Manon

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MANON

JULES MASSENET


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MANON JULES MASSENET (1842-1912)

Partner Opernhaus Zürich

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HANDLUNG Erster Akt Vor der Poststation in Amiens: Guillot de Morfontaine und der Steuerpächter Brétigny verbringen den Abend mit Poussette, Javotte und Rosette. Reisende treffen ein, unter ihnen befindet sich auch der Gardist Lescaut. Er hat den Auftrag, seine Cousine Manon, die nach Ansicht der Familie das Vergnügen allzu sehr liebt, in ein Kloster zu bringen. Manon ist berauscht von den vielen neuen Ein­drücken, die ihr die Reise eröffnet hat. Als sich Lescaut dem Kartenspiel widmet und Manon einen Moment lang unbeobachtet lässt, macht ihr Guillot Avancen. Für ihre Liebe bietet er ihr ein Leben in Luxus an. Manon weist das Angebot ab. Da erscheint der Chevalier Des Grieux, der sich auf dem Weg zu seinem Vater befindet. Er erblickt Manon und verliebt sich auf der Stelle in sie. Des Grieux und Manon beschliessen kurzerhand, nach Paris in eine gemeinsame Zukunft zu fliehen.

Zweiter Akt Eine Mansardenwohnung in Paris: Des Grieux und Manon lesen den Brief, mit dem der mittellose Chevalier seinen Vater um Erlaubnis für seine Hochzeit mit Manon bitten will. Wenig später werden die beiden von Lescaut und Brétigny in ihrem Liebes­nest überrascht. Diese haben inzwischen mit dem Vater von Des Grieux gemeinsame Sache gemacht: Des Grieux soll gewaltsam von Manon entfernt und wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Während sich Lescaut gegenüber Des Grieux als Rächer der Familienehre aufspielt, stellt Brétigny Manon ein Leben in Glanz und Luxus an seiner Seite in Aussicht. Er beschwört sie, dem Geliebten nichts von der bevorstehenden Entführung zu verraten. Manon nimmt wehmütig Abschied vom gemeinsamen Leben mit Des Grieux und lässt die Entführung geschehen.

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Dritter Akt Auf der Promenade Le Cours-la-Reine: Die Bevölkerung hat sich zu ei­nem Fest versammelt, Händlerinnen und Händler bieten ihre Waren an. Als die elegante Manon an der Seite Brétignys erscheint, zieht sie alle Blicke auf sich. Sie beschwört das Glück des flüchtigen Augenblicks. Zufällig belauscht Manon ein Gespräch zwischen Brétigny und dem alten Grafen Des Grieux, der von seinem Sohn berichtet, dieser habe eine Priesterlaufbahn in Saint-Sulpice eingeschlagen und halte noch diesen Abend seine erste Predigt. Die Vorstellung, Des Grieux könnte sie vergessen haben, beunruhigt Manon. Nach einer Ballett­aufführung, die Guillot Manon geschenkt hat, eilt sie nach Saint-Sulpice zu Des Grieux. Im Kloster Saint-Sulpice: Des Grieux wird wegen seiner Gabe als Prediger umschwärmt. Sein Vater versucht ihn vergeblich von der Priesterlaufbahn abzubringen und ihn zu einer angemessenen Heirat zu überreden. Des Grieux will sein Leben Gott weihen und seine ehemalige Geliebte vergessen. Da taucht Manon auf und bittet Des Grieux um Vergebung. Des Grieux kann ihr nicht länger widerstehen und geht erneut eine Verbindung mit ihr ein.

Vierter Akt Spielsalon im Hôtel de Transylvanie: Manon und Des Grieux haben kein Geld mehr, doch Manon möchte den Luxus nach wie vor nicht missen. Sie überredet Des Grieux, beim Kartenspiel um Geld zu spielen. Guillot fordert Des Grieux zu einer Partie heraus. Des Grieux gewinnt gegen Guillot, der ihn daraufhin des Falschspiels bezichtigt. Guillot verlässt den Raum und kehrt mit der Polizei zu­rück, die Manon und Des Grieux verhaftet. Der alte Graf Des Grieux erscheint und bewirkt die Freilassung seines Sohnes. Manon jedoch, von Guillot als Diebin bezichtigt, erfährt die ganze Härte der Strafjustiz.

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Fünfter Akt Auf der Strasse nach Le Havre: Des Grieux und Lescaut warten auf die Straf­ täterinnen, die nach Amerika deportiert werden sollen. Sie bestechen die Wachen, damit Des Grieux mit Manon sprechen kann. Doch Manon ist von den Strapazen im Gefängnis schwer gezeichnet. Sie stirbt in den Armen von Des Grieux, nachdem sie ihn noch einmal an ihre gemeinsame Zeit in Paris erinnert hat.

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DER TRAUM VOM GROSSEN GLÜCK Regisseur Floris Visser über die schillernde Titelfigur Manon und die Dynamik einer speziellen Paarbeziehung

Floris, was ist das Besondere an Jules Massenets Oper Manon? Wie hast du dich dem Stück genähert? Eigentlich wie ein Filmregisseur. Mich hat die reiche, bildhafte und in jedem Moment überraschende Musik von Massenet sofort erreicht. Vor meinem inneren Auge habe ich sogleich Bilder und Bewegungen im Raum ge­sehen, filmische Momente, und dann habe ich angefangen, die Oper für mich zu zeich­nen. Massenet geht mit der er­zählten Zeit wie mit einem Gummiband um, das er dehnt und wieder zusam­menschnurren lässt. Er wechselt hin und her zwischen grossen Massenszenen und kammer­spiel­­artigen Szenen, gleitet von einer Totale in einen Zoom. Das erste Zusam­mentreffen von Manon und Des Grieux, wenn die beiden wie vom Liebesblitz getroffen werden, erleben wir zum Beispiel wie unter dem Ver­grösserungs­glas. Massenet schreibt sechs verschiedene Bilder vor, und kein Bild steht länger als 20 Minuten. Das gibt der Oper insgesamt etwas Gehetztes. Die Geschichte ist episodenhaft aufgebaut, wie ein Bilderbuch, in dem wir die Seiten umblättern: Wir erleben Manons Karriere vom jungen Mädchen aus der Provinz, ihren Aufstieg in der Grossstadt Paris und ihren Niedergang als gefal­lenes Mädchen in Le Havre. Manon formuliert das am Anfang und am Ende der Oper gleich selbst: «C’est l’histoire de Manon Lescaut.» – ein Satz, der dem ganzen Stück etwas Artifizielles verleiht. Die Oper geht zurück auf einen Roman von Abbé Prévost aus dem 18. Jahrhundert und hat seither viele Komponisten inspiriert. Der Klang des Namens «Manon» ist ja bereits schon Musik. Wer ist sie?

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Im Roman wird Manon durch die sie umgebenden, männlichen Personen definiert. Sie ist der Mittelpunkt eines ganz bestimmten Kosmos. Man erfährt im Buch nicht, wie sie aussieht, und nichts über ihre Gefühle oder Mo­ti­va­­ tionen. Man erfährt nur, wie sie agiert und wie die Männer in ihren Sog geraten. Im Buch bleibt sie ein Rätsel. Dass man Manon nicht wirklich zu fassen bekommt, hängt im Roman auch damit zusammen, dass wir sie aus der subjektiven Sicht von Des Grieux erleben. In der Oper aber gibt es diese Perspektive nicht, hier hat sie eine eigene Stimme. Was sind für dich die Hauptmerkmale von Mas­senets Manon? Manon ist fragil und ehrgeizig, sie ist schön, sie ist sexuell attraktiv und manipuliert die Männer. Sie glaubt ihre eigenen Lügen, in dem Moment, in dem sie eine Geschichte erzählt. Sie biegt die Wahrheit nach ihrem Gutdünken zurecht. Manon hat keinen Filter, um zu sagen, da habe ich jetzt gelogen. Heute würde man das wohl mit einer Borderline-Persönlichkeit beschreiben.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Bevor wir Manon für krank erklären, muss man doch deutlich sagen, dass oder am desVorstellungsabend sie innerhalb gesellschaft­lichen Systems, wie es bei Masse­im net be­ Foyer schrie­ben ist, gar keine andere Chance hat, um weiterzukommen, wenn sie nicht ab und Opernhauses zu die Wahrheit zu ihren Gunstenerwerben dreht oder den einen des oder anderen gegen­einander ausspielt. Das stimmt. Manon macht ihren Weg in einer Zeit, in der Frauen kaum Möglichkeiten hatten, in einer männlich geprägten Gesellschaft aufzusteigen, und keinen eigenen Beruf ausüben durf­ten. Deshalb habe ich mich ja auch entschieden, die Geschichte in der Belle Époque, der Zeit Massenets zu erzählen. Dennoch: Manon könnte doch auch ganz einfach bei ihrem ersten Partner Des Grieux bleiben … Manon ist 16 Jahre alt, hat ihr Leben noch vor sich und bekommt Ge­schen­­­ke von einem Verehrer. Da ist es doch nicht so leicht, dem zu widerstehen. Das ist mir zu simpel. Nein, sie ist nicht einfach naiv, sondern ihr fehlt in

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wich­tigen Momenten die Moral. Sie ist die Beziehung mit dem jungen Stu­­­denten Des Grieux eingegangen, um sich selbst zu bestätigen; er bestätigt ihre Selbstliebe. Manon ist noch nicht er­wach­­sen und stabil genug, um zu erken­nen, dass eine Beziehung zwei gleich­berechtigte Partner auf Augen­hö­he braucht. Dass man zunächst mit sich selbst glücklich sein muss. Manon ist sprunghaft und sicher auch egozentrisch. Sie hat viele ver­ schiede­­ne Register, um sich auszudrücken, und verwendet diese je nach Situation… Und sie ist gefährlich. Ohne es zu wissen, zerstört Manon Menschen. Andererseits hat sie ja auch eine gros­se Lebensfreude. Sie ist verführerisch, sie macht, was sie will, nimmt sich, was sie möchte. Für eine Frau des 19. Jahrhunderts – oder wenn wir den Roman von Abbé Prévost im Blick haben, des 18. Jahrhunderts – ist das doch ein ziemlich emanzi­pier­ter Charakter … Ob es Lebensfreude ist, weiss ich nicht. Sie hat auf jeden Fall einen Hunger nach Freiheit. Sie entkommt dem engen Korsett, in das sie ihre Eltern stecken wollen, nämlich ein Leben im Kloster zu verbringen. Sie reagiert in jeder Hinsicht immer sehr intensiv. Alles, was Manon tut, ist extrem. In die eine oder andere Richtung. Auffällig ist, dass sie immer von sich selbst in der dritten Person spricht. Sie sagt selten «ich» … Das machen Narzissten doch sehr gerne. In dem Moment, in dem Manon von sich selbst in der dritten Person spricht, kann sie alles Unangenehme, alle Probleme von sich wegschieben. Es hat dann nur noch bedingt etwas mit ihr zu tun. Sie macht sich dadurch immer auch zum Opfer und nicht nur zur Täterin. Dennoch erleben wir diese Figur auch sehr reflektiert, etwa, wenn sie die eigene Vergänglichkeit thematisiert. Es ist Manon bewusst, dass sie nicht für immer jung und schön sein wird.

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Ja, sie hat durchaus melancholische Momente, die ich aber mit einem gewis­­sen Schuldbewusstsein verbinde, zum Beispiel im zweiten Akt in ihrer be­rühm­ten Arie «Adieu, notre petite table», wenn sie innerlich Abschied nimmt von Des Grieux. Manon weiss in diesem Moment ganz genau, dass sie diese Trennung eines Tages bereuen wird. Einerseits ist diese Oper eine Art Stationendrama, das die Geschichte der Titelfigur erzählt, andererseits wird die Romanze zwischen Manon und dem Chevalier Des Grieux beleuchtet. Was für eine Dynamik herrscht zwischen den beiden? Es ist eine on-and-off-Beziehung und eine typische Verbindung von zwei Menschen, die beide noch nicht bereit füreinander sind, um wirklich in die Tiefe zu gehen. Beide sind zu jung und zu unerfahren dafür. Manon ist ge­fährlich – aber auch Des Grieux ist gefährlich, denn wenn er sein Herz öff­net, ist er vollkommen verloren. Da ist er einfach zu rein.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Trotzdem ergreift Des Grieux die einzige Gelegenheit, die sich ihm bietet, um von seiner vorbestimm­ten Laufbahn abzukommen. Er befindet oder am Vorstellungsabend Foyer sich auf dem Nachhauseweg zu seinem Vater, trifft auf Manonim und brennt mit ihr nach Paris durch. Ja, er sucht wahrscheinlich intuitiv die Freiheit, aber sofort schnappt die des Opernhauses erwerben Mause­falle zu, und Des Grieux ist gefangen. Man kann aber nicht sagen, dass es Manon ist, die diese Falle für ihn bereitet hat. Des Grieux macht das schon selbst. Beide haben ihre Schuld am Scheitern dieser Beziehung. Im wirklichen Leben könnten die beiden nie ein glückliches Ehepaar sein! Des Grieux hat ja auch sehr klein­bürgerliche Vorstellungen davon, wie diese Beziehung aussehen könnte … Er träumt von einem kleinen wei­ssen Haus mitten im Wald, und Manon ist mit ihren 16 Jahren sicher noch nicht daran interessiert, ein Leben fern aller Vergnügungen, abgeschnitten vom gross­städtischen Treiben, zu leben. Des Grieux redet über das Heiraten, aber die beiden sind dafür noch überhaupt nicht bereit.

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Mit dem reichen Bewerber Brétigny erlebt Manon später jedoch auch kei­ne Erfüllung und geht zu Des Grieux zurück, als sie hört, dass er sich zum Priester weihen möchte. Warum schafft es Manon, Des Grieux er­ neut zu erobern? Des Grieux liebt sie noch immer, und Manon liebt ihn auf ihre egozentrische Weise irgendwie auch. Sie weiss, dass sie zuvor einen kapitalen Fehler be­ gangen hat. Es ist sehr deutlich, dass sich die beiden noch immer brauchen und einander auf Gedeih und Verderben ausgeliefert sind. Es gibt im dritten Akt im Klosterbild diese wunderbare Arie, wo Des Grieux Gott bittet, die Erinnerung an Manon auszulöschen. Aber das gelingt ihm nicht, denn Des Grieux ist richtiggehend liebeskrank. Er leidet noch immer und ist noch nicht stark genug, um sich von ihr loszu­sagen. Manon hat also ein leichtes Spiel. Trotzdem ist es erstaunlich, dass Manon ihr luxuriöses Leben mit Brétigny aufgibt. Plötzlich ist dieser Glanz, dieses Geld nicht mehr inter­essant. Manon hat aber immerhin für ein paar Monate ein schönes Leben gehabt. So eine Beziehung mit einem Sugar Daddy dauert ja nie lange, und Manon erkennt die Leere einer solchen Ver­bindung ziemlich rasch. Da ist sie dann eben doch noch sehr lebenshungrig. Wie ist Manon insgesamt mit der Gesellschaft verknüpft? Manon kommt wahrscheinlich aus einer mittleren sozialen Schicht. Die Tat­sache, dass sie ins Kloster gehen muss, bedeutet, dass sie mindestens zur Haute Bourgeoisie gehören muss. Aber sie versucht natürlich, sich immer höher in der Gesellschaft hochzuarbeiten, und das macht sie sehr klug. Das ist richtiggehend mühsame Arbeit. Auf dem Gipfel ihrer Karriere wird sie dann zu einer Art Schönheitskönigin, heute könnte man das mit einer Paris Hilton oder einer Sylvie Meis, mit einem It-Girl, vergleichen. Diese Frauen können sehr reich werden und autark sein, ohne wirklich ein Talent zu haben. Wie ist die Gesellschaft bei Massenet genau charakterisiert? Es ist eine voyeuristische Gesellschaft, die Klatsch und Tratsch liebt, eine Gesellschaft, die die Leute sehr schnell negativ beurteilt, eine Gesellschaft, die

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aus einem ganz bestimmten Klassen­system mit all seinen negativen Aus­wüch­ sen besteht. Massenet hat dem damaligen Pariser Publikum den Spiegel vorgehalten. Die Leute sind flach, oberflächlich und zynisch. Alles, was hier zählt, ist das Amüsement und das Geld. Es wird sehr genau beäugt, ob jemand erfolgreich oder nicht erfolgreich ist. Dementsprechend ist die Lust und Freude am Niedergang auch sehr gross, nie geht es um die Qualität eines er­füllten Lebens. Insofern ist diese Oper vergleichbar mit Verdis La traviata, wo eine sehr ähnliche Gesellschaft beschrieben wird, und Manon hat durchaus Züge von Verdis Violetta … Manon verbrennt sich an dieser Gesellschaft wie ein Schmetterling am Licht, wie Ikarus, der zu nahe an die Sonne fliegt. Des Grieux wiederum verbrennt sich an der Liebe.

Das komplette Programmbuch Die beiden kommen am Ende nicht zusammen, die Liebe bleibt ein Wunsch­traum. können Sie auf Sie kommen durchaus zusammen, aber im Angesicht des Todes. www.opernhaus.ch/shop Sind Manon und Des Grieux in ihrem tragischen Scheitern mit Tristan und Isolde vergleichbar, nur ohne Trank? oder am Vorstellungsabend im Foyer Tristan und Isolde erzählen von einer tiefen metaphysischen Liebe, in Manon ist das etwas völlig anderes. Bei Mas­se­net erleben wir kein Idealbild der Liebe, sondernOpernhauses beobachten zwei junge Menschen,erwerben die beide auf eine gewisse des Weise einfach sehr normal sind.

Das Gespräch führte Kathrin Brunner

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«Manon war ein Geschöpf von aussergewöhnlichem Charakter. Niemals war einem Mädchen weniger an Geld gelegen als ihr, und doch hatte sie keinen Moment Ruhe, sobald sie fürchtete, es könnte daran mangeln. Was sie brauchte, waren Lustbarkeiten und Zeit­ ­vertreib. Sie hätte niemals auch nur einen Sou an­­gerührt, wenn man sich hätte vergnügen können, ohne dass es etwas kostete. Sie erkundete sich nicht einmal, wie es um unsere Mittel bestellt war, solange sie den Tag auf angenehme Weise verbringen konnte. Und da sie sich weder übermässig dem Spiel hingab, noch an protziger Geldverschwendung Gefallen fand, war nichts leichter, als sie zufrieden zu stellen, wenn man ihr alle Tage Amüse­ments nach ihrem Geschmack bot. Allerdings waren diese Lustbarkeiten so unent­behrlich, dass ohne dergleichen weder auf ihre gute Laune, noch auf ihre Zuneigung zu zählen war. Obwohl sie mich zärtlich liebte, und ich, wie sie aus freien Stücken be­ kann­te, der einzige war, der ihr vollkommene Liebes­ freuden zu bieten vermochte, war ich mir beinahe sicher, dass ihre Liebe gewissen Befürchtungen nicht gewachsen sein würde. Sie hätte mich der ganzen Welt vorgezogen, wenn ich über ein mittleres Vermögen verfügt hätte; doch zweifelte ich nicht im geringsten daran, dass sie mich um irgendeines neuen Monsieur B… willen verlassen würde, sollte ich ihr nur noch Treue und Beständigkeit zu bieten haben.»

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Abbé Prevost: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut


OPER ZWISCHEN DEN ZEITEN Jules Massenets Oper «Manon» ist ein Echo auf den gesellschaftlichen Wandel im Industriezeitalter Serge Honegger

Die Uraufführung von Manon im Jahr 1884 fällt in eine Zeit, in der in Paris Anstrengungen unternommen wurden, den Theaterbesuch zu demokratisieren. Die Aufführungen sollten auch jenen zugänglich gemacht werden, die nicht den gesellschaftlichen Eliten angehörten. Aus konservativer Sicht rüttelten solche Bestrebungen natürlich am Verständnis dessen, wofür die Institution Theater stehen soll, was ihre Existenzberechtigung ausmacht und an wen sich die Pro­ duk­tionen der Opéra-Comique zu richten haben. Diese Fragen wurden nicht nur in den Salons der kulturinteressierten Kreise debattiert. Sie beschäftigten ebenfalls eine ganze Reihe von einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden und Einzelpersonen, die für sich in Anspruch nahmen, darüber bestimmen zu können, was ein solches Theater leisten muss – und was nicht. Dieser viel­stimmige Chor, dem sich die damaligen Theaterdirektoren zu stellen hatten, wurde gebildet vom Publikum mit seinen spezifischen Vorlieben, von meinungsbildenden Kritikern, Verlegern, finanzstarken Zirkeln des Bürgertums, Beamten des Bildungs- und Kulturministeriums, vom künstlerischen und administrativen Personal am Theater sowie von der einflussreichen Gesellschaft der Theaterauto­ ren («Societé des Auteurs et Compositeurs Dramatiques»). Die Steuerung eines solchen Kulturtankers wie die damalige Opéra-Comique stellte eine äusserst diffizile Angelegenheit dar. Es müssen Erwartungen an künstlerische Qualität er­füllt und Unterhaltungsbedürfnisse befriedigt werden. Neue Publikumsschich­ ten wollen sich ebenso auf der Bühne repräsentiert sehen, wie die alteingesesse­ ne Klientel verlangt, dass ihren Seh- und Hörgewohnheiten Rechnung getragen wird. Mit Blick auf die Uraufführung von Manon scheint es, als ob die damali-

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gen Produktionsverantwortlichen ganz gezielt auf solche Faktoren geachtet hätten, um die Wirkung der Oper zu erhöhen. Für einen Publikumserfolg sind in Manon nahezu alle nötigen Ingredienzien vorhanden: ein populärer Stoff aus dem 18. Jahrhundert, dessen Skandalpotenzial durch den Klassiker-Status der Vorlage etwas gemildert wird; sechs Bilder in fünf Akten, in denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen zur Darstellung gelangen sowie eine Partitur, die zwar dem Geschmack nach durchkomponierten Opern entgegenkommt, den Konversationston der Opéra-Comique aber mitschwingen lässt. Operngeschichtlich markiert Manon einen Höhepunkt dieser Ausprägung des Musiktheaters. Der Komponist und seine Librettisten Henri Meilhac und Philippe Gille erinnern mit den Referenzen an das 18. Jahrhundert an die Geschichtlichkeit der Oper als künstlerische Ausdrucksform. Damit ist dem Werk ein Zittern vor der Gegenwart und ein Unbehagen gegenüber dem sich ankündigenden Zeitenwechsel eingeschrieben. Nur wenige Jahre nach der Uraufführung von Manon werden beispielsweise die ersten Filmtheater eröffnet, wodurch dem Theater als eine starke Konkurrenz erwachsen wird. Die Titelfigur in Massenets Oper repräsentiert die Unruhe der Moderne paradigmatisch. Manons Handlungen sind mehrdeutig, widersprüchlich und lassen ihre Umgebung über die ihnen zugrundeliegenden Motive rätseln. In einer Zeit der Beschleunigung wird das gesellschaftliche und kulturelle Leben von einem Gefühl des Taumelns erfasst. Massenet reagiert darauf, indem er in Manon die Vergangenheit als einen vermeintlichen Hort der Stabilität zeichnet.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Ein Name mit vielen Gesichtern Nie lässt Manon ihre Hüllen ganz fallen, damit wir sähen, was und wer sie wirk­ lich ist. Dieser Aspekt kommt im 1731 erschienenen Roman von Abbé Prévost noch stärker zum Tragen. Dort werden die Äusserungen von Manon nur indirekt vermittelt, da sich der Erzähler für seinen Bericht auf die Schilderungen von Des Grieux beruft. Manon wird dadurch gleich dreifach zur Projektionsfläche: durch Des Grieux, für den sie sowohl höchstes Glück als auch allergrösstes Ver­derben bedeutet; durch den Erzähler, der dem Leser versichert, er habe die Ge­schichte

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genauso aufgeschrieben, wie sie ihm von Des Grieux berichtet worden sei; und schliesslich durch das Lesepublikum selber, das zu entscheiden hat, in welchem Licht es Manon sehen will. Prévost weiss als Autor um diesen schil­lern­den Effekt, den sein erzählerisches Verfahren hervorruft. Ob Manon eine venushafte Liebes­ göttin oder ein vergnügungssüchtiges, nach Geld gierendes It-­Girl aus dem 18. Jahrhundert ist, wird der Fantasie des Lesepublikums überlassen. Durch die Übersetzung in das Medium Oper tritt Manon, verkörpert durch die Sängerin, leibhaftig in Erscheinung. Das Theaterpublikum erfährt damit nicht indirekt über eine mehr oder weniger zuverlässige Schilderung eines Erzählers von ihr, sondern sieht sie gleichberechtigt neben den anderen Figuren agieren. Dabei ist es Massenet und seinen beiden Librettisten gelungen, das höchst Zwie­ spältige und Skandalöse der Romanfigur zu erhalten. Manon lässt sich so­wohl als Unschuld vom Land lesen als auch als Verkörperung eines Kunstideals, als Prostituierte, als eine vom Olymp gestiegene Venus der Moderne oder einfach nur als eine wandelbare Hülle, die zwar einen Namen trägt, aber mehrere Ge­ sich­ter zeigt. Manon ist, auf der Opernbühne aufgeführt, eine fleischgewordene Fantasie. Die Verkörperung durch eine Sängerin befreit Manon aus der Schrift. Sie erhält für die Dauer der Aufführung ein Leben, das gleichwohl immer noch fiktional ist und verschieden interpretiert werden kann.

Die Fixierung des Vergänglichen Die mit dem Namen ‹Manon› bezeichnete Figur garantiert den inneren Zusammenhalt der sechs verschiedenen Tableaus. Diese meinen nicht nur das Zeitalter Prévosts, sondern bringen als klingende und bewegte Gemälde auch das Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Entstehungszeit der Oper, zur Darstellung. Über die Titelfigur sind die sechs Bilder, aus denen die Oper besteht, zu einer Geschichte verknüpft. Die unterschiedlichen Schauplätze, in denen gegensätzliche soziale Räume dargestellt sind, werfen ihr ganz eigenes Licht auf Manon. In den ver­schie­denen Ansichten erscheint sie als «rätselhafte Sphinx» und «leibhaftige Sirene», wie ihr Des Grieux im Spielsalon des Hôtel de Transylvanie bewundernd und zugleich erschrocken zuruft. Den Reiz, den

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sie auf die anderen Figuren ausübt, ist jenem vergleichbar, der ihre Popularität beim Theaterpublikum begründet: Sie ist mehr Hülle als Körper und entfacht ein Begehren, weil sie jedem und jeder eine eigene Lesart anbietet. Massenet ruft diesen Umstand am Ende seiner Oper nochmals ganz deutlich in Erinnerung, wenn er seine Protagonistin mit den Worten verscheiden lässt: «Et c’est là l’histoire... de Manon Lescaut.» Sie verwandelt sich mit dieser Selbstaussage in das Resultat jenes Schreibakts zurück, mit dem sie ursprünglich von Prévost zu Papier gebracht und damit ins literarische Existieren gehoben wurde. Diese «histoire» bezeichnet aber nicht nur eine dramatische und erzählbare Ereignisfolge. Massenet markiert mit diesem Schlusssatz seiner Titelfigur, dass seiner Oper ein historisches Bewusstsein eingeschrieben ist. So verarbeitet der Komponist an zahlreichen Stellen seiner Partitur musikalische Referenzen an das 18. Jahrhundert. Auf diese Weise wird in Manon die Gegenwart als eine von der Vergangenheit abgetrennte Zeit ausgewiesen. Die damit verbundene Nostalgie – vergleichbar Richard Strauss’ Rosen­kavalier – steht in der Oper für das Bewusstsein einer untergehenden Epoche. Das Heute wird dagegen als eine Welt gezeigt, die dem Begehren der Protagonisten feindlich gegenübersteht. Für das Industriezeitalter ist der Takt der Herzen eine zu filigrane Musik.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Vertreibung aus Arkadien des Opernhauses erwerben Dem Leben am Anfang des Fin de Siècle ist das Bewusstsein eingeschrieben, dass sich durch die industrielle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig Veränderungen in allen Bereichen ergeben müssen. Das Kunst­schaffen jener Zeit reflektiert dieses Zeitgefühl nicht nur auf den Theater­ bühnen. So entfaltet sich beispielsweise in den Stadtansichten und gesellschaftlichen Szenen, die in den Gemälden von Édouard Manet, Camille Pissarro oder Gustave Caillebotte zu sehen sind, das städtische, gesellschaftliche, kulturelle und modische Leben als ein oszillierender Reigen aus Momentaufnahmen. Geschickt wird auch in Manon eine Abfolge von kontrastierenden Räumen gezeigt, die entweder die gesellschaftliche Arena oder Orte des Privaten repräsentieren. Von diesem Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Intimität ist nicht zuletzt

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auch die Institution des Theaters geprägt. Während auf der Bühne der Konflikt zwischen sozialer Welt und individueller Existenz verhandelt wird, sehen sich im Zuschauerraum alle Anwesenden mit ihrer Position im gesellschaftlichen Raum konfrontiert. Der transitorische Charakter Manons markiert in der Oper von Massenet vor diesem Hintergrund ein ganz bestimmtes Zeitgefühl am Ende des 19. Jahrhunderts, das keine verbindlichen Fixpunkte mehr kennt.

Wie die Oper über sich selber nachdenkt In Manon findet sich eine vielsagende Szene, in der die Wirkung theatraler Darstellungen reflektiert wird. So gelangt im ersten Bild des dritten Akts auf dem Cours-la-Reine das Ballett der Pariser Oper zu einem Auftritt. Die Vorfüh­ rung besteht aus einer Abfolge vier handlungsloser Entrées. Gerade die NichtHandlung markiert den Kunstcharakter dieser Aufführung in der Aufführung. Die Entrées beziehen sich nicht auf ein bestimmtes Sujet und lassen damit das künstlerische Ereignis für sich selbst sprechen. Manon hatte sich das Opern­ ballett von ihrem Liebhaber Brétigny unter Tränen erbeten. Als er ihr diesen Wunsch aus finanziellen Gründen abschlägt, springt Guillot in die Bresche. Er ist ebenfalls in Manon verliebt und gibt für das Spektakel sein letztes Geld aus. Umso schmerzhafter muss für ihn die Reaktion Manons sein. Auf seine Frage, ob ihr die Aufführung gefallen habe, entgegnet Manon: «Ich habe nichts ge­ sehen!» Das Medium des Theaters erscheint in dieser Szene auf den ersten Blick als bedeutungs- und wirkungslose Kunstform. Weder erzählt die Ballettdarbietung eine Geschichte, noch vermag sie bei Manon ein Interesse zu wecken oder eine wie auch immer geartete (Selbst-)Erkenntnis hervorzurufen. Auf den zweiten Blick könnte aber gerade die inhaltliche Leere der Ballettvorstellung der Grund dafür sein, dass diese Aufführung ein tiefgreifendes Nachspiel erzeugt. Eingebettet in das Treiben auf dem Cours-la-Reine kreiert die Ballettvorstellung einen Moment der Konzentration. Während der Vorstellung taucht vor dem inneren Auge Manons Des Grieux auf. Im Gegensatz zu Manon liebte er stets unverstellt,

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was ihr in diesem Moment wieder zu Bewusstsein kommt. Sie entscheidet sich darauf, ihn aus dem Priesterseminar zu holen. Die Szene zeigt, dass in einer Zeit, in der sich die Tableaus immer schneller ablösen und das Übergangshafte und Unverbindliche zum Dauerzustand wird, das Theater sein Publikum zu einem Innehalten zu lenken vermag. Während man in Gedanken versunken ist, zeigt sich im Erinnern plötzlich das wahre Ge­sicht eines Ereignisses. In Manon hat jedes Tableau seine eigene Wahrheit, wes­halb das Geschehen erst zu dem Zeitpunkt zur Ruhe kommt, als Manon einen Schlussstrich unter ihre Geschichte zieht – und uns weiter spekulieren lässt.

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JULES MASSENET Jules Massenet war einer der erfolgreichsten französischen Komponisten am Ende des 19. Jahrhunderts. Er wurde 1842 in Montaud (St. Etienne) geboren. Sein Vater war Direktor einer Firma, die Geräte für die Landwirtschaft herstellte. Die Mutter, der Massenet sehr zugetan war, gab Klavierunterricht. Mit zehn Jahren wurde Massenet als Klavierschüler im Konservatorium von Paris aufgenommen, und 1861 trat er in die Kompositionsklasse von Ambroise Thomas ein, dem er zeitlebens grossen Respekt entgegenbrachte. Sein erstes Auskommen bestritt Massenet als Klavierlehrer und spielte die Kesselpauken im Orchester des Théâtre Lyrique. Besonders beeindruckt war er von einer Aufführung, in der Berlioz sein Oratorium L’Enfance du Christ dirigierte. Ebenso fesselten ihn die Konzerte von Richard Wagner im Februar 1860. Im zweiten Anlauf gewann Massenet den wichtigen Preis Prix de Rome und hielt sich im Anschluss zwei Jahre in Italien auf. Er lernte Liszt kennen und durch ihn seine spätere Ehefrau Ninon, die er 1866 heiratete. Zwei Jahre später wurde ihr einziges Kind, Juliette, geboren. Während des Kriegs von Frankreich gegen Preussen, der vom 19. September 1870 bis 28. Januar 1871 dauerte, diente Massenet in der Armee. 1877 triumphierte er mit seiner Grand opéra Le Roi de Lahore, eines der ersten neuen Werke im 1875 erbauten Palais Garnier. Er wurde zum Professor für Komposition ans Konservatorium berufen, wo er bis 1896 Komponisten wie Piernée, Charpentier, Schmitt, Bruneau, Ropartz, Hahn, Koechlin und Enesco unterrichtete. Sein nächster Opernerfolg wurde 1881 in Brüssel uraufgeführt, weil das erotisch aufgeladene biblische Sujet dem Direktor der Opéra-Comique nicht geheuer war. Hérodiade wurde sofort von vielen Theatern nachgespielt. Paris wollte sich so einen Erfolg nicht entgehen lassen, weshalb Massenet den Auftrag für ein Stück bekam, das ihn weltberühmt und vermögend machen sollte: Manon. Anders als die meisten Komponisten jener Zeit konnte sich Massenet Librettisten, Sänger und Theater selber aus­­­ suchen. Zwanzig Opern entstanden in den darauffolgenden 28 Jahren neben

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Ballett- und Theatermusiken. Sein zweites Werk, das heute zum Standardrepertoire gehört, ist seine Umsetzung von Goethes Werther (1892). Aus seiner späteren Schaffensphase hat auf den Spielplänen praktisch nur seine Oper Don Quichotte überlebt, die 1910 in Monte-Carlo uraufgeführt wurde. Massenet gab wenige Interviews, in denen er sich mit seiner Kompositionsweise auseinandersetzte. Trotzdem publizierte die Zeitung Écho de Paris im Jahr 1911 fünf Artikel von Massenet, die im gleichen Jahr in Buchform unter dem Titel Mes souvenirs erschienen. Es wurde lange angenommen, dass Massenet das Komponieren sehr leicht fiel. Die originalen Manuskripte zeigen aber, dass die Arbeit an der Partitur ein stetes Ringen war. Nur eine eiserne Arbeitsdisziplin, die er die ganzen Jahre über aufrechterhielt, befähigte ihn zu der gewaltigen Produktion seines Œuvres. Er war auch kein Liebhaber gesellschaftlicher Anlässe. Seinen eigenen Premieren blieb er oftmals fern, weil er den Trubel verabscheute. Er starb am 13. August 1912 in Paris als gefeierter Komponist der Belle Époque.

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VIRTUOSE DER FORM Gérard Condé

Eine Oper wie Manon, in der alle zwanzig Takte ein anderer vokaler Stil do­ miniert, muss eine ausserordentlich gut durchdachte Gesamtstruktur haben. Andererseits ist es fast selbstverständlich, dass sich ein Komponist, der so viel Wert darauf legt, seine Ausdrucksmittel ständig zu variieren und sie wirkungsvoll einzusetzen, nicht mit der naiven und sentimentalen Aufnahme seines Werkes zufriedengeben will. Wenn man einen anderen Komponisten sucht, der Massenet im Gebrauch und in der Montage verschiedenster vokaler Techniken gleichkommt, findet man wohl keinen vor Alban Berg. Die Tradition der Opéra comique mit ihrem Wechsel von Dialog, Rezitativ und Arie gab Massenet die Möglichkeit zu zahlreichen Variationen und Brüchen, ohne dass er dadurch als Anhänger der musikalischen Moderne auffiel. Die Folge solchen ständigen Wechsels ist eine ganz spezifische Brüchigkeit des musikalischen Vorgangs. Und dieses Bemühen um Diskontinuität ist ein typisches Verfahren des 20. Jahrhunderts. Massenet und Verdi (mit dem bald nach Manon komponierten Falstaff) nehmen diese Entwicklung vorweg. Besonders bemerkenswert ist Massenets Virtuosität der Übergänge. Dabei ist es fast unmöglich, eine feste Regel aufzustellen, nach der die verschiedenen Mittel zum Einsatz kommen. Das gesproche­ne Wort kann ebensogut für Banalitäten wie zum Ausdruck höchster Dramatik eingesetzt werden. Dasselbe gilt für die Ausdrucksformen lyrischen Überschwangs. Und wenn man schon für diese beiden Extreme keine Regel findet, kann man es von den zahllosen anderen Brüchen gar nicht erst erwarten. Zur Zeit der Manon stand das «musikalische Drama» in der Gunst des Publikums. Wenn sich Massenet für Manon also für die Form der Opéra comique nach Art eines Monsigny entschloss, hat er dadurch – was die Vermittlung des dramatischen Gehalts betrifft – eine ganz besondere Situation geschaffen. Dadurch entsteht nämlich automatisch ein Phänomen der Distanzierung – sozu­

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sagen Theater auf dem Theater. Der grosse Erfolg Massenets beruht darauf, dass er diese Konstellation optimal nützt. Seine Musik läuft sozusagen neben der dramatischen Entwicklung her. Er baut um seine Personen eine verführerische Dekoration auf; er bietet dem Hörer vor allem charmante Bilder. Nur im Bild von Saint-Sulpice wird der Ton vorübergehend dramatisch. Sonst ist er vor allem darum besorgt, die Atmosphäre eines goldenen Zeitalters zu schaffen, in dem alles erlaubt war, wo alles gut ausging und mit einem Liedchen endete. Und wo das Hässliche sorgfältig hinter feinen Manieren versteckt war. Erst ganz am Schluss siegt die Tragik. Diese Formel, die darin besteht, dramatische Entwicklung weniger musikalisch als mit anderen Mitteln zur Wirkung zu bringen, wurde wohl nur von Mozart (ganz besonders in Così fan tutte), von Debussy und Berg ebenso erfolgreich wie von Massenet gehandhabt.

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MANONS BEGEHREN Die Psychoanalytikerin Jeannette Fischer über die allumfassende Kraft des Begehrens

Jeannette Fischer, wir treffen uns, weil wir über das Begehren reden wollen. In der Oper Manon von Jules Massenet wird vieles begehrt: Die Männer begehren Manon, Manon wiederum begehrt Luxus, Reich­ tum, Schönheit und Anerkennung. Welche Rolle spielt das Begehren grundsätzlich in unserem Leben? Das Begehren ist der Hauptantrieb menschlichen Handelns! Es ist wie eine Urkraft, die uns vorwärts treibt. Beim Begehren geht es eigentlich immer um das Begehren nach Lust. Das heisst aber nicht, dass das Begehren aus­schliess­lich sexueller Art sein muss. Das Begehren ist in dem Sinne etwas Lustvolles, indem ich versuche, die eigene Unlust aufzuheben, um erneut Wohlbefinden und Lust am Leben zu er­langen. Diese Lebenskraft beginnt bereits mit dem allerersten Schrei. Das neuge­borene Kind drückt damit aus, dass ihm etwas nicht passt. Es empfindet Unlust und will sagen: Unternehmt etwas! Ich will, dass es anders wird, damit ich wieder Lust empfinde, damit ich zufrieden und ruhig bin. Dieser erste Schrei ist keineswegs ein Schrei der Unbeholfenheit. Das Begehren ist also da, um die Unlust, die uns diese Welt permanent verursacht, in Lust zu verwandeln. Dabei geht es auch um ganz banale Bedürfnisse wie «Mir ist kalt», «Ich habe Hunger» oder «Es regnet». Ich bin dann dazu aufgefordert, eine Ich-Leistung zu vollbringen und Eigenverant­wor­tung zu übernehmen, indem ich die unlustvolle Situation aktiv in eine lustvolle verwandle: Wenn es regnet, ziehe ich mir eine Jacke an. Das gilt genauso für grös­sere Zusammenhänge. Wenn ich nicht damit einverstanden bin, was mir mein Chef sagt, werde ich ihm deutlich machen, dass mir etwas nicht passt. Man lernt in der Eigen­ verantwor­tung, die Unlust in Lust zu verwandeln, und dazu hat man grundsätzlich auch die Berechtigung.

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Das Begehren ist demnach etwas durchaus Positives. Absolut! Begehren ist Bewegung: Man bewegt sich, es wird bewegt, man macht neue Erfahrungen. Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Begehren nach der so­genannten Differenz. Hier geht es auch um ein sexuelles Begehren. Man darf das jedoch nicht rein «genital» verstehen, sondern auch im Sinne einer Neugierde, die ero­tisch und sinnlich sein kann. In der Psychoanalyse sagen wir: Wir begehren die Differenz. Wir begehren jemanden, weil er anders ist als ich. Das ist grund­sätzlich etwas Schönes und Unproblematisches. Schwierig wird es erst, wenn Neid und Missgunst ins Spiel kommen und das Ganze in einen Machtdiskurs mündet. Die Strei­tereien fangen an, wenn der andere etwas hat, was ich auch will, oder wenn ich will, dass der andere etwas nicht mehr hat. Dann entstehen Wett­bewerb, Kampf und Zerstörung. Davor warnt uns ja das zehnte Gebot: «Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, noch alles, was dein Nächster hat» … Ja. Aber wer sagt denn eigentlich: «Du sollst nicht»? Wer nimmt hier für sich ein, zu bestimmen, was richtig und was falsch ist? Was spricht dagegen, den einen und die andere auch noch zu begehren? Absolut nichts! Das tut niemandem weh, ausser, wenn man etwas zu verlieren hat: gesellschaftliche Konventionen wie die eigene Ehre, Macht, das Ansehen, die Männlichkeit … das, was in einer Oper dann das Drama ausmacht. Von Freud stammt der berühmte Satz: «Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.» Manons Situation ist für dieses Dilemma exemplarisch: Nachdem sie in der Provinz den Studenten Des Grieux kennengelernt hat und mit ihm nach Paris durch­ gebrannt ist, wendet sie sich schon bald dem reichen Steuerpächter Brétigny zu. Sie verlässt Des Grieux, der Manon aufrichtig liebt. Warum tut sie das? Ist sie nicht fähig, zu lieben? Manon hat möglicherweise erkannt, dass diese Amour fou gar nicht das Höchste der Gefühle ist und irgendwann einmal enden wird. In einer Beziehung bewegt man sich anfangs, im Verliebtsein, ja immer in einer Art Projektion, in einem kleinen Wahn, indem man sich und den Partner ideali-

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siert. Nach einer gewissen Zeit fällt diese Projektion der totalen Liebe jedoch zusammen, da sie zwangsläufig an der Realität scheitern muss. Manon und Des Grieux haben kein Geld, sie leben in armseligen Verhältnissen. Nun würde es darum gehen, eine Form der Beziehung mit und in dieser Realität zu finden. Doch Manon ist offenbar nicht dazu bereit, sondern sucht nach etwas Neuem, nach einem neuen Projektionsfeld. Sie glaubt, dass ihr das die erhoffte Erfüllung bringen wird: Glamour, Geld, Luxus. Kann denn ein Begehren je erfüllt werden? Kann Begehren zur Zufrieden­ heit führen? Bedürfnisse können punktuell und zeitlich befriedigt werden. Das Begehren jedoch kann a priori nicht erfüllt werden, denn sonst gäbe es kein Begehren mehr und wir wären gleichsam tot. Im Roman, im Film oder der Oper wird natürlich immer mit der Idee gespielt, dass ein Begehren auch zur Erfüllung führt. Doch kaum ist dieser Punkt erreicht, endet der Film meistens. In unserer Fantasie spielen wir immer mit der Erfüllbarkeit unseres Begehrens. Dem liegt letztlich etwas sehr Aggressives zugrunde: Wie gesagt, ist das Begehren immer das Begehren nach der Differenz. Wird die Differenz auf­gelöst, bin ich oder der andere vernichtet. Man glaubt, komplett zu sein, wenn man sich den anderen einverleibt. Das kann aber nicht stattfinden, weil sich der andere nicht vereinnahmen lässt. Selbstverständlich kann ich jemanden vereinnahmen, aber dann gibt es ihn nicht mehr als eigenständiges Subjekt, sondern nur noch als einen Teil von mir. Damit kann ich mich gross machen, und der andere ist mein Objekt. Kürzlich bin ich auf ein Zitat von Dalí gestossen, in dem er sagt, dass seine Frau Gala das Grösste und Beste sei, sein Motor, seine Liebe. Dann macht er einen Bindestrich und schreibt – er schreibt «ich» gross: – «Ich». Gala war für ihn also kein eigenständiges Subjekt mehr, das different ist, sondern ein Teil von ihm, das ihm zur Vergrösserung und Komplettierung diente. Hier findet kein Begehren mehr statt, da man je­manden inkludiert hat und die Differenz nicht mehr begehren muss. Im Grunde ist das die Personifikation eines Narzissten. Man muss niemanden mehr begehren. Das ist zwar fürchterlich langweilig, aber man kann sich in dieser Grösse einbetten und von diesem Punkt aus der Welt begegnen.

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Manons Begehren zielt in dieser Oper primär auf Geld und Luxusobjekte. Wie interpretieren Sie das? Es geht hier um das Begehren nach Macht. Um das zu verdeutlichen, möchte ich den umstrittenen Begriff des «Penisneids» von Freud ins Spiel bringen. Freud hat behauptet, dass die Frau neidisch auf den Penis sei. Nun, das stimmt. Sie ist aber nicht neidisch auf den Penis als Organ und will auch gar nie ein Mann sein, sondern sie ist neidisch auf die Attribute, die mit diesem Phallus in Zusammenhang gebracht werden: der Fels in der Brandung zu sein, die Dinge und Emotionen im Griff zu haben, keine Schwäche, Angst oder Schuldgefühle zu haben – mächtig zu sein. Im Kontrast dazu steht die Frau, die alles andere verkörpert: Angst, Schuldgefühle, Anpassungsfähigkeit, Ab­hängigkeit und so weiter. Noch heute, im Jahr 2019, sind Machtattribute sexy. Und ich kann mich noch gut an eine Umfra­ge in den 1980er-­Jahren er­innern, als 67 Prozent der Frauen den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl als hoch attraktiv einstuften … Die Frau kann sich diese Macht­attribu­te über die Verführung gewissermassen aneignen. Manons Begehren ist nicht das Be­ gehren nach der Differenz, sondern nach der Projektion von Macht. Das betrifft Männer wie Brétigny in Manon genauso: Sie begehren Manon, weil sie so schön ist, und glauben, sie als Person zu begehren. In Tat und Wahr­heit meinen sie aber nicht Manon als Person, sondern sie meinen Manon in ihrer Schönheit zur Vervollkommnung ihrer selbst. Manon kehrt ausgerechnet in dem Moment zu Des Grieux zurück, als sie erfährt, dass sich Des Grieux entschieden hat, in den Priesterstand zu treten. Warum ist Des Grieux in dieser Situation für Manon erneut interessant? Ich denke, dass sie es nicht ertragen kann, nicht mehr begehrenswert zu sein und dass man sich von ihr abwendet. Es gibt nun jemanden, der ein anderes Leben hat und anderes begehrt als sie. Das verträgt sich nicht mit ihren Grössenansprüchen. Grundsätzlich ist es ja schön, begehrt zu werden. Diese Kraft zu empfangen oder damit zu spielen, ist auch gar kein Problem. Gefährlich wird es erst, wenn man sich gänzlich damit identifiziert und glaubt, dass einen die ganze Männer­welt zu begehren habe.

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Was bezweckt denn Des Grieux, wenn er sich für einen Weg als Priester entscheidet? Schwört er dem Begehren tatsächlich ab? Wenn er sich in ein Kloster zurückzieht, ist das natürlich der beste Platz, um das Begehren aufrecht zu erhalten. Das Begehren bleibt immer in der Fantasie, denn es gibt nie ein reales Gegenüber. In der Fantasie kann Des Grieux alles machen, sich alles vorstellen. Zwar entsagt er mit der Priesterlaufbahn dem Sex, hat aber natürlich das Kopfkino. Hier kann er sich voll entfalten, weil das Gegenüber nicht als eigenständiges Subjekt mit eigenen Ansprüchen real anwesend ist und möglicherweise sagt: Heute will ich nicht, heute werde ich ins Kino gehen … In seiner Fantasie kann Des Grieux die Differenz aufheben, und ein Leben im Kloster kann ihm das erfüllen. Diese Projektionen laufen in solchen Fantasien wie wild, aber es sind immer Pro­jektionen, die das Gegenüber idealisieren. Sie fallen immer irgendwann zusammen, es sei denn, man ist, wie im Kloster, von der Realität des anderen Menschen ab­geschnitten.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Manon und Des Grieux kommen später tatsächlich wieder zusammen. Doch dann fängt die Misere an: Manon scheint vollends von der Gier, oder am ja Sucht nach Vorstellungsabend Geld beherrscht zu sein. Im «Begehren» stecktim ety­mo­­Foyer logisch gesehen tatsächlich das Wort «Gier». Wie spielen Begehren, Gier unddes Sucht ineinander? Opernhauses erwerben Das Begehren an sich ist nicht destruktiv und auch nicht selbstdestruktiv. Wenn das Begehren hingegen in eine Gier kippt, geht es nicht mehr darum, die Differenz im anderen zu sehen oder mit dieser Differenz einen Umgang zu finden, sondern es geht um den Versuch, sich etwas anzueignen, das einen beruhigt, das einen sättigt. Das ist aber aussichtslos, da man nie vollständig gesättigt sein kann. Diesen Wunsch nennen wir in der Psychoanalyse regressiv. Es ist der Wunsch nach einem embryonalen Zustand. Im Mutterleib kann man gesättigt sein, denn da gibt es immer genügend Nahrung, und man hat meist Ruhe. Es ist ein Wunsch nach einem Zustand, in welchem man keine Eigenverantwortung übernehmen muss.

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In der Differenz hingegen muss ich Arbeit leisten … Ja, ich muss mich darum kümmern, wie ich zu meinem nächsten Essen, zu meiner nächsten Liebschaft komme. Von einem Suchtverhalten spricht man dann, wenn ich davon ausgehe, dass es etwas gibt, das mich für immer und ewig zufriedenstellt und ich nichts mehr dafür tun muss. Es ist in diesem Falle die Verweigerung, Eigenverantwortung zu übernehmen, eine Verweigerung, sich als einen banalen Teil dieser Welt zu sehen. Damit ist es selbstzerstörerisch. In diesem Zustand geht dann auch der Genuss verloren. Übernimmt man hingegen Eigenverantwortung, kann man durchaus Genuss erlangen: Indem man mit der Differenz spielt, den anderen zu verführen versucht, indem man herausfindet, wie weit man den anderen in sein Begehren einbinden kann. Auf diese Art ist dieses Spiel lustvoll und für keine Partei destruktiv. Ein berühmter Satz der amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer lautet: «Protect me from what I want.» Wie würden Sie diesen Satz interpretieren? Ich habe ein Pyjama-Oberteil, auf dem dieser Satz steht, und ich finde ihn wirklich lustig! Ich weiss nicht, wie Jenny Holzer ihn gemeint hat, aber ich glaube, dass damit einerseits zum Ausdruck kommt, wie machtvoll das weibliche Begehren sein kann – das lyrische Ich ist hier ja Jenny Holzer. Andererseits impliziert der Satz, dass man sich vor seinen eigenen Wünschen schützen soll, weil man die gesellschaftlichen Widerstände dagegen kennt. Lebt eine Frau ihre Wünsche aus, verlässt sie automatisch die weibliche Rolle und wird möglicherweise in eine pathologische Ecke gestellt, gilt vielleicht als nymphomanisch, als überdreht … Also ist ein Wunsch nichts, was man sich selbst verbieten müsste. Richtig. Wir Psychoanalytiker gehen ja davon aus, dass der Wunsch Teil des Begehrens ist. Der Wunsch ist immer eine Kraft. Wenn nun der Wunsch als Wunsch nicht anerkannt wird, stellt das in unseren Augen die sogenannte Kastration dar. Hier gilt es zwischen Kastration und Frustration zu unterscheiden. Wenn sich zum Beispiel ein Kind ein Eis wünscht, ist dieser Wunsch

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nach einem Eis zunächst einmal eine grosse Kraft. Wenn wir dem Kind sagen: «So ein blöder Wunsch!», brechen wir den Wunsch. Das ist eine Kastration. Erklären wir dem Kind hingegen, dass es heute kein Eis gibt, weil es bereits Schokolade bekommen hat, und stellen ihm für übermorgen ein Eis in Aussicht, ist das nicht problematisch. In diesem Falle darf der Wunsch weiterbestehen, und die Frustration ist ganz einfach die Begegnung mit der Realität. Frustration ist für den Menschen also kein Problem, die Kastra­ tion hingegen schon. Da wir in einer Gesellschaft leben, die streng hierarchisch organisiert ist, muss man diese Wünsche immer auch innerhalb eines Herrschaftsdiskurses betrachten, denn Wünsche sind naturgemäss subversiv und halten sich nicht an Konventionen. Sie haben eine solche Kraft, dass man sie in den be­stehenden Machtdiskurs irgendwie integrieren muss, damit man den Wunsch unter Kontrolle bringen kann, will man die bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht gefährden. Oft gibt es nur einen engen Kanal, der kontrollierbar ist. Die Leute glauben, dass man mit Gewalt und totaler Anar­chie rechnen müsste, würde man den Wünschen freien Lauf lassen. Das ist aber völliger Unsinn. Ganz im Gegenteil: Da durch die Domestizierung und Repression von Wünschen das kreative Potenzial eingeschränkt wird, wird viel mehr kaputt gemacht.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Könnte man abschliessend sagen, dass es Manon eigentlich gar nicht so des Opernhauses erwerben schlecht macht? Sie nimmt sich, worauf sie Lust hat, lebt ihre Begierden innerhalb der vorherrschenden gesellschaftlichen Mög­lichkeiten frei aus. Ihr Weg ist über längere Zeit doch eigentlich ganz be­wundernswürdig. Durchaus. Sie versucht, sich innerhalb dieses gesellschaftlichen Diskurses zu bewegen und mitzuspielen, ihre Dinge zu erreichen. Und da ist sie erfolgreich. Bis sie ihren alten Liebhaber Des Grieux wieder zurückhaben will... Oft braucht es nur eine kleine Stelle, die das Ganze ins Rollen bringt: Er, der sie nicht mehr will, oder es könnte auch sein, dass sie älter wird und Runzeln bekommt … Aber in der Oper wird man ja eigentlich nie alt! Das Gespräch führte Kathrin Brunner

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«Ich kannte Manon genau. Ich hatte nur allzu deutlich erfahren müssen, dass ich, bei aller Treue und Anhäng­ lichkeit, die sie zeigte, solange es mir gutging, doch nicht auf sie zählen durfte, sobald es mit mir schlecht stand. Sie liebte Überfluss und Vergnügen zu sehr, als dass sie mir zuliebe darauf hätte verzichten können oder wollen. «Ich werde sie verlieren!», rief ich aus. «Unglücklicher Chevalier! Du wirst das Weib, das du liebst, ein zweites Mal verlieren!» – Dieser Ge­danke stürzte mich in eine so grässliche Ver­wir­r ung, dass ich ein paar Augenblicke lang nicht wusste, ob es nicht besser wäre all meinen Leiden ein Ende zu bereiten und mich umzubringen.»

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Abbé Prevost: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut




MANON JULES MASSENET (1842-1912) Opéra comique in fünf Akten und sechs Bildern Libretto von Henri Meilhac und Philippe Gille nach einer Vorlage von Abbé Prévost Uraufführung: 19. Januar 1884, Opéra-Comique, Paris Personen

Manon Lescaut Sopran Le Chevalier des Grieux Tenor Lescaut, Cousin von Manon Bariton Le Comte des Grieux, Vater des Chevaliers Bass Guillot de Morfontaine, Generalpächter Tenor De Brétigny Bariton Poussette Sopran Javotte Sopran Rosette Mezzosopran L‘Hôtelier Bariton Le Portier du Séminaire Sprechrolle Un Sergent Sprechrolle Deux Gardes Tenöre Un Archer Sprechrolle Deux Joueurs Sprechrollen Une Servante Sprechrolle Chor

Bürger und Bürgerinnen von Amiens und Paris, Reisende, Träger, Postillione, Händler, Spaziergänger, Kirchgänger, Spieler, Croupiers, Falschspieler, Wachen, Gendarmen Ort und Zeit

Frankreich, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts


PRÉLUDE

VORSPIEL

La grande cour d’une hôtellerie à Amiens.

Hof eines Gasthofs in Amiens

PREMIER ACTE

GUILLOT appelant

Holà! Hé! Monsieur l’Hôtelier! Combien de temps faut-il crier avant que vous daigniez entendre? BRÉTIGNY

Nous avons soif! GUILLOT

Nous avons faim! Holà! Hé! BRÉTIGNY

Vous moquez-vous de faire attendre? GUILLOT, BRÉTIGNY

Morbleu! Viendrez-vous à la fin? GUILLOT avec dépit

Foi de Guillot Morfontaine! C’est par trop de cruauté pour des gens de qualité! BRÉTIGNY en colère

Il est mort, la chose est certaine! GUILLOT, puis BRÉTIGNY en colère

Il est mort! Il est mort!

POUSSETTE à la fenêtre, et riant

Allons, messieurs, point de courroux! GUILLOT, puis BRÉTIGNY

Que faut-il faire? Que faut-il faire? GUILLOT

ERSTER AKT

GUILLOT rufend

Hallo! He! Herr Wirt! Wie lange müssen wir noch rufen, bis Sie uns endlich hören? BRÉTIGNY

Wir haben Durst! GUILLOT

Wir haben Hunger! Hallo! He! BRÉTIGNY

Sie machen sich wohl einen Spass daraus, die Leute warten zu lassen. GUILLOT, BRÉTIGNY

Herrgott! Wann kommen Sie denn endlich? GUILLOT ärgerlich

So wahr ich Guillot Morfontaine bin! Das ist zu viel der Grausamkeit für einen Mann wie mich! BRÉTIGNY wütend

Er muss gestorben sein, ich bin mir sicher. GUILLOT, dann BRÉTIGNY wütend

Er ist bestimmt gestorben! Er ist tot! POUSSETTE am Fenster, lachend

Aber, aber, meine Herren, nicht so zornig! GUILLOT, dann BRÉTIGNY

Was sollen wir denn tun? Was tun? GUILLOT

Il n’entend pas!

Er will nicht hören!

POUSSETTE, puis JAVOTTE, puis ROSETTE riant aux éclats

POUSSETTE, dann JAVOTTE, dann ROSETTE mit schallendem Gelächter

On le rappelle! On le harcelle! On le rappelle!

Rufen wir weiter! Machen wir ihm Dampf! Rufen wir weiter!


POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE, GUILLOT ET BRÉTIGNY

Voyons, Monsieur l’Hôtelier! Montrez-vous hospitalier! etc. POUSSETTE suivie par les autres

Sauvez-nous de la famine! etc. JAVOTTE

Ayez pitié! POUSSETTE, JAVOTTE ET ROSETTE

Sauvez-nous de la famine! Voyons, Monsieur... BRÉTIGNY

Sinon l’on vous extermine! Monsieur... GUILLOT

POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE, GUILLOT UND BRÉTIGNY

Nun aber los, Herr Wirt! Zeigen Sie ein wenig Gastfreundschaft! etc. POUSSETTE gefolgt von den anderen

Bewahren Sie uns vor dem Hungertod! etc. JAVOTTE

Haben Sie Mitleid! POUSSETTE, JAVOTTE UND ROSETTE

Bewahren Sie uns vor dem Hungertod! Nun aber los, mein Herr... BRÉTIGNY

Sonst murxen wir Sie ab! Mein Herr... GUILLOT

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Monsieur l’Hôtelier! BRÉTIGNY écoutant

Eh bien! Eh quoi! Pas de réponse?

POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE, puis GUILLOT

Pas de réponse? BRÉTIGNY

Il est sourd à notre semonce!

POUSSETTE, JAVOTTE ET ROSETTE

Recommençons! GUILLOT

Zeigen Sie doch ein wenig Gastfreundschaft! Mein Herr... ZU FÜNFT

Herr Wirt!

BRÉTIGNY lauscht

Na sowas! Keine Antwort?

POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE, dann GUILLOT

Keine Antwort? BRÉTIGNY

Er hat kein Ohr für unser Drohen! POUSSETTE, JAVOTTE UND ROSETTE

Dann fangen wir noch einmal an! GUILLOT

Pas trop de bruit, cela redouble l’appétit!

Nicht so laut, das macht den Hunger nur noch schlimmer.

POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE ET BRÉTIGNY

POUSSETTE, JAVOTTE, ROSETTE UND BRÉTIGNY

Voyons, Monsieur l’Hôtelier, LES AUTRES ensemble

Nun aber los, Herr Wirt! DIE ANDEREN zusammen

Montrez-vous hospitalier!

Zeigen Sie ein wenig Gastfreundschaft!

L’hôtelier paraît sur le pas de la porte.

Der Wirt erscheint in der Tür.

GUILLOT avec une explosion de joie et de surprise

Ah! voilà le coupable!

GUILLOT mit einem Ausbruch der Freude und Überraschung

Da kommt er ja, der Schurke!


Programmheft MANON

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Premiere am 7. April 2019, Spielzeit 2018 / 19

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Kathrin Brunner

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Kathrin Brunner. – Die beiden Interviews mit Floris Visser und Jeannette Fischer sind Originalbeiträge für dieses Programmheft, ebenso der Essay «Oper zwischen den Zeiten» von Serge Honegger. – Weitere Textquellen: Gérard Condé, Virtuose der Form, Programmheft der Pariser Opéra 1974, Übersetzung: Martin Kazmaier. – Abbé Prevost: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut, aus dem Französischen von Jörg Trobitius, Zürich 2013. – Jules Massenet: Redigierter Artikel aus: Harenberg KomponistenLexikon. Dortmund 2001. Bildnachweise: T + T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavierhauptprobe am 29. März 2019. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.

Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Freunde der Oper Zürich Evelyn und Herbert Axelrod Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG PROJEKTSPONSOREN Baugarten Stiftung Ringier AG René und Susanne Braginsky-Stiftung Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Clariant Foundation Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Freunde des Balletts Zürich Swiss Life Ernst Göhner Stiftung Swiss Re Max Kohler Stiftung Zürcher Kantonalbank Kühne-Stiftung GÖNNER Accenture AG Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Ars Rhenia Stiftung Familie Thomas Bär Bergos Berenberg AG Beyer Chronometrie AG Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Fritz Gerber Stiftung Gübelin Jewellery Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG

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