Idomeneo

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IDOMENEO

WOLFGANG AMADEUS MOZART 1


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IDOMENEO WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756 – 1791)




HANDLUNG Erster Akt Ilia, eine trojanische Prinzessin und Kriegsgefangene auf Kreta, ist verzweifelt: Sie bekämpft in sich die Liebe zu Idamante, Sohn des kretischen Königs Idome­ neo. Der Verlust ihrer Familie im trojanischen Krieg hat tiefe Wunden geschlagen. Idamante wiederum denkt, dass Ilia ihn nicht liebt, weil sein Volk die Trojaner vernichtet hat. Er versucht, sie durch die Freilassung der trojanischen Gefangenen zu gewinnen. Elettra, die von Argos nach Kreta geflohen ist, nachdem ihr Bruder Orest die Mutter tötete, ist über die Freilassung der Trojaner empört. Auch sie liebt Idamante. Als Idomeneos Vertrauter Arbace die Nachricht überbringt, dass sein Herr bei der Überfahrt nach Kreta in einem Meeressturm ums Leben gekommen sei, stürzt Idamante verzweifelt zum Strand. Elettra befürchtet, dass Idamante nun als neuer König Ilia zur Frau nehmen wird, und lässt ihren verletzten Gefühlen freien Lauf. Doch Idomeneo hat den Sturm überlebt und findet sich nach zehn Jahren Abwesenheit, vom Krieg schwer traumatisiert, in seiner Heimat wieder. Er wird von seinem Schwur verfolgt, den er in höchster Seenot dem Meeresgott Neptun geleistet hat: Wenn er gerettet wird, will er dem Gott den ersten Menschen opfern, der ihm begegnet. Idomeneo ahnt, dass ihn der Schatten des Ermor­ deten Tag und Nacht beschuldigen wird. Da kommt das Opfer – es ist Idamante, sein eigener Sohn. Idamante, zu­ nächst überglücklich, seinen verschollenen Vater wieder zu haben, muss erleben, wie er von seinem Vater schroff zurückgewiesen wird. Die Bevölkerung von Kreta feiert die Rückkehr des Helden.

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Zweiter Akt Idomeneo klärt Arbace über seine schreckliche Pflicht auf, den Sohn töten zu müssen. Als Ausweg aus seinem Dilemma will er Idamante mit Elettra nach Argos fortschicken. Ilia ist auf dem Weg, sich von ihrer Trauer zu verabschieden, und bittet Idomeneo, ihr den fehlenden Vater zu ersetzen. Idomeneo erkennt dahinter Ilias Liebe zu Idamante und die Gegenseitigkeit dieser Liebe. Verzweifelt sieht er sich einem inneren Sturm der Gefühle ausgesetzt, der den ersten Sturm bei weitem übertrifft. Elettra träumt von ihrer Rückkehr nach Hause und einem Leben mit Ida­ mante. Idomeneo drängt Elettra und Idamante zur Abfahrt. Doch sie wird vereitelt: Ein Sturm erhebt sich und ein Ungeheuer ergreift Besitz vom Land. Gewalt und Schrecken breiten sich aus. Idomeneo bekennt sich schuldig und bietet sich selbst dem Meeresgott als Opfer an.

Dritter Akt Ilia beklagt ihr Schicksal. Idamante will aufgrund seiner unerfüllten Liebe zu Ilia und der Härte des Vaters den Tod im Kampf gegen ein Ungeheuer suchen. Von seiner Entschlossenheit erschreckt, gesteht ihm Ilia ihre Liebe. Die beiden werden durch Elettra und Idomeneo überrascht. Vom Vater erneut brüsk abge­ wiesen, beschliesst Idamante, in die Einsamkeit zu gehen und zu sterben. Arbace übermittelt Idomeneo die Forderung des Volkes nach Frieden. Idomeneo bekennt nun öffentlich, dass er seinen Sohn umbringen muss. Idamante kehrt entkräftet zurück. Er hat das Ungeheuer getötet und ist bereit, sich dem Vater freiwillig als Opfer anzubieten. Idomeneo ist jetzt ent­ schlossen zur Opferung. Doch da tritt Ilia dazwischen und bietet sich anstelle von Idamante als Opfer an. Sofort erklingt eine Stimme und verkündet, dass Idomeneo nicht mehr länger König sein solle. Idamante werde der neue Herr­ scher und Ilia seine Frau. Idomeneo erkennt in Idamante ein neues Ich. Überwältigt von Gefühlen der Erniedrigung, will Elettra ihrem Bruder Orest in die Unterwelt folgen. Das Volk feiert das Leben.

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VOM LEBEN GEPRÜFT Ein Gespräch mit Regisseurin Jetske Mijnssen über die Figuren in Mozarts «Idomeneo»

Jetske Mijnssen, Mozarts Idomeneo emotionalisiert die Zuhörer wie weni­ge andere Opern: Wer das Werk einmal erlebt hat, zeigt sich meistens Jahre später noch überwältigt. Wie hast du reagiert, als die Anfrage aus Zürich kam, den Idomeneo zu inszenieren? Im Moment der Anfrage musste ich sofort an mein erstes Erlebnis mit dem Stück denken und daran, was die erste Arie, Ilias, «Padre, germani», in mir ausgelöst hat. Ich sass in der Amsterdamer Oper völlig ahnungslos auf meinem Sitz und fühlte mich beim ersten gesungenen Ton plötzlich so, als ob ein Meteorit in mir eingeschlagen hätte. Ich war in meinem tiefsten Inneren getroffen und von einem Moment auf den anderen wie verwandelt. Diese Arie war wie ein Erweckungserlebnis für mich. Als die Anfrage aus Zürich kam, ging mir daher sofort das Herz auf. Von meinen Regie-Kollegen höre ich allerdings oft, das sei zwar wunderschöne Musik, aber es gebe so wenig Handlung und sei daher schwer zu inszenieren. Trifft das zu? Gibt es wenig Handlung? Überhaupt nicht. Es mag vielleicht äusserlich wenig geschehen und das Stück sogar stellenweise wie ein Oratorium wirken, aber die inneren Konflikte in diesem Stück sind enorm aufreibend. Im Laufe des Abends absolvieren wir mit den Figuren Seelenreisen, die uns schwindeln lassen. Hinzu kommt, dass die Figuren extrem modern gezeichnet sind. Ich muss zugeben, dass ich das zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem Stück in dieser Form zunächst nicht erwartet hätte. Das hat mich wirklich umgehauen. Damit deutest du das antike Gewand an, in das die Figuren eigentlich gekleidet sind: Die Geschichte spielt ja kurz nach dem Trojanischen Krieg.

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Der Krieger und Kreterkönig Idomeneo kehrt in seine griechische Heimat zurück und trifft dort auf seinen Sohn Idamante, auf die trojanische Gefangene Ilia und die im Exil lebende Elettra, Tochter des Agamemnon. Der antike Hintergrund der Geschichte bildet gewissermassen die Folie, den Faltenwurf. Daraus schälen sich aber Figuren heraus, die von Mozart un­ gemein diffe­renziert gestaltet und mit schier undurchschaubar vielen psycho­ logischen Ebenen und Schattierungen gezeichnet sind. Sie alle sind so nah an uns, dass sie unsere eigene innere Seelenwelt wirklich spiegeln, ja sogar Gefühle in uns auslösen, von denen wir vielleicht noch gar nicht wussten, dass wir sie haben. Idomeneo, Ilia, Idamante, Elettra und sogar Idomeneos treuer Diener Arbace verspüren grösste Schmerzen, sie müssen mit Verlust, Abschied und Trennung umgehen, sie sind vom Leben gebeutelt und versuchen trotzdem, Mensch zu sein.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Den tragischen Knoten der Geschichte bildet ein Gelübde, das Idomeneo dem Meeresgott Neptun gegenüber abgelegt hat. Für den Fall seiner www.opernhaus.ch/shop Rettung aus Seenot verspricht er Neptun, jenen ersten Menschen zu opfern, den er nach seiner Rettung zuerst erblickt. Es ist sein Sohn oder amEineVorstellungsabend im Foyer Idamante. grauenvolle Verstrickung … Ja. Sein eigenes Kind opfern zu müssen, wofür auch immer, ist etwas völlig Undenkbares. Wir kennen das Kinderopfermotiv jedoch aus vielen des Opernhauses erwerben antiken und biblischen Quellen, etwa aus der Episode um Jephta, der seine Tochter opfern soll, oder durch Euripides’ Tragödie Iphigenie in Aulis. Ich glaube, dass dieses Motiv eine sehr tiefe, komplexe Bedeutung hat und vielleicht letztendlich als Aufforderung für das Ablegen des egoistischen Anspruchs verstanden werden kann. Das ist aber etwas, was sich nicht inszenieren lässt und sich vielleicht allein über die Musik vermitteln wird.

Es verwundert nicht, dass Idomeneo im Laufe der Geschichte immer wieder mit dem Meeresgott hadert. Neptun ist ein Gott, der eng mit Idomeneo verknüpft ist, aber nie explizit auftritt. Neptun ist für mich denn auch ein Fantasiebild, eine Halluzination Idomeneos, zumindest etwas, was mit seinem tiefsten Inneren zu tun hat. Das wird sehr

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deutlich in seiner Arie «Fuor del mar» im zweiten Akt (Dem Meer entronnen, ist ein Meer in mir), die sicher nicht ohne Grund ziemlich genau in der Mitte des Stücks steht und für mich eine Schlüsselarie ist. Idomeneo vergleicht das Wüten des Meeres mit seiner eigenen Unruhe und Existenzangst. Die Arie ist so stürmisch, dass man das Gefühl hat, dass Idomeneos inneres, aufgewühltes Meer fast ein Bild des Wahnsinns ist. Durch seinen Schwur muss Idomeneo zum Täter werden, und gleich­ zeitig ist er Opfer, weil er an seinen Schwur gebunden ist und weil es sein eigener Sohn ist, den er umbringen soll. Was bedeutet das für deine Inszenierung? Wir dürfen nicht vergessen: Idomeneo war zehn Jahre lang im Krieg. Und wir wissen, was der Krieg mit Menschen macht, welche Traumata, Ver­ letzungen und seelischen Narben dies mit sich bringt. Davon sind die nächsten Ge­nerationen unmittelbar betroffen, denn diese Traumata werden immer weiter­gegeben. Für mich ist es klar, dass der Krieger Idomeneo solche Narben in seiner Seele hat und daher bei seiner Rückkehr keine Beziehung mit seinem Sohn aufbauen kann. Es ist typisch für kriegstraumatisierte Menschen, dass sie kalt gegenüber ihren eigenen Kindern sind und nicht über das Geschehene reden wollen. Sie drücken ihren Schmerz weg. In Holland zum Beispiel ist das noch immer sehr spürbar: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben alle versucht, das Leben wieder aufzubauen, und dabei ihren Schmerz verdrängt. Die Wunden sind erst im Alter wieder hochgekommen, aber da war es dann oft zu spät, und die eigenen Kinder waren schon zu Opfern geworden. Idomeneo ist oft steinkalt, er ist bedrohlich, aggressiv, miss­ trauisch. Das schockiert seinen Sohn Idamante zutiefst, der ihn ja immer wieder fragt, warum er so grausam zu ihm ist. Das ist schrecklich und ist nicht ohne Folgen für Idamantes Persönlichkeit. Idomeneo ist ein Kriegsgeschädigter, aber er ist vor allem auch der Herrscher, ein Machtmensch, dem es schwerfällt, Schwäche zuzulassen. Ja, und er kämpft während des ganzen Stücks dagegen. Idomeneo versucht immer wieder, sich als König aufzubauen, versucht, seine Verletzungen

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zu vertuschen. Wenn im dritten Akt ein grauenhaftes Monster im Land wütet – für mich ein Bild für den Krieg –, möchte er als König unbedingt wieder wahrgenommen werden und für sein Volk da sein, das von ihm fordert, etwas gegen das Unheil im Lande zu tun. Dadurch fühlt er sich in seiner alten Funktion als König erneut bestätigt und empfindet neue Kraft. Es überrascht nicht, dass er ausgerechnet in dieser Situation dann auch zum ersten Mal tatsächlich bereit ist, seinen Sohn umzubringen. Die Vater-Sohn-Ebene ist eng verknüpft mit Ilia, einer Fremden im Land, die Idamante liebt. Und auch sie ist eine seelisch schwer verletzte Figur. Ilia, die aus Troja stammt und ihre ganze Familie an die Griechen verloren hat, muss ausgerechnet im Feindesland, in der Fremde, ein neues Leben aufbauen. Sie ist innerlich zerrissen, weil sie bereits eine neue Liebe zu Idamante spürt, aber gleichzeitig ist sie ihrer Familie verbunden und in tiefer Trauer. Man muss sich unbe­dingt bewusst machen, was sie alles verloren hat. Das hat für mich eine unglaubliche Bedeutung. Es muss unfassbar schwer sein, mit einer so grossen Wunde etwas Neues aufzubauen – ein Leben, aber auch eine Beziehung. Darin liegt eine schwierige Aufgabe für Ilia und Idamante.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Iliades und Idamante sind also kein klassisches Liebespaar … Opernhauses erwerben Nein, Mozart geht einen anderen Weg. Die beiden sind zunächst noch gar nicht bereit füreinander. Sie brauchen Zeit, bis sie sich wirklich einander nähern können. Die Liebe ist von Anfang an spürbar, aber beide sind der­mas­sen verletzlich, zerbrechlich und mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt, dass ihre Annäherung nur ganz vorsichtig vonstatten gehen kann. Darin liegt eine grosse Ehr­lichkeit und Aufrichtigkeit. Sie finden erst dann richtig zueinander, wenn der Verlust des Anderen droht: Im dritten Akt eröffnet Idamante Ilia, in den Krieg ziehen zu wollen. Sein Vater weist ihn ab, und auch Ilia empfindet er als kalt. Erst in diesem Moment, im Moment des möglichen Todes von Idamante, gesteht ihm Ilia ihre Liebe. Ihre Stimmen münden zum ersten Mal in dieser Oper in ein Duett, wie es schöner nicht sein könnte. Es ist die einzige positive Insel in dieser Oper, wie das wiederge­

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fundene Paradies. Es ist eine unglaubliche Tiefe und Verbundenheit der beiden spürbar, und dennoch empfinde ich selbst in diesem Moment noch Zurückhaltung. Im grossen Kontrast zu Ilias und Idamantes Charakter steht nun Elettra, die in vielen Inszenierungen gerne als oberflächliche Hysterikerin gezeigt wird. Mozart hat diese Figur aber überhaupt nicht eindimensional angelegt! Ihre Auftritte sind natürlich sehr effektvoll, aber wenn man den feinen Ver­äste­ lungen der Musik nachspürt, entdeckt man auch hier eine zutiefst verletzte Figur. Das alles bringt ja schon ihr biografischer Hintergrund mit sich, der im Grunde noch eine Steigerung von Ilias Familientragödie darstellt: Elettras eigene Familie hat sich gegenseitig umgebracht. Diese grausame Familie – der Vater Agamemnon, der sein Kind Iphigenie (Elettras Schwester) opfert, die Mutter Klytemnästra, die den Vater tötet, der Sohn Orest, der die Mutter umbringt – das ist der Rucksack, den Elettra zu tragen hat. Elettra hat gelernt, dass man nur durch Rache überleben kann. Sie ist erfüllt von einer heftigen, obsessiven Liebe zu Idamante und kann sich nicht vorstellen, dass Idamante sie nicht liebt. Gerade deshalb wird sie nicht zum Ziel kommen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Im des dritten Akt verknüpft Mozart im Quartett «Andrò ramingo e sorte», Opernhauses erwerben dem einzigen grossen Solo-Ensemble in dieser Oper, Elettra mit den anderen drei Hauptfiguren über das Gefühl des Leids und der Ver­ zweiflung. Die Sympathie zu dieser Figur finden wir auch hier über ihre Verletzung. Sie wandelt diese Wunden nur immer wieder in Rache um, projiziert ihren Schmerz nach aussen. Tag und Nacht trägt sie die Dämonen ihrer Familie in sich und muss damit irgendwie klarkommen. Sie ist jedenfalls nicht ohne Grund wütend. Wir verspüren Mitleid, wenn sie in ihrer Arie «Idol mio» ehrlich glaubt, mit Idamante in ihre Heimat fahren zu können, und dann bitter enttäuscht wird.

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Es mag paradox klingen, aber der Idomeneo ist einerseits ein Kammerspiel für fünf Personen und andererseits eine grosse Choroper. In keiner anderen Oper Mozarts wird dem Chor so viel Raum gegeben. Welches ist seine Rolle? Die Auftritte des Chores haben einen eigenen Rhythmus: Sie sind wie Wellen im Meer, die auf den Strand treffen, sich zurückziehen und ineinanderfliessen. Auch wenn der Chor im Libretto Rollen wie Gefangene Trojaner, Griechen oder Priester verkörpert, fällt auf, dass er jedesmal die Gedanken und Emotionen einer Figur, die gerade im Zentrum steht, aufgreift oder vorwegnimmt. Die Aussenwelt wird dadurch zu Abbildern emotionaler Zustände. Und Mozart geht noch einen Schritt weiter: Wenn im dritten Akt vom Monster die Rede ist, das Unheil über das ganze Land gebracht hat, macht Mozart damit die innere Verschrän­kung deutlich, die zwischen den Wunden einer Einzelperson und dem grösseren gesellschaftlichen Kontext besteht. Wir alle sind letztendlich Betroffene, Opfer. Abgesehen vom Duett zwischen Idamante und Ilia und der trügerischen Vorfreude Elettras in ihrer Arie «Idol mio», mit Idamante in ihre Heimat zurückkehren zu können, gibt es kaum helle Momente in diesem Stück. Alles läuft darauf hinaus, dass Idomeneo in seiner Verzweiflung irgendwann tatsächlich bereit ist, seinen Sohn zu opfern. Man fragt sich: Wie finden die Figuren, wie findet Mozart da bloss wieder heraus? Es stimmt, überall sind Verzweifelte, und je mehr das Abgründige geleugnet wird, desto mehr bewegt man sich auf den sicheren Untergang zu. Kurz bevor Idomeneo seinen Sohn wirklich tötet, wirft sich jedoch Ilia dazwischen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das etwas in Idomeneo auslöst und ihn letztlich von seinem grau­samen Vorhaben abhält … … im Libretto heisst es an dieser Stelle: Die Statue Neptuns erbebt … Ja, und es wirkt so, als ob Idomeneo nun sein Trauma hinter sich lassen könnte. Bis jetzt gab es für Idomeneo nur zwei Lösungen: entweder seinen Sohn oder sich selbst zu töten. Aber dann tritt eine dritte Figur dazwischen, jemand der nicht aus der eigenen Familie stammt, die Fremde, sogar die

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Feindin Griechenlands, und zeigt einen neuen Weg. Das erlöst Idomeneo aus seinem egozentrischen Tunnel und öffnet ihm die Augen. Ilias Dazwischen­ treten war ein Opfer aus Liebe und hat eine Kraft, die so stark ist, dass die unseligen Verknotungen gelöst werden können. Dann erklingt La Voce aus der Unterbühne, und damit eine Orakel­ stimme, die nicht mit Neptun verknüpft ist. Sie verkündet die neuen Verhältnisse und besiegelt einen glücklichen Ausgang. Und hier frage ich mich: Wie geht es danach weiter? Wird es die neue Generation besser machen als die alte? Wird es nachher eine bessere Zukunft geben? Oder nicht sofort? Es ist klar, dass danach noch viel zu tun sein wird für alle, um überhaupt weiterleben zu können. In den Märchen heisst es am Schluss: Und sie lebten noch lange und glücklich … Vielleicht geht es hier darum zu sagen: Und sie lebten!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Kathrin Brunner

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OFFENLEGUNG DER GEFÜHLE Dirigent Giovanni Antonini im Gespräch

Herr Antonini, von Mozart haben Sie am Opernhaus Zürich zuletzt Le nozze di Figaro dirigiert, jetzt erarbeiten Sie den Idomeneo. Während der Figaro gemeinhin als vollendetes Meisterwerk gilt, nimmt der fünf Jahre zuvor entstandene Idomeneo eine spezielle Position in Mozarts Schaffen ein, kann weder den frühen noch den späten Opern zugeordnet werden. Was unterscheidet den Idomeneo, Ihrer Meinung nach, von Mozarts Opern der Wiener Zeit? Zunächst haben wir es mit ganz unterschiedlichen Formen zu tun: Idomeneo ist eine Opera seria, während die Opern wie Le nozze di Figaro, die in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Lorenzo da Ponte in Wien entstanden sind, der Gattung des Dramma giocoso angehören. Die Sprache von da Pontes Textbüchern ist viel moderner und zeitgemässer als der Idomeneo-Text, der auf einer französischen Barocktragödie basiert und inhaltlich auf die griechische Antike zurückgeht. Der Fortschritt, den wir in Mozarts Opern nach Idomeneo feststellen können, liegt also vor allem in der perfekten Symbiose zwischen seinem ausgereiften Musikstil und dem zeitgemässen Text von Lorenzo da Ponte begründet. Als Mozart mit 24 Jahren den Idomeneo komponierte, war er längst im Vollbesitz seiner künstlerischen Fähigkeiten. Ein Jugendwerk ist diese Oper also trotzdem nicht … Überhaupt nicht. Es ist nur die überkommene Form der Opera seria, die Mozart später, in der Zusammenarbeit mit da Ponte, nicht mehr bedient. Musikalisch ist im Idomeneo aber bereits die Sprache angelegt, die auch die Opern der Wiener Zeit prägt.

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Ist der Idomeneo denn wirklich eine Opera seria, also eine Oper, die in der italienischen Tradition steht? Das Libretto geht ja auf einen fran­­zö­ sischen Text zurück, der bereits von André Campra vertont wurde, und der Auftraggeber, Kürfürst Carl Theodor, hatte einen französisch geprägten Kulturgeschmack, den Mozart natürlich bedienen wollte. Die französische Oper, die im 18. Jahrhundert, vor allem seit den Werken von Jean-Philippe Rameau und Christoph Willibald Gluck, enorm an Bedeutung gewonnen hatte, war für Mozart natürlich eine Inspirationsquelle. Zwei Jahre bevor er den Idomeneo komponierte, war Mozart nach Paris gereist. Und man muss sich vorstellen, was so eine Reise damals bedeutete! Paris war eine musikalische Welt für sich. Was dort komponiert wurde, drang nicht so schnell in andere Städte durch, wie das heute der Fall ist. Während die globale Vernetzung heute dafür sorgt, dass das Wissen in Sekunden­ schnelle überall verfügbar ist, musste man damals reisen und das Entdeckte in seinem Gedächtnis ab­speichern. Man kann sich also denken, wie Mozart, der unglaublich lernbegierig war, in Paris alles aufgesogen hat, was er dort zu hören bekam!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend imist?Foyer Bedeutet das, dass der Idomeneo von französischer Musik inspiriert Ich glaube, dass Mozart in erster Linie nach Abwechslung gesucht hat. Das starre Formschema, dem die Opera seria verpflichtet war, interessierte ihn des Opernhauses erwerben nicht. Natürlich kann man die Divertimenti mit Chören und Ballettmusi­ken, die er für den Idomeneo komponiert hat, in der Tradition der französischen Tragédie en musique sehen. Aber auch die Italiener haben in ihre ernsten Opern heitere Intermezzi eingeschoben, um sie dadurch abwechs­lungs­reicher zu gestalten. Für Mozart war diese Möglichkeit, ver­schiedene Stile in einer Oper zusammenzuführen, ganz wichtig. Deshalb ist das Dramma giocoso in den Wiener Jahren die perfekte Form für ihn geworden, die ihm erlaubte, das tragische mit dem komischen Genre zu vermischen. Meine Lieblingsstelle, die ich immer gerne als Beispiel anführe, ist die Szene im Don Giovanni, in der die Statue des Komturs Don Giovanni auffordert, mit ihm zu gehen – er meint natürlich in die Hölle, also etwas sehr Ernstes –, und Leporello antwortet: Nein, nein, Don Giovanni hat grad keine Zeit! Für einen solchen

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Humor bietet der Idomeneo-Stoff mit seinem tragischen Inhalt natürlich noch keine Gelegenheit. Um die Konventionen der Seria-Oper trotzdem zu umgehen, sucht Mozart hier deshalb die stilistische Vielfalt, die auch französisch inspiriert ist. Die Vermischung verschiedener nationaler Stile ist ja zur Zeit Mozarts nichts ganz Neues. Christoph Willibald Gluck hat bereits 1762 mit seiner Oper Orfeo ed Euridice über die Reform der überkommenen heiteren und ernsten Gattungen nachgedacht … Dass sich Komponisten mit Stilen an­derer Nationen beschäftigen, hat schon im Barock grosse Tradition. Das Imi­tieren, das heute eher als etwas Schlechtes verstanden wird, war damals eine grosse Kunst! Bereits Georg Philipp Telemann oder François Couperin schrieben Sonaten im italienischen Stil von Arcangelo Corelli. Und Mozart studierte seinerseits die Musik von Johann Sebastian Bach und seinen Söhnen. Wie Gluck, so versuchte auch Mozart die Abfolge von Einzelnummern zu überwinden. Mit höchst subtilen Über­ gängen verbindet er die einzelnen Teile des Idomeneo zu einem richtigen Musikdrama. Ähnlich wie Rameau intensivierte Mozart aus­serdem die Bedeutung und den musikalischen Gehalt der Rezitative: Die sogenannten Recitativi accompagnati, die vom Orchester begleiteten Rezitative, von denen Mozart im Idomeneo oft Gebrauch macht, wurden in der italienischen Oper nur für sehr spezielle Momente verwendet. Bei Mozart hat man das Gefühl, dass er für jedes Wort und jede Bedeutung einen ganz spezifischen Klang sucht. Dadurch verleiht er den einzelnen Charakteren und ihren Gefühlen eine enorme Differenziertheit. Man kann also insgesamt eine Tendenz feststellen, die die bevorstehende Epoche der Romantik einleitet: Nicht mehr starre Formen und Ornamente, sondern fliessende Übergänge und die Offenlegung der Gefühle stehen im Vordergrund. Mit dem Mannheimer Orchester, das dem Kurfürsten Carl Theodor nach München gefolgt war, hatte Mozart für den Idomeneo die damals besten Musiker zur Verfügung. Beeinflusste das seine Kompositionsweise? Mozart war sich natürlich bewusst, welches Potenzial ihm da zur Verfügung

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stand. Die Partitur unterscheidet sich deutlich von den früheren Opern, weil im Idomeneo im Kern das ganze Voka­bular angelegt ist, aus dem er für seine späteren Opern schöpft. Besonders gut kann man die Veränderung auch an der Instrumentation erkennen. Idomeneo ist die erste Oper, in der Mozart Klarinetten einsetzte, und zwar in einem expressiven Sinn. Ursprünglich war die Klarinette eine Art kleine Trompete (italienisch: clarino), deren Klang viel offener und lauter war. Als solche wurde sie im Zusammenhang mit Märschen verwendet. Mozart ist einer der ersten, der sie, nicht nur später im Klarinet­ten­konzert, sondern auch in seinen Opern ab Idomeneo, als lyrisches Instrument verwendete. Findet man ähnliche Neuerungen auch in der Komposition der Gesangs­ Das komplette Programmbuch stimmen? Ja, es ist zum Beispiel ungewöhnlich, dass der König Idomeneo von ei­n­em können Sie auf Tenor, also einer Männerstimme, gesungen wird. In der Tradition der Opera seria müsste diese Partie von einem Kastraten gesungen werden. Während www.opernhaus.ch/shop die Komponisten im Barock dadurch die Frage nach dem Geschlecht bewusst verschleierten, verlieren die Kastraten am Ende des . Jahrhunderts an oder amGioachino Vorstellungsabend Bedeutung. Rossini, der die Kastratenstimmen liebte, im sah darinFoyer geradezu den Niedergang der Gesangskunst. Aber bei Mozart setzt sich hierdes eine neue,Opernhauses moderne Idee durch: nämlich der Wunsch, den Charakter des erwerben 18

Königs realistisch und lebensnah dar­zustellen!

Diese Frage ist ja auch hinsichtlich der Götterfiguren interessant. Während den Göttern im Barock grosse Auftritte und die schönsten Gesangs­linien zugedacht waren, erklingt in Mozarts Idomeneo als Deus ex machina – wenn man ihn denn als solchen verstehen will – nur eine Stimme aus dem Off, die geradezu leidenschaftslos klingt … Man muss das alles im Kontext der Epoche der Aufklärung sehen. Es ist das Zeitalter, in dem man angefangen hat, die Souveränität der Götter, Könige und Herrscher zu hinterfragen und anzuzweifeln. Auch im Barock­ zeit­alter war sich das Publikum bewusst, dass Götter nur Metaphern, nur fiktive Bühnenfiguren sind – aber sie akzeptierten es. Aber jetzt, kurz vor der

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Fran­zösischen Revolution, waren diese ganzen Zweifel in der Luft. Auch Mozarts Musik und seine Opernfiguren sind Ausdruck dieser grossen denke­rischen Umschwünge. Deshalb treten die Götter im Idomeneo nicht auf. Ob die Stimme, die am Ende erklingt und nach deren Worten die Handlung schein­bar ein glückliches Ende nimmt, eine göttliche oder eher eine menschliche Stimme der Vernunft ist, das kann man schwer beantworten. Es hängt mit den grossen Fragen der Aufklärung zusammen. Momente der Entwicklung und des Übergangs sind im Zusammen­hang mit dem Idomeneo allgemein von grosser Bedeutung. Der Generati­ons­ wechsel spielt beispielsweise nicht nur im Stück, zwischen Idomeneo und seinem Sohn Idamante, sondern auch in Mozarts privatem Leben eine Rolle, der für diese Oper noch einmal alle Fragen intensiv mit dem Vater diskutiert hat … . Mich fasziniert die Tatsache sehr, dass der Idomeneo-Kompositionsauftrag, verbunden mit diesem Stoff, genau zum richtigen Zeitpunkt an Mozart heran­getragen wurde. Er hatte damals seit fünf Jahren keine Oper mehr ge­ schrieben, wünschte sich dies aber sehnlichst. Nach den ersten, sehr erfolg­reichen Opern, die in Italien entstanden sind, gab es dort seltsamerweise keine Zukunft für ihn. Es ist interessant zu verfolgen, wie sich Mozarts Begeiste­ rung für Italien in der Folge sehr abkühlte. In der zweiten Lebenshälfte kann man bei ihm eine sehr reservierte Haltung gegenüber Italien beobachten – dafür schuf er sich seine eigene italienische Oper. Man hat das Gefühl, dass sich in den Jahren, in denen er sich nach einer neuen Oper sehnte, unglaub­ lich viele Ideen und riesige Energien in Mozart angestaut haben, die sich dann im Idomeneo entladen. Der umfangreiche Briefwechsel aus dieser Zeit zwischen Mozart und seinem Vater gibt uns heute eine Vorstellung davon, wie intensiv sich Mozart nicht nur mit der Musik, sondern auch mit der Gestaltung eines perfekten Dramas beschäftigt hat. In beiderlei Hinsicht hat Mozart hier das Fundament für seine späteren Opern der Wiener Zeit geschaffen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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AN DEN SCHWELLEN DES LEBENS Leben bedeutet permanenter, zuweilen schmerzhafter Wandel. Davon handelt «Idomeneo», den Mozart an einem zentralen Punkt in seinem Leben geschrieben hat Kathrin Brunner

«Salzburg, Mai 1780, Fronleichnamstag: … den 25ten um halb acht uhr zum Hagenauer die Pferde scheissen zu sehen», schreibt der 24 -jährige Mozart, und seine Schwester Nannerl ergänzt im gemeinsam geführten Tagebuch, ihr Bruder habe an jenem Tag einen zinnernen Kerzenleuchter aus dem Fenster auf die Fronleichnamsprozession herabgestossen. Nebst Einträgen zu Tarockspiel, Kegeln, Messbesuchen und geselligen Anlässen finden sich aus Mozarts Hand in jener Salzburger-Zeit vor allem Tagebucheinträge zum Salzburger Wetter: « … das abscheulichste Wetter, nichts als giess, giess, giess et caetera …». Mozart langweilt sich ganz offensichtlich in Salzburg. Nur widerwillig ist er dorthin nach seiner Paris-Reise und seinem Aufenthalt in Mannheim zurück­ gekehrt. Die Stadt ist ihm verhasst, «kein Ort für mein Talent». Die Festanstel­ lung als Hoforganist beim Fürsterzbischof Colloredo, die er seit 1779 hat, erfüllt ihn nicht. Für seinen Dienstherrn muss Mozart zumeist Kirchenmusik schreiben, Kirchensonaten etwa, die nicht länger als drei Minuten dauern dürfen, wenn sie für Gottesdienste bestellt wurden. Mozart, der sich zeitlebens zur Oper hingezogen fühlt, fehlt das Theater, und von Salzburg kann er diesbezüglich nichts erhoffen: Opernaufträge kommen aus anderen Städten, von anderen Fürstenhöfen. Sogar sein Vater Leopold, der ihn nur mit Mühe wieder nach Salzburg hat locken können und die Anstellung als Hoforganist für eine solide Basis hält, erkennt, dass die Heimatstadt für die künstlerische Weiterentwicklung des Sohnes nicht förderlich ist.

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Dann, endlich, die Erlösung: Im Sommer 1780 trifft aus München der Auftrag ein, eine neue Festoper für den nächsten Karneval zu schreiben. Es war Leopold Mozart, der den Opernauftrag von langer Hand eingefädelt hatte, bei dem nebst zahlreichen Musikerfreunden sogar die Mätresse des in München regierenden Kurfürsten involviert war. Mozart kommt am 5. November 1780 mit der bereits begonnenen Partitur in München an. Jetzt komponiert er wie in Trance. Das Orchester, durchsetzt mit Musikern aus der legendären Mannheimer Hofkapelle, gehört zu den besten der da­maligen Zeit und versetzt Mozart in Hochstimmung. In den Briefen an den Vater zeigt er sich so konzentriert und reif wie nie zuvor. Später wird er die Zeit, in der die Oper Idomeneo entstand, als die glücklichste in seinem Leben bezeichnen.

Das komplette Programmbuch Ein neues Kapitel in Mozarts Leben können Sie auf Idomeneo gilt als entscheidendes Werk des Übergangs im musiktheatralischen www.opernhaus.ch/shop Schaffen des -jährigen Komponisten, als «Schwellenwerk» im besten Sinne, das ei­nem musikalischen Urknall gleichkommt und die Schleusen für sechs wei­ oder am Vorstellungsabend im Foyer tere Meisteropern öffnet: Die Entführung aus dem Serail, Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Così fan tutte, Die Zauberflöte und La clemenza di Tito. Und auchdes in biografischer Hinsicht bereitet die Zeit deserwerben Idomeneo gravierende Ver­ Opernhauses 24

änderungen vor: Kaum ist die Oper vollendet, schlägt Mozart ein neues Kapitel in seinem Leben auf. «Ich will nichts mehr von Salzburg wissen – ich hasse den Erzbischof bis zur Raserei», schreibt er seinem Vater aus Wien, wo er inzwischen mit seinem Dienst­herrn Colloredo weilt. Nun geht Mozart seine Karriere aktiv an. Er provoziert mehrere Zwischen­ fälle mit Colloredo, lässt Fristen zur Abreise nach Salzburg verstreichen. Ob­ wohl der berühmte «Fusstritt» des Grafen Arco, mit dem der Fürsterzbischof Colloredo Mozart angeblich vor die Tür hat setzen lassen, wohl nie stattgefun­ den hat und es eine offizielle Kündigung nie gab, löst sich Mozart im Juni 1781 endgültig aus dem ungeliebten Dienstverhältnis. Er ergreift die Gelegenheit, sich in der Musikmetropole Wien niederzulassen, heiratet Constanze Weber und wird einer der ersten freischaffenden Künstler der Epoche.

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Vater Leopold, der stets auf die Sicherheit seines Sohnes bedacht ist, heisst keinen einzigen dieser Schritte gut und versucht von Salzburg aus alles, um sie zu verhindern. Doch sein Einfluss auf den Sohn ist geschwunden. Die Kompo­ sition des Idomeneo hat eine neue Dynamik in Mozarts Leben und seiner künst­ lerischen Arbeit ausgelöst. Der Vorschlag aus München, ausgerechnet den Stoff des Idomeneo zu vertonen, hätte zu diesem Zeitpunkt nicht passender sein können. Neben der dysfunktionalen Vater-Sohn-Beziehung, die in diesem Stoff thematisiert wird, ist die lebensverändernde Thematik, die Mozart während der Entstehungszeit des Werkes so beschäftigt haben muss, auch im Stück allgegen­ wärtig: Sämtliche Hauptfiguren stehen vor gravierenden Umwälzungen in ihrem Leben, an der Schwelle zu einer neuen Existenz. Mozart und sein Librettist Varesco beleuchten in Idomeneo den Moment vor einem möglichen Neuanfang.

Mozarts Figuren in der Schwebe Zunächst einmal sind die Figuren vor Beginn der Handlung Schutzbedürftige und Errettete. Sie haben Schutz vor Sturm, Wind, Meer, Krieg und Familien­ fehde gefunden, auf Kreta, einer Insel im Meer, die als Ort Schwellencharakter für alle auf ihr lebenden Menschen besitzt. Ilia und Idomeneo haben beide den Trojanischen Krieg und einen Meeressturm überlebt. Elettra, die Schwester des Orest, ist vor den Bluttaten ihrer Familie von Argos nach Kreta geflohen und lebt nun im Exil. Nur der junge Prinz Idamante ist in einer heilen, geschützten Welt aufgewachsen. Aber auch er wird sich im Laufe der Oper seiner Verletz­ barkeit und Gefährdung als Individuum bewusst. Es lohnt sich an dieser Stelle, auf den Begriff der «Schwelle» etwas näher einzugehen. Eine Vorliebe für «Schwellen», für Türschwellen, aber genauso für die abstrakte Vorstellung davon, findet sich beim österreichischen Schriftsteller Peter Handke. Handke empfindet die Schwelle nie als blosse Grenze, sondern als eine eigene Zone, die der Sphäre der Zwischen­räume angehört, und die er manchmal auch als Durchlass bezeichnet. Immer wieder erkundet Handke in seinem Werk die Schwellenerfahrungen des Lebens, die für ihn letztendlich ganz besondere Kraft­orte darstellen. Eine besonders prominen­te Rolle nimmt die Schwellen­meta­phorik in seiner Mordgeschichte Der Chinese des Schmerzes

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(1983) ein. Die «Schwelle», so heisst es dort, sei «ein eigener Ort, der Prüfung oder des Schutzes». Der Ich-Erzähler, ein Salzburger Lehrer für alte Sprachen, berichtet: «Seit kurzem unterrichte ich jedoch nicht mehr. Bin ich entlassen, oder beurlaubt, oder krankgeschrieben, oder vorübergehend von meinem Beruf freigestellt? Ich weiss nur: für meinen gegenwärtigen Stand gibt es noch keinen Fachausdruck. Es ist alles in der Schwebe.» Wie bei Handke beschrieben, befinden sich auch Mozarts Figuren nach ihrer Rettung in der Schwebe, in einer Situation des «Dazwischen», in Zustän­ den des «Nicht-Mehr» und «Noch-Nicht». Sie sind in eine Gegenwart hinein­ geworfen, die sie für sich zunächst noch nicht annehmen können. Der Kreter­ könig Idomeneo hat den Krieg zwar überlebt und auch die Rückreise über­standen. Doch er ist durch ein verhängnisvolles Gelübde, das er gegenüber dem Meeres­ gott Neptun abgelegt hat, um sein eigenes Leben zu retten, in einen Krieg mit sich selbst geraten: Er soll den ersten Menschen opfern, der ihm in der Heimat begegnet – es ist sein Sohn Idamante. Idamante wiederum, der zehn Jahre lang vaterlos war, findet zwar seinen Vater wieder, wird von ihm jedoch abgewiesen. Ilia ist eine Kriegsgefangene und hat ihre Familie verloren. Sie sollte die Feinde aus Loyalität ihrem Volk gegenüber hassen, empfindet je­doch für Idamante, der sie aus einem Meeressturm gerettet hat, erste Liebesge­fühle. Elettra hat Idaman­ te gegenüber Besitzansprüche, die sie mit Liebe gleichsetzt, muss aber immer wieder erfahren, dass sie von ihm abgelehnt wird.

Der Mensch als «homo dolorosus» Die Figuren schwanken hin und her zwischen Macht- und Ohnmachtsgefühlen (Idomeneo), zwischen Hoffnung und Verzweiflung (Idamante, Elettra), Trauer, Hass und Liebe (Ilia). Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes «uneins» mit sich selbst und in einem ständigen inneren Konflikt. Sie leiden an ihren Gefühls­ ambivalenzen, empfinden «Schmerzen» – ein Begriff, der etymologisch auf den Stamm (s)mer-d- zurückzuführen ist und soviel wie «aufreiben», «zerdrücken» oder «zermalmen» bedeutet. Tatsächlich ist «O duol!» (O Schmerz!) ein Ausruf, der in Idomeneo auffallend oft vorkommt und von Mozart musikalisch besonders stark emotional aufgeladen wird. Es ist der (negative) Energiepunkt, um den

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im Li­bretto Synonyme wie «dolor», «sven­tu­re», «tormenti», «misero core» oder «pena» an­gesiedelt sind. In Mozarts Partitur findet sich diesbezüglich ein im­ menses Ar­senal an musikalischer Schmerzrhetorik: Schluchzermotive, ins Un­ endliche gedehnte, chromatische Linien, harmonische Dissonanzen, Liegetöne, die so gedehnt werden, dass sie zu zerreissen drohen, Koloraturen, die sich wie Fieber­schübe anhören und ein durchgehend unregelmässiges musikalisches Metrum, das Puls und Herzschlag der Figuren gefährlich beschleunigt oder ins Stocken bringt. Die Oper beginnt mit Ilia. Ganz ohne Orchesterbegleitung, wie in die Windstille hinein, stellt sie eine Frage in den Raum: «Quando avran fine omai l’aspre sventure mie?» (Wann werden meine bitteren Leiden jemals enden?) Es sind Worte, die wie ein Theorem über dem gesamten Werk schweben. Mozart lässt von Beginn an keinen Zweifel aufkommen: im Zentrum des Idomeneo steht der Mensch in seiner ganzen Schwäche, der «homo dolorosus». Mozart dringt tief in das Innere seiner Figuren ein, er beschreibt gleichsam den Zustand ihrer Organe, Muskeln und Nerven – und findet Verletzungen vor. Es überrascht, wie schonungslos er dabei vorgeht, denn die Figuren sind in ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Nur selten spendet die Musik Trost und Halt, speit vielmehr das Dunkle, Abgründige, emo­tio­nal Un­ angenehme als glühende Magmamasse an die Oberfläche. Mozarts Operation am Menschen ist ein gefährliches Unterfangen, das die Protagonisten zu Grenz­ gängern macht und sie immer wieder in Extremsituationen führt. Und dennoch ist es vielleicht gerade das Gefühl des Schmerzes und des Leids, das einen das Menschsein besonders intensiv spüren lässt und ein Grund dafür sein mag, warum die Oper Idomeneo ganz besonders berührt. Die Erfah­ rung des Schmerzes gehört zu einer der intensivsten Lebensäusserungen – eine Erfahrung zudem, die durchaus auch ein vitales Lebenszeichen sein kann, denkt man etwa an den Moment der Geburt. Die Verbindung, die Text und Musik dabei eingehen können, um die Seelennöte der Protagonisten zu schildern, führt jedenfalls in Regionen, die eine rein sprachliche Beschreibung des Schmerzes weit hinter sich lässt. Mozarts drastische Darstellungsweise findet ihren Höhepunkt im archai­ schen Moment der Sohnesopferung. Idomeneo ist überzeugt, dass er seinen

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Sohn tatsächlich opfern muss. Selbst Idamante erscheint die Aufopferung für den Vater als Lösung, den eigenen Schmerz zu überwinden. Doch genau in diesem prekären Moment ist eine Figur fähig, einzuschreiten und den sprich­ wörtlichen Schritt über die Schwelle zu tun: Ilia, die Fremde des Landes, die Trauer und Hass hinter sich gelassen und die Liebe wiedergefunden hat. Eine Stimme («La Voce») verkündet sogleich die neuen Zustände: Idamante wird der neue Herrscher, Idomeneo tritt als König ab, Idamante und Ilia heiraten. Ein Hochzeitschor und eine feierliche, rund fünfzehnminütige instrumentale Musik, die Mozart für das Münchner Ballett geschrieben hat, besiegeln die neuen Verhältnisse.

Lebensschwellen als Kraftorte Damit vollzieht Mozart in Idomeneo ziemlich genau jene Abfolgeordnung, die der Ethnologe Arnold van Gennep in seinem Buch Les rites de passage (Über­ gangsriten) beschrieben hat: Das gesamte soziale Leben, so sein Ansatz, sei einem steten Wandel ausgesetzt, einem Wandel, dem immer auch Gefahren inne­ wohnen. Daher würden diese Grenzüberschreitungen in vielen Gesellschaften rituell begleitet. Anhand von Initiationsriten indigener Naturvölker isolierte Van Gennep eine Dreiphasenstruktur, wie sie eben auch in Idomeneo zu erken­ nen ist: Auf eine Trennungsphase, die vom früheren Ort oder Zustand löst, folgt die Schwellen- oder Umwandlungsphase, die in eine Anglie­de­r ungsphase mündet und in den neuen Zustand – meistens in Form eines Festes – führt. In keiner seiner späteren Opern wird Mozart je wieder so weit gehen, so ganz ohne Auffangnetz und doppelten Boden agieren wie in seinem Idomeneo. So sind in seiner vorletzten Oper, der Zauberflöte, die transitorischen Übergän­ ge, die die Figuren zu vollziehen haben, tatsächlich ritualisiert. Immer wieder sind in der Zauberflöte Spielräume zur Vermenschlichung, zur Aufhellung, zu Parodie und Schalk eingebaut, immer ist jemand zum Schutz eines anderen da. Die Radikalität des Idomeneo, der im Übrigen im gleichen Jahr wie Schillers Sturm-und-Drang-Drama Die Räuber entstanden ist, hat Mozart hinter sich gelassen.

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Doch es bleibt festzuhalten: Für Mozart hatte das Werk, in welchem er keiner­ lei musikalische Begrenzungen mehr akzeptierte und eine ausserordentliche seeli­sche Tiefe erreichte, eine besondere Bedeutung. Zeitlebens hing er an sei­ ner «grossen opera», von der Constanze sagte, sie sei Mozarts Lieblingsoper gewesen. Immer wieder unternahm Mozart den Versuch, seinen Idomeneo an anderen Bühnen herauszubringen. Doch es blieb bei den drei nur mässig er­ folgreichen Vorstellungen in München sowie einer Privataufführung im März 1786 im Hof­theater des Prinzen Auersperg in Wien, die wegen der Fastenzeit nur konzertant gegeben werden konnte. Und trotzdem denkt Mozart auch für diese Wiener Aufführung wieder neu, komponiert Arien und Szenen um. Und so trifft wohl auch in diesem Zusammenhang die tiefe Überzeugung Handkes zu, dass (Lebens-)Schwellen Übergänge sind, die zum Frucht­­barsten überhaupt gehören.

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ANBRUCH DER AUTONOMIE Ivan Nagel

Furchtbare Glaubwürdigkeit ergreift Mozarts Menschen. Nie wieder hat er sei­ ne Töne so manisch jeder Zuckung der Worte und Gefühle nachgemodelt – nie seine Figuren so dem wehen Changieren der Tonarten ausgeliefert, der in Fremdtönen gleitenden Haltlosigkeit innerhalb jeder Tonart. Das Drama ent­ steht aus hin- und herflutenden Lichtwechseln des Gemüts, nicht aus Verfesti­ gung zu Charakteren. So kennt es keinen Widerstand gegen das Schicksal, nur Mut und Tat drosselnde Betrübnis, ein Zagen nach dem erlittenen Schrecken, das schon des nächsten Schreckens harrt. Weil keine Charaktere – was für See­ len ziehen auf wie aus einem nordischen Land, einem späteren Jahrhundert: gelähmt, unheilgläubig, vom Leben verschlissen Idomeneo, knabenhaft hilflos in Trotzeinsamkeit Idamante, torkelnd zwischen der Verworfenheit einer Hoff­ nungslosen und der Seligkeit einer Selbstbetrügerin Elektra. Gramversperrt verschweigen sie einander ihre Zwänge und Wünsche, die auszusprechen ihnen nichts hülfe – ein Volk von Beladenen. Von Ilia kommt für die Betrübten des Idomeneo fluch- und gattungsüberwindende Lösung. Tollkühn bricht die Ge­ fangene das Schweigegebot aller Schicksalshaft, da sie dem todgeweihten Freund bekennt: «Ich liebe dich, bete dich an – und wenn du sterben willst, kannst du es nicht, ehe der Schmerz mich tötet!» Fremd ist die Troerin auf Kreta, doch herrlich heimisch im Leben unter so vielen Fremden. Ihre Todesbereitschaft und Lebensgewissheit beenden die Sklaverei ihrer Sklavenhalter: «Tiranni i dei non son, fallaci siete interpreti voi tutti del divino voler!» Solche Entscheidung zwingt die obere Gnade herbei, in­dem sie sie fast überflüssig macht. Ihr Ton ist der der Konstanze, Pamina, Leitfiguren eines neuen Dramas – des Spiels von der Bewährung, vom Anbruch der Autonomie.

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MON TRÈS CHER PÈRE Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater Leopold Mozart

München, den 8. November 1780 Glücklich und vergnügt war meine Ankunft! – glücklich, weil uns auf der Reise nichts widriges zugestossen, und vergnügt, weil wir kaum den Augenblick, an ort und Ende zu komen, erwarten konten, wegen der obwohl kurzen doch sehr beschwerlichen Reise; – den, ich versichere Sie, daß keinem von uns möglich war nur eine Minute die Nacht durch zu schlaffen – dieser Wagen stößt einem doch die Seele heraus! – und die Sitze! – hart wie stein! – von Wasserburg aus glaubte ich in der that meinen Hintern nicht ganz nach München bringen zu könen! – er war ganz schwierig – und vermuthlich feüer Roth – zweÿ ganze Posten fuhr ich die Hände auf dem Polster gestützt, und den Hintern in lüften haltend – doch genug davon, das ist nun schon vorbeÿ! – aber zur Regel wird es mir seÿn, lieber zu fus zu gehen, als in einem Postwagen zu fahren. (...) Ich habe nun eine Bitte an H: Abbate; – die Aria der Ilia im zweÿten Ackt und zweÿten Scene möchte ich für das was ich sie Brauche ein wenig verändert haben – se il Padre perdei in te lo ritrovo; diese stropfe könte nicht besser seÿn – Nun aber kömts was mir imer NB: in einer Aria, unatürlich schien – nemlich das à parte reden. im Dialogue sind diese Sachen ganz Natürlich – Man sagt geschwind ein paar Worte auf die Seite – aber in einer aria – wo man die wörter wiederhollen muß – macht es üble Wirkung – und wen auch dieses nicht wäre, so wünschte ich mir da eine Aria – der anfang kan bleiben wen er ihm taugt, den der ist Charmant – eine ganz Natürlich fortfliessende Aria – wo ich nicht so sehr an die Worte gebunden, nur so ganz leicht auch fortschreiben kan, den wir haben uns verabredet hier eine aria Andantino mit 4 Concertirenden Blas = Instrumenten anzubringen, nemlich auf eine flaute, eine oboe, ein Horn, und ein Fagott. – und bitte, daß ich sie so bald als möglich bekome. – Nun eine

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Hunds­füttereÿ; – ich habe zwar nicht die Ehre den Helden del Prato zu könen; doch der beschreibung nach ist noch fast Ceccarelli besser: – den mitten in einer Aria ist öfters schon sein Odem hin – und – NB: er war noch nie auf keinen theater – und Raaff ist eine statue – Nun stellen sie sich einmal die scene im Ersten Ackt vor. – Nun aber etwas gutes. Mad:me Dorothea Wendling ist mit ihrer Scene Arci = Contentissima – Sie hat sie 3 mal nach einander hören wollen.

München, den 22. November 1780 Mir ists schon recht wen Sie mir allemal recht viel schreiben – aber nur nicht beÿ der Nacht – vielweniger ohne Augengläser. – mir müssen Sie aber verzeihen, wen ich nicht viel schreibe – Jede Minute ist mir kostbar – ich kan ohnehin nur abends das meiste schreiben, weil es spätt tage wird – ankleiden muß man sich auch – und der kaufmansdiener beÿm Weiser führt einem auch bisweilen Jemand auf den Nacken. wen der Castrat komt, muß ich mit ihm Singen, den er muß seine ganze Rolle wie ein kind lernen. er hat um keinen kreützer Methode. –

München, den 29. November 1780 Sagen sie mir, finden Sie nicht, daß die Rede von der unterirdischen Stimme zu lang ist? Ueberlegen Sie es recht. – Stellen Sie sich das Theater vor, die Stimme muss schreckbar seyn – sie muss eindringen – man muss glauben, es sey wirklich so – wie kann sie das bewirken, wenn die Rede zu lang ist, durch welche Länge die Zuhörer immer mehr von dessen Nichtigkeit überzeugt werden? – Wäre im Hamlet die Rede des Geistes nicht so lang, sie würde noch von besserer Wirkung seyn. – Diese Rede hier ist auch ganz leicht abzukürzen, sie gewinnt mehr da­ durch, als sie verliert. Nun brauche ich wegen des Marsches im 2ten Acte, den man von der Ferne hört, solche Sordinen für die Trompeten und Hörner, die man hier nicht hat. Wollten Sie mir wohl mit nächstem Postwagen von jedem Eines schicken, um sie hier nachmachen lassen zu können?

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München, den 27. Dezember 1780 Ich habe die ganze opera – den brief vom schachtner, ihren Zettel, und die Pillulen richtigst erhalten. – wegen der 2 scenen die abgekürzt werden sollen, ist es nicht mein vorschlag, sondern nur mein Consentement – und warum ich sogleich nemlicher Meÿnung war, ist, weil Raaff und del Prato das Recitativ ganz ohne geist und feüer, so ganz Monoton herab singen – und die Elendesten acteurs, die Jemals die Bühne trug, sind – wegen der unschicklichkeit, unatür­ lichkeit und fast ohnmöglichkeit des weglassens, habe lezthin mich verflucht herumgebalget mit dem Seeau. (...) die lezte Prob ist Herrlich gewesen. – sie war in einem grossen zimer beÿ Hof, der Churfürst war auch da – dießmal ist mit dem ganzen orchestre |: versteht sich das im operahauß Platz hat :| Probirt worden. – Nachdem Ersten Ackt sagte mir der Churfürst überlaut Bravo. und als ich hingieng ihm die hand zu küssen, sagte er; diese opera wird charmante werden; er wird gewis Ehre davon haben. – weil er nicht wuste, ob er so lange da bleiben kan, so muste man ihm die Concertirende aria und das Donerwetter zu anfangs zweÿten Ackt machen. – nach diesem gab er mir wieder auf das freundlichste seinen Beÿfall, und sagte lachend; – man sollte nicht meÿnen, daß in einem so kleinen kopf, so was grosses stecke. – er hat auch andern tages frühe beÿm Cercle meine opera sehr gelobt. (...) Hören sie, der Raaff ist der beste, Ehrlichste Man von der Welt, aber – auf den Alten schlendrian versessen – das man blut dabeÿ schwitzen möchte; – folglich sehr schwer für ihn zu sch­ reiben. – sehr leicht auch wen sie wollen, wen man so alle tag arien machen will. – wie par Exemple die Erste aria Vedròmi intorno Etc: wen sie sie hören werden, sie ist gut, sie ist schön – aber wen ich sie für Zonca geschrieben hätte, so wür­ de sie noch besser auf den Text gemacht seÿn. – er liebt die geschnittenen Nudeln zu sehr – und sieht nicht auf die Expression. – mit dem Quartett habe izt eine Noth mit ihm gehabt. – das quartett, wie öfter ich es mir auf dem the­ ater fürstelle, wie mehr Effect macht es mir. – und hat auch allen die es noch so am Clavier gehört haben, gefallen. – der einzige Raaff meint es wird nicht Effect machen. er sagte es mir ganz allein. – non c’è da spianar la voce – es ist zu Eng – als wen man in einem quartetto nicht viel mehr reden als singen sollte – der gleichen sachen versteht er gar nicht. – ich sagte nur; liebster freund! – wen ich

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nur eine Note wüste, die in diesen quartetto zu ändern wäre, so würde ich es sogleich thun. – allein – ich bin noch mit keiner sache in dieser oper so zufrie­ den gewesen wie mit diesen quartett; – und hören sie es nur einmal Zusam – dan werden sie gewis anders reden. – ich habe mich beÿ ihren 2 Arien alle mühe gegeben sie recht zu Bedienen – werde es auch beÿ der dritten thun – und hof­ fe es zu stande zu bringen – aber was terzetten und Quartetten anbelangt muß man dem Compositeur seinen freÿen Willen lassen – darauf gab er sich zufrie­ den. – neülich war er ganz unwillig über das wort in seiner lezten aria; – rinvi­ gorir – und ringiovenir – besonders vienmi à rinvigorir – fünf i – es ist wahr beÿm schluß einer aria ist es sehr unangenehm.

München, den 30. Dezember 1780 Glückseeliges Neues=Jahr! – verzeihen sie, wen ich ihnen dermalen sehr wenig schreibe, – den, ich stecke nun über Hals und kopf in Arbeit – ich bin noch nicht ganz fertig mit dem dritten Ackt. (...) der dritte Ackt wird wenigstens so gut ausfallen als die Beÿden Ersten – ich glaube aber unendlichemal besser – und daß man mit recht sagen köne; finis Coronat Opus. – der Churfürst war lezthin beÿ der Probe so zufrieden, daß er wie ich ihnen letzhin geschrieben Morgens beÿm Cercle meine opera sehr gelobt – und dan abends beÿ der Cour wieder. – und dan weis ich es von einer sehr sichern Hand, daß er den neemlichen Abend nach der Prob allen, Jederman der zu ihm gekomen ist, von meiner Musick geredet hat, mit diesem aus=druck. – ich war ganz surprenirt – noch hat mir keine Musick den Effect gemacht; – das ist eine Magnifique Musick. – – vor­ gestern haben wir eine Recitativ Probe beÿ der Wendling gemacht – und das Quartett zusamen Probirt – wir haben es 6 mal Repetirt – izt geht es endlich. – der Stein des Anstosses war der Del Prato; – der Bub kan doch gar nichts. – seine stime wäre nicht so übel, wen er sie nicht in den hals und in die Gurgel nehmete – übrigens hat er aber gar keine Intonation – keine Methode – keine Empfindung – sondern singt – wie etwa der beste unter den Buben die sich hören lassen um in dem kapellhause aufgenomen zu werden – Raaff hat sich mit vergnügen betrogen gefunden – und zweifelt nun auch nicht an dem Effect.

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Nun bin ich wegen des Raaffs lezter aria in einer verlegenheit woraus sie mir helfen müssen. – das rinvigorir, und ringiovenir ist dem Raaff unverdaulich – und wegen diesen 2 Wörtern ist ihm schon die ganze aria verhasst. – es ist wahr das Mostrami und vienmi ist auch nicht gut – aber das schlechteste sind schon die 2 Ends=Wörter – wo ich beÿ den Ersten rinvigorir um den triller auf dem i zu vermeiden ihn auf dem O machen müsste. (...) – Nun muß ich schliessen, den ich muß über hals und kopf schreiben – komponirt ist schon alles – aber geschrie­ ben noch nicht. Anmerkungen zu den erwähnten Personen: Graf Seeau: Hofmusikintendant unter dem bayerischen Kurfürsten Max III. Joseph und Carl Theodor H: Abbate (Giambattista Varesco): der italienische Priester und Hofkaplan in Salz­ burg war Mozarts Librettist Vincenzo dal Prato: Sänger des Idamante, junger Kastrat aus Italien Anton Raaff: der Sänger des Idomeneo, der grösste heroische Tenor des 18. Jahr­ hunderts, aber zur Zeit des Idomeneo bereits im Vorruhestand Dorothea Wendling: die Sängerin der Ilia, verheiratet mit dem Soloflötisten des Or­ chesters Domenico de Panzacchi: Sänger des Arbace, Fossil der alten Münchner Oper und gemäss Mozart ein guter Schauspieler Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz: der neue Kurfürst in München, den Mozart aus Mannheim kannte. Carl Theodor wollte auf die Klangkultur seines weltberühmten Mannheimer Orchesters in München nicht verzichten und nahm die besten Musiker mit nach München.

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DAS MEER Elias Canetti

Das Meer ist vielfach, es ist in Bewegung, es hat seinen dichten Zusammenhang. Sein Vielfaches sind seine Wellen, sie machen es aus. Sie sind unzählbar; wer sich auf dem Meere befindet, ist überall von ihnen umgeben. Die Gleichartigkeit ihrer Bewegung schliesst Grössenunterschiede unter ihnen nicht aus. Sie sind nie ganz in Ruhe. Der Wind, der von aussen kommt, bestimmt ihre Richtung; sie schlagen sich da- oder dorthin, je nach seinem Befehl. Der dichte Zusammen­ hang der Wellen drückt etwas aus, das auch die Menschen in einer Masse sehr wohl fühlen: eine Nachgiebigkeit gegen die anderen, als wäre man sie, als wäre man nicht mehr abgegrenzt für sich, eine Abhängigkeit, aus der es kein Entrin­ nen gibt, und ein Kraftgefühl, einen Schwung, den sie einem eben dadurch alle gemeinsam geben. Die eigentümliche Art dieses Zusammenhangs bei den Men­ schen ist unbekannt. Auch das Meer erklärt ihn nicht, aber es drückt ihn aus. Ausser den Wellen gibt es aber noch ein Vielfaches, das zum Meere gehört: die Tropfen. Sie allerdings sind isoliert, sie sind nur Tropfen, wenn sie unter­ einander nicht zusammenhängen, ihre Kleinheit und Vereinzeltheit hat etwas Ohnmächtiges. Sie sind beinahe nichts und wecken ein Gefühl von Mitleid im Betrachter. Man tauche die Hand ins Wasser, hebe sie hoch und betrachte die Tropfen, die einzeln und schwach an ihr herunterrinnen. Das Mitleid, das man für sie fühlt, ist so, als wären sie hoffnungslos abgesonderte Menschen. Die Tropfen zählen erst wieder, wenn man sie nicht mehr zählen kann, wenn sie im grossen und im ganzen wieder aufgegangen sind. Das Meer hat eine Stimme, die sehr veränderlich ist und die man immer hört. Es ist eine Stimme, die nach tausend Stimmen tönt. Man traut ihr vieles zu, Geduld, Schmerz und Zorn. Aber am eindrucksvollsten an dieser Stimme ist ihre Zähigkeit. Das Meer schläft nie. Man hört es immer, bei Tag, bei Nacht, durch Jahre, Jahrzehnte; man weiss, dass es vor Jahrhunderten schon gehört wurde. In seiner Wucht wie in seinem Aufbegehren erinnert es an ein einziges Geschöpf,

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das diese Eigenschaften im selben Umfang mit ihm teilt, die Masse. Aber es hat auch die Konstanz, die die­­­ser abgeht. Es versickert und verschwindet nicht von Zeit zu Zeit, es ist immer da. Das Meer ist zwar wandelbar in seinen Affekten, es kann beschwichtigen und drohen, es kann in Stürme ausbrechen, aber es ist immer da. Man weiss, wo es ist, seine Lage hat etwas Offenes, Unverdecktes. Es entsteht nicht auf einmal, wo zuvor nichts war. Das Geheimnisvolle und Plötzliche des Feuers geht ihm ab; wie aus dem Nichts springt einen dieses an, ein reissendes Tier, und ist so auch überall zu erwarten. Das Meer ist nur dort zu erwarten, wo man es sicher weiss.

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LUFT, STURM UND CHAOS Ivan Nagel

Keiner bis Debussy hat Luft so komponieren können wie Mozart: etwa den Segen des mild in sich kreisenden Windhauchs, wenn der Sturm aufgehört hat. «Aura soave spira di dolce calma» – Idomeneos Rettung ist ein Wunder, durch Musik zuverlässiger bezeugt als jedes kirchlich kanonisierte. Im Sturmchor da­ vor erpresst Tobsucht der Elemente unzivilisiertes, schmerzherausschreiendes Leiden; die Menschheit selbst stürzt in Gesetzlosigkeit zurück, ins urtümlich wilde Chaos ihres Anfangs. Nicht nur fallen der Natur in Idomeneo, als sei sie Subjekt in eigenem Recht, Ausdrucksgesten von Raserei wie Innigkeit zu; ihr Ausdruck wiederum reicht tief in die Menschen, deren Unglück nur als Sturm­ musik, Glück nur als Windhauchmusik sich ganz aussprechen kann. So wird Ilias befreiendes Bekenntnisrezitativ an Idamante nicht von Liebesaffekt-, son­ dern von «zefiretto»-Tönen begleitet; so ist Idomeneos inständigstes Gebet an den Meeres- und Sturmgott Neptun kein Lamento, kein barockes Flehen, son­ dern ein gleichsam utopisches Gemälde der Heilung der Welt durch sanfte, besänftigte Lüfte: «Torni Zeffiro al mar, cessi il furor!» Wie fern ist solche Natur­ ­musik den Dialogen allegorischer Winde, die Monteverdi einst zu vertonen sich scheute.

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DAS GELÜBDE Lion Feuchtwanger

Jefta sprach weiter: «Ich habe ein Gelübde getan. Es wuchs. Es wurde riesig. Nun ist es ein Berg, der mich zerdrückt.» Abijam, nach einer Weile, fragte be­ hutsam: «Was ist das für ein Gelübde? Hast du verzichtet auf die Salbung und den Richterstuhl?» «Ist das alles, was du dir ausdenken kannst an Ungeheuer­ lichem?» höhnte Jefta. «Nein, alter Mann, mit einer so armseligen Demütigung Jeftas gibt sich Jahwe nicht zufrieden. Hör zu, Abijam, Erzpriester, mein Feind, mein Freund! Hört zu, was sich der Gott ausgedacht hat, mich zu verderben.» Und er erzählte ihm von dem Gelübde. Abijam, überrascht, verwirrt, sank vollends in sich zusammen. Hockte mit geschlossenen Augen, reglos. Er beschaute den Jefta. Da sass er, der Sieger vom Nachal-Gad. Nicht auf dem steinernen Thron des Richters thronte er, bereit, das Salböl zu empfangen. Auf der Erde kauerte er, den Kopf vornüber, zerdrückt von Kummer. Der Priester spürte Mitleid. Vielleicht gab es einen Weg, das Ge­ lübde auf weniger strenge Art zu erfüllen. Behutsam sagte er: «Wiederhole mir doch, ich bitte dich, genau, was du gelobt hast.» Jefta blickte auf. Wahrhaftig, der Priester wollte ihm helfen. Und war er nicht hiehergekommen um Hilfe? Doch noch während er so dachte, sagte er sich, dass er einen törichten, vergeblichen Gang getan hatte. Der Handel, den er mit Jahwe geschlossen hatte, war klar und eindeutig, da konnte kein Wortgedrehe eines Priesters hel­ fen. Leise, doch hart und hoffnungslos antwortete er: «Ich will dein Mitleid nicht, Priester. Ich will nicht, dass du an meinem Gelübde herumtiftelst, es mir zu erleichtern. Das ist eine Sache zwischen Jahwe und mir. Ich selber habe ihm Ja’ala angeboten, ich Narr, und er ist nicht so töricht, auf dieses kostbare Gut zu verzichten. Er will das Kind von mir, Fleisch aus meinem Fleische, Blut aus meinem Blut.» Und trüb, voll höhnischer Verzweiflung, schloss er: Er braucht wohl Blut. Alle Götter brauchen Blut, oder nicht?»

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Abijam durchschaute den Zwiespalt des Mannes. Der war zu stolz, sich einen Ausweg aus seinem Gelübde zeigen zu lassen, gleichzeitig aber sehnte er sich danach. Er zeigte ihm einen ersten Ausweg. «Hast du auch bedacht», fragte er, «dass das Opfer willig und bereit sein muss, wenn es dem Gott genehm sein soll? Jahwe nimmt das Opfer des gebannten Feindes an auch gegen dessen Willen; aber schon dem Opfertier musst du die Hand auflegen, dass dein Wille in das Tier übergehe. Jahwe nimmt dein Opfer nicht an, wenn es nicht bereit und willig ist mit all seinem Hauch und Blut.» Eine ganz kurze Weile zauderte Jefta. Dann stiess er den Kopf vor gegen den andern und lehnte kurz und finster ab: «Meine Tochter ist bereit und willig. Hab du des keine Angst, Priester.» Abijam spürte ehrliches Mitleid, aber er schaute angelockt zu, wie der Stolz des Mannes stritt mit der Liebe zu seinem Kind. Zum zweiten Male hielt er ihm einen Stab hin, dass er sich retten könne aus dem Wirbel seines Gelübdes. «Weisst du auch, dass ein Gelübde seine Gültigkeit verliert, wenn derjenige, der es tat, sich verwandelt?» Jefta schaute ihn verständnislos an. «Es hat schon man­ cher», erklärte Abijam, «seinen Namen verändert und verloren. Er verliert alles Erreichte, aber er ist auch ledig aller Pflichten. Jahwe verlangt von dem neuen Manne nicht, dass er das Gelübde des früheren erfülle». «Ich soll mich vor Jahwe verkleiden und verkriechen? Ich soll meinen Namen abtun? Ich soll nicht mehr Jefta sein?» Er lachte sein lautes, rauhes Lachen. «Du wirst kindisch, Alter.» Er sank wieder in sich zusammen. Trüb, bitter schloss er: «Vielleicht willst du mir wirklich helfen, Abijam. Du kannst es nicht. Niemand kann es.»

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SCHLIMMER ALS DER TOD Zu Mozarts «Idomeneo»-Quartett Stefan Kunze

Es drängt sich auf, das Quartett als den Kulminationspunkt des ganzen Werks zu verstehen, und zwar nicht nur, weil es von der Aura des Ausserordentlichen umgeben ist. Es steht im Drama auch an kritischer Stelle, dort nämlich, wo entweder die Heillosigkeit der Verwicklungen sich herausstellen oder deren Lösung sich endlich anbahnen muss. Das Quartett setzt in dem Augenblick der Schwebe, des Innehaltens ein, bevor das Schicksal seinen Lauf nimmt. Die beteiligten Personen befinden sich ganz bei sich selbst und sind durch ihre teils einander widerstrebenden, teils gleichgerichteten Empfindungen vereinigt. So entsteht ein Miteinander in der Betroffenheit durch das durchlebte Leid und gleichermassen durch die bedro­ hende, dunkle Zukunft. Es vollzieht sich ein (inneres) Geschehen, ohne dass irgendeine äussere Aktion stattfindet. Mehrfach kommt es in Mozarts Quartett zu einem Wechsel der Aspekte, unter denen die vier Personen ihres Schicksals inne werden. In allem aber ist der Ton eines extremen Zustands. Die vier Protagonisten befinden sich bildlich gesprochen auf dem Weg, besser gesagt auf der Schwelle zum Hades. Zeichenhaft beginnt das Quartett mit einem Abstieg. Auf diesem letzten Gang kommt es zu jähen Umschwüngen, die in die weiträumige musikalische Architektur des Quartetts aufgenommen, d.h. tektonisch wirksam werden. Es verläuft in drei, allerdings wieder in sich gegliederten Phasen: Die erste besteht aus der Rede des Idamante und Ilias Antwort (ihr Entschluss, mit ihm das Leid zu teilen und mit ihm zu sterben) und bricht unvermittelt ab mit Idamantes «Ah no...» und Idomeneos verzweifeltem Anfruf «Nettun spietato!» (Unbarm­ herziger Neptun!). Mit kurz auflaufendem Crescendo zum Forte und mit drei Viertel-Schlägen im schneidenden Sekundakkord der Wechseldominante (F)

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kommt die Bewegung zum Stillstand, ein erster Einschnitt ist erreicht. Der Neuansatz zur zweiten Phase, zunächst Idomeneo und Elettra für sich, dann Ilia und Idamante zusammen und schliesslich die Zusammenfassung aller in gemeinsamem Schmerz «Soffrir più non si può» (Kein Schmerz kann grösser sein), steht in der Dominanttonart B-Dur. Die dritte Phase wird durch einen eigenartigen Stillstand eingeleitet. Er macht unmissverständlich den Augenblick der Wende, der Grenzüberschreitung sinnfällig. In abgebrochener Deklamation und im beklemmenden Sotto voce, dazu noch in b-Moll, wird den Personen bewusst: «Peggio è di morte / Sì gran dolore» (So grosser Schmerz / Ist schlim­ mer als der Tod). Es ist, als grabe sich den vier Beteiligten (und dem Hörer) durch das knappe Ostinato dieses Bewusstsein ein, aus dem in langgezogenem Klagelaut der gewaltsame, unerwartete Aufbruch, die Grenzüberschreitung hervorgeht. Das ohne Übergang auf der Terz des b-Moll-Dreiklangs erklingen­ de Des-Dur ist die neue, entfernte Region, in die die Musik nun eintritt: «Più fiera sorte /..../ Nissun provò» (Ein grausameres Geschick /.../ hat niemand je ertragen). Kurz vorher war das Stichwort «Tod» erklungen. Nun tun sich im tönenden, erstmals durchgehaltenen Forte die Tore des Schreckensreiches auf. Eine nach dem ausladenden Aufschwung und nach einem Fermaten-Takt auf der Dominante sonderbar gepresste Kadenz nach b-Moll, ein huschendes Piano eröffnen die Reprise.

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DAS OPFER C. G. Jung

Die Gabe bedeutet eine persönliche Absicht, denn an sich ist das blosse Geben keineswegs ein Opfer. Zu einem solchen wird es erst, wenn die mit dem Geben verbundene Absicht des «do ut des» geopfert, das heisst aufgegeben wird. Das Gegebene soll, wenn es den Anspruch darauf erhebt, ein Opfer zu sein, auch so weggegeben sein, wie wenn es vernichtet worden wäre. Erst dann nämlich besteht die Möglichkeit, dass der egoistische Anspruch aufgehoben ist. (...) Um diesen ethisch wertlosen Anschein des Opferns zu vermeiden, muss die beste­ hende Identität mit der Gabe wenigstens so weit bewusst gemacht werden, dass man erkennt, inwiefern man sich selber gibt, indem man eine Gabe darbringt. Das heisst, aus dem natürlichen Tatbestande der Identität mit dem, was «mein» ist, erwächst die ethische Aufgabe, sich, respektive jenen Teil von sich zu opfern, der mit der Gabe identisch ist. Man soll wissen, dass man sich selber gibt oder aushändigt und dass daran immer entsprechende Ansprüche geknüpft werden, um so mehr, je weniger man davon weiss. Erst diese Bewusstheit garantiert, dass das Geben auch wirklich ein Opfern ist. Denn wenn ich weiss und zugebe, dass ich mich selber gebe oder drangebe und hiefür nicht bezahlt sein will, dann habe ich meinen Anspruch, das heisst einen Teil von mir geopfert. Daher be­ deutet jedes Geben mit aufgehobenem Anspruch, ein Geben à fonds perdu in jeglicher Hinsicht, ein Selbstopfer. Das gewöhnliche Geben, das nicht wieder bezahlt ist, wird wie ein Verlust empfunden. Das Opfer aber soll wie ein Verlust sein, damit nämlich der egoistische Anspruch sicher nicht mehr besteht. Die Gabe soll daher, wie schon gesagt, so gegeben sein, wie wenn sie vernichtet worden wäre. Weil sie nun mich selber darstellt, so habe ich in ihr mich selber vernichtet, das heisst mich selber ohne Erwartung weggegeben. Dieser beab­ sichtigte Verlust ist aber insofern und von einer anderen Seite betrachtet kein wirklicher Verlust, sondern im Gegenteil ein Gewinn, denn das Sichopfernkön­ nen beweist das Sichhaben.

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IDOMENEO WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756–1791) Dramma per musica in drei Akten Libretto von Giambattista Varesco Uraufführung: 29. Januar 1781, Residenztheater München Fassung Opernhaus Zürich 2017/18

Personen

Idomeneo, König von Kreta Idamante, sein Sohn

Tenor

Mezzosopran

Ilia, trojanische Prinzessin, Tochter des Priamos

Sopran

Elettra, Prinzessin, Tochter Agamemnons, des Königs von Argos Arbace, Vertrauter des Königs La Voce/Die Stimme

Tenor

Bass

Chor Die Handlung spielt in Sidon, der Hauptstadt von Kreta.

Sopran


ATTO PRIMO

Appartamenti d’Ilia nel palazzo reale, in fondo al prospetto una galleria.

ERSTER AKT

Ilias Gemächer im Königspalast, im Hintergrund eine gemalte Galerie.

SCENA I

SZENE I

Ilia sola.

Ilia allein.

RECITATIVO

REZITATIV

ILIA

ILIA

Quando avran fine omai l’aspre sventure mie? Ilia infelice! Di tempesta crudel misero avanzo, del genitor e de’ germani priva, del barbaro nemico misto col sangue il sangue vittime generose, a qual sorte più rea ti riserbano i Numi?... Pur vendicaste voi di Priamo e di Troia i danni e l’onte? Perì la flotta Argiva, e Idomeneo pasto forse sarà d’orca vorace... ma che mi giova, oh ciel! se al primo aspetto di quel prode Idamante, che all’onde mi rapì, l’odio deposi, e pria fu schiavo il cor, che m’accorgessi d’essere prigioniera. Ah qual contrasto, oh Dio! d’opposti affetti mi destate nel sen odio, ed amore! Vendetta deggio a chi mi diè la vita, gratitudine a chi vita mi rende... oh Ilia! oh genitor! oh prence! oh sorte! oh vita sventurata! oh dolce morte! Ma che? m’ama Idamante?... ah no; l’ingrato per Elettra sospira, e quell’Elettra è mia rivale. Quanti mi siete intorno carnefici spietati?... orsù sbranate vendetta, gelosia, odio, ed amore, sbranate sì quest’infelice core!

Wann endlich hat mein bitteres Unglück ein Ende? Arme Ilia! Trauriger Überrest eines fürchterlichen Sturms, des Vaters und der Brüder beraubt, der grausamen Feinde Blut mit dem edler Opfer ver­mischt, welch trauriges Schicksal haben die Götter mir nun noch bestimmt?... Aber ihr habt die Zerstörung Trojas und die Schmach des Priamos gerächt. Die Flotte der Argiver ist gesunken, und Idomeneo womöglich von einem gefrässigen Orca verschlungen... Doch was nützt mir das, o Himmel, wenn ich beim ersten Anblick des tapferen Idamante, der mich den Wellen entriss, den Hass abstreifte und mein Herz eher gefangen war, als ich bemerkte, dass ich zur Sklavin geworden. Welcher Widerstreit der Gefühle, o Götter! Ihr erweckt in meinem Herzen Hass und Liebe! Rächen muss ich den, der mir mein Leben schenkte, Dankbar­keit schulde ich jenem, der es mir erhält... Ilia! Vater! Prinz! Schicksal! Unseliges Leben! Süsser Tod! Doch wie? Sollte Idamante mich lieben?... Ach, nein, der Undankbare liebt Elektra, und diese ist meine Rivalin. Wieviele seid ihr, erbarmungslose Henker?... Nun, so zerfleischt denn, Rache, Eifersucht, Hass und Liebe, zerfleischt mein unglückliches Herz!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Nº 1 ARIA

NR. 1 ARIE

ILIA

ILIA

Padre, germani, addio! Voi foste, io vi perdei. Grecia, cagion tu sei. E un greco adorerò? D’ingrata al sangue mio So che la colpa avrei; Ma quel sembiante, oh Dei! Odiare ancor non so.

Vater, Brüder, ade! Ihr lebt nicht mehr, ich habe euch verloren. Griechenland, du trägst die Schuld, und ich will einen Griechen lieben? Ich weiss, ich wäre undankbar den Meinen gegenüber, doch sein Gesicht, o Götter, ich kann es noch nicht hassen.


Programmheft IDOMENEO Dramma per musica in drei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere am 4. Februar 2018, Spielzeit 2017/18

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Kathrin Brunner

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Kathrin Brunner. – Das Interview mit Jetske Mijnssen, das Interview mit Giovanni Antonini und der Essay von Kathrin Brunner sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Den Text «Das Meer» entnahmen wir: Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960. – Den Text zu Mozarts «Idomeneo»-Quartett entnahmen wir: Stefan Kunze: Mozarts Opern, Stuttgart 1984. – Den Text «Das Gelübde» entnahmen wir: Lion Feuchtwanger, Jefta, Los Angeles 1957. – Den Text «Das Opfer» entnahmen wir: C. G. Jung, Psychologie und Religion, Olten 1971-1990. – Die beiden Texte von Ivan Nagel entnahmen wir: Ivan Nagel,

Studio Geissbühler Fineprint AG

Autonomie und Gnade, München Wien 1988. – Den Brief­ wechsel von Wolfgang Amadeus Mozart entnahmen wir: http:// www.mozarteum.at / wissenschaft /digitale-mo­ zart-edition/briefe-dokumente.html. Bildnachweis: Monika Rittershaus fotografierte das «Idomeneo»-En­ semble bei der Klavierhauptprobe am 25. Januar 2018. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Walter Haefner Stiftung Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Max Kohler Stiftung

Kühne-Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Swiss Life Swiss Re Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

GÖNNER Abegg Holding AG LANDIS & GYR STIFTUNG Accenture AG Juwelier Lesunja Josef und Pirkko Ackermann Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Alfons’ Blumenmarkt Stiftung Lyra zur Förderung hochbegabter, Allreal junger Musiker und Musikerinnen Ars Rhenia Stiftung Die Mobiliar Familie Thomas Bär Fondation Les Mûrons Berenberg Schweiz Neue Zürcher Zeitung AG Beyer Chronometrie AG Notenstein La Roche Privatbank AG Elektro Compagnoni AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung Stiftung Melinda Esterházy de Galantha StockArt – Stiftung für Musik Fitnessparks Migros Zürich Van Cleef & Arpels, Zürich Fritz Gerber Stiftung Verein «500 Jahre Zürcher Reformation» Gübelin Jewellery Else von Sick Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Walter B. Kielholz Stiftung Zuger Stiftung für Wirtschaft und Wissenschaft KPMG AG Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung FÖRDERER Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Luzius R. Sprüngli Garmin Switzerland Elisabeth Stüdli Stiftung Goekmen-Davidoff Stiftung Fondation SUISA Horego AG Confiserie Teuscher Sir Peter Jonas Madlen und Thomas von Stockar Richards Foundation Zürcher Theaterverein


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