Faust

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FAUST CHAR LES GOUNOD

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FAUST CHARLES GOUNOD (1818–1893)

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Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hinein­legen, das Leben schwerer, als billig. Ei! So habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen! Johann Wolfgang von Goethe




DIE HANDLUNG Faust ist verzweifelt: Er hat alles im Leben erreicht und fürchtet dennoch, das Leben verpasst zu haben. Er will noch einmal ganz von vorn anfangen und ruft dafür den Teufel zu Hilfe. Der bietet ihm einen Vertrag an: Auf dieser Welt wird er Fausts Diener sein, im Jenseits dann sein Herr. Faust unterschreibt und bricht in sein neues Leben auf. Während eines Festes spricht er eine junge Frau an: Marguerite, die ihn kurz abfertigt. Ihre Schönheit und Naivität versetzen Faust in Begeisterung. Der Teufel hält einen Rivalen fern: Siébel, den er mit der Prophezeiung erschreckt, dass alle Blumen, die er berührt, verwelken werden. Siébel will Marguerite einen Strauss ins Zimmer bringen, aber der verwelkt in seiner Hand. Er erkennt, wer der seltsame Mann auf dem Fest war und beschliesst, Marguerite zu warnen. Mit Hilfe des Teufels hat Faust den Weg in Marguerites Wohnung gefunden. Während der Teufel ein Geschenk für Fausts Geliebte beschafft, taucht dieser enthusiastisch in ihre Lebenswelt, deren Armut ihm den wahren Reichtum zu bergen scheint. Marguerite kommt von dem Gedanken an den gutaussehenden und vermutlich reichen jungen Mann nicht los, der sie so unverhofft angesprochen hat. Sie entdeckt das teuflische Geschenk, das Faust ihr hinterlassen hat, legt den glänzenden Schmuck an und geniesst ihre scheinbare Verwandlung in eine reiche Frau. Die Nachbarin Marthe will Marguerite wegen des überraschenden Reichtums zur Rede stellen, da trifft die Nachricht vom Tod ihres Mannes ein. Die Überraschung währt nur kurz, schon bald findet die frischgebackene Witwe Ge­fallen an dem attraktiven Boten. Damit Faust und Marguerite sich näher kommen können, lässt sich der Teufel auf den Flirt mit der reifen Dame ein. Siébel unternimmt mehrere Versuche, Marguerite von seinen Erlebnissen zu erzählen, kommt aber nicht zum Ziel. Faust und Marguerite gestehen sich ihre Liebe. Nach langem ängstlichen Zögern gibt sie seinem Drängen schliesslich nach. Der Teufel triumphiert.


Marguerite erwartet ein Kind von Faust. Der hat sie verlassen. In der Stadt ist sie geächtet, auch Siébel kann ihr nun nicht mehr helfen. Soldaten kehren aus dem Krieg zurück. Unter ihnen ist Valentin, Marguerites Bruder. Marguerite sucht Schutz und Trost im Gotteshaus, aber nur der Teufel antwortet ihrem Gebet mit der Androhung ewiger Höllenqualen. Das schlechte Gewissen treibt Faust zu Marguerites Haus. Der Teufel reizt Valentin zum Duell mit dem Mann, der seine Schwester geschändet hat, und führt den Kampf so, dass Faust zum Mörder wird. Marguerite hat ihr Kind getötet und erwartet im Gefängnis ihre Hinrichtung. Faust will sie mit Hilfe des Teufels befreien, doch sie verweigert sich ihm und geht in den Tod.




FAUST OHNE GOETHE Jan Philipp Gloger über seine Inszenierungskonzeption

Charles Gounods Oper, die auf Goethes Faust basiert und auch denselben Titel trägt, wird in Deutschland traditionell misstrauisch beäugt, gar als Schändung eines nationalen Heiligtums bekämpft. Wie stellen Sie sich zu diesem Problem? Ich sehe da überhaupt kein Problem. Wir spielen nicht das Stück von Goethe, sondern das von Gounod. Das heisst, es handelt sich um ein ganz anderes Stück, und der Vergleich kann zu keinem sinnvollen Ergebnis führen. Ich bin dafür, so ist zumindest meine Arbeitsweise, dass man sich das Stück anschaut, an dem man arbeiten wird, und ohne Vorurteile prüft, ob es sich lohnt, dieses Werk auf die Bühne zu bringen. Die Frage ist also nicht, ob Gounods Oper eine angemessene Umsetzung einer Vorlage ist, sondern ob es sich um ein gutes Stück handelt oder nicht. Und letztendlich ist nicht einmal das entscheidend. Im Grunde ist jedes Material gut, das geeignet ist, eine Geschichte zu erzählen, die für den heutigen Zuschauer relevant ist. Übrigens muss man berücksichtigen, dass Gounods Werk nicht direkt auf Goethe basiert, sondern auf einer Boulevardtheater-Version des Stoffes, die Michel Carré, einer der Librettisten der Oper, hergestellt hatte, und die seinerzeit sehr erfolgreich in Frankreich gespielt worden ist. Viele der Veränderungen der Geschichte finden sich schon bei Carré. Diese Änderungen sind so einschneidend, dass sich der Vergleich mit Goethe eigentlich verbietet. Diese Veränderungen lassen sich vor allem an der Titelfigur festmachen. Was ist Gounods Faust für ein Mensch? Warum geht er den Pakt mit dem Teufel ein? Anders als bei Goethe begegnen wir hier keinem Wissenschaftler, dessen Hauptproblem ist, dass ihm all seine Forschungen nicht zu der Erkenntnis

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verholfen haben, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Die Verzweiflung von Gounods Faust ist dadurch motiviert, dass ihm all sein Wissen nicht geholfen hat, sein Leben wirklich zu leben. Dieser Mann will nicht mehr wissen, sondern mehr erleben. Er will den vollen Lebensgenuss. Wenn der Teufel ihn nach seinen Wünschen fragt, zählt er auf: «Ich will Jugend, Genuss, junge Frauen». Der Teufel verspricht ihm, das zu liefern, und so bricht Faust in die Welt auf und sucht nach dem, was er für Lebensgenuss und Intensität hält. Gounod erzählt also die Geschichte von einem, der glaubt, dass im Genuss der Sinn und die Freude des Lebens zu finden sei. Beim Versuch, das zu erlangen, scheitert er und reisst mehrere Menschen mit sich in den Abgrund. Also haben wir es mit der Geschichte eines alten Mannes zu tun, der seinen zweiten Frühling erlebt? Nein, das ist eine ganz andere Geschichte. Hier geht es um die Kollision von zwei Lebensmodellen und die Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse, die Entstehungszeit und Heute miteinander verbinden. Währen der Vorbe­ reitung der Inszenierung hatte ich immer stärker das Gefühl, dass es gar keine Rolle spielt, dass Faust am Anfang ein alter Mann ist, ja dass dieser Rest der Goetheschen Vorlage eher geeignet ist, den Zugang zum Kern der Sache zu verstellen. Ich habe dann das Gedankenexperiment unternommen, mir vorzustellen, was mit Fausts Gestalt geschieht, wenn er gar nicht alt ist, sondern sich nur so fühlt. Dieser kleine Trick hat dann so viele Möglichkeiten offenbart, dass wir uns entschlossen haben, an diesem Punkt von der Vorlage abzu­ weichen. Faust ist bei uns an dem Punkt seines Lebens, wo alle Weichen für die Zu­kunft gestellt sind: Er hat eine attraktive Frau, Kinder, ist wohl­habend, er hat also alles, was zum gutbürgerlichen Leben gehört. Da kommt ihm die Frage, ob das denn wirklich alles sein soll. Es überfällt ihn die Angst, dass er das Wichtigste im Leben versäumt. Und das ist der Grund, warum er den Teufel zu Hilfe ruft: Er kann sich selbst nicht aus dieser Krise befreien und glaubt, dass ihm jemand etwas liefern muss, damit er sein Leben leben kann. Und so stürzt er sich in den Strudel des Lebens ausserhalb seiner bürgerlichen Wohnung. Wenn man das Stück so betrachtet, zeigt sich auf überraschend klare Weise, dass Gounod hier ein präzises Porträt seiner Zeit geschaffen hat.

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Inwiefern ein Porträt seiner Zeit? Spielt die Geschichte nicht im Mittelalter? Gounods Stück entstand während der Zeit des Zweiten Kaiserreichs. Das ist eine Zeit des sich rasant entwickelnden Kapitalismus in Frankreich. Das ist ein gewaltiger wirtschaftlicher Aufschwung, bei dem Geld, das Bankenwesen, Aktienspekulationen plötzlich eine wesentliche Rolle spielen, wo aber auch pure Lebenslust, Rausch, Prostitution usw. um sich greifen. Die Zeit ist von einem Gefühl des «Was kostet die Welt?» geprägt, aber auch von der ständigen Angst vor dem Absturz. Es ist ein orgiastischer Tanz auf dem Vulkan. Frankreich sieht sich als führende Kulturnation nicht nur der westlichen Welt. Ausdruck dafür sind die Weltausstellung, der Eiffelturm, aber natürlich in erster Linie und mit der grössten Ausstrahlung in die Welt, die Varietés und Amüsierbetriebe, zu denen in gewissem Sinne auch die Oper gehörte. Gegen diesen allgemeinen Hang zum grenzenlosen Amüsement versuchte die katholische Kirche ihre restriktive Moralauffassung zu behaupten, um sich vor dem Untergang zu retten. Die Folge ist eine allgemeine Bigotterie: Man geht morgens mit frommem Augenaufschlag in die Kirche, aber am Abend vorher war man im Bordell. Diese Welt ist es, die der wohlsituierte Familienvater Faust unwiderstehlich anzieht. Und diese Welt, wie sie das Stück vor uns ausbreitet, hat verblüffende Ähnlichkeiten mit unserer Zeit, in der Konsum und Sexualität so eng miteinander verbunden sind. Der Teufel arrangiert nun die Begegnung mit Marguerite, in die sich Faust auf den ersten Blick verliebt. Wie gross, wie echt ist diese Liebe? Es wäre sicherlich leicht, die Wahrheit dieser Liebe zu bezweifeln und Faust zu einem verlogenen Zyniker zu machen. So etwas interessiert mich aber nicht, ich will die Figuren ernst nehmen und sie so erzählen, dass es mich und die Zuschauer berühren kann. Und bei Gounod ist es ja offensichtlich auch so, dass die unschuldige und unwissende Marguerite nicht von einem skrupellosen Verführer ins Unglück gestürzt wird, sondern dass Faust seine Liebe zu Marguerite wirklich für echt hält, so dass sie vermutlich das grösste Erlebnis seines Lebens bleiben wird. Aber die Mechanismen der Welt des allgegenwärtigen Konsums, die er für das wahre Leben hält, bewirken, dass er

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auch eine menschliche Beziehung nur unter dem Gesichtspunkt des Konsums begreifen und erleben kann. Er stellt sich gar nicht erst die Frage, ob Marguerite die Frau für’s Leben sein kann, ob ihre Beziehung über­haupt eine reale Chance hat. Für ihn ist sie der Gipfel des Verfügbaren, weil sie die Aura des Reinen und Heiligen um sich hat. Das macht den besonderen Reiz aus, weil sie deshalb nicht so leicht zu bekommen ist. Und erschwerter Zugang erhöht bekanntlich den ideellen Wert des Konsumguts. Gounod hat diese Haltung in Fausts Kavatine sehr präzise auskomponiert. Er geniesst den heimlichen Aufenthalt im Zimmer seiner Angebeteten, geniesst die «schöne Einfachheit», übersieht oder ignoriert dabei aber völlig, dass diese Einfachheit nicht Ausdruck eines besonderen Geschmacks, sondern drückender Armut ist. Die Musik zeigt sehr deutlich, wie tief das Gefühl bei Faust geht, wie sehr ihn dieser Moment der Begegnung mit einer ganz anderen Welt bewegt. Gleichzeitig hat das Orchester hier aber auch einen der Ärmlichkeit der Umgebung unangemessen luxuriösen, verfeinerten, parfümierten Klang. Hier ist der Kontrast der Welten Fausts und Marguerites, die riesige soziale Kluft zwischen ihnen unüberhörbar gestaltet, und damit das Grundproblem dieser Beziehung: Da Faust Marguerite nur als besonders schönes Konsumgut wahrzunehmen vermag, ist es ihm unmöglich, sie wirklich zu erkennen. Warum lässt sich Marguerite auf diese Beziehung ein? Merkt sie nicht, dass das nicht stimmt? Das ist einer der heikelsten Punkte des Stoffes – übrigens auch bei Goethe. Es kann allzu leicht geschehen, dass Marguerite zu einem hübschen, aber etwas dummen Mädchen wird, das der durch und durch schlechten Männerwelt zum Opfer fällt und am Ende ihren Trost in einem faden Gottvertrauen findet. Das ist eine Gestalt, die mich nicht interessieren würde, ebenso wenig wie das dahinter stehende Frauenbild. Und auch Gounods Musik scheint mir viel mehr das Porträt einer jungen Frau am unteren Ende der sozialen Leiter zu zeichnen, die irgendwie sehen muss, wie sie in den Strukturen dieser Ge­sell­ schaft zurecht kommt. Aber natürlich träumt sie davon, dass es einmal anders sein könnte, dass sie am Leben der Gesellschaft mit ihren Konsum­ver­lockungen teilhaben könnte. Wir sehen das sehr klar in der Szene, wo sie den Schmuck

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anlegt, den ihr der Teufel als Köder zugespielt hat. Die glitzernden Juwelen sind für sie nicht nur ein Versprechen von Reichtum, der in dieser Welt so überaus wichtig ist. Nicht zufällig vertont Gounod ihre Arie als Walzer, also im Rhythmus eines Tanzes, der damals als erotisch-lasziv, vor allem aber als mondän, der besseren Gesellschaft zugehörig, galt, und darüber hinaus eine zentrale Rolle in der Vergnügungsindustrie der Zeit spielte. Damit verweist er darauf, dass es auch und vor allem die Aspekte von erotischem Lebensgenuss und verheissenem sozialen Aufstieg sind, die Marguerite anziehen und verführen. Marguerite lebt nicht ausserhalb der Welt und der Gesellschaft, sie hat genau wie Faust und alle anderen immer den Imperativ der Vergnügungs-Gesellschaft vor Augen: Du musst anders leben, du darfst nichts verpassen, du musst immer überall dabei sein. Die Be­ziehung mit Faust verheisst ihr die Möglichkeit, diese Forderung zu erfüllen. Marguerite bezahlt diesen Ausbruch aus der ihr zugewiesenen sozialen Rolle mit dem Leben, während Faust anscheinend ungeschoren davonkommt… Wie auch immer es für Faust ausgehen mag, ich sehe sowohl in Marguerite als auch in ihm Opfer der Verhältnisse. Aber mir ist trotzdem wichtig, dass Marguerite bis zum Ende ihre Kraft bewahrt. Auch im Angesicht des Todes wird sie nicht zu dem naiven Mädchen, das Faust in ihr sehen möchte, das sich nun ängstlich in den Schoss Gottes oder gar der Kirche flüchtet, um dem Zugriff des Satans zu entkommen. Ich finde, das wäre eine Deutung, die die Figur klein macht und ihr die Kraft nimmt, den Zuschauer zu berühren. Ich höre auch Gounods Musik nicht so. Ich höre vielmehr, dass sie sich ganz bewusst gegen ein Weiterleben mit Faust entscheidet, weil sie ihn erkannt hat und weil sie erkannt hat, dass diese Beziehung nicht lebens­fähig ist und eigentlich nie das war, was sie geglaubt hat. Sie geht also nicht als hilfloses Opfer in den Tod, kaum wissend, was ihr geschieht und was ihr angetan wurde, sondern als starke und gereifte Frau, die sich entschieden hat und sich nicht mehr umstimmen lassen will. Ob Faust wirklich ganz unbeschadet aus der Geschichte hervorgeht, ist eine Frage, die ich bisher noch nicht beantworten kann. Das Stück gibt hierzu keine eindeutige Auskunft.

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Die Regieanweisung am Ende besagt, dass Faust betet, was bedeuten kann, dass er zum Glauben und damit in das bürgerliche Leben zurückkehrt. Aber es kann auch sein, dass er nach dem Gebet aufsteht und so weitermacht wie bisher, sich also in ein Abenteuer mit der nächsten Marguerite stürzt. Das würde der Bigotterie der Gounod-Zeit durchaus entsprechen. Das Gebet kann aber auch bedeuten, dass ihn das Erlebnis verwandelt hat. Es kann also sein, dass er ein neues Leben beginnt, oder dass er seine Jagd nach dem «ultimativen Kick» einfach fortsetzt. Bisher weiss ich das nicht, und ich möchte mir auch noch Zeit lassen, die Figur zu beobachten, wie sie in unserer Arbeit entsteht. Vielleicht gibt sie uns irgendwann selbst die Antwort. Vielleicht werden wir aber auch nie erfahren, wie es ausgeht. Vielleicht ist das offene Ende, das Gounod vorgesehen hat, ja genau das richtige und der Figur entsprechende. Sie haben aufgezeigt, wie viel das Stück mit Gounods Zeit zu tun hat. Ist das der Grund für die Entscheidung, die Inszenierung optisch im Zweiten Kaiserreich anzusiedeln? Sie sagten, dass es Ihnen im Theater vor allem darauf ankäme, Geschichten zu erzählen, die für den heutigen Zuschauer relevant sind. Wäre es dann nicht naheliegender gewesen, die Handlung in unsere Gegenwart zu transponieren? Zunächst einmal ist diese Geschichte für uns heute immer relevant, egal wo man sie ansiedelt, sei es im Mittelalter, im Zweiten Kaiserreich, heute oder in einer abstrahiert-theatralisierten Welt ohne konkreten historischen Bezug. Relevant ist sie, weil sie von Menschen erzählt, die an einer Welt scheitern, die der unseren sehr ähnlich ist. Mein Lebensgefühl als junger Mensch heute ist stark durch die Furcht geprägt, irgendetwas zu verpassen, nicht genug zu leben, nicht alle Möglichkeiten wahrzunehmen. Ich lebe in einer Welt der zahllosen Möglichkeiten, die mir überall aufgedrängt werden und mich ständig auf­fordern mich zwischen ihnen zu entscheiden und sie auszunutzen. So eine Welt entdecke ich auch bei Gounod. Natürlich ist diese Multi­ optionswelt letztlich eine kapitalistische Inszenierung. Wir werden, wenn wir diesem Druck folgen, zu Konsumenten, für die alles zum Konsum wird, egal, womit wir gerade in Berührung kommen. Gerade im Konsum glauben

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wir, in Zeiten ständiger Verfügbarkeit virtueller Wunschwelten, das wahre Lebensglück zu finden. Gounods Stück befragt diese Haltung und macht die Suggestivkraft der glitzernden Konsumwelt durchschaubar. Er zeigt, wie selbst der Versuch des Durchbruchs zum wahren Leben korrumpiert und im Kreis herumge­trieben wird. Wir werfen also mit Gounod einen Blick hinter die Fassaden dieser glänzenden Inszenierung und erkennen die Strukturen, die da wirksam sind. Eine Übertragung in unsere Gegenwart, die wir durchaus erwogen haben, erschien mir schwierig, weil es zu viele Handlungsmotive gibt, die heute kaum mehr glaubhaft zu machen sind. Dazu gehört z. B. Marguerites offensichtliche Unwissenheit über die sie umgebende Welt eben­so wie die Tat­sache, dass sie von allen Leuten geächtet wird, weil sie ein un­eheliches Kind erwartet. Die Übertragung der Vorgangsstrukturen auf unsere eigene Lebens­­umwelt ist etwas, was man den Zuschauern durchaus zutrauen kann und soll. Ich finde es auch interessant und aufschlussreich, wie viele Parallelen es zwischen den beiden scheinbar so verschiedenen Gesellschaften gibt. Und der Zuschauer wird nicht einfach eine fotografisch genaue Nachbildung seiner Lebenssituation finden, sondern eine verfremdete Darstellung, die das scheinbar Alltägliche – mit Brecht gesagt – «zur Kenntlichkeit verändert«. Sich selbst im Fremden wiederzufinden, das fasziniert mich als Theatergänger immer. Ist das eine Erzählung, die auch in einer Inszenierung von Goethes Drama möglich wäre? Das glaube ich nicht. Goethe geht ganz anderen Fragen nach, er schrieb sein Stück auch unter ganz anderen Verhältnissen. Wie ich schon sagte: Man sollte die beiden Werke als zwei eigenständige Aneignungen des Stoffes mit sehr unterschiedlichen Zielrichtungen und ganz verschiedenen ästhetischen Prämissen ansehen. Dann kann man jedem auf seine Weise gerecht werden. Natürlich will ich als Schauspielregisseur irgendwann auch den Faust von Goethe inszenieren, aber jetzt bin ich erst einmal sehr froh, dass ich dem Stück von Gounod begegnet bin. Das Gespräch führte Werner Hintze

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UNTERGÄNGE DES FAUSTISCHEN Thomas Macho

I. Vor einem Jahrhundert schreibt der ehemalige Mathematiklehrer Oswald Spengler in München an einem monumentalen Werk mit programmatischem Titel: Der Untergang des Abendlandes. Das Abendland verdichtet sich für ihn in einem einzigen Namen: Faust. Mit irritierender Selbstverständlichkeit spricht Spengler von faustischer Mathematik, von faustischen Farben, faustischer Kunst, Religion, Kultur, Moral, Seele, Physik, Naturerkenntnis, Geldwirtschaft oder Technik; faustisch erscheint ihm der Wille zur Macht, die Dynamik fortgesetzter Grenzüberschreitung, das historische Denken, die Wahrnehmung des Unendli­ chen. Im Niemandsland zwischen «Noch nicht» und «Nicht mehr» manifestiert sich die faustische Seele. Kurzum, Faust ist jedermann, Faust ist überall – und Faust wird verschwinden: im Feuer der Götterdämmerung. Denn die «Heimat der faustischen Seele» ist Walhall, «jenseits aller fühlbaren Wirklichkeiten, in fernen, dunklen, faustischen Regionen. Der Olymp ruht auf der nahen griechischen Erde; das Paradies der Kirchenväter ist ein Zaubergarten irgendwo im magischen Weltall. Walhall ist nirgends. Es erscheint, im Grenzenlosen verloren, mit seinen ungeselligen Göttern und Recken, als das ungeheure Symbol der Einsamkeit. Siegfried, Parzival, Tristan, Hamlet, Faust sind die einsamsten Helden aller Kulturen. Man lese in Wolframs Parzival die wundervolle Erzählung vom Erwachen des Innen­ lebens. Die Waldsehnsucht, das rätselhafte Mitleid, die unnennbare Verlassenheit: das ist faustisch und nur faustisch.» Das Adjektiv des Faustischen wird nahezu auf jeder der mehr als 1200 Druckseiten verwendet und gegen das Apollinische der griechischen Antike und das Orientalisch-Magische des frühen Christentums profiliert; zugleich fragt sich der Leser wiederholt, gegen wen sich Spenglers Beschwörungen eigentlich richten.

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Dabei ist die Antwort in gewisser Hinsicht evident: Das Faustische ist das Deutsche, das Nicht-Faustische das Französische. Implizit folgte Spengler hier einer Typologie der Mentalitäten, die vom Dreissigjährigen Krieg bis zum Pfälzischen Erbfolgekrieg, vom Siebenjährigen Krieg bis zu den Befreiungskriegen, vom Deutsch-Französischen Krieg bis zum Ersten Weltkrieg, oft genug zitiert und kommentiert wurde, etwa durch die polemische Entgegensetzung von Höflichkeit und Aufrichtigkeit, Eleganz und Pflichtbewusstsein, Eitelkeit und Tiefe. Vielleicht dachte Spengler, als er Wagners Tristan zum Gipfel der «faustischen Künste» erklärte, auch an den Pariser Opernskandal vom März 1861, als die Tann­häuser-Premiere mit Trillerpfeifen begleitet wurde; vielleicht dachte er an die höhnischen Briefe von Hector Berlioz, aus denen der Wagner-Biograf Friedrich Glasenapp zitiert: «Wagner macht Ziegenböcke aus den Sängern, dem Orchester und dem Chor der grossen Oper. Wagner ist augenscheinlich ein Narr.»

II. Die Zahl der Vertonungen des Faust-Stoffs ist gross. Von Ludwig Spohrs Singspiel aus dem Jahr 1813 bis zu Alfred Schnittkes Oper von 1995 lassen sich fast vierzig Musik- und Bühnenwerke identifizieren, darunter mehr als zwanzig Opern; vor diesem Hintergrund bleibt immerhin plausibel, warum Thomas Mann ausgerechnet einen Komponisten zum Helden seines Romans Doktor Faustus (von 1947) machte. Spenglers Ideal des Faustischen lässt sich in diesen Werken freilich kaum mehr entdecken; nicht selten kippt das überlieferte Pathos in die Travestie, ins Register des Komischen, Unheimlichen, Grotesken, sei es in Wolfgang Rihms Kammeroper Faust und Yorick (1976), nach einem surrealen «Gleichnis» von Jean Tardieu, oder in Schnittkes Aufspaltung des Teufels in eine männliche und eine weibliche Figur (Mephistophela). In Ferruccio Busonis Künstler-Drama sehnt sich Faust nach Genialität und wird doch mit Macht und Reichtum abgefunden; im Vorspiel tritt der Dichter vor den Vorhang und bekennt dem Publikum, was ihn mit Faust verbindet: «So stellt mein Spiel sich wohl lebendig dar, doch bleibt sein Puppenursprung offenbar.» Von solchem «Puppenursprung» handelt noch Alexander Sokurows – auf den Filmfestspielen von Venedig 2011 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter – Faust-Film, den der Regisseur in deutscher, für ihn selbst nicht verständlicher Sprache gedreht

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hat. Sokurow erklärte den Film zum Abschluss einer Tetralogie über die Macht, die er mit den Filmen Moloch (1999), Taurus (2001) und Die Sonne (2005) – über Hitler, Lenin und den japanischen Kaiser Hirohito – begonnen hatte. Sein Faust begräbt zum Schluss den Teufel und bricht auf in die Wüsten eines Jahrhunderts, das ganz andere Dämonen entfesseln wird. Worauf aber zielt Fausts Begehren? Auf Wissen, Macht, die schöpferische Tat? Wie muss der erste Satz des Johannesevangeliums korrekt übersetzt werden? Unter Berufung auf Goethes Tragödie konnte Spengler noch behaupten, «der leidenschaftliche Forscher in einsamen Mitternächten», rufe folgerichtig den Entrepreneur «des neuen Jahrhunderts hervor, den Typus einer rein praktischen, weitschauenden, nach aussen gerichteten Tätigkeit». Fausts Begehren verbindet Wissen, Macht und Reichtum im Vorgriff auf die Zukunft, die vor uns liegende, offene, gestaltbare Zeit. Zu Gounods Zeit – fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des ersten Teils der Tragödie – hat sich die Szene grundlegend gewandelt. Faust ist alt geworden; so viel Zukunft ist nicht mehr übriggeblieben. Am Anfang stehen weder Wort noch Tat, sondern schlicht: «Nichts!! Umsonst befrage ich der lichten Sterne Chor, dem Sinn ist stumm das Weltenall, und keine Stimme flüstert in mein Ohr des Trostes sanften Schall!» (So die deutsche Textfassung der Oper von Julia Behr.) Wenig später verflucht Faust alles, was mit einem Begehren assoziiert werden könnte, das sich auf Zukunft richtet: «Verflucht, was uns mit Trug umspannt, des Himmels Macht, der Seele Trieb, verflucht sei Glück, sei Ruhm und Macht! Der Hoffnung Fluch und Fluch der Lieb’, Fluch dir Geduld!» Fausts Wünsche gelten nun dem Verlorenen, dem Vergangenen, der Jugend und Erotik; die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung verleugnet das heroische Stigma der Einsamkeit, die Heimat in Walhall. Faust ruft den Teufel, der auch prompt erscheint, aber nicht als Pudel, sondern in aristokratischer Gewandung: «Da bin ich! – Gefall’ ich Euch nicht? Was starrt Ihr so in mein Gesicht? Den Degen zur Seit’, die Feder am Hut, und die Tasche voll Gold, ja, keck und voller Mut und angetan wie ein echter Edelmann!» Und wie ein Edelmann aus vergangenen Tagen bietet der Teufel seine Dienstleistungen an: Er offeriert die klassische Trias der Wünsche, nämlich Gold, Ruhm und Macht; doch muss er überrascht zur Kenntnis nehmen, dass Faust von ganz anderen Wünschen gequält wird: «Ein Wunsch mich beseelt, der alles

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vereint. So höre: die Jugend! O gib junges Blut, gib Wonne und Glück. O gib neuen Mut und Kraft mir zurück! O gib süsse Lieb’, Süss-Mägdeleins Kuss, und wonniger Trieb, vereint uns zur Lust!» Der gealterte Forschergeist spricht also Klartext; er träumt von physischer Potenz, von jungen Frauenkörpern und sexuellen Abenteuern; und der Teufel reagiert spontan, indem er ihm ein Bild zeigt, das Fausts Begehren nährt und steigert: die junge Margarete am Spinnrad. In Goethes Faust I war es noch ein Zauberspiegel, der die Schönste erscheinen liess; in Gounods Oper wird der unglückliche Gelehrte durch eine bühnenwirksame «Television» zur Unterschrift verführt. Und während Goethes Faust noch so faustisch (im Sinne Spenglers) war, dass ihm das Risiko der Bedingung des Teufelspakts vertretbar gering vorkam, würde Gounods Faust am liebsten dieses Risiko zum Gewinn erklären: Ihm soll der Teufel gerade solche Augenblicke verschaffen, zu denen er sagen kann «Verweile doch, du bist so schön».

III. Mephistos Spiegelkünste erinnern an die mythische Vorgeschichte der Schönheitswettbewerbe. Als drei Göttinnen einen schlichten Hirten darum baten, die Schönste unter ihnen mit einem goldenen Apfel auszuzeichnen, sträubte sich Paris. Lukian von Samosata, der geniale Spötter und Aufklärer aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, liess den Hirten klagen, wie denn «ein blosser Sterblicher und ein Bauer» als «Richter in einer solchen Sache» amtieren solle. «Das geht über den Verstand eines Kuhhirten: solche Dinge gehören für die hübschen Herren aus der Stadt. Ja, wenn die Frage von drei Ziegen oder jungen Kühen wäre, da wollte ich nach der Kunst entscheiden, welche die schönste sei!» Lukian hatte Recht; die ersten Schönheitswettbewerbe wurden tatsächlich nicht zwischen Göttinnen, sondern auf Viehmärkten ausgetragen. Doch Paris liess sich überzeugen; ihm genügten die magische Vision Helenas und das mehr­fach gegebene Versprechen Aphrodites, seine Werbung um Helena zu unterstützen, um der Liebesgöttin den goldenen Zankapfel zuzusprechen. Weil Aphrodite vergessen hatte zu erwähnen, dass Helena bereits verheiratet war, führte die Entscheidung des Paris zu Krieg und Tod. Im März 1859 brauchte der Teufel keine Spiegel mehr. Spätestens seit Erfindung der Daguerrotypie in den späten Dreissigerjahren des 19. Jahrhunderts

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hätte er seinem Vertragspartner einfach eine Fotografie zeigen können, um ihn zur Unterschrift zu bewegen. Auf diese Weise wurden übrigens noch bis zu den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts Schönheitswettbewerbe veranstaltet: als Wettstreit der Lichtbilder, nicht der abgebildeten Frauen. Die Fotografie wurde zwar nicht allein in Frankreich – etwa durch Daguerre oder Bayard – erfunden, aber doch popularisiert. Die erste häufig fotografierte Persönlichkeit, die nach 1850 eine bemerkenswerte Prominenz erlangte, war Virginia Oldoini, Contessa di Castiglione, eine toskanische Aristokratin und Cousine Camillo di Cavours am Pariser Hof. Die Mätresse Napoleons III. zeigte sich gern in fantasievollen Kostümen und Kleidern, beispielsweise als «Königin der Herzen». Sie wurde mehrfach porträtiert, von George Frederic Watts (1857) oder Michele Gordigia­ ni (1862). Ab 1856 begann sie eine obsessive Zusammenarbeit mit dem Fotografen Pierre-Louis Pierson, der in den folgenden Jahrzehnten mehr als siebenhundert Fotos der Gräfin in den verschiedensten Kleidern und Kostümen produzierte; auf manchen Fotos zeigte sie – höchst ungewöhnlich für die damalige Epoche – ihre nackten Beine oder Füsse (ohne Kopf oder Gesicht). Jedenfalls war der symbolistische Dichter, Dandy und Kunstsammler Robert Anatole Comte de Montesquiou-Fezensac so fasziniert von der Contessa, dass er nicht nur – in dreizehnjähriger Arbeit – eine Biografie der Divine Comtesse ver­fasste, sondern auch einen Grossteil der Fotos erwarb, die nach seinem Tod in den Besitz des Metropolitan Museum of Art übergingen. Gabriele d’Annunzio widmete der Gräfin einen kurzen Prosatext; und ihr Leben wurde zweimal verfilmt: 1942 von Flavio Calzavara (mit Doris Duranti in der Hauptrolle), und 1954 von Georges Combret (mit Yvonne de Carlo). Die Gräfin war stilbildend wie das Zeitalter des Second Empire zwischen 1852 und 1870, dem sie angehörte. Dieses Zweite Kaiserreich, mit dem sich Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk intensiv beschäftigt hatte, wurde autoritär regiert, zugleich jedoch geprägt von der architektonischen Neugestaltung der Metropole Paris, von den Prozessen der Industrialisierung, vom Auftreten künstlerischer Avantgarden und jener Entrepreneurs, die Spengler mit Goethes Faust II in Verbindung bringen wollte. Weder die Bohème noch die Aristokratie passten allerdings zum «Faustischen», das im Untergang des Abendlandes beschworen wurde. Der

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erwähnte Tannhäuser-Skandal von 1861 entsprang beispielsweise der gewohnten Praxis junger aristokratischer Opernbesucher aus dem Jockey Club, das Ballett im zweiten Akt aufmerksam zu beobachten, um nach der Vorstellung mit den Tänzerinnen zu flirten und erotische Beziehungen anzubahnen; Wagner aber hatte zu ihrem Ärger das Ballett, das ihm abgenötigt werden musste, schon im ersten Akt absolviert. Gounod war in diesem Punkt erfahrener; sein zweiter Akt begann mit einer Kirmes, und der fünfte wurde mit der Walpurgis­ nacht eingeleitet. Das Second Empire war eben kein «faustisches» Zeitalter, sondern die Ära der Erfolge Jacques Offenbachs, der sich noch über den ältesten Opernstoff schlechthin – Orpheus und Eurydike – erfolgreich lustig machen durfte; seine Operette Orphée aux enfers wurde am 21. Oktober 1858, also kein halbes Jahr vor Gounods Faust, in Paris uraufgeführt – und endete bekanntlich mit der Erhebung Eurydikes zur Bacchantin. Für kurze Zeit wurde die Moderne mit der Frivolität, aber auch mit einer Art von Freiheit vermählt, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg rasch wieder in Vergessenheit zu geraten drohte. Kaum jemand hat übrigens das Credo dieser Zeit klarer ausgedrückt als die Tänzerin Lola Montez, die zeitweilige Mätresse des Königs von Bayern, die in ihren Memoiren schrieb: «Ich wenigstens glaube mich vollkommen über die Skrupel hinwegsetzen zu können, welche zwar auch das bürgerliche Gesetzbuch hat, welche aber sicherlich nicht der natürlichen Moral entnommen sind. Als mir der König zum ersten Male erklärte, dass er mich lieb gewonnen, dass er es gern sehen würde, wenn ich länger in seiner Residenz verweilte, dass ich nicht nötig haben sollte, von den Almosen des wetterwendischen Volks-Beifalls zu leben, dass ich immerdar rechnen könnte auf seinen Schutz, auf sein Herz, – da dachte ich nur Eins: der, welcher so mit dir spricht, ist ein König.» In Lolas Haltung äussern sich nicht Unterwerfung und Devotion, sondern Stolz und eine ganz unfaustische Souveränität. Demselben König versicherte Lola übrigens bei anderer Gelegenheit, als Königin würde sie mit ihm Krieg führen: «Weil ich als eine Königin auf der ganzen Welt kein Gesetz geduldet haben würde, welches den Männern mehr als den Frauen erlaubt.»

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KLASSISCHER ALS DER KLASSIKER? Gounod, Goethe und das Prinzip des Melodramatischen Anselm Gerhard

Eine französische Oper nach Goethes Faust, das erschien den Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert als Sakrileg, als kriegerischer Akt. Eine Stimme unter vielen ist der Bremer Journalist Friedrich Pletzer mit seiner Kritik vom 1. Februar 1863: «Das Textbuch zu Gounods Faust ist bekanntlich nach Goethe bearbeitet, und zwar in einer Weise, die wohl geeignet wäre, uns das Blut der Entrüstung in die Wangen zu treiben. Die Herren in Paris sind schändlich umgegangen mit der grossen Dichtung Goethe’s und haben mit echt französischer – Unverschämtheit ein Verbrechen an einem der hehrsten Gebilde der Poesie begangen.» Dieser Einschätzung kann in der Sache nicht widersprochen werden. Denn grundsätzlich kann keine Oper der Differenziertheit und dem Nuancenreichtum einer ambitionierten literarischen Vorlage gerecht werden, muss doch bei jeder Bearbeitung für Musik der Text quantitativ – und damit auch qualitativ – erheb­ lich reduziert werden. In der Tat haben Gounod und seine Librettisten Barbier und Carré aus der experimentellen Tragödie Goethes – trotz der Walpurgisnacht in verschiedenen Fassungen ihres fünften Aktes – wenig mehr übernommen als das Liebesdrama. Nicht von ungefähr wurde die Oper in Italien regelmässig unter dem Titel Faust e Margherita gespielt. (Der in Deutschland bis­­weilen noch heute verwendete Titel Margarete steht hingegen weniger für die dramaturgischen Gewichte als für den ängstlichen Versuch, den Abstand von Goethes Vor­lage zu markieren.) Nebenfiguren wie dem Studenten Siébel und Marguerites Bruder Valentin wurden solistische Auftritte zugestanden, in denen diese allerdings als Typen, nicht als Charaktere erscheinen. Zu den er­folg­reich­

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sten Nummern gehört der Soldatenchor im vierten Akt, für Pletzer «von ganz geringem Werthe», obwohl er «dem Publikum am meisten gefällt». (Komponiert hatte Gounod die eingängige Nummer für eine Oper über Iwan den Schrecklichen, ein Projekt, das aus Rücksicht auf die Zensur aufgegeben worden war.) Méphistophélès ist im Gegensatz zu Goethes Figur kein ambivalenter Intellektueller, sondern ein ausschliesslich auf seine satanische Natur reduzierter Teufel. Und Faust hat in der abschliessenden Apotheose als stumm betende Gestalt letzt­lich an Marguerites Erlösung teil; von Goethes Interesse am Metaphysischen, aber auch von den höllisch-fantastischen Abgründen in Hector Berlioz’ Oratorium La damnation de Faust aus dem Jahre 1846 weiss die Oper so gut wie nichts. Nur: Wer sich mit diesen Feststellungen seine Vorurteile bestätigen will, muss sich eine sehr einseitige Lesart der Tragödie zurechtlegen und überdies unterstellen, es sei von vornherein ausgemacht gewesen, dass Goethes erstem Teil ein zweiter folgen und in welche Dimensionen dieser ausgreifen würde. Gewiss ist Gounods Oper melodramatisch. Aber auch der erste Teil von Goethes Faust greift ungewöhnlich oft zu melodramatischen Techniken. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Abkehr von unverrückbaren formalen Konventionen des Theaters: Goethe verzichtet im 1808 publizierten ersten Teil seiner Tragödie auf eine Einteilung in Akte ebenso wie auf die pseudo-aristotelischen Einheiten der Zeit, des Ortes und der Handlung. Über zwanzig verschiedene Schauplätze – vom Himmel über Fausts «enges, gotisches Zimmer» bis hin zum «Harzgebirg» – werden vorgeschrieben. (Eine ungekürzte Aufführung nur dieses ersten Teils, wie sie erst im 20. Jahrhundert versucht werden sollte, dauert länger als vier Stunden – Pausen noch nicht gerechnet!) Aus der Sicht eines Opernkomponisten noch weit wichtiger als solche Freiheiten ist das Gewicht des Musikalischen für Goethes Konzeption: Wiederholt spielt Musik die entscheidende Rolle in Goethes Dramaturgie der schrillen Kontraste und der lyrischen Innerlichkeit. Dies gilt nicht nur für die zahlreichen Lieder Gretchens, Mephistopheles’ und anderer Figuren, sondern auch für den «Glockenklang und Chorgesang», der in Fausts Monolog hineindringt, als dieser «die Schale an den Mund setzt», für «Orgel und Gesang» in der Dom-Szene und nicht zuletzt für die Geister-, Hexen- und eben Soldatenchöre.

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Hinzu kommt aber noch ein weiteres: Goethes Dichtung beginnt mit einem grossen Monolog der Titelfigur, dessen Sprache alle Eigenschaften des Erhabe­ nen ausprägt. Gretchen hingegen und genauso die sie umgebenden Figuren Marthe und Valentin sprechen in kürzeren Versen, deren Vokabular deutlich auf ihren niederen sozialen Status verweist und deshalb nur einer Komödie ange­messen wäre. Insofern hat es nicht nur mit den Eigenheiten des Pariser Theater­systems im 19. Jahrhundert zu tun, sondern auch mit Goethes respektloser Verquickung strikt getrennter Gattungen, dass Gounod seine Partitur zu­­nächst als Oper mit gesprochenen Dialogen konzipierte, bevor er 1860 diese wenigen Dialoge als Rezitative setzte, dennoch aber mit einer einzigen Ausnah­me für Marguerite, Valentin und Siébel in allen Fassungen nur strophische Soli vorsah.

Altbackenes und Altdeutsches Angesichts dieser eminent musiktheatralischen Qualitäten eines ungestümen Dramas aus einer Zeit, in der es die strikte Scheidung in Sprech- und Musiktheater noch nicht gab, überrascht es nicht, dass sich Gounods kompositorische Fantasie vor allem an den Musikeinlagen in Goethes Faust entzündete. Dabei zeigt sich der Pariser Komponist besonders gewandt in der Einbindung der Bühnenlieder in grössere szenische Zusammenhänge. Zwar hat er das berühmte Lied am Spinnrad so spät im Ablauf seiner fünf Akte platziert, dass es für das Funktionieren der Intrige entbehrlich ist: Ausdrücklich heisst es zur Szene «Marguerite au rouet» am Beginn des vierten Aktes, sie könne auch weggelassen werden. Gleichzeitig lässt Gounod aber dieses Genrebild bereits im ersten Akt aufscheinen, wenn Méphistophélès in einer Vision das schöne Mädchen eben am Spinnrad herbeizaubert und das Orchester schnelle Begleitfiguren spielt, wie sie bereits Schuberts – damals in Paris allgemein bekannter – Vertonung ihre charakteristische Nervosität gegeben hatten. Aus dem Lied vom König von Thule hat Gounod den langsamen Satz einer mehrteiligen Arie im Sinne der stereotypen Konventionen gemacht, die damals nicht nur in Italien, sondern – man denke an Agathes grosse Arie im zweiten Akt von Webers Freischütz – auch in der deutschen und französischen Oper galten.

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Selten erscheint dabei der Kontrast zwischen dem langsamen und dem schnellen Teil einer Arie so grell wie hier: In Marguerites Lied evoziert die fremdartige Begleitung die vormoderne, modale Musik des 16. Jahrhunderts, vor allem durch den häufigen Verzicht auf eine klare Kadenz-Harmonik. Das Erwachen erster verliebter Gefühle bei einem braven Mädchen wird von einer altbackenen, ja altdeutschen Musik abgebildet, die nicht von ungefähr Tonfall und Tonart des Orchestervorspiels zum allerersten Bild der Oper, zu Fausts Monolog im Studierzimmer aufgreift. In der anschliessenden «cabaletta», dem schnellen und irreführend als Juwelen-Arie bezeichneten Finalsatz der grossen Arie Margue­rites katapultiert sich dagegen das von teuflischem Schmuck korrumpierte Mädchen mit einem Schlag auf die Bühne der grossen Oper: Wie eine «fille d’un roi», wie eine «Königstochter» singt sie nun halsbrecherische Koloraturen in ihrem einzigen Sologesang, der nicht einer simplen strophischen Anlage folgt. Dennoch folgen die beiden geschlossenen Teile der Arie nicht so unvermit­ telt aufeinander, wie es zunächst scheinen mag: Barbier und Carré haben Sorge dafür getragen, die beiden gegensätzlichen Facetten der Rolle miteinander zu verknüpfen. Bereits im Text des Lieds vom König von Thule ist – in wörtlicher Übersetzung von Goethes Text – von einem «goldnen Becher» die Rede, von «une coupe en or ciselé». Indem Gounod die Harmonisierung seines Liedes genau hier zum ersten Mal nach Dur wendet, aber auch aufgrund des Geniestreichs seiner Librettisten, den Vortrag eines alten Liedes durch kurze Einwürfe zu unterbrechen, in denen Marguerite laut sagt, was ihr durch den Kopf geht, wird das Motiv des Goldes in einen grösseren Zusammenhang eingebunden. Die Aufhellung der Harmonie verweist auf die in Dur stehende «cabaletta», die anschliessende Erinnerung der Begegnung mit Faust – «Il avait bonne grâce, à ce qu’il m’a semblé» («Er hatte gute Manieren, wie mir schien») – darauf, dass für das gut erzogene Mädchen die Mischung aus Gold und Charme fatal sein wird. Aber nicht nur im Lied vom König von Thule hat Gounod ein – historisieren­ des – Kolorit gestaltet, bereits die als «Kermesse» betitelte Szenenfolge im zweiten Akt ist von – deutschem – Lokalkolorit geprägt. Die abgehackten Rhythmen zur Frage «Vin ou bière, bière ou vin» stehen für den Mangel an «bonne grâce», den man in Paris trinkfreudigen Leipzigern unterstellt haben dürfte. Indem

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Bar­bier und Carré hier Goethes Szenen in Auerbachs Keller und vor dem Tor in ein einziges Tableau zusammenbanden, gaben sie Gounod die Chance, einen ganzen Akt als gross angelegte Steigerung anzulegen – ganz so, wie er es aus dem dritten Akt von Meyerbeers Les Huguenots (1836) hatte lernen können. Alles in diesem Tableau läuft auf den abschliessenden Walzer zu, in dessen leeren Quinten und synkopischen Rhythmen sich wiederum tumber deutscher Frohsinn Bahn zu brechen scheint, gleichzeitig aber die Entwicklung angelegt ist, die zu den ebenso eleganten wie vorwärtsdrängenden Bühnen-Walzern eines Tschaikowski führen wird.

Aufstieg ins Paradies

Das komplette Programmbuch Wenn in Marguerites Arie ein literarisches Motiv, dasjenige des Goldes, die un­ vermittelten Kontraste zusammenzwingt, die das Publikum des 19. Jahrhunderts können Sie auf auf der Bühne sehen wollte, so gelingt Gounod im Gesamtplan seiner Oper eine Verkoppelung widerstreitender Handlungsstränge durch einfachste musikalische www.opernhaus.ch/shop Motive. So weist er im zweiten Akt dem Satanisch-Bösen Melodien zu, die im Terzrahmen von der Oktave des Grundtons zur hohen Moll-Terz aufsteigen. oder am Vorstellungsabend im Foyer Méphistophélès’ Strophen vom goldenen Kalb im zweiten Akt («Le veau d’or») verwenden in c-Moll dieselbe melodische Grundidee wie wenig später der sogenannte in dem die empörten Jahrmarktsbesucher den des«Schwerter-Choral», Opernhauses erwerben Teufel zur Rede stellen und mit dem Kreuz zum Rückzug zwingen wollen. Präzise auf die drei Silben «De l’enfer» («Aus der Hölle») erklingen die Töne b, c und des, also die ersten drei Töne der b-Moll-Tonleiter. Diesem einfachen Motiv entspricht auf der Seite der «Guten» dieselbe stufenweise aufsteigende Figur, die allerdings nicht in der Moll-, sondern in der Dur-Terz gipfelt. Auf dem Weg zur «Apothéose» kommt den drei Spitzentönen d, e und fis gleich in mehrfacher Hinsicht entscheidende Bedeutung für Gounods Verfahren einer stufenweisen Steigerung zu. Wenn Marguerite kurz vor ihrem Tod die Engel im Himmel anfleht («Anges purs! anges radieux!»), beginnt ihr Gesang auf dem Ton d, der Quinte in G-Dur. Aber bereits im übernächsten Vers «Dieu juste, à toi je m’abandonne!» werden in einer melodischen Sequenz die Töne e und fis erreicht. Und damit nicht genug: Mit einer nicht ohne Grund

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unter Kitsch-Verdacht stehenden Technik schraubt Gounod die mitreissende Melodie – wie ein Schlagerkomponist des 20. Jahrhunderts – zweimal jeweils eine Tonstufe höher: Marguerite hebt von Neuem auf der Quinte e in A-Dur an und schliesslich ein drittes Mal auf fis in H-Dur. Der stufenweise Aufstieg von Marguerites Seele ins Paradies endet aber natürlich nicht in H-Dur, sondern erst mit dem liturgischen Ostergesang im «reinen» C-Dur. Im Orchesterzwischenspiel vor dieser Apotheose stimmen die Streicher nochmals den charakteristischen Tonleiterausschnitt an, auch hier zweimal sequenziert, zunächst vom d über e und fis nach g, dann vom e über f und g nach a und schliesslich vom f über g und a nach h. Genau diese Aufwärtsbewegung bereitet aber nicht nur die verklärende Pantomime des Schlussbildes vor, sie ist vom ersten Akt an semantisch eindeutig konnotiert. Denn in den Schlusstakten des in Fausts Studierzimmer hineindringenden Chors der Bauern ruft ein offensichtlich religiös ergriffener Faust voller Emphase dreimal «Dieu!» aus – auf den Tönen d, e und fis.

Individuelle und kollektive Psyche Faust ist heute in Frankreich – zusammen mit Bizets Carmen – die meistgespiel­ te französische Oper. Dieser unglaubliche Erfolg eines 1819 geborenen Kom­ po­nisten, dessen Wandlung vom Kirchenmusiker zum Bühnenkünstler alles andere als selbstverständlich gewesen war, erklärt sich nicht nur durch die hohe Zahl ohrwurmverdächtiger Melodien. Indem Gounod Versatzstücke der musikalischen Tragödie und den lockeren Konversationston einer bürgerlichen Komödie systematisch miteinander zu vermischen und aufeinander zu beziehen wusste, ist ihm in der opernhistorischen Situation der 1850er Jahre etwas charakteristisch Neues gelungen – besonders auffällig in der ebenso instabilen wie nervösen Begleitung der ersten Begegnung Fausts und Marguerites, wenn ein unablässig wiederholter Quintton der Violinen zu den Worten «Ne permettrez-vous pas, ma belle demoiselle» verdeutlicht, dass hier noch alles in der Schwebe ist. Aber auch der leichte Tonfall von Siébels Strophen am Beginn des dritten Aktes (in denen zur Liebeserklärung an Marguerite übrigens wieder eine Melo­die sequenzierend zu den Spitzentönen d, e und fis geführt wird) steht

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dem lockeren Gespräch auf dem Trottoir näher als dem Pathos der grossen Oper. An Stelle der Staatsaktionen, die Meyerbeers erfolgreiche historische Opern ge­­prägt hatten, aber auch noch 1867 in Verdis Pariser Don Carlos eine so wichti­ge Rolle spielen sollten, scheint Geschichte in Gounods Faust nur noch als historisierendes Kolorit auf, sie steht nicht mehr im Fokus einer letztlich politischen Dramaturgie. Damit war aber der Beweis gelungen, dass in einer Oper französi­scher Sprache mit höchstem tragischen Anspruch nicht das «Kollektive», sondern auch die «individuelle Psyche» des Menschen die grandiose Tonlage garantieren kann, die an der Pariser Opéra erwartet wurde – 1869 übernahm die damals noch «Académie Impériale de Musique» genannte Insti­ tution die ur­sprünglich für das nachrangige Théâtre Lyrique am Boulevard du Temple komponierte Oper. An der Rue Le Peletier und später im Palais Garnier sollte sich Gounods Werk bis zum Umzug der Opéra an die Bastille im Jahre 1989 als die meistgespiel­te Oper überhaupt erweisen, mit über 2500 Aufführungen in 130 Jahren. Wie genau Gounod solche wirkungsästhetischen Fragen reflektiert hat, zeigt eine Überlegung in seinen postum erschienenen Memoiren: «Das Publikum hat das Recht von einem dramatischen Werk zu erwarten und zu fordern, dass es die Instinkte anspricht. Nun beruht ein dramatisches Werk nicht ausschliesslich auf formalen und stilistischen Qualitäten: Diese Eigenschaften sind gewiss wesentlich; aber sie sind nicht die einzigen und in einem gewissen Sinn auch nicht die ersten: sie konsolidieren und bekräftigen den Erfolg im Theater, aber sie begründen ihn nicht. Das Theaterpublikum ist ein Kraftmesser: Es braucht den Wert eines Werks nicht zu kennen; es misst nur seine leidenschaftliche Potenz und den Grad der Emotion, das heisst, was eigentlich ein dramati­ sches Werk ausmacht, Ausdruck dessen, was in der individuellen oder kollektiven Psyche des Menschen vorgeht.» In der Mitte des 19. Jahrhunderts suchte man aber nicht nur die Vermischung komischer und tragischer Elemente, wie sie Victor Hugo und Alessandro Manzoni schon in den 1820er Jahren für das Sprechtheater gefordert hatten und wie sie eben bereits Goethe in seinem anti-klassischen Drama realisiert hatte. Bei der Anverwandlung einer letztlich Shakespeare verpflichteten Dramaturgie stellte sich in der Oper noch weit schärfer die Frage, wie solche widerstreitenden

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Elemente – «jene unendliche Vielfalt in der Sujetwahl», um nochmals aus Gounods Memoiren zu zitieren – zu einem organisch wirkenden Ganzen gefügt werden konnten.

Klassizistisches Ebenmass Genau aus einer solchen, im eigentlichen Sinne kompositorischen Perspektive wird begreiflich, warum Gounods erfolgreichste Oper trotz der Vielzahl verschiedener Fassungen («Urfassung» für das Théâtre Lyrique 1859, RezitativFassung für Strassburg 1860, Ergänzungen für die Londoner Erstaufführung 1863, Neufassung mit Balletten für die Pariser Opéra 1869), trotz der Hinzufügung und Streichung mehrerer Nummern auf so auffällige Weise von Symmetrien geprägt ist. Im zentralen dritten Akt geht es allein um die Liebe Fausts und Marguerites. Der zweite und der vierte Akt geben den Blick auf die Gesellschaft frei, genau dort spielen Valentin und der Soldatenchor ihre auch musikalisch so prägnante Rolle. Der erste und der letzte Akt sind hingegen auf den Pakt Fausts mit Méphistophélès fokussiert. Insofern ist es konsequent, dass Gounod eine zunächst für den fünften Akt konzipierte – und wiederum strophisch angelegte – Wahnsinnsarie Marguerites nicht in seine letzte Fassung aufgenommen hat (die Musik ist nicht überliefert), auch wenn in seiner harmonisierenden Gestaltung der finalen Katastrophe natürlich Marguerite neben den beiden männlichen Hauptrollen auftreten musste. Aus ihrer letzten Liebeserklärung in der Kerkerszene – «Oui, c’est toi… je t’aime» – entwickelt sich ein kurzes Duett mit Faust, das nochmals den an der «individuellen Psyche» orientierten Konversationston anschlägt, der zu den wichtigsten Neuerungen von Gounods Musiksprache gehört. Auch hier hat der Komponist eine extrem eingängige Melodik gefunden, die trotz aller harmonischen Freiheiten und dem charakteristischen Einsatz von Sequenztechniken mit ihrer klaren Gliederung in zwei- und viertaktige Phrasen ein fast klassizistisch anmutendes Ebenmass ausprägt. Aufgrund solcher feinsinnig austarierten melodischen Strukturen, mehr noch aber angesichts der symmetrischen Ge­samt­ konzeption der Partitur ist Gounods Oper letztlich entschieden klassizistischer ausgefallen als das Drama Goethes, das erst im späteren 19. Jahrhundert auf

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durchaus unangemessene Weise als «klassisch» verklärt wurde. Wie Egon Voss in einem hellsichtigen Essay festgehalten hat, «erscheint Gounods Oper wie der Versuch, dem Goetheschen Faust jenes klassische Mass zu verleihen, das er als Drama zwar nicht hat, das ihm als Werk eines Klassikers aber zukommt».

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Bertolt Brecht

Von der Kindesmörderin Marie Farrar Marie Farrar, geboren im April Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise Bislang angeblich unbescholten, will Ein Kind ermordet haben in der Weise: Sie sagt, sie habe schon im zweiten Monat Bei einer Frau in einem Kellerhaus Versucht, es abzutreiben mit zwei Spritzen Angeblich schmerzhaft, doch ging’s nicht heraus. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. Sie habe dennoch, sagt sie, gleich bezahlt Was ausgemacht war, sich fortan geschnürt Auch Sprit getrunken, Pfeffer drin vermahlt Doch habe sie das nur stark abgeführt. Ihr Leib sei zusehends geschwollen, habe Auch stark geschmerzt, beim Tellerwaschen oft. Sie selbst sei, sagt sie, damals noch gewachsen. Sie habe zu Marie gebetet, viel erhofft. Auch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. Doch die Gebete hätten, scheinbar, nichts genützt. Es war auch viel verlangt. Als sie dann dicker war Hab ihr in Frühmetten geschwindelt. Oft hab sie geschwitzt Auch Angstschweiss, häufig unter dem Altar. Doch hab den Zustand sie geheim gehalten Bis die Geburt sie nachher überfiel. Es sei gegangen, da wohl niemand glaubte Dass sie, sehr reizlos, in Versuchung fiel. Und ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. An diesem Tag, sagt sie, in aller Früh Ist ihr beim Stiegenwischen so, als krallten Ihr Nägel in den Bauch. Es schüttelt sie. Jedoch gelingt es ihr, den Schmerz geheimzuhalten. Den ganzen Tag, es ist beim Wäschehängen Zerbricht sie sich den Kopf; dann kommt sie drauf Dass sie gebären sollte, und es wird ihr Gleich schwer ums Herz. Erst spät geht sie hinauf. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. Man holte sie noch einmal, als sie lag:


Schnee war gefallen und sie musste kehren. Das ging bis elf. Es war ein langer Tag. Erst in der Nacht konnte sie in Ruhe gebären. Und sie gebar, so sagt sie, einen Sohn. Der Sohn war ebenso wie andere Söhne. Doch sie war nicht so wie die anderen, obschon: Es liegt kein Grund vor, dass ich sie verhöhne. Auch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. So will ich also weiter denn erzählen Wie es mit diesem Sohn geworden ist (Sie wollte davon, sagt sie, nichts verhehlen) Damit man sieht, wie ich bin und du bist. Sie sagt, sie sei, nur kurz im Bett, von Übelkeit stark befallen worden und, allein Hab sie, nicht wissend, was geschehen sollte Mit Mühe sich bezwungen, nicht zu schrein. Und ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. Mit letzter Kraft hab sie, so sagt sie, dann Da ihre Kammer auch eiskalt gewesen Sich zum Abort geschleppt und dort auch (wann Weiss sie nicht mehr) geborn ohn Federlesen So gegen Morgen. Sie sei, sagt sie Jetzt ganz verwirrt gewesen, habe dann Halb schon erstarrt, das Kind kaum halten können Weil es in den Gesindabort hereinschnein kann. Auch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen. Dann zwischen Kammer und Abort, vorher sagt sie Sei noch gar nichts gewesen, fing das Kind Zu schreien an, das hab sie so verdrossen, sagt sie Dass sie’s mit beiden Fäusten ohne Aufhörn, blind So lang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie. Hierauf hab sie das Tote noch gradaus Zu sich ins Bett genommen für den Rest der Nacht Und es versteckt am Morgen in dem Wäschehaus. Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf vor allem. Marie Farrar, geboren im April Gestorben im Gefängnishaus zu Meissen Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen. Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten Und nennt «gesegnet» euren schwangeren Schoss Wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid gross. Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.


FAUST CHARLES GOUNOD (1818–1893) Oper in fünf Akten Libretto nach Johann Wolfgang von Goethe von Jules Barbier und Michel Carré Uraufführung 19. März 1859, Théâtre Lyrique, Paris

Personen

Faust

Tenor

Méphistophélès Valentin

Bariton

Marguerite Siébel

Bass

Sopran

Mezzosopran

Marthe Wagner

Alt Bass

Junge Mädchen, Landleute, Studenten, Soldaten, Bürger

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ACTE PREMIER

ERSTER AKT

N° 1 INTRODUCTION

NR. 1 INTRODUKTION

SCÈNE I

ERSTE SZENE

Le cabinet de Faust. Il fait nuit. Faust est assis devant une table chargée de parchemins. La lampe est près de s’èteindre. Un livre est ouvert devant lui.

Fausts Studierzimmer. Nacht Faust sitzt an einem mit Pergamenten bedeckten Tisch. Die Lampe ist am Erlöschen. Ein Buch liegt geöffnet vor ihm.

N° 2 SCÈNE ET CHŒUR

NR. 2 SZENE UND CHOR

FAUST

FAUST

Rien! En vain j’interroge, en mon ardente veille, La nature et le Créateur; Pas une voix ne glisse à mon oreille Un mot consolateur! J’ai langui, triste et solitaire, Sans pouvoir briser le lien Oui m’attache encore à la terre! Je ne vois rien! Je ne sais rien!

Nichts! Vergeblich befrage ich fieberhaft Die Natur und den Schöpfer; Keine Stimme flüstert meinem Ohr, Ein tröstendes Wort! Ich sehne mich, traurig und allein, Ohne die Kraft, die Kette zu zerreissen, Die mich noch an die Erde bindet. Ich sehe nichts! Ich weiss nichts!

Il ferme le livre et se lève. Le jour commence à poindre. Faust va ouvrir sa croisée.

Er schliesst das Buch und steht auf. Der Morgen graut. Faust öffnet das Fenster.

Le ciel pâlit! – Devant l’aube nouvelle La sombre nuit S’évanouit!

Der Himmel wird hell, – Vor der neuen Dämmerung Hat sich die dunkle Nacht Zurückgezogen!

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Verzweifelt

Encore un jour! Encore un jour qui luit! O mort, quand viendras-tu m’abriter sous ton aile? Eh bien! puisque la mort me fuit, Pourquoi n’allé-je pas vers elle?

Wieder ein Tag! Wieder ein Tag, der heraufdämmert! O Tod, wann deckst du mich mit deinem Flügel? Nun gut! Wenn der Tod mich flieht, Warum komme ich ihm nicht entgegen?

Il saisit une fiole sur la table.

Er nimmt eine Phiole vom Tisch.

Salut! ô mon dernier, matin! J’arrive sans terreur au terme du voyage; Et je suis, avec ce breuvage, Le seul maître de mon destin!

Sei gegrüsst, o mein letzter Morgen! Ich erreiche ohne Schrecken das Ende der Reise; Und mit dieser Arznei bin ich Der alleinige Meister meines Schicksals!

Il verse le contenu de la fiole dans une coupe en cristal. Au moment où il va porter la coupe à ses lèvres, des voix des jeunes filles se font entendre au dehors.

Er giesst den Inhalt der Phiole in eine Kristallschale. In dem Moment, da er die Schale an die Lippen heben will, werden Stimmen von jungen Mädchen aus der Ferne vernehmbar.

CHŒUR

CHOR

Ah! Paresseuse fille Qui sommeille encor! Déjà le jour brille

Faules Mädchen, Das noch schläft! Schon strahlt der Tag 59


Programmheft FAUST Oper von Charles Gounod Premiere am 3. November 2013, Spielzeit 2013/14 Wiederaufnahme am 20. September 2016, Spielzeit 2016/17

Herausgeber

Intendant

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

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Druck

Quellen: Texte: Die Handlungserzählung, das Gespräch mit Jan Philipp Gloger und die Essays von Thomas Macho und Anselm Gerhard entstanden für dieses Programmheft. – Johann Peter Eckermann: «Gespräche mit Goethe». Weimar, Gustav Kiepenheuer Verlag 1918. – Bertolt Brechts «Hauspostille». Mit Anleitungen, Ge­sangs­ ­­noten und einem Anhange. Berlin, Propyläen-Verlag 1927. Bilder: Die Klavierhauptprobe am 24. Oktober 2013 wurde fotografiert von T + T Fotografie/Tanja Dorendorf Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach­­­träglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

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Opernhaus Zürich Andreas Homoki Werner Hintze Carole Bolli François Berthoud Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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Horego AG

Zürcher Theaterverein

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