Médée

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MÉDÉE

MARC-ANTOINE CHAR PENTIER 1


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MÉDÉE MARC-ANTOINE CHARPENTIER (1643-1704)

Partner Opernhaus Zürich

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Für dich hab ich getötet und geboren Ich deine Hündin deine Hure ich Ich Sprosse auf der Leiter deines Ruhms aus: Heiner Müller, Medeamaterial


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HANDLUNG Vorgeschichte Aus Liebe half die Königstochter Medea dem Helden Jason, den grössten Schatz ihres Heimatlandes zu rauben: das Goldene Vlies. Um die gemeinsame Flucht zu sichern, tötete und zerstückelte sie ihren Bruder und warf dem sie verfolgen­ den Vater die Leichenteile in den Weg. Das Paar kehrte in Jasons Heimat Iolkos zurück, wo sich Jasons Onkel Pelias unrechtmässig den Thron angeeignet hatte. Jason zuliebe brachte Medea den Usurpator um. Dann flohen sie und fanden in Korinth bei König Kreon Zuflucht.

Erster Akt Akastos, der Sohn des Pelias, hat Korinth den Krieg erklärt, weil sich Jason und Medea dort aufhalten. Jason hat sich inzwischen in Krëusa, die Tochter des Königs, verliebt. Medea ahnt Jasons Treuebruch und auch, dass Kreon einverstanden ist, seine Tochter mit dem berühmten Helden zu verheiraten. Jason versucht, Me­ deas Zweifel zu zerstreuen. Er bittet sie um ihr wunderbares Kleid, das Krëusa so ge­­fallen hat, um es dieser zum Geschenk zu machen. Auf diese Weise will er, so behauptet er, Krëusa bewegen, sich um die Kinder zu kümmern, wenn Me­ dea und er aus dem Land gehen müssen. Orontes, der König von Argos, wird festlich empfangen. Er ist mit Krëusa ver­lobt und kommt nun, um mit seinen Truppen im Kampf gegen Akastos zu helfen.

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Zweiter Akt Kreon versichert Medea seines Schutzes, verlangt aber von ihr, dass sie für eine gewisse Zeit das Land verlässt, um sein Volk zu beruhigen, das sich vor der Fremden fürchtet. Jason jedoch soll in Korinth bleiben, um gegen Akastos zu kämpfen. Medea willigt ein und bittet Krëusa, für ihre Kinder zu sorgen. Nun scheint der Ehe von Jason und Krëusa nichts mehr im Wege zu stehen. Kreon muss zwar Orontes düpieren, aber er zieht es vor, den stärkeren Helden an seinen Hof zu binden und gleichzeitig die Tochter in seiner Nähe zu behalten. Jason und Krëusa geniessen die Vorfreude auf ihr künftiges Glück. Orontes, der nichts von der Intrige ahnt, bringt Krëusa seine Huldigung dar.

Dritter Akt Orontes bietet Medea an, sie in Argos aufzunehmen. Sie lehnt das ab und klärt ihn darüber auf, wie man ihn belügt und dass Krëusa bereits Jason versprochen zu sein scheint. Jason versucht noch einmal, Medea einzureden, dass sie nur für kurze Zeit aus Korinth fortgehen soll, aber sie durchschaut seine Lüge und begreift nun die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Sie ruft die Mächte der Unterwelt zu Hilfe und vergiftet das Kleid, das für Krëusa zur tödlichen Falle werden soll.

Vierter Akt Jason und Krëusa erfreuen sich an der Schönheit von Medeas Kleid. Orontes stellt Jason wegen seiner Affäre mit Krëusa zur Rede. Er schwört dem Rivalen, sich nicht mit dem Betrug abzufinden. Dann sichert er Medea zu, sie bei ihrer Rache für Jasons Untreue zu unterstützen, bittet sie aber, Krëusa zu verschonen. Medea verspricht ihm nur, dass Krëusa nie Jasons Gattin werden wird. Kreon drängt Medea zur Abreise. Diese erklärt sich unter der Bedingung einverstanden, dass vorher Orontes mit Krëusa verheiratet wird. Dem heftig aufbrausenden Kreon demonstriert sie seine Machtlosigkeit gegen ihre Zauber­ kräfte und treibt ihn in den Wahnsinn.

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Fünfter Akt Um Jason einen Schmerz zuzufügen, der dem ihren gleichkommt, beschliesst die verzweifelte Medea, ihre gemeinsamen Kinder zu töten. Aber zunächst versucht sie noch, Krëusa zur Ehe mit Orontes zu drängen. Krëusa weist dieses Ansinnen entrüstet zurück. Da kommt die Nachricht, dass Kreon im Wahnsinn Orontes getötet und Selbstmord begangen hat. Medea löst den tödlichen Zau­ ber des Kleides aus. Jason muss hilflos mit ansehen, wie Krëusa qualvoll stirbt. Medea tötet die Kinder, nimmt letzten Abschied von Jason und verschwin­ det aus Korinth, das in einem Feuerregen untergeht.

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EIN GROSSER THEATERMANN UND MENSCHENKENNER Andreas Homoki zu seiner Inszenierungskonzeption

In den letzten Jahrzehnten hat sich die lange vernachlässigte Barockoper einen Platz im Repertoire der Opernhäuser erobert, allerdings ist zu­mindest im deutschsprachigen Raum die italienische Variante deutlich populärer als die französische. Diese gilt vielen als eher fremdartig, untheatralisch und musikalisch dürftig. Vorwürfe, die schon im 18. Jahr­ hundert von Theoretikern und Praktikern der italienischen Oper erhoben wurden und bis heute nicht verstummt sind. Wie siehst du das? Ich finde das, ehrlich gesagt, gar nicht. Allerdings erst, seit ich – übrigens durch die Vermittlung von William Christie – Charpentiers David et Jonathas inszeniert habe. Vorher stand ich diesen Opern eher reserviert gegenüber, vor allem aus der Sorge, die vielen Ballettmusiken tatsächlich mit Tanzeinlagen füllen zu müssen, und dadurch die künstlerische Einheit der Aufführung zu gefährden. Aber die Begegnung mit diesem anderen Werk Charpentiers hat mich schnell überzeugt, dass dieses Problem lösbar ist. Und ausserdem habe ich gemerkt, dass es sich bei Charpentier um einen Kom­ponisten mit grossem Gespür für das Theater handelt. Tatsächlich halte ich die französische Oper dieser Epoche mittlerweile für mindestens ebenso vielfältig und inter­ essant wie die italienische. Bei der italienischen Oper spürt man immer, dass die Dramaturgie der Stücke auf die damaligen Gesangsstars und ihre virtuose Stimmakrobatik ausgerichtet ist. Daraus ergibt sich der stark schematisierte Aufbau dieser Stücke: Sie bestehen aus einer Folge von Rezitativ-Szenen, an deren Ende jeweils eine Arie in A-B-A-Form steht, nach welcher der Sänger abgeht, um anschliessend zurückzukommen und den Applaus entgegenzu­ neh­men. Dieses Schema, das streng durchgehalten wird, spürt man noch bis

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in die mittleren Opern Verdis, und es macht die Handlung oft voraussehbar und unglaubwürdig. So etwas ist häufig viel schwieriger sinnvoll auf die Bühne zu bringen als etwa ein Stück von Charpentier, dessen Dramaturgie viel flexibler und durchlässiger für unterschiedliche Arten der Begegnung von Bühnenfiguren ist. Aber auch die Dramaturgie der französischen Barockopern entwickelt sich nicht vollkommen frei und ausschliesslich am Thema orientiert. Gewiss nicht. Auch hier gibt es Regeln, nach denen sich alle Autoren zu richten haben, und diese werden sogar strenger überwacht als in der italie­ nischen Opernpraxis. Dort waren es die Sänger, die auf bestimmten Abläufen bestanden, diese waren schliesslich die Voraussetzung für deren Erfolg. Aber mit den Sängern konnte der Komponist immerhin verhandeln und even­tuell auch mal unkonventionelle Lösungen durchsetzen. In Frankreich hin­­gegen gab es eine grosse Schar von Journalisten und Gelehrten der Ästhe­tik und – nicht zu vergessen – die Académie française, die streng kon­trol­lier­ten, dass auch alles den Regeln entsprechend gestaltet wurde. Aber diese Regeln beziehen sich eher auf die grosse Form. Für die Oper sehen sie z. B. so aus: Die Stücke haben aus fünf Akten zu bestehen, die Handlung hat sich im Verlauf eines Tages abzuspielen, jeder dieser Akte hat zweiteilig zu sein, wobei der erste Teil aus kammerspielartigen Dialogen besteht und die Handlung vorantreibt, während der zweite Teil ein sogenanntes «Diver­ tissement» zeigen soll, eine Folge von Chor- und Tanzsätzen, die nur lose mit der Haupthandlung verbunden ist. Was sich aber innerhalb dieser beiden Teile abspielt, kann sehr differenziert und höchst abwechslungsreich sein und bietet der Originalität der Librettisten und Komponisten viel Freiraum. Die Dialogszenen sind musikalisch als Rezitative gestaltet, wobei sich das französische Rezitativ ganz erheblich vom italienischen Seccorezitativ unterscheidet. Eigentlich handelt es sich um die Übertragung der Rezitations­kunst der klassischen französischen Tragödie auf die Opernbühne. Die entscheidende Rolle spielt der Text, die Komposition zielt auf seine möglichst klare und kunstvolle Deklamation. Dazu dient ein kontinuierlicher Musikfluss, der in jedem Moment fast unmerkliche Übergänge vom Secco-Rezitativ ins

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Accompagnato oder Arioso und schliesslich in Arien und Duette ermöglicht, wobei diese Arien und Duette immer sehr kurz sind, alle Möglichkeiten der Formgebung ausschöpfen und fast vollständig auf virtuose Koloraturen verzichten. Wenn Koloraturen vorkommen, dienen sie nicht der Präsentation sängerischer Virtuosität, sondern immer ausschliesslich dem Textausdruck. Mit diesen Mitteln komponiert Charpentier sehr bewegende und theater­ wirksame Dialoge, die sich auf die Psychologie der Figuren konzentrieren und entsprechend leicht zu inszenieren sind. Die grösste Herausforderung für die Inszenierung liegt in der zweiten Akthälfte: Hier löst sich die eigent­ liche dramatische Handlung auf in grosse Tableaux, in denen Chor und Ballett in Aktion treten, die Situation der Handlung erweitert und in einer unterhalt­samen, mitunter auch humorvollen Gestalt auf ganz andere Weise reflek­tiert wird. Die Schwierigkeit besteht hier darin, diese revueartige Form zu bedienen, ohne den Zusammenhang des Stücks zerreissen zu lassen. Zumal man nun auch das Ballett auftreten lassen muss… So ist es jedenfalls gedacht, und so ist es seinerzeit auch geschehen. Damit aber die einzelnen Akte nicht in zwei völlig unterschiedliche Teile zer­fallen, ist es wichtig, diese Divertissements auch in den Ballettmusiken nicht einfach zu «vertanzen», sondern die Geschichte mit den Figuren der Handlung in anderen Formen und Strukturen vertiefend weiterzuerzählen. Andernfalls würden die Ereignisse in relativ trockenen Rezitativen abgehandelt, und wenn das Theater endlich seine Trickkiste auspackt, ginge es um nichts mehr. Das wäre uninteressant, und es wäre auch nicht angemessen. Denn die Divertissements an den Aktschlüssen nehmen auf ihre Weise sehr wohl Bezug auf die Haupthandlung. Sie tun dies eben nur innerhalb der Theaterkon­ ventionen und -gewohnheiten des 17. Jahrhunderts, und wir müssen dafür Formen finden, die unserer Zeit entsprechen und für den heutigen Betrachter eine entsprechende Wirkung haben. Das ist für den Regisseur natürlich anstrengend, aber für mich persönlich gerade durch die Schwierigkeiten umso reizvoller. Darum war mir auch wichtig, dass wir das ganze Stück einschliess­ lich der Divertissements ohne Striche spielen, damit die Gewichtungen, wie sie der Form entsprechen, wirklich zum Tragen kommen.

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Noch einmal zurück zu den Dialogszenen. Das französische Rezitativ ist sehr viel stärker festgelegt als das italienische Secco-Rezitativ, wo das Tempo ganz frei ist. Das französische Rezitativ muss durchgehend dirigiert werden, weil die Kontinuität des Tempos ge­wahrt bleiben muss. Ist das nicht eine starke Einschränkung für die Inszenierung, die nicht die volle Freiheit im Umgang mit dem dramatischen Dialog hat? Ich empfinde diese Einschränkung nicht als Behinderung. Charpentier ist ein Komponist, der in seiner Musik sehr genau nachvollzieht, was jeweils in einer Szene verhandelt wird und wie sich das Geschehen innerlich und äusserlich entwickelt. Die Musik ist nicht, wie man glauben könnte, einfach eine Unterlage für die pathetische Deklamation des Textes. Vielmehr sind die Tempi, die Beschleunigungen, die harmonischen Wechsel, die Über­gänge zur Arie und zurück usw. sehr präzise aus den szenischen Vor­gän­ gen motiviert und geben der Szene eine logische und nachvollziehbare rhyth­mische Struktur. Und wenn man sich auf diesen Rhythmus einlässt, genau darauf hört und sich von ihm leiten lässt, gewinnt man oft über­ra­schen­­de Einblicke in die Figuren und die Situationen. Man merkt dann, dass Charpen­ tier ein wirklich grosser Musikdramatiker war, einer, der sich han­deln­de Menschen aus Fleisch und Blut vorgestellt hat, die er mit seiner Musik dar­stellen wollte. Er hat nicht einfach irgendeinen Text mit mehr oder weniger angenehmer Musik dekorieren, sondern starke, mitreissende dramatische Szenen schaffen wollen. Da arbeitet er auf derselben Höhe künstlerischer Voll­endung wie später Gluck, Mozart oder Wagner. Natürlich ist sein Verfahren mit dem Wagners nicht zu vergleichen. Charpentiers Orchester kommentiert das Geschehen nie, es löst sich nur sehr selten von der dramatischen Deklamation los, die Orchestermusik dient der Gliederung der Szenen, der Hervorhebung von Vorgängen und Drehpunkten der Szenen. Anders als später bei Wagner kommt es nie vor, dass eine Figur etwas sagt und der Orchesterkommentar deutlich macht, dass sie etwas ganz anderes meint oder denkt. Vielmehr werden die Hintergründe des jeweiligen Handelns aus­ schliess­lich durch die Komposition der Singstimme deutlich gemacht, ent­sprechend wie sie im Schauspiel durch den sprachlichen Ausdruck des Darstellers verständlich werden würden. Das bedeutet natürlich auch, dass man genau

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auf den Text achten muss, und dass die Sänger sehr daran arbeiten müssen, den musikalischen Ausdruck in jedem Moment mit dem Textinhalt in Einklang zu bringen. Charpentier kann man nur dann richtig vortragen, wenn man den Text genau kennt und in jedem Moment präzise seinen Inhalt gestaltet. Seine Musik ist mit schlampiger Opernpraxis nicht vereinbar. Der Medea-Stoff, vor allem die Episode in Korinth, ist sehr oft drama­ tisch bearbeitet worden. Worin mag der besondere Reiz dieser Geschichte für dramatische Autoren liegen? Ich muss gestehen, dass ich mit dem Stoff lange Zeit meine Probleme hatte: Eine Frau, die ihre Kinder ermordet, um sich an ihrem Mann zu rächen – das wird mir wohl immer sehr fremd bleiben. Allerdings hilft mir Charpentier, der Sache näherzukommen. Bei ihm ist das nicht nur die wüste Geschichte von entfesselten Leidenschaften und blutigen Mordtaten. Charpentier und sein Librettist spitzen den Stoff vielmehr auf zwei arche­ typische Situationen zu: Da ist eine Gesellschaft und ein Fremdkörper – Me­ dea, die durch ihre pure Anwesenheit den Frieden stört, einfach weil sie nicht dazu gehört. Das ist also das immer virulente, im Moment gerade sehr brennende Problem der Konfrontation mit dem Fremden. Und zum anderen haben wir das Problem einer zerbrechenden Beziehung zwischen zwei Menschen: Was geschieht, wenn ein Partner geht und den anderen allein lässt? Diese beiden Situationen, die für jeden unmittelbar nachvollziehbar sind und keinen kalt lassen, werden dadurch verknüpft, dass die Verlassene die Fremde ist – Medea, die auf diese Weise jeden Halt verliert. Das wird hier noch dadurch verschärft, dass diese Gesellschaft nicht offen mit der Sache umgeht, sondern alle lügen, herumlavieren, sich und andere über die Situation täuschen usw. Das ist eine Konstellation, die auf dem Theater gut darstellbar ist, weil sie starke Figuren, starke Situationen ergibt. Kommt dir Medea also in der Arbeit näher? Sie bleibt ja trotz allem die Frau, die ihre Kinder umbringt. Zunächst einmal ist Medea eine sehr starke Frau, die mit ihrer Direktheit und Ehrlichkeit, in ihrer Fähigkeit, dem Schicksal gerade in die Augen zu

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sehen, den Männern weit überlegen ist. Damit gewinnt sie schon mal grosse Sympathie. Dann möchte ich sehr deutlich zeigen, dass diese Gesellschaft ablehnend und verständnislos, mit einer verletzenden Arroganz auf sie reagiert. So wird erkennbar, woraus ihre extreme Wut und Grausamkeit – auch gegen sich selbst – entsteht. Medea ist nicht zur Kindesmörderin geboren, sie wird dazu durch das, was ihr widerfährt. Darum ist es mir wichtig, auch ihre weichen Seiten zu zeigen, ihre Liebesfähigkeit, ihre Zärtlichkeit, ihre Mütter­ lichkeit, ihre Sehnsucht nach Glück. Ich habe bis weit nach Beginn der Probenarbeit überlegt, ob wir den Mord an den Kindern zeigen sollten oder nicht, denn Charpentier hat diesen Vorgang eigentlich nicht gestaltet. Schliess­lich hat uns die Komposition den Weg gewiesen: Es gibt kurz vor Ende der Oper einen starken und berührenden Trauerchor, der mir für die de­ kadente Gesellschaft der Korinther viel zu schade ist – zu dieser Musik werden wir den Tod der Kinder zeigen. Das sollte im Zusammenwirken mit dem Klagegesang eine sehr emotionale Wirkung ergeben. Es ist immer sehr schön, wenn in der Probenarbeit Momente entstehen, wo das Stück selbst die Führung übernimmt und wir alle folgen ihm. Was heisst das? Wie kann das Stück die Führung übernehmen? Ist es nicht der Regisseur, der die Vorgänge auf der Bühne entwickelt? In gewissem Sinne schon, jedenfalls hat er die letzte Entscheidung darüber. Aber inszenieren heisst für mich nicht, mit einem fertigen Ablaufplan der Vorstellung auf die Probe zu kommen und diesen dann auf die Darsteller durchzupausen. Der Probenprozess ist ein gemeinsames Suchen und (hoffentlich!) Finden, in dem sich die Figuren nach und nach entlang der Handlung entwickeln. Und man tut gut daran, ihnen genau zuzuhören, denn sie wissen ja am besten, wie es um sie bestellt ist. Übrigens habe ich das Gefühl, dass mich gerade dieses Stück in der Probe ganz stark führt, viel stärker als andere. Das ist eine besondere Erfahrung. Diese Kraft des Stücks kann sich aber nur entfalten, wenn ich es zulasse. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir auf der Probe frei drauflos improvisieren und mal schauen, was sich so ergibt. Damit das Stück zu einem spricht, muss man sehr gründlich vorbereitet sein. Aber wenn ich wach bleibe und bereit bin, auf den Proben

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flexibel zu reagieren, geschieht es immer wieder, dass eine kleine harmonische Wendung oder ein auffallendes Intervall in der Singstimme einen ganz unvermuteten Aspekt einer Situation enthüllt, der mir vorher gar nicht bewusst war. Jason verlässt Medea, die alles für ihn geopfert hat, und wendet sich einer anderen Frau zu. Warum tut er das? Jason ist auf den ersten Blick ein durch und durch unsympathischer Kerl. Er ist nicht nur undankbar und egoistisch, sondern auch noch ein Feigling, der versucht, sich mit läppischen Lügen und Ausflüchten aus der Affäre zu ziehen, statt wenigstens klar zu sagen, wie die Dinge liegen. Wäre das alles, wären wir schnell mit der Sache fertig: Medea hätte unsere ganze Sympathie, Jason würde unsere ganze Verachtung treffen. Eine solche Konstellation wäre für das Theater aber zu simpel. Darum geht Charpentier anders vor: Er zeigt uns einen Menschen, der in einer schwierigen Situation völlig über­­fordert ist, eine Entscheidung zu fällen, der mit sich hadert. Er hat Medea einmal sehr geliebt, das wird bei aller Spannung in den Dialogen der beiden unmissverständlich deutlich, aber im Laufe der Zeit muss er immer mehr gespürt haben, dass er dieser Frau und ihrem unbedingten Anspruch ans Leben, an sich selbst und an alle anderen nicht gewachsen ist. Nun ist er müde geworden und will seine Ruhe, will sozusagen zu Hause ankommen und seine Irrfahrten endgültig beenden. Und dieses Korinth und seine Gesellschaft, in die er viel besser passt als seine «wilde» Frau, bietet sich ihm als neues Zuhause an. Geht es ihm also nur darum, in dieser Gesellschaft aufzusteigen, oder liebt er Krëusa wirklich? Die zärtlichen Liebesduette zwischen Krëusa und Jason geben auf diese Frage eine klare Antwort: Da sind zwei verliebte Menschen, und Charpentier macht hörbar, dass diese Liebe ganz aufrichtig ist, und denunziert das nicht. Das gilt übrigens für das ganze Stück und hat mich zunächst irritiert: Der Komponist scheint keine Stellung zum Geschehen zu nehmen, steht den Vorgängen anscheinend ganz unkritisch gegenüber und schildert es ohne

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eine eigene Meinung. Ich habe mich zunächst gefragt, ob ich nun selbst eine Stellungnahme hinzufügen soll und zum Beispiel den Szenen zwischen Jason und Krëusa eine kräftige Portion Bosheit und Tücke injizieren sollte. Aber wenn man sich von ihm führen lässt, merkt man, dass das Stück klüger ist. Es gibt in der Welt dieser Oper keine bösen Menschen, deren Bos­heit für die Katastrophe verantwortlich wäre. Die Figuren sind nicht schuldlos, aber es sind die tragischen Verstrickungen, die sie schuldig werden lassen, Verstrickungen, die sie nicht bewusst herbeigeführt haben, aus denen sie sich aber nicht befreien können. Es ist eben eine wirkliche Tragödie, in der alle Figuren sich zwangsläufig so verhalten müssen, dass das Ganze in einer Katastrophe endet. Kann man auch für Kreon Verständnis haben, den Herrscher, der seine Tochter zunächst dem König von Argos verspricht, sich dann aber anders entschliesst, das aber verheimlicht und damit die Existenz seines Staates aufs Spiel setzt? Handelt er nicht unverantwortbar leichtsinnig? Es mag sein, dass er seiner Position nicht gewachsen ist, weil er die Liebe zu seiner Tochter nicht politischen Rücksichten opfern kann. Er ist Vater und will vor allem für seine Tochter das Beste. Deshalb ergreift er gern die Chance, sie mit dem berühmtesten Helden Griechenlands zu verhei­raten, zumal sie so in seiner Nähe bleiben kann, statt zu ihrem ur­ sprüng­lich vorgesehenen Mann nach Argos zu gehen. Sein Handeln ist kurzsichtig, er müsste wissen, dass es so nicht geht. Er wird dadurch zur Karikatur eines sich überschätzenden Politikers. Aber dass ihm seine Liebe zur Tochter wichtiger ist als seine Herrschaft, finde ich trotzdem sympathisch. Wäre es nicht besser, die Welt wäre so eingerichtet, dass solch ein liebevolles Handeln nicht in die Katastrophe führt? Und ist er daran schuld, dass es anders ist? Allerdings hindert ihn sein gutes Herz, das er hier zeigt, nicht daran, Medea gegenüber absolut hinterhältig zu agieren. Auch in diesem Punkt ist Charpentier ein grosser Theatermann und Menschenkenner: Alle Figuren sind vollständige, lebensvolle Gestalten mit allen Fehlern, die Menschen nun einmal haben. So artifiziell diese Opernform ist, so lebensnah ist sie in der Schilderung der menschlichen Schicksale.

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Orontes, der König von Argos ist eine Figur, die in anderen Ausformun­ gen des Stoffes nicht vorkommt. Was hat es mit ihm auf sich? Er wurde sicherlich eingeführt, um eine symmetrische Figurenaufstellung zu erreichen. Das Zeitalter Ludwigs XIV. hatte eine grosse Vorliebe für die Symmetrie, nicht nur in der Malerei, der Architektur und der Gartenge­ staltung, sondern auch in der dramatischen Kunst. Indem Orontes die Hand Krëusas versprochen ist und er um die Ehe geprellt wird, haben wir es mit zwei sich spiegelnden Paarkonstellationen zu tun: Medea wird von Jason verlassen, der sich Krëusa zuwendet, Orontes will Krëusa heiraten, die sich aber Jason zugewandt hat. Fast noch wichtiger ist aber, dass mit diesem Orontes ein weiterer Liebender in die Handlung eingeführt wird, in dessen Verzweiflung Medeas Situation verdeutlichend gespiegelt wird: Für ihn endet die Geschichte tödlich, weil er weicher ist als Medea, die sich durchsetzt und auf schreckliche Weise triumphiert. Darüber hinaus spiegelt er Medeas Situation auch noch auf andere Weise: Auch er ist fremd in Argos, und auch er wird nicht ernst genommen. Anscheinend halten die Korinther Argos und seine Bewohner für ein wenig provinziell, weshalb Kreon glaubt, Orontes einfach über den Tisch ziehen zu können. Darin drückt sich eine Arroganz der korinthischen Welt aus, die alles, was anders ist, für minderwer­ tig hält und glaubt, dass man es nicht ernst nehmen muss und leicht damit fertig wird – bis sich dann herausstellt, dass es da Energien gibt, mit denen man nicht gerechnet hat. Eine durchaus aktuelle Erfahrung... In welcher Landschaft, in welcher Zeit siedelt die Inszenierung das Geschehen an? Für die klassische französische Tragödie wie für die französische Barock­ oper ist es charakteristisch, dass die Handlung eigentlich an keinem be­ stimmten Ort angesiedelt ist. Das Geschehen trägt sich immer in irgendeiner nicht näher bestimmten Halle, einem Vestibül, dem Vorhof eines Tempels zu, also an Orten, wo alle Figuren problemlos allen anderen begegnen können, ohne dass erklärt werden müsste, wie sie sich Zugang verschafft haben. Die Handlung spielt nie im Schlafzimmer des Königs oder im Geheimkabinett der Königin oder ähnlich stark spezifizierten Räumen. Das heisst, der Bühnen­

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raum ist nur ein architektonischer Rahmen für das Geschehen, das sich im dramatischen Dialog entfaltet und keine konkrete Ansiedlung nötig hat. Darum wäre es unangemessen, Zeit und Ort irgendwie zu konkretisieren und etwa das Weisse Haus oder den Kreml auf die Bühne zu setzen. Allerdings erwarten wir heute, dass ein Bühnenraum etwas über die Situation erzählt, in der sich das Geschehen entfaltet, und ich kann es mir auch gar nicht anders vorstellen. Bei uns spielt sich die Geschichte in diesem unwirtlichen, etwas seltsam anmutenden Korridor ab, einem Ort also, an dem niemand zu Hause ist, ein Bereich, den man normalerweise schnell durchschreitet, um irgendwo anders hinzukommen. Damit wird die Situation der Unbehaustheit, der Unzufriedenheit, der Sehnsucht nach etwas anderem ins Bild gesetzt, die ja alle Figuren, nicht nur Medea und Jason bestimmt. Damit ist auch klar, dass wir keine konkrete zeitliche Zuordnung des Geschehens beabsichtigen. Es geht um das Allgemeingültige, Zeitlos-Modellhafte dieser Geschichte. Dabei bedienen wir uns natürlich gewisser bekannter Chiffren: Eine etwas überzeichnete, sehr reiche, sehr vornehme, ziemlich dekadente Gesellschaft, die an die europäische Oberschicht in einer Kolonie denken lässt, und dagegen Medea, die – ebenfalls etwas überzeichnet – eher orientalisch-afrika­ nisch anmutet. Ihre Heimat Kolchis liegt nicht in Afrika, aber es geht hier auch nicht um die ethnologisch exakte Zuordnung, sondern um den Gegen­ satz von «Zivilisation» und «Barbarei», wie es die Korinther ausdrücken würden. Dieser Raum kann sich, das war mir sehr wichtig, für die Divertisse­ ments verwandeln und die grossen Tableaux ermöglichen, die dann ganz frei, man könnte auch sagen, eklektisch mit den ästhetischen Mitteln operieren: Da tauchen dann wahlweise Figuren einer Broadway-Revue, knallbunte Voodoo-Figuren oder Damen wie aus einem Rokoko-Gemälde auf und liefern immer für kurze Zeit sehr farbige und detailreche Phantasiebilder, die Fenster in eine ganz andere Welt aufstossen und die Dimensionen des Ge­­schehens erweitern. Auf diese Weise wollen wir etwas davon vermitteln, was die Zuschauer dieser Oper zu jener Zeit erlebten. Das Gespräch führte Werner Hintze

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EINE PERFEKTE SYNTHESE VON TEXT UND MUSIK Ein Gespräch mit William Christie über Charpentiers einzige Tragédie en musique Herr Christie, Ihre persönliche Begeisterung für den Komponisten Marc-Antoine Charpentier hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass seine Médée heute wieder auf der Bühne zu erleben ist. Wie ist es zur Begegnung mit Charpentiers Musik gekommen? In den USA, wo ich aufgewachsen bin, wurde französische Musik eher selten gespielt – ganz zu schweigen von französischer Barockmusik. Ich hatte aber das Glück, dass meine Eltern grosse Musikliebhaber waren. Und meiner Mutter war die Musik von Charpentier bekannt. Aber Charpentier war nur einer von vielen Komponisten, die ich genauer kennenlernen wollte. Eine fas­zinierende Entdeckung war es für mich, als mir damals während mei­nes Studiums die erste Einspielung von Jean-Philippe Rameaus Oper Hippolyte et Aricie in die Hände fiel. Ich habe mich ganz grundsätzlich in die franzö­sische Kultur verliebt. Zogen Sie deshalb 1971 nach Paris? Frankreich wurde Ihre Wahlheimat ... Für einen jungen Menschen war das Leben in den USA in jener Zeit nicht einfach. Viele junge Männer wurden in den Vietnamkrieg eingezogen – und das war für mich ein Grund mehr, mir meinen Wunsch zu erfüllen und nach Frankreich zu gehen. Ich wollte – ganz im romantischen Sinn – geografisch näher an der Kultur sein, die mich so begeisterte. Aber ich wollte auch in die Kirchen gehen können, wo die Musik der französischen Ba­ rockzeit häufiger gespielt wurde als bei uns, in den Bibliotheken die Partituren erforschen – und vor allem wollte ich nicht mehr nur unterrichten und forschen wie in den USA, sondern eine Karriere als Cembalist beginnen.

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Ist Paris Ihren Erwartungen gerecht geworden? Um ehrlich zu sein, war ich sehr ent­täuscht von dem, was ich dort ge­­hört habe. Das bisschen Alte Musik, das man in den 70ern in Paris hören konnte, war nicht sehr überzeugend. Es klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich musste feststellen: Selbst an den Universitäten von Berkeley oder Chicago war man damals in der Erforschung französischer Barockmusik eigentlich weiter als in Paris! Deshalb spielte ich zuerst vor allem moderne Musik (z. B. Werke von Morton Feldman und Luciano Berio). Doch die Zeit um 1970 brachte dann einen wichtigen kulturellen Wendepunkt: In verschiedenen Städten Eu­ropas begann damals die unglaublich spannende Phase der Entdeckung, Recherche und Erarbeitung von Alter Musik. Zur gleichen Zeit wie ich wid­me­ten sich junge engagierte Kollegen wie René Jacobs, Jordi Savall, Konrad Junghänel oder Ton Koopman der Erforschung der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts – wir waren sehr gut vernetzt, tauscht­en uns aus und lernten viel voneinander.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Ende www.opernhaus.ch/shop der 70er haben Sie Ihr eigenes Ensemble «Les Arts Florissants» ge­gründet – benannt nach einem kleinen allegorischen Bühnenwerk von oder am dasVorstellungsabend im Foyer Charpentier, die aufblühenden Künste als Bringer des Friedens feiert. Stand die Musik von Charpentier damals im Zentrum Ihres Inter­ esses? des Opernhauses erwerben Unser Ziel war es, die französische Musik des 17. Jahrhunderts zu spielen. Das hat sonst niemand gemacht. Und zwar deshalb, weil es sich dabei vor­wiegend um vokale Musik handelt – und die Gesangsstimme ist sozusagen das letzte «Instrument», das von der Alten-­Musik-Bewegung ergriffen wurde. Bis dahin hatte man sich der Entwicklung und Verbesserung der Instrumente gewidmet: Orgeln, Cembali, Violinen und Flöten wurden erforscht und nachgebaut – aber vom barocken Gesang hatte man damals wirklich sehr seltsa­me Vorstellungen! Ich selber habe die Ge­sangsstimme immer geliebt; für mich war sie das Wichtigste. Und ich glaube, dass die Erforschung und Entwicklung des Gesangsstils mein wichtigster Beitrag zur Alten-Musik-­ Bewegung war.

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Und Marc-Antoine Charpentier ist vielleicht der wichtigste französische Komponist auf dem Gebiet der Vokalmusik des 17. Jahrhunderts ... Natürlich, er ist der Wichtigste! Er hätte ein grossartiger Opernkompo­ nist sein können – aber es war ihm nicht vergönnt ... Warum nicht? Wegen Lully. Jean-Baptiste Lully war bis zu seinem Tod im Jahr 1687 der Hofkomponist von Ludwig XIV. Er stand in der Gunst des Königs und be­herrsch­te die Musikszene am Hof in immer stärkerem Mass. Er hatte das Privileg zu entscheiden, welche Werke an der Académie royale de musique auf die Bühne kamen – und wie man sich denken kann, setzte er sich vor allem für seine eigenen Werke ein. Charpentier, der zwar von der königlichen Familie geschätzt wurde, aber nie am Hof angestellt war, musste sich deshalb mit kleineren Formen be­gnügen. Als er nach Lullys Tod Médée, seine erste und ein­zige Tragédie en musique, an der Académie royale auf­führen durfte, war er bereits 50 Jahre alt. War Lully für Charpentier aber auch ein Vorbild? Lully hat etwas Geniales vollbracht: Er hat es geschafft, die Sprache der Tra­gédie – der damals bedeutendsten Kunst­form am Hof – musikalisch zu notieren: in Rezitativen. Damit hat er einen enormen Schritt hin zu einer eigen­stän­digen französischen Operngattung gemacht. Aber: die Sprache der Tragödie war immer noch das Zentrale. Die Musik musste also immer relativ einfach bleiben und durfte nie zu wichtig werden. Lullys Genie war also gewissen Grenzen unterworfen. Aber die Mu­sika­­lisierung der fünfaktigen französischen Tragödie ist seine grosse Leistung. Und dieser Tradition musste auch Charpentier folgen. Lully, der die Grundlagen für eine eigenständige französische Operntra­ dition schuf, war ursprünglich Italiener. Bei Charpentier verhält es sich genau umgekehrt. Er ist in Frankreich aufgewachsen – hat aber in Italien studiert... Charpentier lernte in Italien die besten Komponisten seiner Zeit kennen

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und nahm bei ihnen Unterricht. Als er zurück­kam, war er ein brillanter Kom­po­­nist. Viel brillanter als Lully. Aber auch für Charpentier galt die grosse Fra­ge, ob die Sprache oder die Musik wichtiger sei. Diese Frage hat dann im 18. Jahrhundert bekanntlich zu einem dramatischen Streit geführt: Auf der einen Seite standen die Anhänger Lullys (Lullisten) und auf der anderen diejenigen Jean-Philippe Rameaus (Ramisten). Und die Lullisten hingen so sehr an Lullys Nähe zur gesprochenen Tragödie, dass sie Rameau hassten, weil er zu viel Musik machte. Das ist übrigens der Grund, warum uns Rameaus Musik heute so stark berührt: Die Musik löst sich bei ihm von den Banden der Sprache und wird frei. Charpentiers Médée wurde 1693 aufgeführt – nach dem Tod von Lully Das komplette Programmbuch und vierzig Jahre vor Rameaus erster Tragédie lyrique für die Académie royale. Seine Médée steht quasi in der Mitte: Am Ende des Zeitalters können Sie auf Lullys und vor dem Beginn der Zeit Rameaus. Das kann man so sagen, aber in der Mitte steht Charpentier eigentlich nicht, www.opernhaus.ch/shop er gehört noch klar zum Zeitalter Lullys. Das Zeitalter Rameaus ist dann das 18. Jahrhundert, und dessen Zeit­genossen sind Komponisten wie oder Vorstellungsabend Foyer Bacham und Händel. Charpentiers Médée bildet in diesem Sinn auchim das Ende einer Tradition. Aber in Italien, wo er studiert hat, war die Unabhängig­keit der Musik vom Text damals schon viel stärker. Deshalberwerben kam Charpentier als des Opernhauses «musikalischer» Komponist zurück. In den Augen seiner Zeitgenossen lief er dadurch in seiner Médée immer Gefahr, die Wichtigkeit des Texts zu verlieren und zu viel Musik zu machen. Ist das der Grund dafür, dass das Werk zu seinen Lebzeiten nur etwa zehn Mal gespielt wurde und kein grosser Erfolg war? Ich denke, dass Charpentiers Médée einfach zu bald nach Lullys Tod auf die Bühne gekommen ist. So viel Musik wollte damals in Frankreich niemand hö­ren. Aus heutiger Sicht kann man aber Folgendes erkennen: Das Libretto von Thomas Corneille ist sehr stark, und die Musik von Charpentier ist ebenfalls sehr stark. Es überwiegt also weder der Text, wie bei Lully, noch die Musik, wie bei Rameau. Wir haben es hier wahrscheinlich mit der

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perfektesten Synthese von Text und Musik dieses Zeitalters zu tun. Insofern steht das Werk tatsächlich sozusagen in der Mitte. Sie haben Charpentiers Médée mit «Les Arts Florissants» 1984 zum ersten Mal aufgenommen. Wie haben Sie sich dem Werk damals ange­ nähert? Wir sind sukzessive in solche grossen Werke «hineingewachsen». Zunächst be­stand das Ensemble aus einem Kern von sechs oder sieben Sängern. Also haben wir mit kleinen Werken angefangen, die nur wenige Instrumentalisten erforderten. Für die Médée mussten wir zuerst das Orchester aufbauen. Das war ein langer Prozess, eine Art Laboratorium. Sie haben vorhin die wichtige Ent­wick­lungsarbeit betont, die hinsichtlich des Gesangs geleistet werden musste. Was waren da die Aufgaben? Das hängt stark mit den Aspekten zusammen, die wir gerade besprochen haben: Wir mussten uns damals erst bewusst werden, dass die Sprache in der französischen Vokalmusik genau so wichtig ist wie die Musik, wenn nicht sogar wichtiger. Das war damals die Hauptaufgabe. Ohne genaueste Kenntnis des Texts ist es unmöglich, fran­zösische Opern des 17. Jahrhunderts zu singen. Deshalb bildet die Arbeit an der Diktion noch heute einen sehr grossen Teil meiner Proben mit den Sängern. Mit Stéphanie d’Oustrac, die in unserer Produktion die Titelpartie singt, habe ich übrigens vor einigen Jahren ein sehr interessantes Projekt gemacht: Wir sind der Entwicklung des Stücks Psyché nachgegangen: Dieses Stück war ursprünglich ein Schauspiel, geschrieben als Gemeinschaftswerk von Molière, Pierre Corneille und Phi­lip­pe Quinault. Lully hatte dazu Zwi­schenspiele geschrieben. Einige Jahre später entstand auf der Basis desselben Stoffes – jetzt mit dem Libretto von Thomas Corneille – eine durchkomponierte Tragédie en musique, wiederum mit Musik von Lully. An diesem Beispiel lässt sich die Entwicklung vom ge­sprochenen zum gesungenen Text zur Zeit Lullys sehr schön nachvollziehen. Charpentiers Musik verstärkt die Affekte der Figuren der Tragödie. Die leidenschaftliche Medea, deren Liebe zu Jason nach und nach in Zorn

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umschlägt, ist für diese Art von Musik ein hervorragendes Subjekt. Aber sind die Affekte der damaligen Zeit für ein Publikum von heute noch verständlich? Die Musik des 17. Jahrhunderts überträgt Leidenschaften und Emotionen sehr stark und sehr direkt auf den Zuhö­rer. Nicht nur der Medea-Stoff, auch die Stoffe von Lully drehen sich immer um die Grundfragen des Mensch­seins: Es geht immer um Liebe, Hass, Eifersucht, Grausamkeit etc. Ich denke, dass jemand, der heute z. B. die Ereignisse in Aleppo durchgemacht hat, die Gefühle sehr gut nachvollziehen kann, die diese Musik so klar vermittelt. Ist es heute einfacher geworden, ein so grosses Werk aus dem 17. Jahr­ hundert an einem Opernhaus zu reali­sieren als in den Anfängen Ihrer künstlerischen Arbeit? Einerseits schon. Durch die Arbeit, die ich hier mit dem Orchestra La Scintilla bereits gemacht habe, und durch die enormen Fortschritte, die das Orchester selber gemacht hat, kann man heute auf gewissen Erfahrungen aufbauen. Aber es fehlt uns nicht an Herausforderungen. Immerhin ist es das allererste Mal, dass am Opernhaus Zürich eine Tragédie en musique von Charpentier auf die Bühne kommt. Das ist für jeden Beteiligten mit einem Lern­prozess verbunden, der Hingabe und Mut zu neuen Erfahrungen erfordert! Es freut mich besonders, dass Andreas Homoki sich nach David et Jonathas jetzt dem zweiten Werk von Charpentier widmet – und meine Be­geisterung für diesen Komponisten teilt!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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Heute ist Zahltag Jason Heute treibt Deine Medea ihre Schulden ein


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ZWISCHEN DEM WUNDERBAREN UND DER VERNUNFT Die Tragédie en musique Silke Leopold

Zur Oper, diesem musikalischen Drama mit gesungenen Dialogen, hatten die Franzosen von Anbeginn ein gespaltenes Verhältnis. Oper ist eine italienische Erfindung; sie stammt aus einem Land, in dem es um 1600, als sie in Florenz und Mantua geschaffen wurde, kein nennenswertes literarisches Sprechtheater gab, und ersetzte dieses. In Frankreich dagegen stand die Oper in Konkurrenz zu einer florierenden Sprechtheatertradition, zu Autoren wie Pierre Corneille und (später) Jean Racine und musste gegenüber diesen, die sich auf die antike Dramenpoetik des Aristoteles beriefen und Tragödien nach griechischem Vor­ bild schrieben, als eine Theaterform eigenen Rechts behaupten. Als Grundvor­ aussetzungen für ein Theaterstück hatte Aristoteles die Notwendigkeit und die Wahrscheinlichkeit dessen, was auf der Bühne geschah, festgeschrieben. Dass aber Menschen singen, wenn sie miteinander Gespräche führen, ist weder not­ wendig noch wahrscheinlich. Ausserdem galten den französischen Dramatikern die drei ebenfalls auf Aristoteles zurückgehenden Einheiten – des Ortes, der Zeit und der Handlung – als verbindlich; und diese wurden in der Oper, spätestens seit sie sich in Venedig zu einer kommerziellen Gattung und zu einer beliebten Karnevalsunterhaltung entwickelt hatte, nur noch selten respektiert. Die franzö­ sische Tragödie fügte sich zudem in die politischen und gesellschaftlichen Be­ stre­bungen des aufkommenden Absolutismus, in dem alles Private der Staats­ rai­son unterworfen war. In dem Konflikt zwischen Pflicht und Liebe ent­schieden sich die Helden der klassizistischen Tragödie für die Pflicht. Wer dies aber nicht tat, wie Phädra, die ihren Stiefsohn Hippolytos liebt, oder Medea, die ihre eige­ nen Kinder tötet, stellte damit die dunkle Seite der menschlichen Existenz, die

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mangelnde Affektkontrolle und die fehlende Vernunft, zur Schau, als mahnen­ des Exempel, es diesen Frevlerinnen wider die gesellschaftliche Ordnung nicht gleichzutun. Daran, dass solche unbotmässigen Leidenschaften deutlich bühnen­ wirksamer waren als vernunftgelenkte Rede, liessen die Autoren allerdings wenig Zweifel: Racines Phèdre sollte später zu den bedeutendsten Werken der Gattung gezählt werden, und mit Médée wagte sich Pierre Corneille, nach einigen Er­ folgen mit anderen Dramenformen, 1635 erstmals an eine Tragödie. Mit den Komödien Molières und den Tragikomödien Corneilles und anderer Autoren schien das Portefeuille französischer Dramatik komplett. Es bedurfte der Oper nicht, um Lust auf einen Theaterabend zu machen. Oper galt in Frankreich ausserdem als ein Werk jener mehr als unbeliebten Italiener, die nach dem Geschmack der Franzosen seit Mitte des 16. Jahrhun­ derts allzu viel Einfluss auf die französische Politik genommen hatten – erst mit Katharina de’ Medici, der Gemahlin König Heinrichs II. und auf permanente Ein­mischung bedachte Mutter dreier nachfolgender Könige – auf ihr Konto geht neben anderen Untaten die Bartholomäusnacht; dann mit Maria de’ Medici, der Gemahlin König Heinrichs IV., die seit 1610 die Regentschaft für ihren unmün­ digen Sohn Ludwig XIII. ausgeübt hatte und sich bei Hofe mit einem gleichsam undurchdringlichen Kordon von italienischen Beratern, Musikern, Dichtern und Alchimisten umgeben hatte. Zur Feier ihrer Hochzeit im Jahre 1600 war einst in Florenz die erste Oper der Musikgeschichte, Jacopo Peris Dafne, aufge­führt worden. Und schliesslich war da noch Kardinal Mazarin gewesen, der Römer am französischen Hof, seit 1642 Erster Minister Frankreichs und so etwas wie der wichtigste Erzieher des 1638 geborenen Kindes, das einmal als Ludwig XIV. Frankreich regieren sollte. Mazarin, Jesuit und Parteigänger Papst Urbans VIII., war es ein Anliegen, durch die Förderung der italienischen Kultur am französi­ schen Hof den politischen Einfluss der römischen Kurie zu stärken; dazu war ihm nichts zu teuer und zu aufwendig. Mit drei italienischen Opern, zwei aus Venedig importierten und einer für Paris in Auftrag gegebenen, versuchte er, die neue und in Italien zunehmend erfolgreiche Gattung Oper auch in Paris zu etab­lieren – ohne Erfolg. Von Luigi Rossis L’Orfeo, im Karneval 1647 im The­ ater des Palais Royal aufgeführt, war die Hofgesellschaft zwar beeindruckt, ins­­besondere wegen der luxuriösen Bühnendekorationen und -maschinen in der

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sechsstündigen Aufführung. Die Pariser aber waren weniger begeistert von der Verschwendung, und so trug Rossis L’Orfeo mit zum Ausbruch der Fronde bei, jener Rebellion gegen das Königshaus, deren Zielscheibe nicht nur die Königin­ mutter und ihr unmündiger Sohn, sondern auch Mazarin als ihr engster Berater waren. Als Ludwig XIV. nach Mazarins Tod 1661 die Staatsgeschäfte als alleiniger Herrscher übernahm, ging er daran, auch das kulturelle Leben seines Reiches neu zu gestalten. Der Sonnenkönig, dessen Beiname im Zusammenhang mit einem Ballett steht, in dem er den Sonnengott Apollo dargestellt hatte, liebte die Musik und insbesondere den Tanz. Er galt als der beste Tänzer bei Hof und war zeit seiner Jugend in Hofballetten aufgetreten. Zu seinen musikalischen Freunden dieser Zeit gehörte ein junger, kaum sechs Jahre älterer Italiener namens Giovanni Battista Lulli, der als Kammerdiener bei der Princesse de Mont­ pensier, der Kusine Ludwigs XIV., lebte. Er gab ihr Italienischunterricht und fiel alsbald wegen seiner musikalischen Begabungen auf, komponierte Tanzmu­ sik für den König und leitete sehr erfolgreich die Instrumentalensembles, die die Ballette begleiteten. Nach Mazarins Tod ernannte der König ihn zum «Surinten­dant de la musique», und der Italiener dankte es ihm, indem er einen Einbürge­rungsantrag stellte und seinem Namen die französische Form JeanBaptiste Lully gab. Zu den ersten Amtsgeschäften des neuen Königs gehörte die Gründung einer «Académie de la danse», einer Akademie also, in der Regeln für das Tanzen erarbeitet werden sollten und eine Tanzschrift, mit der man die Choreografien aus dem Umfeld des Königs verstetigen und in aller Herren Länder bekannt machen konnte. Französische Tänze – die Menuette, Gavotten und Rigaudons – wurden alsbald in ganz Europa getanzt und trugen zu der vom König ange­ strebten Hegemonie Frankreichs in Europa nicht weniger bei als das Schloss Versailles als Vorbild für fürstliche Residenzen allüberall. Der «Académie de la danse» folgten weitere Akademien für Literatur, für Wissenschaften, für Ar­chi­ tektur und für Musik. Sie alle hatten die Aufgabe, verbindliche Standards für das jeweilige Fach zu erarbeiten, an denen sich alle Künstler, Wissenschaftler oder Dichter zu orientieren hatten. Sie sollten Ordnung schaffen im Gehege der Ideen und allzu freien künstlerischen oder wissenschaftlichen Experimenten

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Einhalt gebieten. Die Akademien sollten Kontrolle ausüben, und da sie direkt dem König unterstanden, war er selbst es, der das Unkontrollierbare zügeln woll­te. Die «Académie Royale de musique» war insofern etwas Besonderes, als es eine Gründung ad personam darstellte: 1672 erteilte der König Lully ein Privileg mit dem Auftrag, eine Oper in französischer Sprache zu entwickeln, die es mit der italienischen aufnehmen konnte. Lully, obwohl Italiener von Geburt, hatte die Oper erst in Paris kennen­ gelernt und sich an der Ausgestaltung der Festoper aus Anlass der Hochzeit Ludwigs XIV. mit der spanischen Infantin Maria Theresa mit dem Komponieren und Aufführen von Ballettmusiken beteiligt. Als Komponisten der Oper selbst hatte Mazarin Francesco Cavalli aus Venedig verpflichtet, und so konnte Lully das Entstehen einer Opernpartitur aus nächster Nähe studieren. Zwar hätte Cavallis Werk schon während der Hochzeitsfeierlichkeiten im Juni 1660 aufge­ führt werden sollen, doch die Produktion zog sich bis zur Uraufführung 1662 nach Mazarins Tod hin. Als Lully 1673, getreu seinem Auftrag, mit Cadmus et Hermione seine erste französische Oper präsentierte, liess sich das Vorbild Cavallis kaum ver­ bergen. Allerdings hatte sich die italienische Oper seitdem in eine ganz andere Richtung weiterentwickelt und sich immer stärker auf vokale Virtuosität, auf ausgedehnte Koloraturarien und pathetische Klagegesänge konzentriert, wäh­ rend gleichzeitig das Rezitativ in den Hintergrund getreten war. Lully dagegen beharrte auf dem gesungenen Dialog nach alter Art und passte ihn musikalisch der französischen Sprache an. Mit höchster Genauigkeit beachtete Lully den Sprachfluss des Französischen und vor allem die Akzentstruktur des Textes; dafür ging er sogar bei einer berühmten Schauspielerin in die Lehre. Das «Récit» in Lullys Opern, also der Hauptanteil der musikalischen Handlung, war ein ge­sungenes Ebenbild der Theaterdeklamation. Um die Akzentstruktur heraus­ zuarbeiten, scheute sich Lully nicht, in kurzen Abständen Taktwechsel zu schrei­ ben, damit der Hauptakzent der Melodie nur ja auf den ersten Schlag des Taktes fiel. Unterbrochen wurde das Récit lediglich von kurzen Airs oder Ron­ deaus, die zwar als musikalisch geschlossene Form erkennbar waren, nicht aber mit herausgehobener Virtuosität in Konkurrenz zu den Dialogen traten, son­ dern diese gleichsam mit anderen Mitteln fortsetzten.

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Wo aber blieb die Musik, all das, was ihre Faszination ausmachte, all die Ballet­ te und Chöre, die instrumentalen Einlagen und die Lieder, in diesem Konzept von musikalischem Drama, das sich neben dem gesprochenen Drama behaup­ ten musste? Hierzu hatte Lully eine Idee, die man durchaus als genial bezeich­ nen kann und die der französischen Oper über ein Jahrhundert hinweg ihre Eigenheit sicherte. Er besann sich auf eine Tradition, die zwar mit Katherina de’ Medici aus Italien nach Frankreich gekommen war, die aber inzwischen als spezifisch französisch wahrgenommen wurde: die Tradition des «Ballet de cour». Lully entwickelte diese aus Solo- und Ensemblegesängen, Tänzen und Instrumentalmusik zusammengesetzten Szenen weiter und fügte in jeden der fünf Akte seiner «Tragédie en musique» genannten Opern ein sogenanntes «Divertissement» ein, d. h. Szenen, die zwar in die Handlung eingebunden wa­ ren, musikalisch und dramaturgisch aber nach eigenen Gesetzen funktionierten. Divertissements konnten allegorische Szenen sein, wie etwa jene, in der sich der Hass der Zauberin Armida in Lullys Armide bemächtigt, sie konnten darstellen, wie die Götter in die Handlung eingreifen wie etwa in Cadmus et Hermione, wie ein Protagonist von Traumbildern heimgesucht wurde wie in Atys. Divertis­ sements waren nicht der Ort des Verstandes und der Vernunft, der Notwendig­ keit und der Wahrscheinlichkeit, sondern, im Gegenteil, ein Ort des Übernatür­ lichen und Magischen, der Ort, wo sich Himmel und Hölle zu erkennen gaben, der Ort des «merveilleux», des Wunderbaren. Die Divertissements waren es, die der Oper ihre Existenzberechtigung verliehen, denn das «merveilleux» hatte in der klassischen und der klassizistischen Tragödie keinen Platz. Und eine weitere Besonderheit dachte Lully sich für seine neue «Tragédie en musique» aus. Seit Anbeginn der Operngeschichte hatte es Prologe gegeben, die auf den Anlass der Aufführung, etwa die Hochzeit Maria de’ Medicis mit dem französischen König, Bezug nahmen. Sie waren kurz gewesen und hatten die Aufgabe, die Zuschauer neugierig auf das zu machen, was da folgen sollte. Lully baute diese Prologe nun zu einer grossen Huldigung an Ludwig XIV. aus; nun war der Prolog genauso lang wie ein Akt des Dramas, und nicht selten er­ schien die Sonne im Prolog und machte die Erde hell und warm. Diese Prolo­ge sind so eng an den jeweiligen Anlass der Aufführung und die – zumindest po­ tenzielle – Gegenwart des Königs gebunden, dass sie bei heutigen Aufführungen

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fast immer weggelassen werden, was übrigens auch schon im 18. Jahrhundert bei Wiederaufführungen praktiziert wurde. Der Sonnenkönig wird sich ge­ schmeichelt gefühlt haben. Und er war von dieser neuen Form des französischen Musiktheaters so angetan, dass er Lully das Theater im Palais Royal überliess. In dem Privileg von 1672 war ausserdem vorgesehen, dass Lully darüber zu befinden hatte, ob Werke anderer Komponisten überhaupt aufgeführt und ge­ druckt werden durften. Angesichts seines eher intriganten und herrschsüchtigen Wesens darf es daher nicht verwundern, dass die zwölf «Tragédies en musique» aus seiner eigenen Feder fortan das Repertoire bildeten und Werke anderer Komponisten nur selten ihren Weg auf die Bühne fanden. Lullys Tod im Jahre 1687 bedeutete für die französische Oper nicht nur einen grossen Verlust, sondern gleichzeitig auch eine Befreiung. Andere Kom­ ponisten widmeten sich nun ebenfalls der Oper und bemühten sich, dem Lully­ schen Vorbild gerecht zu werden, daneben aber auch andere musikalische Mög­ lichkeiten im Rahmen der verbindlichen Dramaturgie auszuloten. Unter ihnen ragen Marc-Antoine Charpentier mit seiner Médée (1693), Henri Demarets, Marin Marais und André Campra heraus. Gegen das Repertoire der Lully-Opern kamen sie freilich nur selten an. Der König hatte inzwischen das Interesse an der Oper weitgehend verloren und verbrachte seine Tage in Versailles; aber die Pariser Gesellschaft zeigte sich weiterhin im Opernhaus des Palais Royal. Als Jean-Philippe Rameau 1733 seine dreissig Jahre währende Karriere als Opern­ komponist startete, musste er sich gegen Lullys Opern und ihre Parteigänger zur Wehr setzen, und sie wurden immer noch gespielt, als Gluck 1774 nach Paris kam. Offenbar hatte Lully mit seiner Idee, dramatische Handlung und szenografische wie musikalische Sensationen zu trennen und gleichsam ausba­ lanciert wieder zusammenzufügen, einen Plan für Opern zu entwerfen, der sich für alle Werke der Zukunft als tragfähig und verbindlich erweisen sollte, den Nerv einer französischen Kultur getroffen, die sich über Ordnung, Regelhaftig­ keit, Mass und Symmetrie definierte. Und während die Sprechtragödie zu «rä­ sonieren», d. h. vernünftig zu argumentieren hatte, bot sich die Oper als ein Zufluchtsort ungezügelter Gefühle, als Ort all jener Erfahrungen zwischen Himmel und Erde an, die sich nicht nur die Schulweisheit, sondern auch ein von gesellschaftlichen Zwängen umgebener Höfling nicht träumen lassen konnte.

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DIE ERSTE UND LETZTE OPER Marc-Antoine Charpentiers «Médée» Catherine Cessac

Marc-Antoine Charpentier ist 1643 in Paris zur Welt gekommen. Er stammt nicht aus einer Musikerfamilie; sein Vater Louis Charpentier war professioneller Kalligraph, sogenannter maître écrivain. Über Charpentiers musikalische Aus­ bildung ist nichts bekannt, aber man weiss, dass er an der juristischen Fakultät der Pariser Universität studierte. Als Zwanzigjähriger reiste er nach Rom, wo er drei Jahre blieb und Giacomo Carissimi kennenlernte, den berühmtesten römischen Komponisten seiner Zeit und Grossmeister des Oratoriums. Geprägt durch starke musikalische Erlebnisse (die Histoires sacrées von Carissimi, aber auch die mehrchörigen Werke von Alessandro Melani, Francesco Foggia oder Francesco Beretta, dessen Missa mirabiles elationes maris er sich abschrieb), kehrte Charpentier Ende der 1660er-Jahre nach Frankreich zurück. Marie de Lorraine, genannt Mademoiselle de Guise, die letzte Nachfahrin einer illustren Familie, wurde seine Förderin. Bis in die Jahre 1687/88 wohnte er auf ihrem Pariser Anwesen und war dort Teil einer Musikergruppe, für die er weltliche (Les Arts florissants, Actéon, La Descente d’Orphée aux enfers) und geistliche Werke (Miserere, Litanies) komponierte – und mit seiner Haute-contre-Stimme sang. In derselben Zeit berief Molière, der sich mit Jean-Baptiste Lully zerstritten hatte, Charpentier zu dessen Nachfolger für die Komposition seiner Comédiesballets. Doch die Zusammenarbeit war nur von kurzer Dauer: Molière starb 1673, nach der vierten Vorstellung seines Stücks Le malade imaginaire, zu dem Charpentier die Musik geschrieben hatte. Trotzdem arbeitete Charpentier wei­ terhin für die königliche Schauspieltruppe, die seit 1680 unter dem Namen Comédie-Française bekannt war. Er komponierte die Zwischenspiele für die

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sogenannten pièces à machine, die Theaterstücke der damaligen Zeit, die beson­ ders die neu entdeckten, faszinierenden Möglichkeiten der Bühnenmaschinerie demonstrierten. Werke wie Circé, L’Inconnu, La Pierre philosophale und Le Triomphe des Dames hatten viel Erfolg. Charpentier arbeitete auf diesem Gebiet erstmals mit Thomas Corneille zusammen, dem späteren Librettisten der Médée. Dieser war der jüngere Bruder des berühmten Autors von Le Cid. Obwohl heute weniger bekannt als Pierre, war er zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Theaterautor. Charpentier hatte nie einen offiziellen Posten am Königlichen Hof von Versailles inne. Er wurde aber von der königlichen Familie geschätzt: Von 1679 bis 1683 komponierte er regelmässig Motetten für den Grand Dauphin, den Sohn von Ludwig XIV. sowie Werke zum Gedenken an die 1683 verstorbene Königin Maria Theresia und Stücke auf die Genesung des Königs im Jahr 1687. Ab 1687 war er als maître de musique am Collège «Louis-le-Grand» sowie an der Kirche «Saint-Louis des jésuites» tätig. Für die Kirche komponierte er Mes­ sen und Motetten, während er für das Collège auch szenische Werke schrieb, darunter 1688 David et Jonathas. Dieses Werk umfasst einen Prolog und fünf Akte und diente damals als Zwischenspiel der (lateinisch rezitierten) Tragödie Saul von Étienne Chamillard. 1698 wurde Charpentier schliesslich zum maître de musique an der Sainte-Chapelle ernannt, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1704 tätig war. Charpentier hat ein umfangreiches Œuvre von über 550 Werken hinterlas­ sen, aber nur wenige seiner Partituren wurden zu seinen Lebzeiten gedruckt. Die meisten Stücke werden heute in einer 28-bändigen Manuskriptsammlung in der Bibliothèque Nationale in Paris verwahrt. Médée gehört zu den wenigen Werken Charpentiers, die zu seinen Lebzeiten von der Königlichen Druckerei herausgegeben wurden. Fünfzig Jahre alt war Charpentier, als er 1693 Médée, seine einzige Tragédie en musique für die Académie Royale de musique, komponierte. Thomas Corneille von der Comédie-Française schrieb das Libretto, die Ballette und Divertissements wurden vom Tänzer und Choreografen Guillaume-Louis Pé­ cour ausgearbeitet, und das Bühnenbild und die Kostüme gestaltete Jean Berain, von dem einige Entwürfe zum Bühnenbild erhalten geblieben sind.

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Warum aber schrieb Charpentier seine erste grosse Oper erst so spät, und wa­ rum blieb sie seine einzige? Die Ursache hierfür ist in der dominierenden Stel­ lung zu finden, die Jean-Baptiste Lully einnahm. Seit Cadmus und Hermione (1673) war er der einzige Komponist, der, einem Dekret von Ludwig XIV. zufolge, das Privileg hatte, seine Opern an der Académie Royale de musique auf die Bühne zu bringen. Bis zu Lullys Tod im Jahr 1687 war es deshalb keinem Komponisten möglich, diesem auf seinem Gebiet Paroli zu bieten. Und selbst nach seinem Tod blieb es für andere Komponisten schwierig, die Gunst des Publikums zu gewinnen, das an den Stil Lullys gewöhnt war. Charpentier ist diesem Umstand ganz besonders zum Opfer gefallen. Seiner Médée war kein grosser Erfolg beschieden. Nach der Uraufführung am 4. Dezember 1693 wurde die Oper nur noch neun- oder zehnmal gespielt. Die Chansonniers der damaligen Zeit verspotteten das Werk, so zum Bei­ spiel Clairambault: Si l’on croit Charpentier, il a fait des merveilles, Mais quels tristes accords écorchent mes oreilles! Pour composer un chant si beau Sans doute dans ce jour quelque maudit corbeau Aura mêlé sa voix à celle de Corneille. Wenn man Charpentier glaubt, hat er Wunder vollbracht, doch welch traurige Akkorde tun mir in den Ohren weh! Um einen so schönen Gesang zu komponieren, hat an diesem Tag ohne Zweifel irgendein verfluchter Rabe (corbeau) seine Stimme mit derjenigen von Corneille (corneille = Krähe) vermischt. Derselbe Chansonnier befand die Oper für «sehr unerfreulich und von unend­ licher Dauer». Auch der Musikschriftsteller Le Cerf de la Viéville kritisierte die Komposition scharf und nannte Charpentier einen Barbarenkomponisten. Glücklicherweise fand die Oper auch einige Verteidiger, unter ihnen der Komponist und Musikschriftsteller Sébastien de Brossard, der Médée für «die­ jenige unter den Opern» befand, «von der man am meisten Essenzielles über

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gute Komposition lernen kann». In der renommierten Zeitschrift Mercure galant erschien ein mehrseitiger Bericht über die Oper, dem zu entnehmen ist, dass die königliche Familie bei einer Aufführung anwesend war und Gefallen an dem Werk fand: «Die wirklichen Kenner finden zahlreiche bewundernswerte Stellen in Médée (...) Sie teilt das Schicksal jener Werke, die zuerst mit Missgunst betrachtet werden, danach aber umso grösseren Erfolg haben». Charpentier wurde von seinen Zeitgenossen ein Stil vorgeworfen, den sie als «savant» beschrieben – auf Deutsch sowohl «gelehrt» als auch «hochgesto­ chen» oder «kompliziert». Vor allem in harmonischer Sicht entfernte sich dieser Stil von der als «natürlich» empfundenen Musiksprache Lullys. Oder wie der Schriftsteller Serré de Rieux es ausdrückte:

Das komplette Programmbuch (Il) répandit dans Médée avec trop d’abondance Les charmes déplacés d’une haute science. können Sie auf Er verströmte in Médée im Übermass www.opernhaus.ch/shop die unerwünschten Reize einer hohen Wissenschaft. oder amhatVorstellungsabend immitFoyer Charpentier sich nach dieser unerfreulichen Erfahrung nie mehr dem weltlichen Genre befasst und sich ganz der sakralen Musik gewidmet. des Opernhauses erwerben 1634 hatte Pierre Corneille seine Tragödie Médée geschrieben. Thomas Cor­ neille hat sich für sein Libretto offensichtlich von diesem Werk seines älteren Bruders inspirieren lassen. Er straffte die Handlung, verlieh der Sprache eine grössere Vielfalt an Tonfällen und vertiefte die Psychologie der Figuren, vor allem diejenige Medeas, die er in ihrer doppelten Identität als göttliche Zaube­ rin und menschliche Frau darstellt. Seine Medea berührt das Publikum deshalb emotional stärker und unmittelbarer als diejenige von Euripides, Seneca oder Pierre Corneille. Schliesslich gab er auch den Alexandriner zugunsten eines abwechslungsreicheren Versmasses auf, das für die musikalische Umsetzung geeignet war. In musikalischer Hinsicht hielt sich Charpentier – mit dem obligaten Pro­ log auf den Ruhm des Königs, umfangreichen Rezitativen, Divertissements und

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Tänzen – zwar an die Form, die Lully geprägt hatte; doch die bemerkenswert ausgeprägte Melodik, die Farbigkeit der Orchestrierung und die raffinierten Harmonien, mit denen er das Publikum seiner Zeit überforderte, kennzeichnen seinen persönlichen Stil. Ausserdem bewies Charpentier seine dramaturgische Meisterschaft, was die grossen Bögen der Handlung und die Bühnenwirksamkeit angeht. Besonders hervorzuheben sind Eigenheiten wie die italienische Arie im zweiten Akt, der unsichtbare Chor der Korinther im ersten und fünften Akt, Orchestrierungseffekte (schnell wirbelnde Motive, die den Zorn Medeas cha­ rakterisieren, oder tiefe Streicherklänge, die den Wahnsinn Kreons im vierten Akt beschreiben) und eine aussergewöhnliche dramatische Kraft. Im Zentrum der Tragödie steht die Entwicklung von Medeas Persönlich­ keit: verspottet, von Jason betrogen und aus Korinth verbannt, verwandelt sich ihr Leid nach und nach in rachsüchtigen Zorn, der sich in Gräueltaten gegen ihre Feinde und schliesslich sogar im Mord an ihren eigenen Kindern nieder­ schlägt. Doch trotz ihrer Verbrechen erscheint Medea paradoxerweise mensch­ licher als die anderen, oberflächlichen und feigen Figuren der Tragödie, von denen sie auf schlimme Weise gedemütigt wird. Corneille und Charpentier entwickelten eine dramatische Steigerung, die konsequent auf die Ermordung Orontes’, Kreons, Krëusas und der Kinder hin­ führt. Der entscheidende Wendepunkt der Tragödie findet sich exakt in deren Mitte (dritter Akt/dritte Szene) mit Medeas Air «Quel prix de mon amour, quel fruit de mes forfaits!», in der sie sich ihrer aussichtslosen Lage bewusst wird. Charpentier entfaltet sein ganzes harmonisches Spektrum, um dieser Stelle emo­ tionale Dichte und Gewalt zu verleihen: Chromatische Linien, Taktwechsel und ein ausdrucksstarker Kontrapunkt im Orchester verleihen Medeas seelischer Erregung Ausdruck. Die Spannung der Tragödie lässt nur in den Divertissements etwas nach; ausgenommen ist dasjenige des dritten Akts, in dem Medea die Geister der Hölle anruft. Ausgehaltene Dissonanzen im Orchester, die durch Augenblicke der Stille unterbrochen werden, und Medeas Stimme, die sich im tiefsten Re­ gister bewegt, machen diese Geisterbeschwörungen zu einer besonders ein­ drücklichen Szene.

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Die übrigen Divertissements halten die spannungsreiche Handlung für einen Moment auf und erlauben einen neuen Grad an Intensität, wenn die Handlung den Faden wieder aufnimmt. So zum Beispiel im vierten Akt, in dem Kreon nach dem Divertissement in höchste Unruhe verfällt («Noires divinités, que voulezvous de moi»). Tiefe Streicher, unaufhörliche Taktwechsel, gespenstische Stille und grosse Intervallsprünge bezeichnen den Wahnsinn, dem er verfallen ist. Im letzten Akt erfährt man durch den – unsichtbaren – Klagegesang der Korinther vom Tod des Königs Kreon. Der Tod Krëusas spielt sich hingegen vor den Augen der Zuschauer ab: Ihre letzten Worte stehen in f-Moll, einer Tonart, die Charpentier selber als «finster und jammernd» beschrieben hat. Nach einem letzten Aufbäumen («C’en est fait») sinkt die Stimme ersterbend herab, und zu Krëusas letzten beiden Worten («je meurs») hören wir eine jener kühnen Wendungen, die manche Zeitgenossen des Komponisten aufbrachten: Im Bass erklingt ein verminderter Terzschritt – ein Tonsymbol, das bei Charpentier stets mit dem Tod verbunden ist.

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Jason Mein Erstes und mein Letztes

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DER MYTHOS UM MEDEA Werner Hintze

Pelias und Jason In Iolkos, der Hauptstadt Thessaliens, herrschte König Kretheus. Er war ver­ heiratet mit seiner Nichte Tyro, die die Zwillingssöhne Neleus und Pelias mit in die Ehe brachte, die Poseidon mit ihr gezeugt hatte. Tyro gebar dem Kret­ heus drei Söhne, von denen Aison, der älteste, den Thron erben sollte. Aber als Kretheus starb, riss Pelias die Macht an sich und lockte Aison in eine Höhle, wo er ihn einsperrte. Aber Aisons Gattin Polymele war schon schwanger und gebar dem rechtmässigen Thronfolger einen Sohn. Um ihn vor Pelias zu schüt­ zen, gab sie vor, ihr Sohn sei gestorben, und liess ihn heimlich in die Obhut des weisen Kentauren Cheiron geben, der ihn aufzog und ihm den Namen Jason gab. Als Jason volljährig war, kehrte er nach Iolkos zurück, um den ihm zustehenden Platz auf dem Thron einzunehmen. Dem Pelias war geweissagt worden, dass er sich vor einem Mann in Acht nehmen solle, der nur einen Schuh trägt. Als Jason auf seinem Weg nach Iolkos an einen Fluss kam, erschien ihm Hera in Gestalt eines alten Mütterchens und bat den Helden, sie auf die andere Seite zu bringen. Jason trug sie hinüber und verlor dabei eine seiner Sandalen, die im Schlamm stecken blieb. Als Jason in Iolkos eintraf, erkannte Pelias sofort die Gefahr, in der er schwebte. Er stellte sich aber zunächst freundlich und gab vor, dass er Jason die Krone freiwillig überlassen wolle, falls dieser das Goldene Vlies aus Kolchis hole.

Das Goldene Vlies Mit dem Goldenen Vlies verhielt es sich so: Athamas, der König von Boiotien, ,war mit Nephele verheiratet. Dieser Ehe entsprangen Phrixos und seine Zwil­ lingsschwester Helle. Athamas verlor allerdings das Interesse an Nephele und

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nahm Ino, die Tochter des Kadmos, zur Geliebten und zeugte mit ihr mehrere Kinder. Ino hasst ihre Stiefkinder, vor allem den Thronfolger Phrixos, und schmiedete einen Plan, ihn aus dem Weg zu räumen: Sie liess heimlich alles Saatgut im Lande rösten, so dass es nicht aufging und eine Missernte eintrat. Als Athamas das Orakel von Delphi nach der Ursache der Katastrophe befragen liess, bestach Ino die Boten, die nun die gefälschte Botschaft überbrachten, Athamas müsse seinen Sohn Phrixos (nach anderen Überlieferungen beide Kin­ der) dem Zeus opfern, um das Land wieder fruchtbar zu machen. Da sandte Hera Chrysomeles, einen geflügelten goldenen Widder, zu Phrixos und Helle. Das sprechende Wundertier klärte die beiden auf, in welcher Gefahr sie waren, und entfloh mit ihnen auf dem Rücken durch die Luft. Über der Meerenge zwischen Europa und Asien (den heutigen Dardanellen) stürzte Helle ins Meer. Die Stelle, wo das geschah, hiess deshalb bei den Griechen Hellespont, «Meer der Helle». Phrixos aber gelangte wohlbehalten nach Kolchis am äussersten östlichen Ende des Schwarzen Meers (heute ein Teil von Georgien). Dort brachte er den Widder dem Zeus als Dankopfer dar und schenkte Aiëtes, dem König von Kol­ chis, das goldene Fell. (Nach anderen Erzählungen soll der Widder sich selbst sein goldenes Fell abgezogen und es dem Phrixos übergeben haben, woraufhin er als Sternbild an den Himmel versetzt wurde.) Aiëtes hängte das Goldene Vlies an eine Eiche im heiligen Hain des Ares, wo es von einem nie schlafenden Dra­ chen bewacht wurde. Phrixos ehelichte Chalkiope, die Tochter des Aiëtes und hatte mit ihr vier Kinder. Später aber wurde Aiëtes, misstrauisch gegen Phrixos und tötete ihn.

Die Fahrt der Argonauten Um nun das Goldene Vlies aus Kolchis zu holen, beauftragte Jason den Helden Argos, ein besonders grosses, aber leichtes und schnelles, hochseetüchtiges Schiff zu zimmern, das nach seinem Erbauer den Namen Argo erhielt. Dann sammelte er die kühnsten Helden Griechenlands, um mit ihnen gemeinsam die gefährliche Fahrt in das ferne und barbarische Kolchis anzutreten. Zu dieser Truppe, die nach ihrem Schiff «die Argonauten» hiess, gehörten neben Jason

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auch Admetos, Amphion, Herakles, Kastor und Pollux, Lynkeus, Orpheus, Theseus und viele andere berühmte Heroen. Nach einer langen, gefahrvollen Irrfahrt gerieten die Argonauten in der Region von Kolchis in einen heftigen Sturm und nahmen einige Schiffbrüchige auf. Unter diesen waren die vier Söhne des Phrixos und der Chalkiope, die ihnen von den Verhältnissen in Kolchis berichteten und das letzte Stück des Weges zeigten. Sie gingen in der Mündung des Flusses Phasis vor Anker und berieten, wie sie sich in den Besitz des Goldenen Vlieses bringen könnten. Sie beschlossen, zunächst zu versuchen, das Vlies auf friedlichem Wege zu gewinnen. Jason begab sich also mit den Söhnen des Phrixos in den Palast des Aiëtes. Auf dem Weg begegnete er Chalkiope, der Witwe des Phrixos, die ihm für die Rettung ihrer Söhne dankte und sich sofort auf seine Seite schlug. Bei dieser Gelegenheit traf Jason auch mit ihrer Schwester, der zauberkundigen Medea, zusammen. Aphrodite machte sie in Jason verliebt und bewirkte, dass ihre Leidenschaft dauerhaft wach blieb. Aiëtes versprach, den Argonauten das Vlies zu überlassen, unter der Bedin­ gung, dass es Jason gelänge, mit zwei riesigen feuerspeienden Stieren das AresFeld zu pflügen und Drachenzähne auszusäen. Medea, der Jason inzwischen ewi­ ge Treue geschworen hatte, gab ihm eine Zaubersalbe, die seinen Körper gegen den feurigen Atem der Stiere unempfindlich machte. So konnte er die Auf­gabe erfüllen. Aus den Drachenzähnen wuchsen aber schwerbewaffnete Krieger, denen Jason nur entging, indem er einen Zauberring, den Medea ihm gegeben hatte, zwischen die Kämpfer warf, die sich nun im Streit gegenseitig totschlugen. Obwohl Jason die Bedingung erfüllt hatte, verweigerte Aiëtes die Heraus­ gabe des Vlieses. Daraufhin betäubte Medea den Drachen, so dass Jason das Vlies aus dem Hain des Ares entwenden konnte. Der Diebstahl wurde schnell entdeckt, und König Aiëtes setzte den Argonauten mit einer grossen Streitmacht nach. In dieser Lage griff Medea zu einer grausamen List: Sie tötete ihren Bru­ der Aspyrtos, zerstückelte seinen Leichnam und warf ihn über Bord. So war Aiëtes gezwungen, die Leichenteile seines Sohnes zu sammeln, denn nach altem Glauben ermöglicht nur die vollständige Bestattung eines Leichnams dem To­ ten ein Leben im Jenseits. Das kostete die Verfolger viel Zeit, und die Argonau­ ten konnten entkommen.

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Der Tod des Pelias In Iolkos hatte Pelias inzwischen überzeugt, dass Jason von der gefährlichen Reise nicht zurückkehren würde, Aison zum Selbstmord gezwungen und so seine Macht gefestigt. Daraufhin hatte sich Aisons Witwe erhängt, und Pelias hatte schliesslich auch ihren jüngsten Sohn Promachos ermordet. Angesichts dieser Lage der Dinge war es für Jason nicht möglich, einfach nach Iolkos zu­ rück­zukehren. Auch ein Plan, die starken Mauern der Stadt im Sturm zu neh­ men, musste aufgegeben werden. Wieder fand Medea den Ausweg: Sie ging an Land und redete den Töchtern des schon sehr hinfälligen Pelias ein, dass man ihn verjüngen könne, indem man ihn in einem Sud aus gewissen Zauberkräu­ tern, die sie ihnen übergab, koche. Die List ging auf: Die Töchter des Pelias zer­stückelten ihren Vater und kochten die Leichenteile, was freilich nicht zu dem von ihnen erhofften Resultat führte. Nun konnten die Argonauten die Stadt einnehmen, die sich nach dem schrecklichen Tod des Königs widerstandslos er­gab. Da Jason fürchten musste, Akastos, der Sohn des Pelias, könnte sich an ihm rächen, überliess er diesem die Krone und verliess Iolkos gemeinsam mit Medea.

Medea und Jason in Korinth Sie gingen nun nach Korinth, wo sie einige Jahre glücklich zusammenlebten und sieben Söhne zur Welt brachten. Dann aber wandte sich Jason von Medea ab und wollte Krëusa (in anderen Überlieferungen auch Glauke genannt), die Tochter des Königs Kreon, heiraten. Medea rächte sich dafür, indem sie Krëu­ sa zur Hochzeit ein vergiftetes Gewand schenkte. Als Krëusa es anlegte, schlu­ gen Flammen aus dem Stoff, in denen sie bei lebendigem Leibe verbrannte. Das Feuer griff auf den Palast über, und Kreon und alle Hochzeitsgäste verbrannten. Nur Jason konnte sich durch einen Fenstersprung retten, und Medea floh auf einem von geflügelten Drachen gezogenen Wagen. Das Volk von Korinth stei­ nigte die zurückgelassenen Kinder. (Der Dramatiker Euripides scheint der ers­ te gewesen zu sein, der, vermutlich wegen der stärkeren theatralischen Wirkung, den Mord an den Kindern Medea selbst zuschrieb.)

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Die weiteren Schicksale Medeas und Jasons Medea fand dann in Athen Zuflucht, wo sie mit dem König Aigeus zusammen­ lebte. Schliesslich wurde sie aber auch von hier verbannt, weil sie versucht hatte, ihren Stiefsohn Theseus zu vergiften, um ihrem eigenen Sohn Medeios zum athenischen Thron zu verhelfen. So kehrte sie nach Kolchis zurück, wo inzwischen Perses seinen Bruder Aiëtes entthront hatte, tötete diesen und setz­ te Aiëtes wieder als König ein. Nach ihrem Tod soll Medea in die Gefilde der Seligen eingegangen sein und dort mit dem Helden Achilleus leben. Jason hatte die Gunst der Götter verspielt, indem er den Treueschwur brach, den er Medea in Kolchis unter Anrufung aller Götter geleistet hatte. Aus Ko­ rinth verstossen, von allen Menschen verachtet irrte er heimatlos durch die Welt, bis er eines Tages wieder nach Korinth und an die Stelle gelangte, wo er einst nach seiner Rückkehr aus Kolchis die Argo an Land gezogen und in einem Baum aufgehängt hatte. Die alten Stricke rissen, das Schiff stürzte herab und zermalmte den Helden unter seinen Trümmern.

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Jetzt ist alles still Die Schreie von Kolchis auch verstummt Und nichts mehr


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MÉDÉE MARC-ANTOINE CHARPENTIER (1643-1704) Tragédie mise en musique in fünf Akten Libretto von Thomas Corneille

Personen

Médée Sopran Jason Tenor Créon, König von Korinth Bass Créuse, seine Tochter Sopran Oronte, Fürst von Argos Bass Nérine, Medeas Vertraute Sopran Arcas, Jasons Vertrauter Tenor Cléone, Créuses Vertraute Sopran Korinther, Argiver, Gefangene der Liebe, Dämonen, Ungeheuer, Wachen usw. Ort: Der königliche Palast zu Korinth

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OUVERTURE

OUVERTÜRE

Le Théâtre représente une Place publique, ornée d’un Arc de Triomphe, de Statues, et de Trophées sur des piédestaux.

Ein öffentlicher Platz mit einem Triumphbogen, Statuen und Siegeszeichen auf Podesten.

ACTE PREMIER

ERSTER AKT

SCÈNE PREMIÈRE

ERSTE SZENE

Médée, Nérine

Medea, Nerina

MÉDÉE

MEDEA

Pour flatter mes ennuis, que ne puis-je te croire!

Ach, wenn ich dir doch glauben könnte, um meinen Schmerz zu lindern! Mein Frieden, meine Ehre, alles wollte es; doch umsonst versuche ich meine Zweifel zu zerstreuen: Jason ist ein Undankbarer, ein Eidbrecher. Meine Liebe zu ihm sagt es mir, sie überzeugt mich, und die Liebe täuscht sich nicht.

Tout le voudrait, mon repos et ma gloire; Mais en vain à douter je trouve des appas,

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Jason est un ingrat, Jason est un parjure; L’amour que j’ai pour lui, me le dit, m’en assure, Et l’Amour ne se trompe pas. NÉRINE

NERINA

Un mouvement jaloux vous l’a peint infidèle,

Ein Anflug von Eifersucht liess ihn Euch untreu scheinen, doch der Verdacht, der Euren Frieden stört, ist unberechtigt; Krëusa ist dem Herrscher von Argos bestimmt. In welcher Hoffnung sollte Jason sie lieben?

Mais d’injustes soupçons troublent votre repos; Créuse est destinée au souverain d’Argos. Sur quel espoir Jason brûlerait-il pour elle? MÉDÉE

MEDEA

Je sais qu’Oronte est prêt d’arriver en ces lieux; Il vient rempli d’un espoir glorieux: Mais à le recevoir si Corinthe s’apprête, Ce n’est point son hymen qui le fait souhaiter. Il s’élève contr’elle une affreuse tempête, Son secours la peut écarter.

Ich weiss, dass Orontes bald in diese Stadt kommt. Er ist erfüllt von einer stolzen Hoffnung. Doch wenn Korinth ihn empfängt, so nicht aus Freude über seine Hochzeit: Ein grauenvoller Sturm erhebt sich gegen die Stadt, Orontes’ Hilfe kann ihn abwenden.

NÉRINE

NERINA

Acaste contre vous arme la Thessalie. La cruelle mort de Pélie Vous rend l’objet de sa fureur. Si Créon ne vous abandonne, De la guerre en ces lieux il va porter l’horreur;

Akastos rüstet Thessalien gegen Euch. Der grausame Tod des Pelias macht Euch zum Ziel seines Zorns. Wenn Kreon Euch nicht preisgibt, wird er die Schrecken des Krieges über unsere Stadt bringen. Wenn Jason angesichts dieser Gefahr Krëusas Gunst gewinnen will, was erstaunt Euch sein Bemühen?

Et lorsqu’en ce péril, comme l’amour l’ordonne, Jason veut de Créuse acquérir la faveur, Faut-il que ce soin vous étonne? 65


Programmheft MÉDÉE Oper von Marc-Antoine Charpentier (1643–1704) Premiere am 22. Januar 2017, Spielzeit 2016/17

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Werner Hintze, Fabio Dietsche Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Titelseite Visual

François Berthoud

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept

Druck

Textnachweise: Alle Textbeiträge entstanden für dieses Programmheft. Die Zitate auf den Seiten 2, 32, 52 und 60 stammen aus Heiner Müllers VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN. Heiner Müller: Werke Band 4. Frank­furt /M., Suhrkamp Verlag 2001. Bildnachweis: T + T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavier­haupt­probe am 13. Januar 2017

Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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