Maria Stuarda

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MARIA STUARDA

GAETANO DONIZETTI



MARIA STUARDA GAETANO DONIZETTI (1797  –   1848)

Mit freundlicher Unterstützung der Kühne-Stiftung




HANDLUNG Maria Stuart wird seit Jahren von der englischen Königin Elisabeth I. gefangen gehalten. Nachdem ihr zweiter Mann, Henry Darnley, unter ungeklärten Um­ ständen ums Leben gekommen war und sie dessen mutmasslichen Mörder Lord Bothwell geheiratet hatte, wurde Maria Stuart als Königin von Schottland abge­ setzt. Die Protestantin Elisabeth gewährt der Katholikin Maria seither Exil auf englischem Boden, lässt sie aber streng überwachen. Die beiden Königinnen sind eng miteinander verwandt und Elisabeth fürchtet sich vor Maria Stuarts Ansprüchen auf die englische Krone.

Erster Akt Elisabeth I. hat einen Heiratsantrag vom König von Frankreich erhalten. Da sie um ihre Unabhängigkeit als Königin fürchtet, zögert sie, diesen anzunehmen. Giorgio Talbot, der mit Maria Stuarts Überwachung beauftragt ist, bittet um Gnade für sie. Lord Cecil, der Elisabeths Regierung angehört, drängt sie dazu, Maria Stuart hinzurichten. Der Graf von Leicester erscheint. Elisabeth ist ihm leidenschaftlich zugetan, vermutet aber, dass er nicht sie, sondern Maria Stuart liebt. Sie bittet ihn, dem französischen Gesandten ihren Ring zu bringen als Zeichen dafür, dass sie den Heiratsantrag des Königs annimmt. Leicesters teilnahmslose Reaktion bestätigt ihre Vermutung und verärgert sie. Talbot überbringt Leicester einen Brief von Maria Stuart. Die Erinnerung an sie befeuert Leicesters Leidenschaft und stärkt seinen Wunsch, sie zu befreien. Elisabeth bemerkt Leicesters innere Unruhe und stellt ihn zur Rede. Lei­ cester bittet Elisabeth um Gnade für Maria Stuart. Er überredet sie dazu, die schottische Königin zu treffen und sich persönlich von deren Unschuld zu über­ zeugen. Elisabeth wird von Eifersucht geplagt, gewährt Leicester jedoch seinen Wunsch.

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Maria Stuart darf mit ihrer Vertrauten, Anna Kennedy, einen Moment ausser­ halb der Gefängnismauern verbringen. Sie erinnert sich an ihre glückliche Kind­ heit in Frankreich. Eine Jagdgesellschaft nähert sich. Leicester erscheint und kündigt die Kö­ nigin Elisabeth an. Er bittet Maria, sich demütig zu verhalten. Die beiden Königinnen stehen sich gegenüber. Maria fällt vor Elisabeth auf die Knie und bittet um Gnade. Elisabeth rast innerlich vor Eifersucht. Als Leicester sich offenkundig für Maria einsetzt, beschimpft Elisabeth Maria als Mörderin und Verbrecherin. Daraufhin spricht Maria Elisabeth das legitime Recht auf den englischen Thron ab und beschimpft sie als Bastardin. Elisabeth prophezeit Maria ein grausames Schicksal und lässt sie abführen.

Zweiter Akt Cecil drängt die zögernde Elisabeth, Maria Stuart zum Tod zu verurteilen. Elisabeth befürchtet, dass der Mord an einer Königin auf sie zurückfallen wird. Als Leicester sich erneut für die Begnadigung Marias einsetzt, unterschreibt sie jedoch das Todesurteil. Von Leicester verlangt sie, der Hinrichtung beizu­ wohnen. Cecil überbringt Maria Stuart das Todesurteil. Gegenüber Talbot, der sich als katholischer Priester zu erkennen gibt, gesteht Maria, an der Ermordung ihres früheren Mannes beteiligt gewesen zu sein. Sie streitet jedoch ab, eine Ver­schwörung gegen Elisabeth geplant zu haben. Talbot vergibt Maria ihre Sünden. Sie ist in ihrem Glauben gestärkt. Im Kreis ihrer Vertrauten betet Maria Stuart vor der Hinrichtung zu Gott. Sie wünscht, dass Anna sie zur Hinrichtung begleiten darf. Sie vergibt Elisabeth und bittet Cecil, ihr das mitzuteilen. Nachdem sie sich vom verzweifelten Lei­ cester verabschiedet hat, geht Maria würdevoll ihrer Hinrichtung entgegen.

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IN IHRER EINFACHHEIT WIRKUNGSVOLL Der Regisseur David Alden über seine Inszenierung von Gaetano Donizettis «Maria Stuarda» Donizettis Opern sind klar strukturiert, eingängig und auf grosse dramatische Wirkung ausgelegt. Für mich zählt er zu den begabtesten Komponisten theatralischer Situationen. Rossini, der die Form der italienischen Oper zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte, hat fantastische Kunstwerke geschaffen; aber sie stellen Regisseure vor riesige Herausforderungen! Damit verglichen, sind Do­ nizettis formale und musikalische Muster manchmal etwas vorhersehbar, aber gerade in dieser Einfachheit sehr wirkungsvoll! Auch Maria Stuarda ist auf den ersten Blick eine Oper mit einer simplen – aber besonderen – Figurenkonstel­ lation: Es geht um zwei rivalisierende Soprane, die Königinnen Elisabeth von England und Maria von Schottland, zwischen denen ein junger umworbener Tenor, der Earl of Leicester, steht. Aber ich finde, dass sich viel komplexere Charaktere hinter den vordergründig einfachen Strukturen verbergen, als man zunächst denkt. In Schillers Drama, auf dem die Handlung der Oper basiert, haben die beiden Königinnen ungefähr gleich viel Gewicht. Bei Donizetti verschiebt sich dieses Gleichgewicht zugunsten von Maria Stuarda. Das hat damit zu tun, dass die Oper im 19. Jahrhundert in einem streng katholischen Land entstanden ist. Bei Donizetti liegen die Sympathien deutlich auf der Seite der schottischen Königin, die für den katholischen Glauben kämpft und als Märtyrerin stirbt. Während Maria als leidende, empfindsame und leidenschaftliche Frau gezeich­ net ist, werden Elisabeth in Donizettis Oper kaltherzige, mächtige und intri­ gante Züge verliehen. So wollte man die Protestantin damals in Italien sehen. In meiner Inszenierung möchte ich die beiden Frauen aber nicht so ein­ dimensional zeigen. Interessant finde ich, dass beide Frauen geradezu gegen ihre eigenen Charakterzüge ankämpfen. Das zeigt sich deutlich in ihren jeweiligen

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Szenen mit dem Earl of Leicester, für den sie beide etwas empfinden: Maria ver­sucht ihm gegenüber genau die «weibliche» Leidenschaftlichkeit zu bekämp­ fen, die ihr immer zugeschrieben wird. Bei Elisabeth spielt dagegen eine leiden­ schaftlich empfundene Eifersucht eine grosse Rolle: Elisabeths Entscheidung, Maria Stuarts Todesurteil zu unterzeichnen, hängt ja bei Donizetti stark mit dieser Eifersucht zusammen: Sie glaubt, dass Leicester für Maria mehr empfin­ det als für sie selbst. Leicester treibt im Kreuzfeuer der beiden Frauen ein sehr gefährliches Spiel, und es ist eher erstaunlich, dass er am Ende seinen Kopf noch hat. Elisabeth spielt mit ihm und versucht ihn zu verführen, im Fall von Maria will uns die Oper dagegen von einer aufrichtigen Liebe überzeugen … Ich bin mir aber nicht sicher, ob Maria ihn letztlich nicht auch nur benutzen will, um aus ihrer aus­ weglosen Lage herauszufinden. Immerhin weiss man aus der Geschichte, dass Maria Stuarts zweiter Mann unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Ich glaube schon, dass auch sie eine kompromiss- und skrupellose Seite hatte. Auffällig finde ich, dass die beiden Frauen trotz oder gerade wegen ihrer Machtspiele am Ende die starken Figuren sind, während sich Leicester von ihnen manipulieren lässt. Das erinnert mich manchmal ein wenig an die Opern­ stoffe von Leoš Janáček, in denen immer die Frauen die stärkeren sind. In diesem Punkt finde ich Donizettis Oper auch aus heutiger Sicht interessant. Zwar glaube ich nicht, dass sie uns etwas über die politischen Umstände unse­ rer Zeit erzählen kann, aber immerhin ist es ein Stück über mächtige Frauen und die Tatsache, wie wir als Männer mit ihnen umgehen müssen. Es zeigt, was die Ge­schichte aus mächtigen Frauen macht: nämlich Märtyrerinnen, falsche Intrigantinnen oder geschlechtslose, beziehungsweise «männliche» Wesen! Es gibt ja sogar die Gerüchte, dass Elisabeth I. in Wahrheit ein Mann war und deshalb Zeit ihres Lebens eine «virgin queen» geblieben ist. Aber ich denke, das ist nur das übliche böse Geschwätz über mächtige Frauen, wie die Männer sie gerne sehen wollen. In den letzten Spielzeiten habe ich mich besonders viel mit Opern beschäf­ tigt, in denen es um Frauen in Machtpositionen geht, darunter Meyerbeers Les Huguenots oder Rossinis Semiramide. Während ich daran gearbeitet habe, glaubte ich, dass Hillary Clinton die nächste Präsidentin von Amerika werden

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könnte. Dass sie die Wahl verloren hat, zeigt für mich, dass wir anhand dieser Stoffe gerade heute über solche Fragen nachdenken sollten – auch wenn Doni­ zetti selbst nicht so darüber gedacht hat. Durch die Gegenüberstellung zweier Frauen von hohem Rang wird in dieser Oper die Selbstdarstellung zu einem grossen Thema. Das ist für die Insze­ nierung natürlich hochinteressant; und ich sehe darin auch einen Akt, der einen engen Zusammenhang mit dem Politischen hat: Das Leben von Elisabeth I. war eine grosse Inszenierung. Vom Kostüm über die Haltung bis zu ihren Aussagen hat sie jahrelang ein brillantes Schauspiel durchgezogen. Auch die öffentliche Hinrichtung Maria Stuarts ist ein szenisch durchdachter Akt, der natürlich Elisabeths Macht festigt. Keiner soll es wagen, an der Richtigkeit dieses Vorgangs zu zweifeln. Deshalb haben wir das berühmte Sprichwort «Honi soit qui mal y pense» («Wehe dem, der schlecht darüber denkt») in unsere In­ szenierung übernommen. Politik ist immer eine Performance, in der es um die Kontrolle des eigenen Images geht. Realistische politische Vorgänge interessieren mich in meinen Inszenierun­ gen aber immer nur in gewissem Mass, weil ich Oper nicht als realistische Kunstform verstehe: Die Musik fügt der Textebene stets einen Subtext hinzu, der für mich als Regisseur sehr wichtig ist. Die Empfindungen, die die Musik auslöst, können weniger konkret gefasst werden, was sie für die Inszenierung umso interessanter macht. Die visuelle Struktur auf der Bühne soll mit der Architektur der Musik korrespondieren. In dieser Hinsicht arbeite ich ähnlich wie ein Choreograf. Das heisst aber nicht, dass die Musik szenisch abgebildet werden muss; oft finde ich auch eine Gegenbewegung dazu oder eine daraus abgeleitete Interpretation. Ich denke, mein Stil speist sich aus einer eigenartigen Mischung von realistischen Vorgängen mit solchen, die aus dem Bereich des Unterbewussten kommen, von symbolischen Bildern, einer Portion Ironie und Sarkasmus und einem zuweilen hysterischen schwarzen Humor. Es ist ein ste­ tiges Auf und Ab zwischen diesen verschiedenen Bereichen, und ich kann diese Überschneidungen nicht konstant kontrollieren. Ich schwanke zwischen ver­ schiedenen Realitäten, wenn ich inszeniere.

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DAS WEIBLICHE UND DAS POLITISCHE Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Gespräch über die beiden Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I. Frau Bronfen, Maria Stuart ist eine berühmte schottische Königin des 16. Jahrhunderts. Als Politikerin war sie aber nicht von grosser Be­ deutung. Warum ist ihr Schicksal heute trotzdem so bekannt? Entscheidend zum Ruhm von Maria Stuart beigetragen hat sicher das Drama von Friedrich Schiller, das um 1800 entstanden ist. Dass sich einer der angesehens­ten Dichter der deutschen Klassik für Maria Stuart interessierte und sie als eine Figur der Freiheit, also als selbstbestimmtes Subjekt verstand, das sich gegen Tyrannei und politische Machenschaften auflehnt, ist in dieser Hinsicht ganz wesentlich. Ausgehend von diesem Drama setzte im 19. Jahrhundert ein Interesse an Maria Stuart ein, das sich in zahlreichen Romanen, Theaterstücken, Opern und im 20. Jahrhundert schliesslich in Kino- und Fernsehfilmen niederschlug. Auch die Oper von Gaetano Donizetti basiert auf dem Drama von Schiller und gehört in diese Reihe. Einen weiteren Grund für Maria Stuarts Bekanntheit sehe ich aber auch darin, dass sie seit Schiller immer als Kontrahentin der englischen Königin Elisabeth I. dargestellt wird, die politisch eine sehr bedeutende Figur war. Schiller hat die direkte Konfrontation der beiden Regentinnen, die in Wirklichkeit nie statt­ gefunden hat, erfunden und sie zum Höhepunkt seines Trauerspiels gemacht. Maria Stuart und Elisabeth I. waren miteinander verwandt und hatten aufgrund komplexer Abstammungsverhältnisse beide Ansprüche auf den englischen Thron. In der genannten dramatischen Konfrontation beleidigt Maria ihre Kontrahentin schwer und fordert dadurch ihr eigenes Todes­urteil heraus …

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Der Konflikt dieser beiden Königinnen hat in politisch und religiös sehr un­­­ sicheren Zeiten stattgefunden. Es herrschte damals auf der britischen Halb­­insel ein ständi­ger Kampf über die Vorherrschaft des katholischen oder des protestantischen Glaubens, in dem Maria als Katholikin und Elisabeth als Protestantin jeweils eine starke Position einnahmen. Aufgrund der politi­ schen Wirren und Machenschaften wurde die Regentschaft Elisabeths nie richtig legitimiert. Ihre Furcht vor Maria Stuarts Ansprüchen war also berech­ tigt. Indem Elisabeth das Todesurteil über Maria Stuart verhängte, festigte sie ihre eigene Macht. Sie war sich aber auch bewusst, dass sie durch diese Entscheidung ihren eigenen Kopf riskierte. Eine Königin öffentlich hinrichten zu lassen, war ein ungeheurer Akt. Aus diesem Grund zögerte sie das Urteil jahrelang hinaus und bevorzugte es, Maria Stuart gefangen zu halten. Hängt das negative Bild, das Elisabeth in den späteren Erzählungen, also auch in der Oper von Donizetti, anhaftet, wesentlich mit diesem Konflikt zusammen? Zu ihrer Zeit war Elisabeth zwar eine umstrittene, aber auch eine schillernde Figur. Schon im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde das Bild, das man von ihr hatte, aber zunehmend schlechter. In England wurde sie als «virgin queen» immer mehr zu einer lächerlichen Figur gemacht. Aber auch aus künstlerischer Sicht verlor man das Interesse an dieser kühl kalkulie­ren­den, angeblich unfruchtbaren Staatsmännin, die nichts für die roman­­ti­schen und melodramatischen Fantasien hergab. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert, in dem man sich besonders für die Figur Maria Stuarts interessierte: Maria Stuart wurde zur «Königin der Herzen» stilisiert, deren Schicksal den Stoff für leidenschaftliche Erzählungen lieferte, während daneben das Bild von Elisabeth als das einer machthun­­gri­gen, intriganten und schrägen Regentin verblasste. Elisabeths Ansehen wurde dann erst im 20. Jahrhundert rehabilitiert. Inwiefern? Trotz ihren korrupten politischen Machenschaften war Elisabeth ja eine höchst kluge, mit allen Wassern gewaschene Politikerin, die es in Zusammenarbeit

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mit ihren Beratern verstanden hat, ein System aufzubauen, das sich inmitten von unüberschaubaren Bürgerkriegen und religiösen Konflikten sehr lange gehalten hat. In den vergangenen Jahrzehnten wurde diese Tatsache plötzlich wieder aktuell. So betonte zum Beispiel der Filmregisseur Shekhar Kapur in seinen beiden Elizabeth-Filmen mit Cate Blanchett in der Titelrolle die Be­ deutung Elisabeths als weiblicher Politikerin. Er stellt sich in diesen Filmen die Fragen, was es für eine Frau bedeutet, Politikerin zu sein, oder ob eine Frau dazu fähig ist, ein Heer anzuführen. Im Zusammenhang mit Thatcher-­England oder Merkel-Deutschland ist das wieder brisant geworden. Gleich­zeitig rückte damit das Interesse an Maria Stuart in den Hintergrund. Ich g ­ laube, wir interessieren uns in Europa unterdessen weniger für die Liebes­affären und Romanzen eines Einzelsubjekts als vielmehr für die Möglichkei­ten und Schwierigkeiten, die eine Frau hat, wenn sie in eine politische Machtfunktion kommt. Dass sich die Sicht auf beide Königinnen im Lauf der Zeit verändert, zeigt, dass wir nicht von historischen Personen, sondern von zwei gros­sen Mythen sprechen, an denen unsere Kultur kontinuierlich bastelt … Es sind zwei sehr unterschiedliche Mythen. Elisabeth ist für den Satz berühmt geworden, sie habe zwar den schwachen Körper einer Frau, aber das Herz eines Königs – also eines Mannes. Zu den ersten, die Elisabeth zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder «entdeckten», gehört Virginia Woolf, die sich besonders für diesen androgynen Aspekt interessierte. Der Mythos von Elisa­ beth lässt nicht zu, dass man sie auf ihr Frausein reduziert. Das hängt auch damit zusammen, dass sie sich als eine der ersten politischen Diven in Szene setzte und dadurch ihre öffentliche Stellung als Herrscherin halten konnte. Sie wusste, wie man aus Politik Theater macht! Damit verglichen, ist der Mythos von Maria Stuart völlig unpolitisch. Sie hat nicht als Politikerin für den Katholizismus gekämpft wie beispiels­weise die als «Bloody Mary» bekannte Maria Tudor. Maria Stuart ist die «Königin der Herzen»: Weiblichkeit, Emotionen, Liebesabenteuer, versuchte und vereitelte Flucht, Hin- und Hergerissen-Sein, Aufopferung … Das sind die Bereiche, von denen ihr Mythos erzählt. Im Fokus steht also immer ihr persönliches Schicksal.

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Könnte der Mythos von Maria Stuart denn ein anderer sein, wenn er von anderen Autoren bearbeitet worden wäre? Wer weiss, wer Maria Stuart wirklich war … Die Historiker haben sich mit ihrer Geschichte natürlich kritischer befasst. Man muss grundsätzlich davon ausgehen, dass sie Teil dieses unglaublich komplizierten Machtgefüges im 16. Jahrhundert ge­wesen ist. Alle mussten ihre Legitimität in dieser Zeit durch Gewalt durchsetzen, und ich kann mir vorstellen, dass Maria Stuart dabei genau so intrigant gewesen ist wie Elisabeth. Natürlich wäre es viel interessanter, sie im Sinne von Shakespeares Lady Macbeth oder anderen macht­ süchtigen Königinnen zu sehen. Es drängt sich also die Frage auf, warum das nicht so geschehen ist? Dass sich Schiller oder Donizetti für Maria Stuart interessierten, beweist ja auch, dass diese sehr gut in ein bestimmtes Frauen­bild hineinpasst: Es ist das Bild einer Kultur, die gerne leidende, sich aufopfern­ de und tote Frauen mag. Der Tod verleiht Maria Stuart ihre Erhabenheit. Als Leiche kann sie in das Pantheon der leidenden, grossartigen, verkannten, missbrauchten und geopferten politischen Figuren eingehen. Stefan Zweig, der mit seinem Essay über Maria Stuart zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der gleichen Tradition weiterdachte, schreibt: Maria Stuart sei «in erster und letzter Linie Frau» gewesen … Die Begeisterung für Maria Stuart ist eigentlich Ausdruck einer kulturellen Angst gegenüber weiblichen Herrscherinnen. Wenn man, wie Stefan Zweig es tut, behauptet, eine Herrscherin sei ja eigentlich nur Frau gewesen, dann muss man sich nicht mit ihrem Herrscherinnentum auseinandersetzen. Das ist bei Maria Stuart möglich, aber bei Elisabeth nie möglich gewesen. Ist es denn sinnvoll, den Mythos von Maria Stuart stets weiterzuerzählen und dieses Frauenbild dadurch geradezu zu zementieren? In diesem Fall wäre ich mit einer Dekonstruktion des Mythos glücklicher als damit, ihn weiter zu verfestigen! Ich stehe noch immer unter Schock, dass Hillary Clinton nicht als amerikanische Präsidentin gewählt wurde, bin aber fest davon überzeugt, dass wir kulturell nicht darauf vorbereitet waren. Das ist auch nicht erstaunlich, wenn man verfolgt, wie Frauen in Machtposition­en

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im amerikanischen Mainstreamfilm und Fernsehen dargestellt werden. Im Gegensatz zu einem schwarzen Präsidenten, für den es vor der Wahl von Barack Obama zahlreiche Beispiele im Kino gegeben hatte, können sich viele Amerikaner eine gute weibliche Regentin noch immer nicht vorstellen. In Europa ist die Situation etwas anders, weil es hier die Tradition der Aristokratie gab. Man tendiert dazu, zu vergessen, dass Königinnen im Mittel­ alter etwas Normales waren. Für die Aristokratie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren persönliche Emotionen völlig unwichtig; entscheidend war die symbolische Position, die man eingenommen hat. Wenn Schiller oder Zweig Maria Stuart in erster Linie als Frau sehen, dann ist das also eine sehr bürger­liche Sicht auf die Aristokratie. Das heisst, wir müssten bürgerliche Sichtweisen über Bord werfen, wenn wir heute über Frauen in Machtpositionen nachdenken wollen? Aufschlussreich finde ich die Denkfigur des deutschen Historikers Ernst Kan­ torowicz: In seiner Studie Die zwei Körper des Königs geht er von einem natürlichen und einem symbolischen Körper des Königs aus: Entscheidend ist für den König (oder die Königin) der symbolische Körper, der von ver­ schiedenen natürlichen Körpern besetzt werden kann, aber immer weiterlebt. Im Mittelalter oder der Frühen Neuzeit wurde man also in erster Linie König oder Königin, das Geschlecht war ein untergeordneter – natürlicher – Aspekt. Mit ihren bürgerlichen Vorstellungen rüttelten Stücke wie Schillers Maria Stuart an dieser Idee, und der natürliche Körper rückte in den Vorder­ grund. Das funktioniert im Fall von Frauen natürlich wesentlich leichter … … weil die Erzählungen dieser Zeit von Männern geschrieben wurden … … und weil man bei Männern von öffentlichen Figuren ausgeht, während man bei Frauen bis vor nicht allzu langer Zeit von häuslichen Figuren ausge­ gangen ist. Virginia Woolf musste sich in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein noch 1929 unglaublich dafür stark machen, dass Frauen überhaupt in der Öffentlichkeit arbeiten, Bibliotheken besuchen, oder Professorinnen werden dürfen. Daran zeigt sich, wie hartnäckig sich die Vorstellung der Frau als einer romantischen und häuslichen Figur gehalten hat. Im Gegensatz

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dazu hat man sich bis in die Mitte des 20. Jahr­hunderts nie sonderlich für die Emotionen der Männer interessiert. Die Männer waren immer die Denker, Verkäufer, Entdecker oder eben Könige – also immer als Ausübende ihrer Arbeit entscheidend. Auch deshalb ist es so viel leichter, eine Königin auf ihre Weiblichkeit zu reduzieren. Emotionen spielen in der Oper eine grosse Rolle. Im Vergleich zu Schillers analytischem Drama ist Donizettis Maria Stuarda als wirkungsvolle Drei­ecksgeschichte für zwei Soprandiven und einen lyrischen Tenor ein­ge­­ richtet. Ist die kritische Auseinandersetzung mit einem überkom­me­nen Frauenbild in diesem Fall überhaupt möglich? Zwei Soprane auf einer Bühne … Wie soll denn das gehen? Die Rivalität, die in dem Stoff angelegt ist, wird natürlich geradezu potenziert, indem auf der Opernbühne zwei Diven gegeneinander ausgespielt werden. Da geht es ja zusätzlich um die Frage, wer höher, virtuoser und schöner singen kann! Und dank dem Tenor, auf den sich die Begierde der beiden Frauen richtet, wird bei Donizetti eher die Eifersucht als die Politik zur treibenden Kraft der Handlung. Das bedeutet aber, dass hier beide Frauen, Maria Stuart und Elisabeth, auf ihre persönliche Fehde reduziert werden – und zwei Frauen, die sich in ihrem Geltungsdrang gegenseitig zerfleischen, sind für die Männer ja wieder eine beruhigende Vorstellung … … und bieten ein lustvolles Theatererlebnis. Sollen wir uns also auch in Zukunft daran erfreuen, Frauenbild hin- oder her? Eine kritische Einstellung des Rezipienten wäre schon wünschenswert. Wir müssen den Mythos um Maria Stuart nicht verwerfen, aber wir sollten daran arbeiten und hinterfragen, warum man diese Geschichte so schreibt und nicht anders. Es geht also darum, zu verstehen, warum dieser Mythos so gut funktioniert! Und dieses Verständnis hilft uns vielleicht bei unserem heutigen Auftrag weiter, uns eine schillernde Palette von Frauen vorstellen zu können, die in der Öffentlichkeit als Politikerinnen existieren können. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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EINE WIRKLICHE FRAU Maria Stuart ist als Frau ganz Frau, in erster und letzter Linie Frau, und gerade die wichtigsten Entschliessungen ihres Lebens kamen aus dieser untersten Quel­ le ihres Geschlechts. Nicht dass sie eine ständig leidenschaftliche, eine einzig von ihren Trieben beherrschte Natur gewesen wäre – im Gegenteil, was zuerst an Maria Stuart charakterologisch auffällt, ist ihre lange weibliche Zurückhal­ tung. Jahre und Jahre hat es gedauert, ehe das Gefühlsleben in ihr überhaupt erwachte. Lange sieht man nur (und die Bilder bestätigen es) eine freundliche, weiche, milde, lässige Frau, ein leichtes Schmachten im Auge, ein fast kindliches Lächeln um den Mund, ein unentschiedenes, unaktives Wesen, eine Mädchen­ frau. Sie ist auffallend sensitiv (wie jede wahrhaft weibliche Natur), ihr Gemüt gerät leicht in Schwingung, sie kann beim leichtesten Anlass erröten, erblassen, und rasch und locker sitzt ihr die Träne. Aber diese eiligen, oberflächlichen Wellen ihres Bluts rühren lange Jahre nicht ihre Tiefe auf; und gerade weil sie eine vollkommen normale, eine echte, eine wirkliche Frau ist, entdeckt Maria Stuart ihre eigentliche, ihre wahre Kraft erst an einer Leidenschaft – im ganzen nur einmal in ihrem Leben. Da aber spürt man, wie ungemein stark sie Frau ist, wie sehr triebhaftes und instinkthaftes Wesen, wie willenlos gekettet an ihr Geschlecht. Denn in diesem grossen Moment ihrer Ekstase schwinden plötzlich wie weggerissen die oberen, die kulturellen Kräfte in der bislang kühlen und gemessenen Frau dahin, alle Dämme von Wohlerzogenheit, von Sitte und Wür­ de brechen ein, und vor die Wahl gestellt zwischen ihrer Ehre und ihrer Lei­ denschaft, bekennt sich Maria Stuart als wirkliche Frau nicht zu ihrem König­ tum, sondern zu ihrem Frauentum. Jäh fällt der Kronmantel ab, sie fühlt nur nackt und heiss als eine der Unzähligen, die Liebe nehmen und Liebe geben wollen, und nichts schenkt ihrer Gestalt eine solche Grosszügigkeit, als dass sie um einzelner volldurchlebter Daseinsaugenblicke willen Reich und Macht und Würde geradezu verächtlich hingeworfen hat. Stefan Zweig: Maria Stuart

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DONIZETTI WOLLTE SCHOCKIEREN Der Dirigent und Belcanto-Spezialist Enrique Mazzola über die dramatische Wirkung von Gaetano Donizettis Musik Während meiner Studienzeit in Mailand habe ich die Anfänge der historischen Aufführungspraxis auf dem Gebiet der «Alten Musik» verfolgt und mich dabei gefragt, wie authentisch die Partituren und Aufnahmen von Donizetti- oder Bellini-Opern eigentlich das abbilden, was diese Komponisten ursprünglich beabsichtigt hatten. Viele Opern dieser Zeit – darunter auch Maria Stuarda – wurden zwischen 1850 und 1950 nie gespielt. In der Zwischenzeit vollzog sich aber eine enorme Entwicklung auf dem Gebiet der italienischen Oper: Werke von Verdi, Puccini oder Mascagni erforderten ganz andere Gesangsstim­ men und zunehmend einen grösseren Orchesterapparat. Auf der Basis dieser gewandelten Ästhetik wurden Mitte des 20. Jahrhunderts einige BelcantoOpern wiederentdeckt und aufgeführt. Meine Lehrer am Konservatorium stan­ den ganz in dieser Tradition, die sie nicht gross hinterfragt haben. Meine Ge­ neration ist nun in der glücklichen Lage, mit etwas mehr Abstand einerseits die grossartigen Aufnahmen und Stimmen aus den 1950er-Jahren zu studieren und andererseits auf kritische Editionen zurückzugreifen, die in den letzten Jahren entstanden sind und wichtige Details zur Aufführungspraxis liefern. Gerade bei Donizettis Maria Stuarda finde ich die kritische Auseinander­ setzung wichtig, da diese Oper eine verzwickte Entstehungsgeschichte hat. Donizetti komponierte die Oper 1834 im Auftrag des Teatro San Carlo in Neapel. Das Drama um die schottische Königin Maria Stuart hat er wohl selber vorgeschlagen, und es ist eigentlich erstaunlich, dass er dieses Sujet im katholi­ schen und erzkonservativen Unteritalien, das damals noch ein eigenes König­ reich war, überhaupt vertonen durfte! Als die Oper fertig war und bereits die Proben liefen, wurde das Stück von der Zensur verboten: Eine Oper, in der eine

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katholische Königin zum Tod durch Enthauptung verurteilt wird, wurde vom Königshaus in dieser politisch ohnehin unruhigen Zeit nicht auf der Bühne geduldet. Um die bereits komponierte Musik trotzdem verwenden zu können, musste Donizetti deshalb in kürzester Zeit ein neues Thema finden und einen anderen Text schreiben lassen, den man der Komposition unterlegen konnte. Aus diesem akrobatischen Unternehmen resultierte die Oper Buondelmonte, durch die Donizetti die geplante Aufführung in Neapel retten konnte. Ich finde es aber falsch, wenn man deshalb denkt, Donizetti habe Musik geschrie­ ben, die keinen engen Bezug zum Text hat! Aus Briefen des Komponisten weiss man, dass er mit dieser Situation sehr unglücklich war. Es war eine Notlösung und zudem kein besonderer Erfolg. Die eigentliche Uraufführung der Maria Stuarda konnte erst 1835 an der Mailänder Scala stattfinden, wo die Zensur weniger streng war. Trotz der berühmten Sängerin Maria Malibran in der Ti­ telpartie wurde die Oper aber auch dort kein durchschlagender Erfolg. Da ich gerade erst I puritani von Bellini dirigiert habe, fallen mir jetzt die Unterschiede zwischen diesen beiden Zeitgenossen besonders auf: Donizetti stammt aus dem norditalienischen Bergamo, einer Gegend, die unter der Herr­ schaft der Habsburger zu leiden hatte, Bellini hingegen aus Sizilien, das unter dem Einfluss der Bourbonen stand. Der eine war rauer Kälte und Nebel ausge­ setzt, der andere von Sonne und Orangenblüten umgeben. Das prägte ihren musikalischen Stil deutlich: Bei Bellini ist jede Aussage von purer Schönheit umgeben. Selbst die blutige Fehde zwischen den Capulets und den Montagues «erstickt» bei ihm in Schönheit. Die Lösungen, die Donizetti findet, sind da­ gegen viel schroffer. Er wollte das Publikum schockieren und schreckte dabei nicht vor blutigen Kämpfen, rollenden Köpfen oder spektakulären Selbstmorden zurück. Gemeinsam ist beiden die meisterhafte Beherrschung des BelcantoKompositionsstils. Unter diesem sehr unterschiedlich verwendeten Begriff ver­ stehe ich eine besondere Kompositionsweise, die den Gesang ins Zentrum stellt, während dem Orchester eher eine «neutrale» Funktion zukommt. Das bedeu­ tet aber nicht, dass Bellini oder Donizetti keine Ahnung von Orchestrierung hatten. Natürlich kannten sie beispielsweise die Sinfonien von Beethoven und wussten, wie differenziert und ausdrucksstark man den Orchesterapparat ein­ setzen kann. Aber der Belcanto-Stil erfordert eine ganz bewusste Zurücknahme

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des Orchesters: Der Ausdruck geht in diesen Werken immer vom Gesang aus. Zudem zeugen gerade Donizettis Opern von einem stark ausgeprägten Be­ wusstsein für das musikalische und dramaturgische Timing. Die kritische Neu­ ausgabe zeigt, dass Maria Stuarda ursprünglich in zwei, und nicht, wie lange angenommen, in drei Akten konzipiert war. In Bezug auf die Handlung ist das nur logisch: Während der erste Akt kontinuierlich auf den grossen Höhepunkt der Oper, die Konfrontation zwischen den Königinnen Maria und Elisabeth, ausgerichtet ist, steht am Ende des zweiten Akts die Hinrichtung Marias, also wiederum ein ganz entscheidendes Ereignis. Innerhalb dieser grossen Span­ nungsbögen funktioniert die Belcanto-Oper immer durch den Wechsel zwischen retardierenden und dramatischen Momenten. In den Arien werden die gleichen Texte und gleichen Melodien so oft wiederholt, bis sich beim Hörer eine Ver­ trautheit einstellt. Ich vergleiche das gerne mit der Popmusik unserer Zeit: Auch Popsongs entfalten ihre Wirkung ja dadurch, dass man sie wiederholt hört und sich mit dem darin vermittelten Gefühl vertraut macht. Wenn bei Donizetti im Rezitativ darauf ein dramatischer Moment folgt, beispielsweise wenn Maria ihre Kontrahentin Elisabeth als Bastard beschimpft, dann wird der Zuhörer aus dem zuvor etablierten Gefühl herausgerissen und die Dramatik erreicht ihre grösste Wirkung. Hierin sehe ich übrigens einen entscheidenden Grund, warum die Belcanto-Opern lange Zeit nicht mehr gespielt wurden: Komponisten wie Puc­ cini oder die Veristen interessierten sich nicht mehr für diese ständigen Wieder­ holungen. Für sie stand die kontinuierliche Entwicklung der Handlung im Vordergrund, bei ihnen passiert alles im Jetzt. Dass Donizetti nach Momenten grosser dramatischer Spannung gesucht hat, zeigt aber auch die ungewöhnliche Besetzung dieser Oper: Zwei rivalisierende Sopranstimmen, die über sämtliche Männerrollen dominieren, sind schon eine ausserordentliche Besonderheit!

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Elisabeth Die Könige sind nur Sklaven ihres Standes, Dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen. Mein Wunsch war’s immer, unvermählt zu sterben, Und meinen Ruhm hätt’ ich darein gesetzt, Dass man dereinst auf meinem Grabstein läse: Hier ruht die jungfräuliche Königin. Doch meine Untertanen wollens nicht, Sie denken jetzt schon fleissig an die Zeit, Wo ich dahin sein werde – Nicht genug, Dass jetzt der Segen dieses Land beglückt, Auch ihrem künftgen Wohl soll ich mich opfern, Auch meine jungfräuliche Freiheit soll ich, Mein höchstes Gut, hingeben für mein Volk, Und der Gebieter wird mir aufgedrungen. Es zeigt mir dadurch an, dass ich ihm nur Ein Weib bin, und ich meinte doch, regiert Zu haben, wie ein Mann, und wie ein König. Wohl weiss ich, dass man Gott nicht dient, wenn man Die Ordnung der Natur verlässt, und Lob Verdienen sie, die vor mir hier gewaltet, Dass sie die Klöster aufgetan, und tausend Schlachtopfer einer falschverstandnen Andacht Den Pflichten der Natur zurückgegeben. Doch eine Königin, die ihre Tage Nicht ungenutzt in müssiger Beschauung Verbringt, die unverdrossen, unermüdet, Die schwerste aller Pflichten übt, die sollte Von dem Naturzweck ausgenommen sein, Der Eine Hälfte des Geschlechts der Menschen Der andern unterwürfig macht – Friedrich Schiller: Maria Stuart, II/2


Maria mit ruhiger Hoheit im ganzen Kreise herumsehend Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet Ihr euch mit mir, dass meiner Leiden Ziel Nun endlich naht, dass meine Bande fallen, Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich Auf Engelsflügeln schwingt zur ew’gen Freiheit. Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin Gegeben war. Unwürdiges erduldend, Was einer freien grossen Königin Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen! – Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod, Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln Bedeckt er meine Schmach – den Menschen adelt, Den tiefstgesunkenen, das letzte Schicksal. Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele! Friedrich Schiller: Maria Stuart, V/6



WEIBLICHKEIT UND MACHT Maria wirkt bis heute viel stärker nach als tragische Figur, die Grösse im Tod gezeigt hat (was historisch vollkommen stimmt, sie hat eine geradezu unnatür­ liche Würde nach dem Todesurteil bewiesen, eine Würde, die sie im Leben oft vermissen hat lassen), aber vielleicht auch deshalb, weil sie ihre Weiblichkeit immer voll eingesetzt hat (in ihren Verschwörungsversuchen waren ja immer die Männer ihr Untergang), mit ihr gespielt hat, und als erotische Frau ist sie uns bis heute bewusst, die ihre Schönheit als Spielgeld verwendet, auf den Spieltisch der Geschichte geworfen hat, um zu gewinnen. Dafür wird ihre hohe Bildung und Intellektualität heute kaum noch gesehen (sie hat die raffiniertes­ ten Geheimschriften erfunden für ihre Botschaften, Elisabeth hat mehrere Kryp­ tographen beschäftigen müssen, nur um Marias Briefe zu entschlüsseln), wäh­ rend Elisabeth die grösste Herrscherin war, die England je hatte, aber als hässlich galt (was absurd ist, wenn man sich die Gemälde anschaut), als eine, die ihr eigenes Geschlecht verleugnet (obwohl sie das sehr gezielt für politische Zwecke eingesetzt hat, sich aber im letzten Moment doch immer wieder zu­ rückgezogen und für die «Jungfrauschaft» bewusst entschieden hat, die ge­ schlechtslose asexuelle Frau als Herrscherin, die sozusagen sexuell kaltgestellt und ungefährlich ist, dafür aber politisch umso mächtiger wird. Es ist sicher kein Zufall, dass in der Moderne die wenigen Frauen, die als Positionseliten etwas erreicht haben, jenseits der Wechseljahre waren, also asexuell, ungefährlich, sozusagen «keine Frauen mehr»: Golda Meir, Margaret Thatcher, jetzt Angela Merkel. Sobald die Frau ein sexuelles Wesen ist, kann sie nicht Macht erringen, nicht einmal sprechen.)

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Elfriede Jelinek

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DIE VOLLENDUNG DES SCHÖNEN GESANGS Der Komponist und Gesangsprofessor Reynaldo Hahn beschreibt den Belcanto als vollkommene Meisterschaft in der Beherrschung der Singstimme Oft wird heute – völlig zu Unrecht – Belcanto mit Romantischer Kunst verwech­ selt, wie sie sich später in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Versuchen wir also, in dieser Begriffsverwechslung etwas Klarheit zu schaffen. Ich glaube, dass der eigentliche Belcanto sich nicht in erster Linie um die Deutung der Werke kümmert, sondern um vollendete Leichtigkeit und Beweg­ lichkeit in Stimme und Phrasierung, um unendliche Variationen im Klang und um untadelige, klare Diktion. Kurz, er suchte, vom Stimmorgan alles zu erhalten, was man klanglich und materiell aus ihm herausholen kann – unabhängig von den anderen Faktoren, die Gefühle erregen. Man war der Ansicht, das von einer schönen und disziplinierten Stimme hervorgerufene Vergnügen genüge, oder eher es sei die wichtigste Voraussetzung, um der Musik zu dienen und Gefühle zu erregen. Gewiss, die Sänger, die wirkliche Künstler und gebildete Geister waren, hielten sich nicht an das Materielle. Sie steigerten die Schönheit ihrer Kunst, indem sie Intelligenz, Geschmack und Gefühl hinzufügten. Es sei aber noch einmal gesagt: Was sie suchten, war in erster Linie die Vollendung des schönen Gesangs – bel canto. Doch glauben Sie nicht, man habe im Belcanto hauptsächlich agile Virtuosi­ tät und akrobatische Perfektion geschätzt, wie es später geschah; gerade hier liegt der Unterschied zwischen dem Belcanto und der Romantischen Schule, von der wir noch ab und zu einen einzelnen Vertreter auftreten sehen (beispiels­ weise haben wir kürzlich Mme Barrientos gehört, deren Gesang gewiss sehr brillant und bezaubernd ist, den man aber völlig unzutreffend als Belcanto bezeichnet hat).

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Was man im Belcanto besonders suchte, war das Kostbare, das Gebundene, das Geschmeidige, dank dem ein Ton gemäss dem Willen des Sängers nicht drei, vier oder fünf Tönungen hat, sondern zehn, zwanzig oder dreissig. Es galt, die Stimme übergangslos unendlich zu modellieren und sie von einer Farbe des Klangprismas zur anderen zu führen. Natürlich wandten die Lehrer zu diesem Zweck unterschiedliche Methoden an; jeder die seine, und jeder hatte seine Marotten. Bekannt ist die Anekdote von Porpora und seinem Schüler Cafarelli, später der grösste und berühmteste Sänger seiner Zeit. Porpora, der damals in Italien unbestrittene Experte für Gesang, war von der Begabung und der Stim­ me des jungen Cafarelli fasziniert und bezaubert. Er war auch – daran ist nicht zu zweifeln, Haydn zählte zu seinen Schülern – ein bedeutender Lehrer. Por­ pora notierte auf einem Blatt einige ziemlich einfache Übungen, scheinbar ganz leichte, wie sie die heutigen Schüler des Conservatoire als für sie viel zu simpel verachten würden. Dann liess er Cafarelli dieses Übungsblatt ganz langsam durcharbeiten, nicht wochenlang, auch nicht monatelang, sondern vier Jahre lang, ohne ihm je zu erlauben etwas anderes zu singen. Wenn der junge Mann Ungeduld erkennen liess, wurde Porpora wütend und griff zu seinem Stock. Als letzten Endes das Übungsblatt langsam und perfekt gesungen wurde, so nämlich, dass Porpora nichts zu beanstanden fand, das heisst, als Klang und Ausführung völlige Makellosigkeit erreicht hatten, sagte Porpora zu Cafarelli: «Geh, ich kann dich nichts mehr lehren! Du bist der beste Sänger von heute.» Damit wollte er nicht sagen, Cafarelli habe den höheren Rang, der ein grosser Künstler ins Auge fassen muss, erreicht; er wollte nicht sagen: Du kannst jetzt auftreten; du kannst jetzt die Bühne betreten; du kannst dir zumuten, deine Zeitgenossen in den Schatten zu stellen. Was er sagen wollte, war: Du bist jetzt bereit, das Studium der anderen Aspekte der Singkunst in Angriff zu nehmen; du bist jetzt mit einem unvergleichlichen stimmlichen Fundus versehen, einem Gefüge perfekter Grundlagen, das dir erlaubt, alles zu singen und nach und nach zur höchsten Perfektion der Kunst zu gelangen. Gerade das haben viele, denen man die Anekdote erzählte, nicht verstanden. Sie stellten sich vor, Porpora glaube, um einen Künstler zu formen, genüge jenes Blatt mit Übungen, ganz einfachen, wie wir wissen, und die nicht einmal Kolo­ raturen waren. Offensichtlich wollte er, als er diese Übungen täglich unzählige

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Male sehr langsam singen liess, die Eigenheiten der Atmung beobachten, die Art und Weise, wie der Klang entstand, sich entwickelte, aufblühte, um so seinen Schüler zur höchsten Meisterschaft im Modellieren des Klangs zu führen, um diese Stimme «weich» zu machen wie ein Paar neuer Schuhe, um sie völlig dem Willen des Sängers unterzuordnen, um sie für seine Einfälle geschmeidig zu machen, denn er war der Überzeugung, nach dieser Arbeit sei die Stimme bereit, sich an immer grösseren Aufgaben zu messen. Doch der Belcanto kümmerte sich auch um das Gefühl. Sie wissen ja, was stilisieren bedeutet. Man verwendet dieses Wort seit einigen Jahren im Über­ mass, und man verwendet es oft gänzlich falsch. Stilisierung ist ein künstlerisches Vorgehen, das darin besteht, die Dinge, die man darstellt, zu einem dekorativen Zweck zu verändern. Wenn man beispielsweise eine Blume, eine Pflanze, ein Insekt oder einen Vogel stilisieren will, ohne dem Modell seine wichtigsten Eigenheiten zu benehmen, unterzieht man es Veränderungen, um ihm Gleich­ gewicht und Harmonie zu verleihen, wodurch es als Ornament tauglich wird. Auf ähnliche Weise ging der Belcanto vor. Ich glaube nicht, dass er Realis­ mus im gesungenen Ausdruck zuliess. Ich glaube, dass man vom Wort ausging, verstehen Sie mich recht, von der sprachlichen Äusserung, dass man daraus das Wesentliche herausschälte und beim Singen verschönerte und veredelte. Gewiss war der Ausdruck genau und deutlich, aber ohne Übertreibung, ohne über­ triebene Konturen, ohne jene realistische Wahrheit, die Gluck später von seinen Interpreten verlangte. Der Tonfall war schmerzlich – aber massvoll; er war fröh­ lich – aber massvoll. Man hätte gegen die Schönheit des Gesangs, gegen den edlen Kult des Singens verstossen, hätte man einem zu menschlichen, zu mate­ riell menschlichen Element Zugang gewährt. So schimmerten denn in diesen schönen Gesängen, diesen schönen Klängen durch diese harmonische und melo­ dische Kunstfertigkeit die Gefühle, alle Gefühle hindurch, alle Gedanken, doch immer gemässigt durch diese Umwandlung, diese gesangliche Stilisierung. Das war der Belcanto.

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Aus dem Französischen von Luzius Keller

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VON KÖNIGINNEN UND PRIMADONNEN Die heftige Konfrontation der beiden Königinnen in Donizettis Oper inspirierte auch die beiden Diven der Uraufführung zu Ohrfeigen und Fusstritten Thomas Macho

Ende Juni 1834 – mitten in der Restaurationszeit – wurde der erfolgreiche Opern­komponist Gaetano Donizetti zum Kapellmeister und Kompositions­ lehrer am Konservatorium von Neapel ernannt; und am 8. November desselben Jahres folgte Ferdinand II. seinem Vater auf den Thron des Königs beider Sizi­ lien. Schon im März 1834 hatte Donizetti eine Oper für das Teatro San Carlo in Neapel angekündigt: ausgerechnet Maria Stuarda (nachdem er 1830 die Oper Anna Bolena komponiert hatte). Kurz danach begannen die Schwierigkeiten. Donizetti verlor seinen erprobten Librettisten Felice Romani, der keine Bühnen­ aufträge mehr annehmen wollte; er engagierte rasch den 19-jährigen Jurastu­ den­ten Giuseppe Bardari, der sein Libretto an Schillers Tragödie orientierte. So kam es zur Erneuerung des Duells der beiden Königinnen, das im Libretto durch dras­tische Reduktion des Dramenpersonals – von 21 auf sechs Sängerinnen und Sänger – physiognomisch verschärft wurde. Die Konzentration auf den Konflikt zwischen Elisabeth und Maria barg freilich neue Probleme. Bei den Proben ge­­rieten die Primadonnen – Anna Del Serre (als Elisabetta) und Giusep­pina di Ronzi (als Maria) – regelmässig in heftigen Streit; bei der General­probe kam es zu einer so gewalttätigen Rauferei, dass eine Kontrahentin ohnmächtig von der Bühne getragen werden musste. Resigniert und bissig schrieb Donizetti am 7. Oktober 1834 an seinen Freund Jacopo Ferretti: «Du hast sicher vom Streit der beiden Frauen gehört, aber vielleicht nicht, dass die mir übel ge­­­sonne­ne Ronzi, als sie mich ausser Hörweite glaubte, die Bemerkung fallen liess: ‹Doni­ zetti protegiert diese H[ure] von Del Serre.› Meine für sie unerwartete Reak­

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tion war: ‹Ich protegiere keine von ihnen beiden, aber H[uren]waren beide Frauen, und Sie sind es ebenfalls› Das überzeugte, kränkte oder beruhigte sie ...» Das Briefzitat, in dem sich Donizetti selbst zitiert, ist aufschlussreich. Offen­ sichtlich fiel ihm der Gedankensprung von den Primadonnen zu den Königin­ nen – die allesamt als Huren apostrophiert werden (schon Goethe fand es un­ passend, dass die Königinnen bei Schiller «wie Huren zusammenkommen und sich ihre Aventuren vorwerfen») – ganz leicht. Anders gesagt: die Geschichte vom Streit zwischen den beiden Königinnen – den doch Schiller erst erfunden hatte – überlagerte die Darstellung auf der Bühne. Der Mythos war nach wie vor gegenwärtig, wie auch ein Bericht vom Krieg der Primadonnen in der Zeit­ schrift Teatri, Arti e Letteratura, erschienen am 15. Oktober 1834, bezeugte: «So ist denn nach zweihundert Jahren der Hass von Elisabeth erneut erwacht und richtet sich gegen Maria, die arme Königin von Schottland, die schon immer glücklos in Schlachten war. Kaum standen sich die beiden Damen gegen­ über, fanden sie auch schon tausend Gelegenheiten, einander zu plagen. Ständig wurden die Proben von turbulenten Diskussionen unterbrochen, denen der anwesende Direktor jeweils ein Ende machen musste. Vor einigen Tagen dann, bei der Generalprobe, brachte Marias Abneigung die von Natur aus jähzornig veranlagte Elisabeth dermassen in Rage, dass sie sich mitten in einem Finale auf ihre Feindin stürzte, sie bei den Haaren packte, ohrfeigte, biss, sie ins Gesicht schlug und ihr mit wütenden Fusstritten beinahe die Beine brach. Maria Stuart, zuerst verdutzt, fasste Mut und verteidigte sich gegen die Königin von England. Aber, o weh, Elisabeth war stärker, und Mademoiselle Del Serre fiel wie betäubt, beinahe bewusstlos um und wurde in ihr Bett getragen.» Die Primadonnen werden hier buchstäblich als Wiedergängerinnen Elisabeths und Marias charak­ terisiert; die Propaganda für die Märtyrerin Maria ist so dominant, dass noch die Bewusstlosigkeit Anna Del Serres, eigentlich der Darstellerin Elisabeths, kontrafaktisch eingetragen wird in das Script der schottischen Königin. Ganz andere Schwierigkeiten bereitete die Zensur. Obwohl ihr das Libret­ to bereits im Juli zugesandt worden war, wurde Bardari am 4. September zum Zensor zitiert, der eine Vielzahl von Änderungen forderte. Wenige Tage später – nach der ersten Kostümprobe – wurde die Aufführung überraschend verboten. Die Gründe waren unklar. Verschiedene Gerüchte wurden kolportiert: Christina,

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die katholische Gemahlin Ferdinands, sei bei der Kostümprobe in Ohnmacht ge­fallen, einerseits wegen der Bühnenbeichte (die schon an Schillers Drama kritisiert worden war), andererseits wegen der Erinnerung an die Enthauptung einer Königin, mit der sie verwandt war. Diese Erklärungen wirken (wie Norbert Miller betont) nur mässig plausibel. Die Königin besuchte gewiss keine Kostüm­ proben, die Beichtszene war zwar umstritten, aber seit mehr als drei Jahrzehnten bekannt, und Christina war mit den Stuarts, doch auch mit den Tudors verwandt. Viel wahrscheinlicher ist, dass Maria Stuarda, die brisante Geschichte von einer Königin, die mehrfach mit dem Köhlerbund assoziiert worden war, aus politi­ schen Gründen Missfallen erregte: ein Tabu-Thema am Hof der Bourbonen. Nicht umsonst hatte der Neapolitaner Carlo Coccia seine Maria Stuarda in London herausgebracht, niemals jedoch eine Aufführung in Neapel angestrebt, obwohl er gerade 1834 als Direktor des Teatro San Carlo amtierte. Nicht um­ sonst gelang es Donizetti so schnell, nach dem Verbot die gesamte Oper umzu­ schreiben, zunächst als Giovanna Grey, danach als Buondelmonte, indem er den Krieg der Königinnen auf die Rivalität gewöhnlicher Damen um einen tragischen Helden reduzierte. Hatte der Komponist die Ersatzlösung bereits eingeplant? Und hatte er mit diesem Schritt nicht die vormaligen Königinnen – die unmüt­ ter­lichen «Huren» und Doppelgängerinnen – auf der Bühne zu einer sichtbaren Abdankung gezwungen? Donizettis Maria Stuarda blieb für mehr als hundertzwanzig Jahre ein Misserfolg. Die Aufführung der Oper an der Mailänder Scala im Jahr 1835 scheiterte zunächst fast an neuen Konflikten der Primadonnen; als die Premiere endlich stattfand, hatten beide Sängerinnen gerade ihre Stimmen verloren. Ab­ gesehen von wenig bemerkten Aufführungen in den späten Fünfzigerjahren wurde die Oper erst ab 1967 wiederentdeckt und häufiger inszeniert.

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ICH BIN EINE GLÄUBIGE KATHOLIKIN Ruhig und würdevoll schritt Maria Stuart zu ihrer Hinrichtung. Ihr tief empfundener katholischer Glaube stützte sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens Anka Muhlstein

Um sechs komplette Uhr morgens erhob sie sichProgrammbuch und kleidete sich mit grösster Sorgfalt Das an: Ein schwarzes, mit schwarzem Samt besticktes Atlaskleid mit grossen Är­ meln, deren Schlitze das violette Futter durchscheinen liessen, bedeckte einen können Sie auf weiten Unterrock aus karmesinrotem Samt und eine ausgeschnittene Korsage. Ihre schwarzen Strümpfe waren mit Silberfäden verziert, und das Leder ihrer www.opernhaus.ch/shop Schuhe war feines Maroquin. Ein weisser, ganz mit bogenförmigen Spitzen besetzter, an ihrem Kragen festgesteckter Schleier fiel beinahe bis zum Boden oder am im Foyer hinab, und ihreVorstellungsabend dunkelroten Haare zeichneten sich unter einer durchbrochenen Haube ab. Sie hängte zwei Rosenkränze an den Gürtel und legte sich eine Halskette die eine Bernsteinkugel enthielt. Sie erwerben bat Jane Kennedy, eine ihrer desum,Opernhauses Frauen, ein grosses, goldbesticktes, weisses Taschentuch in der Hand zu halten. Ihr Arzt reichte ihr nun ein Stück Brot und ein Glas Wein, damit sie sich stärken konnte. Sie umarmte ihre Frauen und zog sich in ihre kleine Hauskapelle zu­ rück, um ihre Andacht zu verrichten. Kurz nach acht Uhr holte man sie. Die Sonne ging an einem besonders schönen Februartag auf. Bevor sie die grosse Schlosshalle betrat, musste sie eine unerwartete Be­ währungsprobe bestehen. Der Sheriff von Northampton, der den Auftrag hat­ te, sie zu begleiten, hielt ihr Gefolge zurück, das mit ihr kommen wollte, und erklärte, Königin Elisabeth habe angeordnet, dass sie allein sterben solle. Dar­ aufhin wandte sich Maria an Paulet und die anderen Lords und bat, dass we­ nigstens ihre vertrautesten Diener bei ihr bleiben dürften, damit sie bezeugen könnten, unter welchen Umständen sie gestorben sei. «Unmöglich», antwor­

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tete er, deren Schreie und Tränen müssten ja die Königin und die übrigen Anwesenden stören. Ausserdem würden sie Taschentücher in ihr Blut tauchen, um Reliquien daraus zu machen. «Ich verbürge mich für ihr Betragen», entgeg­ nete Maria, und sie fügte hinzu, sie könne nicht glauben, dass die Königin, ihre Verwandte, einen so unmenschlichen und so sehr dem allgemeinen Brauch widersprechenden Befehl erteilt hätte. «Ich bin», daran erinnerte sie, «die Cou­ sine Ihrer Herrin, ich stamme von Heinrich VII. ab, ich bin Königinwitwe von Frankreich und Königin von Schottland.» Die Lords berieten sich rasch, und danach gestatteten sie ihr, sechs Personen auszuwählen, die ihr im Augenblick ihres Todes beistehen dürften. Vier Männer – ihr ehemaliger Botschafter Mel­ ville, ihr Arzt Bourgoing, ihr Chirurg Gervais und ihr alter Diener Didier – so­ wie zwei Frauen – Elizabeth Curle und Jane Kennedy, die ihr ein Leben lang gedient hatten – blieben bis zum Ende bei ihr. Ein Feuer flackerte im riesengrossen Kamin des Saals, wo dreihundert Personen stehend warteten. Sie bildeten einen Hufeisenbogen rund um eine Estrade. Dort hatte man drei Schemel aufgestellt. Zwei waren für Shrewsbury und Kent bestimmt, und ein kleinerer mit einem Kissen vor dem Richtblock erwartete die Königin. Im Hintergrund der Estrade standen zwei maskierte, in schwarzen Samt gekleidete Männer, die grosse weisse Schürzen als Schutz tru­ gen. Ein gewaltiges Beil lag auf dem Boden, das, so drückte es Bourgoing aus, jenen glich, wie man sie zum Baumfällen benutzte. Von ihren rheumatischen Beschwerden ein wenig gebeugt, schritt Maria mühsam, aber höchst würdevoll. Alle Zeugen waren von ihrem ausserordentlich ruhigen und würdevoll gefassten Gesichtsausdruck überrascht. Sie hielt ein Kruzifix und ihr Messbuch in der Hand. Nachdem sie die drei Stufen zur Estrade hinaufgestiegen war, hörte sie gleichgültig zu, wie das Todesurteil verlesen wurde, doch sie reagierte energisch, als Fletcher, der Dechant von Peterborough, ihr einen Sermon vortragen woll­ te, wie er dem protestantischen Ritus entsprach. «Tun Sie das nicht», sagte sie, «ich bin eine gläubige Katholikin, und ich werde mein Blut für die Verteidigung meiner Religion vergiessen. Wenn Sie für mich beten wollen, danke ich Ihnen, doch ich werde mich Ihnen nicht anschliessen, denn wir gehören zwei unter­ schiedlichen Religionen an.» Es folgte eine absurde Szene: Der Dechant kniete nieder und betete laut auf englisch, während die Königin ebenfalls mit lauter

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Stimme, Gott auf lateinisch anrief. Als der Dechant endlich innehielt, betete sie auf englisch für die englische katholische Kirche, für ihren Sohn und für Elisa­ beth, küsste ihr Kruzifix und machte das Kreuzeszeichen. Nun traten der Hen­ ker und sein Gehilfe vor und baten sie, wie es Brauch war, um Vergebung. «Ich vergebe Euch von ganzem Herzen», antwortete sie, «denn Ihr werdet all mei­ nen Leiden ein Ende bereiten.» Dann halfen ihr die beiden Frauen, das Kleid auszuziehen und lange rote Handschuhe überzustreifen. Die Männer streckten die Hände aus, um Marias Schmuck an sich zu nehmen, wie es ihr Recht war. Als sie den goldenen Rosenkranz ergreifen wollten, widersetzte sich Jane Ken­ nedy. Die Königin griff ein und versicherte den Henkern, wenn sie darauf ver­ zichteten, werde man sie mit anderen Wertgegenständen entschädigen. Da sie die eingegangene Verpflichtung erfüllen wollte, hörte man noch, dass sie die beiden schluchzenden Frauen mit den Worten beruhigte: «Weint nicht um mich. Ich habe es für euch versprochen.» Jane bedeckte nun Marias Augen mit dem grossen weissen Taschentuch und schlang es ihr um den Kopf, während sie den Hals vollständig entblösste. Maria kniete nieder, sprach einen lateinischen Psalm und legte den Kopf auf den Richtblock, wobei sie das Kinn mit den Händen festhielt. Der Scharfrichter zog ihre Hände zurück, weil er sie nicht abschneiden wollte, und liess das Beil herniedersausen. Er traf den Hals nicht und hackte nur in den Hinterkopf. Der zweite Hieb enthauptete sie. Dann packte der Henker den Kopf an den Haaren, wie es üblich war, doch auf einmal hielt er nur die Haarflechten in der Hand. Der Kopf einer alten Frau mit grauen, beinahe ganz kurzgeschorenen Haaren rollte auf die Erde. Die Lippen bebten noch. Die Königin hatte eine Perücke getragen.

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MARIA STUARDA GAETANO DONIZETTI (1797-1848) Tragedia lirica in zwei Akten Libretto von Giuseppe Bardari nach der gleichnamigen Tragödie von Friedrich Schiller Uraufführung: 30. Dezember 1835, Teatro alla Scala, Mailand

Personen

Elisabetta, Königin von England

Sopran

Maria Stuarda, Königin von Schottland Roberto, Graf von Leicester

Sopran

Tenor

Giorgio Talbot, Graf von Shrewsbury Guglielmo Cecil, Lord Burghley

Bass

Bass

Anna Kennedy, Maria Stuardas Vertraute Ort und Zeit

Westminster-Palast und Schloss Fotheringhay, 1587

Sopran


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

Nº 1 INTRODUZIONE

NR. 1 EINLEITUNG

Galleria nel Palagio di Westminster

Galerie im Palast von Westminster

SCENA I

SZENE I

DAME E CAVALIERI

DAMEN UND RITTER

Qui si attenda, ella è vicina Dalle giostre a far ritorno. La magnanima Regina È la gioia d’ogni cor. Quanto lieto fia quel giorno Se la stringe ad alto amor. Sì, per noi sarà più bella D’Albion la pura stella Quando unita la vedremo Della Francia allo splendor. Festeggianti ammireremo La possanza dell’amore.

Lasst uns hier warten, sie wird gleich vom Turnier zurückkehren. Die grossmütige Königin erfreut jedes Herz. Wie glücklich wird der Tag sein, an dem sie sich vermählt. Ja, der reine Stern von Albion wird uns noch schöner erscheinen, wenn er sich mit dem Glanz von Frankreich vereint. Feiernd werden wir die Macht der Liebe bewundern.

SCENA II

SZENE II

Elisabetta, Talbot, Cecil, Cortigiani, Paggi, ecc.

Elisabetta, Talbot, Cecil, Höflinge, Pagen, etc.

ELISABETTA

ELISABETH

Sì, vuol di Francia il Rege Col mio core l’Anglo trono. Dubbiosa ancor io sono Di accoglier l’alto invito, Ma, se il bene de’ fidi miei Brittanni Fa che d’Imene all’ara io m’incammini, Reggerà questa destra Della Francia e dell’Anglia ambo i destini.

Ja, Frankreichs König will mit meinem Herzen Englands Thron. Noch zögere ich, den ehrenvollen Antrag anzunehmen. Aber wenn das Wohl meiner treuen Briten mich zum Traualtar schreiten lässt, wird meine Hand die Geschicke Englands und Frankreichs lenken.

da sé

für sich

Ah! quando all’ara scorgemi Un casto amor del Cielo, Quando m’invita a prendere D’Imene il roseo velo, Un altro core involami La cara libertà! E mentre vedo sorgere Fra noi fatal barriera, Ad altro amor sorridere Quest’anima non sa.

Ach, wenn eine keusche, himmlische Liebe mich vor den Altar führt, wenn sie mich einlädt, den rosigen Eheschleier zu nehmen, so raubt ein anderes Herz mir meine teure Freiheit! Und während eine schicksalhafte Schranke sich zwischen uns erhebt, kann mein Herz keiner anderen Liebe zugetan sein.

TALBOT

TALBOT

In tal giorno di contento Di Stuarda il sol lamento La Bretagna turberà?

Soll an diesem Freudentag allein die Klage der Stuart Britannien betrüben?


CORTIGIANI

HÖFLINGE

Grazia, grazia alla Stuarda.

Gnade, Gnade für die Stuart.

ELISABETTA imponendo

ELISABETH gebieterisch

Olà. Di questo giorno il giubilo Turbato io non credea. Perché forzarmi a piangere Sul capo della rea, Sul triste suo destin?

Ha! Ich glaubte nicht, dass etwas die Freude dieses Tages trüben würde. Warum zwingt ihr mich, um die Schuldige zu weinen, über ihr trauriges Los?

CECIL

CECIL

Ah! dona alla scure quel capo che desta Fatali timori, discordia funesta, Financo tra ceppi, col fuoco d’amor.

Ach, übergib es dem Beil, dieses Haupt, das mit seiner Liebesglut selbst noch in Ketten verhängnisvolle Furcht und unheilvolle Zwietracht sät.

CORTIGIANI

HÖFLINGE

Grazia!

Gnade!

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ELISABETH

Tacete! Non posso risolvermi ancor.

Schweigt! Ich kann mich noch nicht entscheiden.

Ah! dal ciel discenda un raggio Che rischiari il mio intelletto: Forse allora in questo petto La clemenza parlerà. Ma se l’empia m’ha rapita Ogni speme al cor gradita, Il giorno atroce di vendetta Tardo a sorger non sarà.

Ach, möge ein Strahl vom Himmel meinen Geist erleuchten: Vielleicht wird dann die Milde in meinem Herzen sprechen. Aber wenn die Nichtswürdige mir jede Hoffnung geraubt hat, die mein Herz erfreut, so wird der schreckliche Tag der Rache nicht auf sich warten lassen.

CORTIGIANI

HÖFLINGE

Il bel cor d’Elisabetta Segua i moti di pietà.

Möge Elisabeths gutes Herz sich von Mitleid leiten lassen.

CECIL

CECIL

Ti rammenta, Elisabetta, Ch’è dannosa ogni pietà.

Denke daran, Elisabeth, dass jedes Mitleid schadet.

RECITATIVO

REZITATIV

ELISABETTA

ELISABETH

Fra voi perché non veggio Leicester? Egli solo resta lontano della gioia comune?

Warum sehe ich Leicester nicht bei euch? Bleibt er allein der allgemeinen Freude fern?

CECIL

CECIL

Eccolo.

Da kommt er!


Programmheft MARIA STUARDA Tragedia lirica in zwei Akten von Gaetano Donizetti Premiere am 8. April 2018, Spielzeit 2017 / 18

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Fabio Dietsche

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung, das Gespräch mit Elisabeth Bronfen und die beiden Beiträge von David Alden und Enrique Mazzola sind für dieses Programmbuch entstanden. Weitere Textquellen: Stefan Zweig, Maria Stuart, Fischer Taschenbuch Verlag, Frank­furt a. M. 1951; Friedrich Schiller, Maria Stuart, in: Klassische Dramen, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2008; Elfriede Jelinek, zitiert nach «Vier Stück Frau» – Vom Fliessen des Sprachstroms, Einige Antworten von Elfriede Jelinek, in: Programmheft zur Uraufführung von Elfriede Jelineks «Ulrike Maria Stuart», Thalia Theater Hamburg 2006; Reynaldo Hahn, Du Chant, Kapitel 5, zitiert nach http://reynaldo hahn.net /Textes /RH/duchant5.htm, aus dem Fran­zösischen

Studio Geissbühler Fineprint AG

übersetzt von Luzius Keller; Thomas Macho, Vorbilder, aus dem Kapitel «Doppelgängerinnen: Maria Stuart und die Virgin Queen», Wilhelm Fink, München 2011; Anka Muhlstein, Die Gefahren der Ehe, Elisabeth von England und Maria Stuart, Insel Taschenbuch, Frankfurt a. M. und Leipzig 2009. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 28. März 2018. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Walter Haefner Stiftung Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG PROJEKTSPONSOREN AMAG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Max Kohler Stiftung

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