Alice verabredet sei. Um sich für seinen Besuch bei Alice entsprechend zu klei­ den, begibt sich Sir John auf sein Zimmer. Ford, nun von der Untreue seiner Gattin überzeugt, tobt vor Eifersucht. Aufgeputzt kehrt Fal­staff zurück. Unter heuchlerischen Höflichkeiten geleiten die Männer einan­der zur Tür hinaus. 2. Bild In Fords Haus. – Mrs Quickly erzählt Alice und Meg von ihrer erfolgreichen Mission bei Falstaff. Mit diabolischer Freude treffen die Frauen alle Vorbereitun­ gen zu ihrem Streich. Alice findet kaum Zeit, ihre Tochter zu trösten, die sich

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– wieder einmal – weinend darüber beklagt, dass der Vater sie zur Ehe mit dem tölpelhaften Dr. Cajus zwingen will. Falstaff wird gemeldet, Alice empfängt ihn. Kaum scheint sich alles nach Falstaffs Wünschen zu fügen, tritt die erste programmierte Störung ein: Mrs Quickly meldet Meg. Falstaff muss sich schnell hinter einem Wandschirm ver­ stecken. Aber aus dem Spiel wird unverhofft Ernst. Megs zuvor vereinbarte War­nung, Ford stürme mordlustig das Haus, wird unerwartet Wirklichkeit. Gefolgt von einer Meute bewaffneter Nachbarn, bricht der vor Eifersucht rasen­ de Ford herein. Als er Falstaff nicht sofort finden kann, lässt er in hemmungs­ loser Wut das ganze Haus durchsuchen und stürmt aus dem Zimmer. Während­ dessen verstecken Alice und Meg den in arge Bedrängnis geratenen Ritter im Wäschekorb. – Im allgemeinen Tumult haben sich Nannetta und Fenton ge­ funden und verbergen sich nun ihrerseits hinter dem Wandschirm. Ford, noch wütender über seine erfolglose Suche, entdeckt die beiden dort in inniger Um­ armung. Sein ganzer Zorn entlädt sich auf das junge Paar. Fenton wird aus dem Haus gejagt. Diesen Augenblick der Verwirrung nutzt Alice, um den Wäsche­ korb samt Inhalt in die Themse zu kippen. Als Ford begreift, welchen Streich Alice dem leidenschaftlichen Ritter gespielt hat, muss er beschämt erkennen, wie grundlos seine Eifersucht war.

Dritter Akt 1. Bild Vor dem Gasthof «Zum Hosenbande». – Noch frierend vom unfreiwilligen kalten Bad, denkt Falstaff über sein Abenteuer und die Schlechtigkeit der Welt nach. Wieder erscheint Mrs Quickly. Sie teilt ihm mit, dass Alice über sein Miss­ geschick verzweifelt sei und ihn nunmehr bitte, um Mitternacht als Schwarzer Jäger verkleidet mit einem Hirschgeweih auf dem Kopfe in den Park von Windsor zur «Eiche des Herne» zu kommen, wo sie ihn für allen Ärger entschädigen werde. Dort seien sie vor jeder Überraschung sicher, da es nie­ mand wage, diesen gespenstischen Ort aufzusuchen. Nach anfänglichem Zö­ gern – Falstaffs Lust zu Abenteuern hat sich wesentlich verringert – verspricht er zu kommen.

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Alice, Meg, Nannetta, Mr Ford, Dr. Cajus und Fenton haben – wie verabredet – dieses Gespräch belauscht und treffen nun die notwendigen Vorbereitungen für eine mitternächtliche Maskerade, um dem liebestollen Ritter noch einmal einen Denkzettel zu verpassen. Ford glaubt auch, diese Gelegenheit nutzen und durch eine klug einge­fä­ del­te Intrige, die allerdings nicht verborgen bleibt, die Vermählung seiner Toch­ ter mit Dr. Cajus erzwingen zu können. Nun entwickelt Alice ihren Gegen­plan: Durch eine List soll ihr Gatte der Heirat Nannettas und Fentons zustimmen. 2. Bild Bei der «Eiche des Herne» im Park von Windsor. – Pünktlich um Mitternacht ist Falstaff, teils erwartungsfroh, teils beklommen, zur Stelle. Aber sein erhofftes Liebesstündchen mit Alice und Meg, die sich ebenfalls eingefunden hat, wird von den Bürgern von Windsor, verkleidet als Geister, Feen und Kobolde, jäh unterbrochen. Sie peinigen den erschrockenen Ritter und zwingen ihn, seine Sünden zu bekennen und zu bereuen – bis Sir John Bardolfo erkennt und den ganzen Mummenschanz durchschaut. Aber nicht nur Falstaff ist der Gefoppte. Auch Fords Pläne mit seiner Tochter scheitern an der List der Frauen: Durch Vertauschung der Masken wird dem Dr. Cajus der als Feenkönigin verkleidete Bardolf als Braut zugeschoben, und Nannetta erscheint an der Seite des in eine Mönchskutte gehüllten Fenton. Ford, der in dem Mönchsgewand Dr. Cajus wähnte, gibt dem Paar seinen Se­ gen. Falstaff beendet schliesslich die nächtliche Verkleidungskomödie mit der lebensweisen Moral: «Alles ist Spass auf Erden!»

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Eva Liebau, Barbara Frittoli, Judith Schmid, Yvonne Naef Spielzeit 2010 / 11

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BIOKATALY-SATYR Sven-Eric Bechtolf

Brecht hat, glaube ich, gesagt, man könne Shakespeare verbessern – wenn man es denn könne. Zwei haben es tatsächlich vermocht: Boito und Verdi! Sowohl bei Otello als auch bei Falstaff. Die dramaturgischen Verkürzungen und Fort­ schreibungen haben beiden Stücken gutgetan, und beide atmen doch weiter­ hin den Geist ihres Schöpfers. Ich hatte bei der Lektüre des Falstaff immer das Gefühl, es handele sich eigentlich um mindestens zwei Stücke. Das eine ist die gut geölte, sehr witzige, burleske Komödienmaschine von Feydauscher Lust an der Mechanik, an Ver­ stel­­lung, Verfehlung, Intrige und Gegenintrige, das andere Stück eine Beschwö­ rung antikischer oder heidnischer Welten unterhalb des Windsorschen Bürger­ tums. Falstaff, ein Satyr von Jupiters Gnaden, der Wald ein Ort der Schrecken, Sagen und Geheimnisse, die Frauen in Verbindung zu anderen Mächten als es sich die Schulweisheit ihrer patriarchalen Gatten und Nachbarn träumen lässt. Es ist die Freude Shakespeares an der Erschütterung der Gewissheiten einer neuen Zeit, sein Glauben an das irrationale, das blinde und blindwütige Wesen des Menschen, das noch in dieser Komö­die hindurchzuspüren ist, – von Boito und Verdi erkannt und gestützt. Ich habe den Falstaff einen «Biokataly-satyr» genannt. Nein, der dicke Mann reizt die Frauen nicht zur Untreue, aber der Geist, in dem er seine Wer­ bun­gen vorbringt, wohl. Die puritanische Welt eines Ford und Cajus wird durch ihn mit Lüsternheit und Lyrik gleichermassen konterkariert. Verdi beschwört die Natur, wir riechen, schmecken und fühlen den Sommerabend mit den in der Ferne klingenden Stimmen der Frauen, das Rauschen des Waldes, die drecki­ge Welt der Hafenkneipen und die Vorgärten der Bürger. Diese sensualistischen Massnahmen lenken die Aufmerksamkeit auf den unsichtbaren Hauptdarsteller des Werkes: die Natur. Auf die menschliche so gut wie die, die wir – hoffentlich zu Recht – die «ewige›» nennen.

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Natürlich erweisen sich die drei Autoren auch als Kenner der menschlichen Liebes- und Geschlechterwirren. Das junge Paar im Zauber einer noch ganz un­­­geprüften und ungebrochenen Liebe, die älteren, schlachterprobten, miss­ trau­isch, eifersüchtig, sehnsuchtsvoll Gewordenen. Wenn etwa Ford als Fontana dem Falstaff von einer gewissen Alice Ford berichtet, sich nachgerade in der Er­zählung neu in sie verliebt und in der Maskerade tiefere Einsichten zu Tage fördert, als sie ihm in eigener Charak­ter­maske möglich wären, wird auf spie­le­ risch­ste und leichteste Weise wirkliche Tiefe und lachen machende Tragik be­ fördert. Tutto nel mundo è burla – so lautet das künstlerische Testament Verdis, der sich seine Oper nicht an der Scala, schon gar nicht in Windsor dachte, sondern in seinem Haus oder vielleicht einer Scheune seines Landguts Sant’ Agata. Es ist ein italienisches Globe Theatre, das vor unserem inneren Auge auftauchte und das wir versucht haben, auf die Bühne zu bringen. Das Leichte ist das Schwers­ te. Boito und Verdi haben dieses Schwerste wie mühelos uns Ungeschickten, Erdenschweren zum Staunen hinterlassen.

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Judith Schmid, Eva Liebau Spielzeit 2010 / 11

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FALSTAFF IMMENSO! ENORME FALSTAFF! Egon Voss

Wäre der Terminus nicht durch die Entwicklung, die die Operngeschichte im 20. Jahrhun­dert genommen hat, bereits besetzt, man müsste Falstaff eine Lite­ raturoper nennen, freilich in einem anderen Sinne; denn das Kennzeichnen ist hier nicht die gleichsam buchstabengetreue Übernahme eines Schauspieltextes – das geschieht gerade nicht –, vielmehr ist, pointiert formuliert, die Literatur selbst Gegenstand der Oper. Die Autoren, insbeson­dere Boito, hatten nicht nur ein Werk auf der Grundlage eines Shakespeareschen Textes im Sinn, als wäre Shakespeare nur ein Sujetlieferant wie jeder andere, sondern sie wollten auch ein Werk schaffen, das der literarischen Grösse Shakespeares, seinem Rang als Exponent von Welttheater entsprechen sollte. Nicht zuletzt deshalb zog Boito die Historie King Henry IV mit heran; denn es dürfte weder Boito noch Verdi entgangen sein, dass die Komödie The merry Wives of Windsor nicht zu Shakespeares ganz grossen und die gesamte Palette seiner Kunst zeigenden Werken gehört. Falstaff sollte Geist haben und kein fettleibiger Säufer sein, wie Verdi an Boito schrieb. Die Forderung des Geistvollen bezog Boito offenkun­ dig nicht allein auf die Titelgestalt. Er stattete auch Nebenfiguren mit Geist aus. Dass Pistola im ersten Bild des 1. Aktes seine Ablehnung von Falstaffs Auf­trag, einen von dessen Liebebriefen zu überbringen, damit begründet, es sei kein «Messer Pandarus» – eine Anspielung auf Shakespeares Troilus and Cressida –, belegt das anschaulich. Zugleich aber ist dem Diener als realer Person eine solche Begründung nicht zuzutrauen, da sie nicht seinem sozialen Stand ent­ spricht. Er ist mithin nicht nur eine reale, sondern auch eine fiktive, eine gleich­ sam literarische Gestalt. Geradezu als Literat erscheint demgegenüber Fenton. Der Text seiner Solo­szene zu Beginn des zweiten Bildes des 3. Aktes hat die Form des Sonetts.

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Wer sich einer derart ungewöhnlichen und artifiziellen Kunstform bedient, ist entweder literarisch äusserst bewan­dert oder selbst ein Dichter. Äusserlich ist Fenton zwar weder als das eine noch das andere ausgewiesen, aber offenkundig geht er nicht darin auf, der Liebhaber Nannettas zu sein. Im zweiten Bild des 1. Aktes zitiert er den ersten Vers des zweiten Terzetts aus dem Sonett, und Nannetta ergänzt, in offenkundiger Kenntnis des Textes, den zweiten Vers. So ist der Vortrag des gesamten Sonetts zu Beginn des zweiten Bildes des 3. Aktes keine spontane Äusserung, sondern Reproduktion von Literatur. Dass es sich sogar im buch­stäb­lichen Sinne so verhält, beweist die Tatsache, dass die beiden bereits im zweiten Bild des 1. Aktes zitierten Verse Bocca baciata ein Zitat aus der siebten Novelle der zweiten giornata von Boccaccios Il Decamerone sind. Die Liebe zwischen Fenton und Nannet­ta erscheint also als eine über die Lite­ ra­tur vermittelte. Bezeichnenderweise wirkt auch die Vertonung der zitierten Zeilen in ihrer populär-einfachen und archaisierenden Struktur zitathaft. Der besondere Bezug der Oper zur Literatur, weniger freilich zu erkennen für den Hörer bei der Aufführung als vielmehr für den Leser des Librettos, mani­festiert sich in der artifi­ziellen Gestaltung und Form des Textes. Peter Ross hat gezeigt, wie kunstvoll und sinnreich die unterschiedlichen Versformen Ver­ wendung finden, dass etwa der «alessandrino», in dem Falstaff sich auszudrücken pflegt, «den gespreizt-vornehmen Sprechstil des heruntergekommenen Adligen als selbstgefällige Schwätzerei» entlarvt. Entsprechendes gilt für die Wortwahl: Man denke an die Parodie einer Litanei in der Parkszene des 3. Aktes, in der die lateinische Anrufung «domine» (Gott) und «addomine» (Bauch) zum Reim ge­ ­zwungen werden. Boito scheint unerschöpflich im Auffinden ungewöhnlicher Worte, insbesondere wenn es ums Schimpfen geht, das seine ganz besonde­re Rolle spielt. In keiner Oper wird so häufig, vor allem aber so fantasievoll und witzig geschimpft wie im Falstaff. Der Unter- oder Gattungstitel der Oper lautet commedia lirica, nicht opera buffa. Man kann darin ein Programm sehen; denn eine komische Oper im tra­di­ ­tionellen Sinne ist Falstaff nicht. Dass dies insbesondere musikalisch-formal gilt, liegt auf der Hand, aber auch inhaltlich gibt es wesentliche Differenzen. Äus­­ser­ ­lich hat man es mit einer Verbindung von Charakter-, Situation- und Ty­­­pen­­ komödie zu tun. Einige Nebenfiguren wie Dr. Cajus, Falstaffs beide Diener,

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Mrs Quickly in ihrer Funktion als Kupplerin gehören zu den Typen, wenngleich sich fragen lässt, ob nicht die ostinatohafte Wiederkehr von «Reve­renza» und «Povera donna» Mrs Quickly zum Charakter werden lässt, unabhän­gig davon, dass es sich um gespielte Äusserungen handelt. Als Situationskomödie operiert die Oper mit traditionellen Konstellationen: ein Liebhaber, der bei seiner An­ gebeteten vom Ehemann überrascht wird und sich verstecken muss; ein Vater, der seine Tochter nicht demjenigen geben will, den sie liebt, aber schliesslich durch ein Verkleidungsspiel überlistet wird. Dominant ist fraglos die Charakter­ komödie; denn es dreht sich alles um die Person Falstaff, der schon als Gestalt durch die Inkongruenz von Anspruch und Wirklichkeit komisch ist, eine heroi­ sche Figur in gänzlich unheroischer Erscheinung. Falstaffs Grösse im buchstäblichen Sinne ist lächerlich. Als Ritter in einer bürgerlichen Gesellschaft haftet die Komik des Anachronismus an ihm, was ihn ein wenig an Don Quijote gemahnen lässt. Komisch ist Falstaff aber vor allem als Subjekt, das gegen die Norm verstösst und blind in die Falle tappt, die man ihm daraufhin stellt. Entspricht dies alles durchaus traditionellen Vorstellungen von der Komödie, so geht der Schluss der Oper andere Wege. Wenn die Grund­ lage der Komödie gemeinhin der Glaube an eine Ordnung ist, sei sie metaphysi­ scher oder auch nur diesseitig-gesellschaftlicher Art, die im Verlauf der Hand­ lung zwar gestört, am Ende aber wieder hergestellt wird, dann sind bei Falstaff Zweifel geboten, ob es sich überhaupt um eine Komödie handelt. Weder lässt sich behaupten, dass Falstaff als der Störer am Ende geheilt oder gebessert sei, noch, dass man sich zu mehr als zu einer augenblicklichen Versöhnung zu­sam­ men­finde. Der Gegensatz zwischen Falstaff und den übrigen bleibt bestehen – noch das Tutti gabbati kurz vor dem Ende wird von Falstaff und den übrigen getrennt gesungen –, und die am Ende übliche Harmonie kommt nur zustande, weil Falstaff sie geradezu anordnet: «Un coro e terminiam la scena». Dass sie sich nicht spontan ergibt, zeugt ebenso wenig von ihrer tatsächlichen Wieder­ her­stellung, wie die Tatsache, dass Falstaff die Situation offensichtlich schnell hinter sich bringen will. Die übliche Demonstration von Harmonie am Ende ist jedenfalls insze­ niert. Da die Harmo­nie, die man so gerne hätte, in der Wirklichkeit nicht exis­ tiert, flüchtet man ins Künstliche und sucht die Harmonie in einer besonders

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Ambrogio Maestri Spielzeit 2010 / 11

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Massimo Cavalletti, Davide Fersini, Martin Zysset Spielzeit 2010 / 11


kunst­vollen Form, der Fuge. Musikalisch-künstlerisch wird dabei zwar Harmo­ nie demonstriert, der gesungene Text aber steht dem entgegen. Statt von Ge­ meinsamkeit ist darin von Gegeneinander die Rede, vom Spott, dem jeder ein­ zelne ausgeliefert ist, den der eine dem anderen zufügt, und vom Lachen dessen, der zuletzt lacht. Das klingt vordergründig harmlos und heiter, ist es aber nicht. Auffälligerweise bedient sich die Vertonung von «Tutti gabbati» kurz vor Schluss (tutti ausser Falstaff) der gleichen absteigenden Tonfolge, die zu Beginn des 3. Aktes Falstaffs Worte «Mondo ladro. Mondo rubaldo. Reo mondo» be­glei­ tet. Die Wendung ist bar aller Komik und durch ihre dunkle Instrumenta­tion von fast bitterem Ernst. In deutlicher zeitlicher Nähe zur Komposition die­ser Stelle zitierte Verdi die Worte Falstaffs und kommen­tierte: «Ich weiss das, und leider weiss ich das dreissig Jahre länger als Ihr» (an Boito am 6. Oktober 1890). Verdi betrachtete Falstaffs «mondo ladro» offenkundig nicht als komi­sche Über­ treibung. Die Oper trägt Züge des Grotesken und Absurden, was sie zusätzlich zum bereits Dargelegten aus den realistischen Tendenzen der opera buffa-Tradition heraushebt. Wirkt schon am Beginn des 1. Aktes die Ansammlung unterschied­ licher Währungen auf der Rechnung des Wirts und Falstaffs Börse (scellini, lire, mark, penny) in ihrer Realitätsferne zumindest kurios, so erscheint die Rech­ nung selbst mit der neben sechs Hühnern, drei Truthähnen und dreissig Krügen Wein separat aufgeführten einzelnen Sardelle absurd, und dieses Ungleichge­ wicht hat Verdi in die Komposition übernommen, indem er der «acciuga» durch einen lang gehaltenen Ton besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt. In die­ ser Art gibt es zahlreiche Details in der Partitur, die die im Libretto ange­legten Züge anschaulich verstärkt, wie denn überhaupt Verdi in keinem anderen Werk eine vergleich­bare Detailbezogenheit der Musik entwickelt hat. Meist zeichnet sich dieses Verstärken durch eine ungemein bildhafte Drastik der Ge­stal­tung aus, die die Komik des Librettos ins unverblümt Groteske hinüberzieht und da­ mit über das bloss Lächerliche hinaustreibt. Das Groteske ist ebenso wenig nur heiter wie das Absurde. Dem entspricht, dass Falstaff auch im Übrigen nicht auf das bloss Heitere angelegt ist. Insbe­ son­dere die Musik schlägt oft Töne an, die den Text gleichsam Lügen strafen, oder zumindest für einen Augenblick das Gegenteil dessen, wovon der Text

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spricht, in den Bereich des Möglichen rücken. Das zeigt überaus eindrucksvoll die Lektüre von Falstaffs Brief durch die Frauen. So sehr sie sich auf der Szene über Falstaffs Liebeserklärungen erheitern und belustigen, die Musik zielt in ihrer Tendenz zur grossen Kantilene, wie man sie von Verdi gewöhnt ist, unein­ geschränkt auf den Ausdruck der Liebesaffekte, von denen in Falstaffs Brief die Rede ist. Zwar wird durch die Vorschrift «con caricatura», durch den parodisti­ schen Triller am Schluss und das gemeinsame Gelächter danach die Echtheit dieses Ausdrucks in Frage gestellt, der grosse affektive Gehalt der Musik wird da­durch jedoch nicht aufgehoben. Einerseits also amüsieren sich die Frauen über Falstaffs Liebesbriefe, andererseits aber träumen sie, zumindest für einen kurzen Augenblick, insgeheim oder unbewusst davon, solche Liebesbriefe für echt halten zu dürfen. Falstaff ist – anders als gewöhnliche Opernfiguren, die in der Regel aus­ schliess­lich in ihren Affekten gezeigt werden –, auch und vor allem körperlich prä­sent. Der «Schmerbauch» («pancione»), wie Boito und Verdi ihren Titelhel­ den während der Entstehung der Oper zu nennen pflegten, wird ebenso an­ schau­lich wie drastisch portraitiert. Falstaff treibt mit seinem Bauch einen Kult, und daraus erwächst ein Grossteil seiner Komik. Der Bauch wird gefeiert, etwa im 1. Akt bei «Falstaff immenso! Enorme Falstaff!» mit emphatischem Ges-Dur und der hörbaren Anspielung auf den Ausruf «Immenso Ftha!» aus Aida. Für Falstaff ist sein Bauch ein wesentlicher Teil seiner Identität. Sein Bauch ist sein Königreich, das es zu erweitern gilt, und auf seinen Bauch setzt er seine Erobe­ rungshoffnungen bei den Frauen von Windsor. Dass er bei dem Streich, den ihm die Frauen im 2. Akt gespielt haben, nicht ertrunken ist, verdankt er nach seiner Meinung allein seinem Bauch. Dieser Bauch will gepflegt sein, er bedarf der Speisen und Getränke, was Kosten verursacht, die wiederum gedeckt sein wollen. Im Grunde also ist der Bauch der Auslöser des Geschehens, und er ist es auch, so könnte man sagen, der am Ende ans Ziel kommt; denn bevor Falstaff die Schlussfuge anstimmt, lädt Ford ihn ausdrücklich zum Essen ein. Allerdings ist Falstaff das Trinken noch wichtiger als das Essen. Er liebt den Wein, und zwar in grossen Mengen, und er liebt die Wirkung des Weins, wie das erste Bild des 3. Aktes vor allem musikalisch überaus plastisch vorführt.

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Zur körperlich ausserordentlichen Statur gesellt sich ein entsprechendes Tem­ perament. Falstaff ist gern laut, gebärdet sich als Polterer, vor allem ist er ein Meister im Schimpfen und Austeilen von Grobheiten. Verdis Musik aber kann sich nicht genug darin tun, dem auf möglichst grelle und drastische Weise zu entsprechen. Falstaff ist eine ausgeprägte Persönlichkeit, gegen deren Stärke und Kraft schwer anzukommen ist. Das muss Dr. Cajus bereits zu Beginn schmerz­lich erfahren. Obwohl äusserlich im Recht, vermag er gegen Falstaff als seinen Gegner nichts auszurichten, macht sich vielmehr sogar selbst lächerlich. Falstaff vertritt sein Abweichen von den allgemeinen Normen des Lebens und der Gesellschaft nicht nur mit Überzeugung, sondern mit der gesamten Fülle seiner leibhaftigen Person. Darin liegt seine Glaubwürdigkeit, an der die Halb­ herzigkeit und Verlogenheit der anderen abprallt. Nichtsdestoweniger ist er das, was man einen Schelm nennt. Die Maxime, der er folgt, veranschaulicht das: «Mit Anmut stehlen und zur rechten Zeit». Wenn seine Diener Dr. Cajus be­ trunken machen, um dann seine Taschen zu leeren, so ist das, da Dr. Cajus offen­sichtlich bemerkt hat, was vorgegangen ist, ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll. Das Gegenbeispiel ist Falstaffs Versuch, den Ehemännern von Alice und Meg das Geld aus der Tasche zu ziehen, indem er mit den Frauen Liebesverhältnisse eingeht. Dass dieser Versuch scheitert, liegt daran, dass in diesem Falle auch Falstaff seine Maxime nicht genau befolgt. Das «…und zur rechten Zeit» hätte ihm raten müssen, in einer Kleinstadt nicht mit zwei Frauen auf einmal anzubandeln. Was er unter «Anmut» versteht, zeigt sich darin, dass er die Liebesverhältnisse, die doch nach der Inten­tion nur Mittel zum Zweck sind, ernst nimmt; vom Geld, das sie ihm bringen sollen, ist in den Begegnun­ gen mit Alice nie die Rede. Vielmehr erscheint Falstaff, ob gespielt oder ernst­ haft, als formvollendeter Liebhaber, und in dieser Rolle stehen ihm auch die zarten und anmutigen Töne zur Verfügung, wie nicht zuletzt sein schon bei der Uraufführung besonders erfolgreiches Solo «Quand’ero paggio» belegt. Dass Falstaff diese Rolle gern spielt, hat allerdings auch damit zu tun, dass ihm die Aussicht, dem Ehemann Alices Hörner aufzusetzen, offenkundig ganz beson­ de­re Freude macht. Gegen diesen Ehe­mann entwickelt er Wut und geradezu bös­artige Aggression. Der Lust, die Frau zu besitzen, scheint die Lust, den Mann zu betrügen, nicht nachzustehen.

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Falstaff ist ein Prahlhans, er strotzt vor Selbstgefälligkeit. Der Glaube an seine Unwiderstehlichkeit bei den Frauen müsste, so sollte man annehmen, nach dem, was im 2. Akt geschehen ist, längst gebrochen sein, doch er zeigt sich un­be­ rührt. Die Schuld für sein Missgeschick nämlich sieht er nicht bei sich, er lastet sie den anderen an. Ausgerechnet er, der einen massiven Angriff auf die Tugend startete, beklagt nach dessen Fehlschlagen, dass es keine Tugend mehr gebe. Eine ähnlich dreiste Verkehrung der Verhältnisse nimmt er am Ende vor. Als offenbar ist, dass er ein weiteres Mal düpiert und der Lächerlichkeit preisge­ geben wurde, zieht er sich mit der sophistisch-dialektischen Volte aus der Affäre, ohne ihn und seinen Witz («arguzia«) wäre niemand auf die Idee gekommen, ihn in dieser Weise hereinzulegen – als müsse man dem Dieb für die Erfindung des Türschlosses dankbar sein. Zwar begreift er durchaus, dass er sich wie ein Esel verhalten hat, doch dass man deshalb über ihn lacht, erträgt sein Selbstver­ ständnis nicht. Freilich bestätigt die Tatsache, dass er für seine haarsträubenden Argumentation allgemeinen Beifall erhält, die Richtigkeit seines Tuns. Auch hier setzt sich seine Persönlichkeit durch. Was also hätte Falstaff für Gründe, an seiner Unwiderstehlichkeit zu zweifeln? Musikalisch hat Falstaff eine Form sui generis. Die traditionellen Gestal­ tungs­modelle der Oper sind aufgelöst, und zwar im Sinne einer Loslösung ihrer Elemente aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen. Nicht mehr die Modelle dienen dem Ausdruck und der Gestaltung, sondern die ihnen zugrunde liegen­ den Faktoren und Prinzipien. Diese werden, damit sie in jedem Augenblick auf der Höhe des dramatischen Verlaufs sind, mit äusserster Flexibilität und auf engstem Raum gehandhabt. Auf diese Weise ist es möglich, so­wohl der feinsten Nuance als auch dem schnellen Wechsel der Affekte und Stimmungen gerecht zu werden. Rezitativische Deklamation, Arioso und Kantilene nebst Übergangs­ formen erscheinen reduziert auf kleine Partikel, die in rascher Folge wechseln, was aber nicht heisst, dass es nicht immer auch wieder Relikte alter Formschema­ ta gibt, Wiederholungen und Korrespondenzen, wie etwa in Falstaffs «Ehre»Monolog. Diesem veränderten Umgang mit den Formelementen entspricht, dass die «frühere Verskomposition durch eine flexiblere Sprachvertonung ersetzt» ist, sich die «herkömmliche Periodik verliert» und die «Vokalphrasen dem natür­

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lichen Tonfall» folgen (Peter Ross). Die einzige Verbindung zur Tradition der opera buffa wird durch das charakteristische parlando gezogen, mit dem Unter­ schied allerdings, dass der aufgelockerten Diktion der Singstimme ein selbstän­ diger Orchestersatz gegenübertritt, den die «opera buffa» so nicht kennt. Auf­ fällig ist das Singen auf gleich bleibendem Ton, als handele es sich um li­tur­gische Lektion, was dem Vortrag einen parodistischen Zug verleiht. Parodie ist über­ haupt von zentraler Bedeutung. Bardolfos vom Alkohol gerötete Nase wird im ersten Bild des 1. Aktes lyrisch-liedhaft, ja pathetisch besungen, als sei es er Mond in romantischer Nacht. Zu Dr. Cajus’ feierlichem Schwur, sich nicht mehr mit Gesellen wie den Dienern Falstaffs an einen Tisch zu setzen, erklingen fanfarenartige Posaunen, und als er beendet ist, besiegeln besagte Diener den Schwur mit einem «Amen»-Kanon. Aus solcher Diskrepanz zwischen einem Gegenstand und seiner musikalischen Darstellung zieht die Oper immer erneut ihren Witz. Das Pendant zum «Amen»-Kanon, der zugleich eine Parodie auf den Stil traditioneller alter Kirchenmusik ist, bildet die Litaneiformel bei der Strafaktion gegen Falstaff im Schlussteil, die ihre Wirkung nicht nur aus der Tatsache bezieht, dass es sich um die seinerzeit geläufigste Formel in Italien handelt, sondern auch aus dem Effekt, dass sie aufreizend penetrant repetiert wird, aller musikalisch-künstlerischen Ökonomie zuwiderlaufend. Falstaff ist – und dies hat man dem Werk oft und von Beginn an zum Vor­ wurf gemacht – auch eine Orchesteroper, was besagt, dass das Orchester seine eigene Stimme hat und diese bisweilen wichtiger ist als die Singstimme. Das Orchester entwickelt seine eigenen Motive, und diese prägen, wie beispielsweise gleich zu Beginn der Oper, ganze Szenen. Man hat in dieser veränderten Rolle des Orchesters einen Einfluss Richard Wagners sehen wollen, was in Bezug auf jene, bestimmte Szenen prägenden Motive seine Richtigkeit haben mag, doch das weitaus charakteristischere Symptom Wagnerschen Einflusses wäre das Ope­rieren mit Leitmotiven, das sich im Falstaff jedoch nicht findet. Die musi­ kalischen Beziehungen zwischen den Akten und Teilen beruhen einerseits auf der Wiederholung von Floskeln und Phrasen, die durch den Text vorgegeben sind, oder bestehen gleichsam subkutan, weniger in der geprägten musikali­ schen Gestalt, wie die Partitur sie festhält, als vielmehr in Charakter und Tonfall. Beispiele für das eine sind Falstaffs «Caro Signor Fontana!», Mrs Quicklys

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«Reverenza» und «Ahimé! Povera donna!» oder Fentons «Bocca baciata non perde ventura»; ein Beipiel für das andere bietet die Stelle bei Falstaffs «V’é noto un tal, qui del paese/Che ha nome Ford?», die – nicht zuletzt durch die Ton­ art – wie eine Vorausdeutung auf die Orchestereinleitung des zweiten Bildes des 1. Aktes erscheint. Freilich bewegt man sich bei solchen Feststellungen auf unsicherem Terrain. Sicher dagegen ist, dass die Einheit des Ganzen wesentlich auf der Tonart C-Dur beruht, in der das Werk beginnt und in der es schliesst.

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Ambrogio Maestri, Barbara Frittoli Spielzeit 2010 / 11

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Eva Liebau, Javier Camarena, Patrizio Saudelli, Davide Fersini, Massimo Cavalletti Spielzeit 2010 / 11

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LUST AM FALSTAFF Alfred Polgar

Ein alter Herr wird geprellt. Verdientermassen. Denn sein Lebenslauf ist Sau­ fen, Fluchen, Nichtstun und das Herumkriegen von anderer Leute Weiber. Und trotzdem und ob­gleich er die Weiber nebenbei auch dazu gebraucht, an dem Geld ihrer Männer nutz­zu­­niessen, hat der Ritter Falstaff nicht nur unsere Sympathie, sondern unsere Liebe. Gott behüte, dass ihm ernstlich Leides ge­ schähe! Wenn sich Herr Fluth, der biedere, gerechte, den Hals bräche, liesse uns das gleichgültig. Um Falstaff würden wir bitter klagen. Er ist ein Stück trüb und ranzig gewordener, aber unbedingter Lebensfreude. Ein Mann voll von Witz, Selbstverlachung, innerster Lügelosigkeit. Hätte er immer Geld und Alko­hol, um nicht auf Lumpereien zur Herbeischaffung dieser lebenswichtigen Stoffe sinnen zu müssen, er zeigte sich gewiss als Mann von profunder Gut­ mütig­keit, von Schärfe und Freiheit des Urteils, als Freund der Elenden, als Verächter jeglicher Heu­chelei und Niedrigkeit. Aber sein besseres Menschen­ tum ist lebendig eingesargt: Ein gewaltiger Grabhügel, der Bauch, hindert es an Auferstehung. Gewissermassen: Das Geistige ist dem Animalischen versklavt, muss schmutzige Dienste tun. Dass es sich nicht empört, ist Falstaffs Kardinal­ sünde. Aber eben die Treue, die Anhänglichkeit, mit der es dient, die Solidarität des Gehirns mit dem Wanst ist auch der Quell, dem der nie schale, wunderbar schmackhafte Humor des Ritters entfliesst. Die wahre Lust am Falstaff kommt nicht aus der Schadenfreude über sein Missgeschick, sondern aus der Freude über die Philosophie, mit der er es trägt, und über den Optimismus, mit dem er stets von neuem in die Falle läuft.

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Yvonne Naef, Ambrogio Maestri, Judith Schmid Spielzeit 2010 / 11

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Ambrogio Maestri Spielzeit 2010 / 11


FALSTAFF GIUSEPPE VERDI (1813-1901) Commedia lirica in drei Akten Libretto von Arrigo Boito (1842–1918) nach «Sir John Falstaff and the Merry Wives of Windsor» und Auszügen aus «King Henry IV» von William Shakespeare

Personen

Sir John Falstaff

Bariton

Ford, Alices Gatte Fenton

Bariton

Tenor

Dr. Cajus

Tenor

Bardolfo, in Falstaffs Diensten Pistola, in Falstaffs Diensten Mrs Alice Ford

Sopran

Nannetta, ihre Tochter Mrs Quickly

Tenor Bass

Sopran

Mezzosopran

Mrs Meg Page

Mezzosopran

Wirt des Gasthofs «Zum Hosenband»

Stumme Rollen

Robin, Falstaffs Page Bürger und Volk Diener Fords Masken (Kobolde, Feen, Hexen usw.) Die Handlung spielt in Windsor, England, zur Zeit Heinrichs IV.


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

PARTE PRIMA

ERSTES BILD

L’interno dell’Osteria della Giarrettiera. Una tavola, un gran seggiolone, una panca. Sulla tavola i resti di un gran desinare, parecchie bottiglie e un bicchiere. Calamaio, penne, carta, una candela accesa. Una scopa appoggiata al muro. Uscio nel fondo, porta a sinistra. Falstaff è occupato a riscaldare la cera di due lettere alla fiamma della candela, poi le suggella con un anello. Dopo averle suggellate, spegne il lume e si mette a bere comodamente sdraiato sul seggiolone. Falstaff, Dr. Cajus, Bardolfo, Pistola, l’Oste nel fondo.

Wirtsstube im Gasthaus «Zum Hosenband». Ein Tisch. Ein grosser Sessel. Eine Bank. Auf dem Tisch die Reste eines Mahls, mehrere Flaschen und ein Becher. Tintenglas, Feder, Papier, eine brennende Kerze. Ein Besen lehnt an der Wand. Im Hintergrund ein Hinter­ausgang, links eine Tür. Falstaff ist damit beschäftigt, an der Kerzenflamme das Wachs für zwei Briefe zu wärmen und diese dann mit einem Ring zu versiegeln. Danach löscht er die Kerze, lehnt sich bequem in seinen Sessel zurück und trinkt. Falstaff, Dr. Cajus, Bardolf, Pistol, im Hintergrund der Wirt.

DR. CAJUS entrando dalla porta a sinistra e gridando minaccioso

DR. CAJUS kommt durch die linke Tür und schreit drohend

Falstaff!

Falstaff!

FALSTAFF senza abbadare alle vociferazioni del Dr. Cajus, chiama l’Oste che si avvicina

FALSTAFF zum Wirt, ohne sich um Dr. Cajus’ Geschrei zu kümmern

Olà!

Holla!

DR. CAJUS più forte di prima

DR. CAJUS lauter als zuvor

Sir John Falstaff!!

Sir John Falstaff!

BARDOLFO al Dr. Cajus

BARDOLF zu Dr. Cajus

Oh! che vi piglia?

Nun, was gibt’s denn?

DR. CAJUS sempre vociando e avvicinandosi a Falstaff, che non gli dà retta

DR. CAJUS geht auf Falstaff los, der ihn gar nicht beachtet

Hai battuto i miei servi!...

Du hast meine Diener verprügelt!

FALSTAFF all’Oste, che esce per eseguire l’ordine

FALSTAFF zum Wirt, der abgeht, um die Bestellung auszuführen

Oste! un’altra bottiglia di Xeres.

Wirt, noch eine Flasche Sherry!

DR. CAJUS come sopra

DR. CAJUS wie oben

Hai fiaccata la mia giumenta baia, Sforzata la mia casa.

Du hast meine Stute zu Schanden geritten, warst gewalttätig in meinem Haus.

FALSTAFF con flemma

FALSTAFF gelangweilt

Ma non la tua massaia.

Doch nicht mit deiner Wirtschafterin.

DR. CAJUS

DR. CAJUS

Troppa grazia! Una vecchia cisposa. Ampio Messere, se foste venti volte John Falstaff Cavaliere V’obbligherò a rispondermi.

Zu gütig, diese triefäugige Alte. Euer Wohlbeleibtheit, und wärt Ihr zwanzigmal der Ritter John Falstaff, ich werde Euch zwingen, mir Red’ und Antwort zu stehen.


FALSTAFF con flemma

FALSTAFF gelangweilt

Ecco la mia risposta: Ho fatto ciò che hai detto.

Da hast du meine Antwort: Was du gesagt hast, hab’ ich getan.

DR. CAJUS

DR. CAJUS

E poi?

Nun? Und?

FALSTAFF

FALSTAFF

L’ho fatto apposta.

Ich tat es absichtlich.

DR. CAJUS gridando

DR. CAJUS schreiend

M’appellerò al Consiglio Real.

Ich werde beim königlichen Rat vorsprechen.

FALSTAFF

FALSTAFF

Vatti con Dio. Sta zitto o avrai le beffe; quest’è il consiglio mio.

So geh mit Gott. Oder besser: Halt den Mund, sonst machst du dich nur zum Gespött. Das ist mein Rat.

DR. CAJUS ripigliando la sfuriata contro Bardolfo

DR. CAJUS nun wütend gegen Bardolf

Non è finita!

Das ist noch nicht alles.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben FALSTAFF

FALSTAFF

Al diavolo!

Geh zum Teufel!

DR. CAJUS

DR. CAJUS

Bardolfo!

Bardolf!

BARDOLFO

BARDOLF

Ser Dottore.

Ja, Herr Doktor.

DR. CAJUS sempre con tono minaccioso

DR. CAJUS nach wie vor in dohendem Ton

Tu, ier, m’hai fatto bere.

Du hast mich gestern zum Saufen verführt.

BARDOLFO si fa tastare il polso dal Dr. Cajus

BARDOLF lässt sich von Dr. Cajus den Puls fühlen

Pur troppo! e che dolore!... Sto mal. D’un tuo pronostico m’assisti. Ho l’intestino Guasto. Malanno agli osti Che dan la calce al vino!

Leider! Und jetzt die Schmerzen! Ich fühle mich elend. Du musst mir eine Prognose stellen. Meine Eingeweide sind total durcheinander. Die Pest allen Wirten, die Kalk in den Wein mischen!

mettendo l’indice sul proprio naso enorme e rubicondo

deutet mit dem Ziegefinger auf seine eigene riesige rote Nase

Vedi questa meteora?

Siehst du den Meteor dort?

DR. CAJUS

DR. CAJUS

La vedo.

Ja.

BARDOLFO

BARDOLFO

Essa si corca Rossa così ogni notte.

Der geht jede Nacht so glühend rot unter.


DR. CAJUS scoppiando

DR. CAJUS explodierend

Pronostico di forca! M’hai fatto ber, furfante, con lui

Meine Prognose lautet: Galgen! Du Schurke hast mich betrunken gemacht, zusammen mit dem da.

indicando Pistola

weist auf Pistol

Narrando frasche, Poi, quando fui ben ciùschero, M’hai vuotato le tasche.

Blödes Zeug habt ihr geredet, und als ich total benebelt war, hast du mir die Taschen geleert.

BARDOLFO con decoro

BARDOLF würdevoll

Non io.

Nicht ich.

DR. CAJUS

DR. CAJUS

Chi fu?

Wer dann?

FALSTAFF chiamando

FALSTAFF rufend

Pistola!

He, Pistol!

PISTOLA avanzandosi

PISTOL herantretend

Padrone?

Herr?

FALSTAFF sempre seduto sul seggiolone e con flemma

FALSTAFF immer noch gelangweilt im Sessel sitzend

Hai tu vuotate le tasche a quel Messere?

Hast du diesem Herrn die Taschen geleert?

DR. CAJUS scattando contro Pistola

DR. CAJUS seine Wut jetzt gegen Pistol richtend

Certo fu lui. Guardate. Come s’atteggia al niego quel ceffo da bugiardo!

Gewiss, der war’s! Seht nur, wie scheinheilig er sich gebärdet, dieses Lügenmaul!

vuotando una tasca del farsetto

stülpt eine Tasche seiner Weste um

Qui c’eran due scellini del regno d’Edoardo E sei mezze-corone. Non ne riman più segno.

Zwei Schilling waren drin aus König Eduards Zeiten und sechs halbe Kronen. Nichts ist mehr davon da.

PISTOLA a Falstaff, dignitosamente brandendo la scopa

PISTOL zu Falstaff, indigniert den Besen schwingend

Padron, chiedo di battermi con quest’arma di legno.

Herr, gestattet, dass ich mich mit dieser hölzernen Waffe schlage.

al Dr. Cajus con forza

zu Dr. Cajus mit Nachdruck

Vi smentisco!

Ihr lügt!

DR. CAJUS

DR. CAJUS

Bifolco! tu parli a un gentiluomo!

Flegel! Du sprichst mit einem Edelmann!

PISTOLA

PISTOL

Gonzo!

Dummkopf!

DR. CAJUS

DR. CAJUS

Pezzente!

Lump!


Programmheft FALSTAFF Commedia lirica in drei Akten von Giuseppe Verdi (1813–1901) Libretto von Arrigo Boito (1842–1918) Premiere am 20. März 2011, Spielzeit 2010/11 Wiederaufnahme am 15. September 2015, Spielzeit 2015/16

Herausgeber

Intendanz

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich Andreas Homoki Ronny Dietrich Carole Bolli Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG

Textnachweise Die Inhaltsangabe sowie der Beitrag von Sven-Eric Bechtolf «Biokataly-Satyr» wurden für dieses Programmbuch ge­schrieben. – Egon Voss, «Falstaff immenso! Enorme Falstaff!», in: «Verdi-Hand­buch», herausgegeben von Anselm Gerhardt und Uwe Schweikert, Stuttgart 2001 – Alfred Polgar, «Lust am Falstaff», in: ders., «Prosa aus vier Jahrzehnten», Reinbek bei Hamburg 1968. Suzanne Schwiertz fotografierte das «FALSTAFF»-Ensemble während der Klavierhauptprobe am 16. März 2011 Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Swiss Re Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Walter Haefner Stiftung PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation

Max Kohler Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

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Neue Zürcher Zeitung AG

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Sir Peter Jonas Luzius R. Sprüngli Elisabeth Stüdli Stiftung Zürcher Theaterverein


Als Mitglied der Freunde der Oper Zürich sind Sie mehr als ein Opernbesucher. Die Freunde der Oper Zürich sind ein wichtiger Partner des Opernhauses. Sie finanzieren jedes Jahr eine Neu­­produktion und unterstützen das Internationale Opern­studio – ein Ausbildungsprogramm für talentierte junge Sängerinnen und Sänger aus aller Welt. Sie blicken hinter die Kulissen, er­halten Einsicht in Probenprozesse, beobachten Kunst­schaf­fende bei der Arbeit und erleben die Entstehung einer Oper. Sie un­­ter­ stützen, fördern, nehmen Teil: Sie gehören dazu. Freunde der Oper Zürich, Falkenstrasse 1, 8008 Zürich, T 044 268 66 39 info@opernfreunde.ch, www.opernfreunde.ch 39


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