Jewgeni Onegin

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JEWGENI ONEGIN

PJOTR TSCHAIKOWSK I


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JEWGENI ONEGIN PJOTR TSCHAIKOWSKI (1840-1893)


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Gewöhnung schenkte uns der Himmel als Ersatz für das Glück. Alexander Puschkin, «Jewgeni Onegin»




HANDLUNG Erster Akt Ein Sommeridyll in der russischen Provinz. Man tut, was man an solchen Tagen eben so tut: Inmitten einer Ausflugsgesellschaft von Landleuten plaudert die ver­witwete Gutsbesitzerin Larina mit der treuen Hausangestellten Filipjewna, der Amme ihrer Töchter Olga und Tatjana. Die beiden alten Frauen kochen Marmelade ein und erinnern sich: an vergangene Liebeshoffnungen und an die Gewöhnung an Enttäuschung. Larinas Töchter singen ein Lied; die lebenslusti­ ge Olga tanzt, ihre introvertierte Schwester Tatjana schmökert lieber in Roma­ nen. Olgas Verlobter, der junge Poet Wladimir Lenski, erscheint und macht seiner Angebeteten auch heute Liebeserklärungen. Zusammen mit Lenski kommt auch ein Unbekannter, den Lenski als seinen Freund und Nachbarn vorstellt: Jewgeni Onegin. Tatjana verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Am Abend ist es um Tatjana geschehen. Sie gesteht ihrer Amme, dass sie verliebt ist, und schreibt Onegin einen flammenden Liebesbrief. Doch am nächsten Tag weist Onegin Tatjanas Offenbarung kühl zurück.

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Zweiter Akt Ausgelassen feiert die Familie Larin Tatjanas Namenstag. Es wird getrunken und getanzt, der Franzose Triquet widmet Tatjana zur allgemeinen Freude ein Couplet. Nur Jewgeni Onegin kann sich nicht für das Fest begeistern. Er flirtet mit Lenskis Verlobter Olga. Als der eifersüchtige Lenski Onegin zur Rede stellt, eskaliert der Streit. Lenski fordert Onegin zum Duell, das in einer Katastrophe endet: Onegin tötet seinen Freund.

Dritter Akt Nach Jahren ziellosen Reisens trifft Jewgeni Onegin in Sankt Petersburg auf einem Ball im Hause des Fürsten Gremin ein. Gremin ist seit zwei Jahren ver­ heiratet – mit Tatjana. Nun plötzlich entdeckt Onegin seine Liebe zu Tatjana. Er fleht sie an, ihren Mann zu verlassen und mit ihm mitzukommen. Unter Tränen erinnern sich beide jenes Sommers auf dem Lande. Tatjana, die Onegin einst zurückgewiesen hatte, weist nun Onegin ab: Es ist unwiderruflich zu spät. Sie ist verheiratet, und Onegins Schicksal ist nicht mehr mit dem ihren ver­ bunden...

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CLASH DER EMOTIONEN Ein Gespräch mit Regisseur Barrie Kosky über seine Kindheit mit Tschaikowski, verpasste Chancen und Marmelade Barrie Kosky, Sie haben einmal gesagt, Sie seien «Tschaikowski-Freak». Was verbindet Sie mit diesem Komponisten? Mein russischer Grossvater starb, als mein Vater noch sehr jung war, ich kann­te also meinen Grossvater nicht. Aber er hinterliess mir seine Schall­platten­­­­ sammlung. Mehr als die Hälfte dieser Schallplatten waren Einspielungen mit Musik von Tschaikowski, neben sehr vielen Aufnahmen der Sinfonien auch Jewgeni Onegin, Pique Dame und Nussknacker. Als ich unge­fähr fünf oder sechs Jahre alt war, hörte ich zum ersten Mal den Nussknacker und führte ihn anschliessend immer wieder zusammen mit meiner Schwester als Tanztheater auf. Besonders der arabische und der chinesische Tanz hatten mich tief beeindruckt. Als ich ein bisschen älter war, hörte ich die Vierte und Fünfte Sinfonie, und mit etwa 14 dann zum ersten Mal Onegin. Tschaikowski war ein grosser und wichtiger Teil meiner Kindheit. Und obwohl dieser Komponist so wichtig für Sie war, inszenieren Sie mit dem Jewgeni Onegin nun zum ersten Mal in Ihrer Karriere eine Oper von Tschaikowski... Ich habe es mir immer gewünscht, Onegin, Pique Dame oder Mazeppa zu in­szenieren, aber entweder kam das entsprechende Angebot nicht, oder ich war gerade nicht frei. Was fasziniert Sie an Jewgeni Onegin? Jewgeni Onegin gehört zu einer kleinen Gruppe von Opern, in denen man keinen einzigen Takt ändern möchte, weil nichts überflüssig oder unver­ständ­ lich erscheint. Bei dieser Oper habe ich das Gefühl: Das Stück kann nur so sein und nicht anders! Das liegt zum einen am Zusammenspiel von Text und

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Musik – die Geschichte, die Psychologie, die Musik, alles ist unglaublich per­fekt kombiniert. Man denkt ja oft, Tschaikowski habe sich mit Tatjana identifiziert. Das hat er zweifellos getan, aber genauso hat er sich mit Onegin identifiziert. In der Musik spüre ich eine tiefe autobiografische Ver­bindung des Komponisten mit beiden Figuren – the loved and the not loved. Tschai­­­ kowski hat diese Oper nicht nur komponiert, er hat sie gelebt. Während der Arbeit am Onegin hat er seine ehemalige Schülerin Antonina Miljukowa ge­heiratet, nachdem sie ihm einige Liebesbriefe ge­schrie­ben hatte; nach drei Monaten trennte er sich wieder von ihr, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Aber es geht hier nicht nur um die Homo­sexualität des Komponisten, es geht vor allem auch um seine Einsamkeit, um sein geradezu klaustro­ phobisches Gefühl innerhalb der Gesellschaft, die Sehnsucht nach Liebe und die Unmöglichkeit, sie zu finden. «Lyrische Szenen» hat Tschaikowski sein Stück genannt, nicht einfach Oper – ein grossartiger, absolut passender Titel. Sowohl Tatjana als auch Onegin sind sehr komplexe Figuren von grosser Tiefe und vor allem voller Menschlichkeit. Ich bin immer sehr berührt von diesem Stück; egal, ob es eine furchtbare Inszenierung ist oder ob schlecht gesungen wird, am Schluss bin ich immer in Tränen aufgelöst.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Viele Zeitgenossen kritisierten Tschai­kowski, weil sein Onegin angeblich wenig bühnenwirksam sei. Und Tschai­kow­­­ski selbst schrieb an seinen des Opernhauses erwerben Freund und Kollegen Sergej Tanejew, er habe ja «be­kann­termassen keine szenische Ader». Wie sehen Sie das? Den Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde den Onegin total büh­­nen­wirksam. Natürlich gibt es keine spektaku­lären Szenen wie beispielsweise im Barocktheater, auch keine Kriegsszenen und keine Opernklischees, wie man sie im 19. Jahrhundert liebte. Man muss das auch im Zusammenhang sehen mit der Entwicklung im Sprechtheater bei Ibsen und Strindberg: Es findet eine Verinnerlichung des Dramas statt. Und das Drama im Onegin ent­steht durch den Clash der Emotionen. Es ist ein unglaubliches Emotions­ gewitter, das wir hier erleben!


In einem Portrait über Sie habe ich gelesen, die Arbeit an einer neuen Inszenierung beginne für Sie immer mit einem Bild. Was für ein Bild war das bei der Konzeption von Onegin? Ich hatte immer das Gefühl, dass man die Figuren in einer Landschaft sehen muss. Das war der Ausgangspunkt, von dem aus wir dann zu dieser Welt aus Gras und Bäumen kamen. Wichtiger war aber vielleicht noch das Einmachglas. Im ersten Gespräch mit meinem Team habe ich gesagt: Normaler­weise ig­no­rieren wir ja alle Regieanweisungen. Aber in diesem Fall bin ich sehr be­ein­druckt von diesem Bild: Zwei Frauen kochen Marmelade. Das ist ein bisschen wie bei Marcel Proust in Auf der Suche nach der ver­ lorenen Zeit und den berühmten Made­leines: Der Geruch und der Geschmack von frisch gekochter Marmelade löst alle möglichen Erinnerungen aus. In diesem Stück wird von der ersten Szene an sehr viel über die Vergangenheit gesprochen, über das, was hätte sein können, über die Zukunftsträume, die sich nicht erfüllt haben. Und über der Erinnerung an die Vergangenheit vergessen die Figuren, in der Gegenwart zu leben. Übrigens bin ich immer wieder überrascht davon, wie komplex Tschaikow­skis Idee von der Liebe war. Nur bei Wagner findet man eine vergleichbare Komplexität, natürlich in einer anderen Form. Für mich hat Tschaikowski die Themen Liebe und Liebesbeziehungen so tief ausgeleuchtet wie fast kein anderer Komponist. Es ist so einfach für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, uns mit diesen Figuren zu identifizieren! Also denken Sie, dass die Emotionen, die Puschkin und vor allem Tschaikowski beschreiben, in unserer heutigen Welt ganz ähnlich sind? Auf jeden Fall. Man hat die Chance verpasst, man hat das Falsche gesagt, man hat falsch reagiert, man war un­höf­lich und bereut es später. Das alles ist absolut heutig. Trotzdem haben Sie sich dagegen entschieden, die Inszenierung in der Gegenwart anzusiedeln... Man könnte sicherlich einen wunder­baren Film machen, der diese Geschich­­te komplett in die Gegenwart holt. Aber da das Thema Vergangenheit in

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Jewgeni Onegin eine so wichtige Rolle spielt, fand ich es schöner, die Oper so auf­zu­führen, dass eigentlich offen bleibt, wann und wo sie genau spielt. Würde man sie in der heutigen Zeit spielen, müsste man auch die elektroni­ schen Kom­munikationsmittel wie E-Mail und SMS verwenden. Aber das funktioniert für mich nicht in diesem Stück. Mir war es wichtig, auf der Bühne eine Welt zu erschaffen, die den Zuschauer gar nicht darüber nachdenken lässt, wann und wo das Stück spielt, sondern die es ermöglicht, sich auf die Geschichte, die Figuren und ihre Beziehungen zu konzentrieren. Onegin ist eine Figur, die oft kalt und herablassend auftritt. Wie sehen Sie ihn? Ich möchte vor allem nicht, dass Onegin von Beginn der Oper bis zum Schluss nur eine einzige Emotion zeigen kann. Man darf das Ende noch nicht am Anfang zeigen! Weder die Charaktere auf der Bühne noch die Zuschauer wissen, was am Ende wirklich passiert. Onegin ist ein Aussenseiter. Aber er ist bei uns am Anfang trotzdem guter Laune. Er ist voller Frustra­tionen und Ängste, aber er ist nicht böse. Er weiss nicht so genau, wer er ist; er sucht seine Identität, genauso wie Tatjana. Am Anfang hat man das Gefühl, die beiden könnten vielleicht ein interessantes Paar werden. Man muss Wider­ sprüche zeigen, Rastlosigkeit, Schlaf­losig­keit. Onegin ist ein Gejagter, doch er weiss selbst nicht, wovon er eigentlich gejagt wird. Heute würde man ihn vielleicht als bipolar bezeichnen. Onegin muss auch ein Sympathieträger sein, sonst funktioniert das Stück für mich nicht. Man muss Mitleid mit ihm haben, man sollte nicht denken: You got what you deserved. Das ist nicht die Geschichte.

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Peter Mattei, der hier am Opernhaus Zürich den Onegin singt, hat die Rolle schon auf vielen grossen Bühnen der Welt gesungen. Was schätzen Sie an ihm? Peter Mattei ist natürlich ein sehr erfahrener Onegin. Er hat – und das ist meiner Meinung nach extrem wichtig für diese Rolle – sowohl als Mensch als auch als Künstler ein gewisses Geheimnis. Ich weiss nicht, was Peter denkt, ich möchte es auch nicht wissen, denn es ist nicht wichtig.

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Wichtig ist nur, dass er es auf die Bühne bringt. Peter Mattei ist vielleicht der beste Onegin der Welt momentan, aber zugleich ist er sehr offen, Neues auszupro­bieren. Es macht grossen Spass, mit ihm zu arbeiten. Ausserdem ist er nicht mehr ganz so jung, er hat viel Lebenserfahrung. Die Figur Onegin wird bei ihm vielleicht etwas mehr Bitterkeit ausstrahlen, als das mit einem ganz jungen Sänger der Fall wäre. Onegin bringt seinen besten Freund Lenski im Duell um; anschliessend muss er für eine Weile das Land verlassen. Als er zurückkommt, ist Tatjana mit dem Fürsten Gremin verheiratet. Diese Ehe will und kann sie nicht aufgeben, obwohl sie Onegin noch immer liebt – und obwohl auch er ihr nun seine Liebe gesteht... Um die Liebe Tatjanas zu Onegin zu verstehen, muss man an die Idee der «Liebe auf den ersten Blick» glauben. Tatjana träumt von einem Mann und von der Liebe, von der sie in vielen Romanen gelesen hat – und dann taucht Onegin auf. Für sie geht es zunächst gar nicht um den Menschen Onegin; sie projiziert alle ihre Träume auf ihn, und wenn er nicht gekommen wäre, hätte sie sich in einen anderen verliebt. Wenn sie in der letzten Szene sagt, dass sie Onegin liebt, dann geht es für einmal nicht um die Ver­gan­gen­heit, sondern um die Liebe, die sie in diesem Moment für ihn empfin­det, wenn sie ihn nach Jahren wiedertrifft. In dieser Szene muss für ein paar Sekunden eine Verbindung zwischen Onegin und Tatjana aufscheinen – man muss das ahnen, was hätte sein können. Vieles bleibt offen am Ende des Stückes; es schliesst mit einem Fragezeichen. Das Stück hat eine faszinierende Architektur. Am Schluss ist Onegin genau da, wo Tatjana war, als sie ihm ihren glühenden Liebesbrief schrieb. Sie haben vorhin gesagt, Onegin sei ein Aussenseiter; welchen Anteil hat die Gesellschaft daran, dass die Liebe von Onegin und Tatjana keine Chance bekommt? Ich glaube nicht, dass Tschaikowski Interesse daran hatte, Gesellschaftskritik zu üben. In Puschkins Vorlage ist das natürlich anders, aber Tschaikowski hat sich vor allem für die beiden Haupt­figuren interessiert. Olga und Lenski

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– Tatjanas Schwester und Onegins bester Freund – sind wichtige Figuren, weil sie eine andere Art von Liebe zeigen; aber auch sie sind – ebenso wie der Chor – letztlich nur eine Folie für die Entwicklung der Beziehung von Tatjana und Onegin. Diese Beziehung zwischen den beiden darf übrigens nie sentimental wirken... ... eher melancholisch ... Ja, melancholisch auf jeden Fall. Aber auch nicht romantisch. Ich würde sogar sagen, Onegin ist ein anti-romantisches Stück. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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Dem stillen jungen Mädchen galten Romane stets als höchste Lust... Alexander Puschkin, «Jewgeni Onegin»


VOM GESCHMACK DER ERINNERUNG Marcel Proust

Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich au­ sserhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stoffli­ chen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stossen, hängt einzig vom Zufall ab. Viele Jahre lang hatte von Combray ausser dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mut­ ter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vor­ schlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiss nicht warum, eines anderen. Sie liess darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man «Made­ leine» nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücks­ gefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem blossen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmässig, zufallsbedingt,


sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muss aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nach­ zulassen. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wie­ derholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiss und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muss die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewissheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann. Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewusstseins gelangen, diese Erinne­ rung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augen­blick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewe­ gung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiss es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiss, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muss ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeuten­ den Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschliesslichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.


Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Made­leine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, dass ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und dass dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, dass von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Be­ wusst­sein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergan­ genheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das uner­ messliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.

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MUSIK WIE AUS EINEM GUSS Dirigent Stanislav Kochanovsky im Gespräch

Stanislav Kochanovsky, Sie stammen aus St. Petersburg und haben die Musik Tschaikowskis schon in Ihrer Kindheit kennengelernt. Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Jewgeni Onegin erinnern? In meiner Familie gibt es ausser mir keine professionellen Musiker. Aber mein Grossvater liebte Musik über alles, er spielte zuhause Klavier und sang meiner Grossmutter Romanzen vor. Schon seine Kinder hätte er gern am Kon­ser­ vatorium gesehen, aber geklappt hat das erst mit seinem zweiten Enkel – mit mir. Statt Märchen erzählte er mir abends vor dem Einschlafen Geschichten aus Opern. Er ging oft mit mir ins Mariinsky-Theater, wo ich auch zum ersten Mal den Onegin sah, und zwar in der Inszenierung von Juri Temirkanow, die bis heute dort im Spielplan ist und die ich dann viele Jahre später selbst am Mariinsky-Theater dirigieren sollte. Heute gehört Tschaikowskis Jewgeni Onegin zu den meistgespielten Stücken auf den Opernbühnen Russlands und ist im Ausland die beliebteste russische Oper überhaupt. Dass das einmal so werden würde, hätte sich Tschaikowski nicht träumen lassen; viele seiner Freunde und Kollegen kritisierten ihn zunächst hart für die Wahl des Stoffes. Ja, auch die Uraufführung im St. Petersburger Konservatorium wurde nicht gerade enthusiastisch aufgenommen. Tschaikowski schreibt in einem seiner Briefe, das Publikum habe während der Aufführung nur zweimal geklatscht, einmal nach dem Couplet Triquets und einmal nach der Arie Gremins... ... also nach den beiden am konventionellsten gebauten Musiknummern des Stückes...

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... und Tschaikowski selbst wurde nach der Vorstellung nur einmal vor den Vor­hang gerufen. Dass das Stück zunächst keinen so grossen Erfolg hatte, mag auch damit zusammenhängen, dass es Studenten waren, die die Hauptrollen sangen; sie hatten wenig Erfahrung und waren natürlich vollkom­men un­bekannt. In einem Brief an seinen Verleger Jürgenson ent­schuldig­te sich Tschaikowski dafür, dass sein Onegin so wenig Profit abwerfe; er schreibe bereits an der nächsten Oper und werde den finanziellen Schaden ausgleichen. Auf die Uraufführung mit Studenten folgte dann die «offizielle» Uraufführung am Bolschoj-Theater, dirigiert von Nikolaj Rubin­ stein; auch sie wurde eher kühl aufgenommen. Erst die St. Petersburger Erstaufführung am Mariinsky-Theater unter der Leitung von Eduard Naprav­ nik wurde ein grosser Erfolg. Tschaikowski hatte tatsächlich sehr daran gezweifelt, ob seine Oper auf der Bühne Wirkung haben würde. Die Auffüh­ rungsgeschichte dieser Oper sollte dann seine kühnsten Erwartungen übertreffen. Man muss sich nur mal die Dirigenten anschauen, die diese Oper dirigiert haben: Im Bolschoj-­Theater war das unter anderen Sergej Rach­ maninow, und die deutsch­­sprachige Erstaufführung in Hamburg leitete kein Geringerer als Gustav Mahler. Onegin ist zudem die erste Oper, die seit ihrer Uraufführung nicht einmal vorübergehend aus dem Spielplan des Bolschoj-Theaters verschwunden ist. Pjotr Tschaikowski nannte seinen Onegin nicht Oper, sondern Lyrische Szenen – warum? Er hatte schreckliche Angst davor, den Onegin «Oper» zu nennen, weil er be­fürchtete, dass das Stück den Erwartungen, die man damals an eine Oper hatte, nicht entsprechen würde. Er war auch zunächst dagegen, den Onegin an einem professionellen Theater wie dem Bolschoj aufzuführen – Onegin ist die einzige Oper Tschaikowskis, die weder im Mariinski-Theater in St. Petersburg noch im Bolschoj-Theater in Moskau uraufgeführt wurde. Tschaikowski hatte Angst vor Opernklischees, Angst auch vor einer wohlge­ nährten, 45-­jährigen Primadonna, die die junge, verliebte, mädchenhafte Tatjana verkörpern sollte...

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Was war denn so neu an diesem Stück, dass das Publikum sich offenbar erst daran gewöhnen musste? Puschkins Versroman Jewgeni Onegin bot nicht die grossen Tableaus mit Chor und Ballett, die man aus der Grand Opéra kannte und die man von einer neuen Oper um diese Zeit, also 1878, auch in Russland erwartete; auch spannungsgeladene Konflikte gibt es nicht. Tschaikowski selbst hingegen hat sich sehr bewusst gegen eine Oper im Stile Aidas entschieden; er suchte einen Stoff, der ihm nah war und in dem die ganz alltäglichen Gefühle junger Menschen im Zentrum standen. Mit Onegin hatte er diesen Stoff gefunden – obwohl er zunächst auf den Vorschlag der Sängerin Jelisaweta Lawrowskaja, Puschkins Onegin zu einer Oper zu machen, sehr ablehnend reagiert hatte. Aber noch in derselben Nacht entwarf er das Szenarium und bat seinen Freund und Schüler Konstantin Schilowski, ihm bei der Ausarbeitung des Lib­rettos zu helfen. Die Komposition begann er übrigens mit der Briefszene Tatjanas; sie ist der Kern der ganzen Oper. Das Stück ist wie wenige andere aus einem Guss, von der ersten bis zur letzten Note packt einen die Musik.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Neben den intimen Szenen der Hauptfiguren gibt es aber auch die Szene oder am Geburtstagsfest Vorstellungsabend im Foyer von Tatjanas und die Ballszene im Haus Gremins im dritten Akt, zwei grosse Chorszenen. Waren das Zugeständnisse Tschaikowskis ans Publikum? des Opernhauses erwerben Nein, das glaube ich nicht. Diese Szenen sind sehr wichtig, um die Welt zu zeigen, in der die Figuren leben. Zu Beginn gibt es auch noch die wunderbare Chorszene mit volkstümlichen Melodien, die oft gestrichen wird, die aber meiner Meinung nach entscheidend ist, um die ländliche Atmosphäre zu evo­zieren, in der Tatjana aufgewachsen ist. Innerhalb der Dramaturgie der Oper ist es ausserdem wichtig, einen Gegenpol zu schaffen zu den über­schäumenden Gefühlen Tatjanas. Zwischen dem Geburtstagsfest bei der Familie Larin und dem Ball bei Gremin gibt einen grossen Unterschied, der zeigt, dass Tatjana mittlerweile in einer ganz anderen Welt lebt – nicht mehr auf dem Land, sondern in der Grossstadt St. Petersburg. Ihr sozialer Status hat sich vollkommen verändert. Ohne diese gesellschaftliche Folie ist die Geschichte kaum zu verstehen. Tschaikowski hat die Streitszene zwischen

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Lenski und Onegin, die dann schliesslich zum Duell zwischen den beiden führt, auf das Geburtstagsfest bei Larins verlegt; dass dieser Streit in der Öffentlichkeit stattfindet und nicht, wie bei Puschkin, im Privaten, macht sie noch wirkungsvoller. Dass Tschaikowski sich so sehr mit seinen Figuren identifiziert hat, hängt wohl auch mit seiner Lebenssituation während der Entstehung des Stückes zusammen... Ja, auf jeden Fall. Tatjana ist – wie übrigens auch German in Pique Dame – ein Teil von Tschaikowski selbst. Die Liebesbriefe, die ihm eine gewisse Antonina Miljukowa schrieb, haben schliesslich dazu geführt, dass Tschaikow­ ski sich im Mai 1877 mit dieser jungen Frau verlobte und sie kurze Zeit später heiratete. Dieser Entschluss erwies sich jedoch als tragisch; Tschaikow­ski konnte seine Homosexualität nicht unterdrücken und liess sich nur drei Mo­nate später wieder scheiden. Eine unerfüllte Sehnsucht prägte sein ganzes Leben. In der Oper finden sich also einige Parallelen zu Tschaikowskis eigenen Emotionen während der Entstehung des Onegin.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Wie sind die beiden Hauptfiguren musikalisch charakterisiert? Tatjana besitzt ein regelrechtes musikalisches Leitmotiv; Onegin hat das nicht. Tatjanas Leitmotiv ist von der ersten Note der Oper an präsent und durch­ des Opernhauses erwerben zieht die ganze Oper, auch die Briefszene ist auf diesem sogenannten Leitmo­ tiv aufgebaut. Das ist besonders interessant auch deswegen, weil die Oper ja immerhin Jewgeni Onegin heisst... und am Schluss, in dem Moment, in dem er erkennt, dass er Tatjana liebt und sie bittet, ihren Mann Gremin für ihn zu verlassen, schlüpft Onegin musikalisch in die Haut Tatjanas: Er singt ihre Musik aus der Briefszene und benutzt sogar ihre Worte. Die Wieder­ begegnung mit Tatjana ruft Erinnerungen in Onegin hervor an den Moment, in dem er ihre Liebe so kalt zurückgewiesen hatte, und entzündet in ihm ein plötzliches, vorher nicht gekanntes Feuer an Emotionen. Der tragische Ausgang der Oper ist musikalisch schon am Anfang angelegt.

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Er liebte, ach, wie heutzutage, kein einz’ger mehr in Lieb’ entflammt, und wie vom Los zur Liebesplage nur der Poet ist noch verdammt... Alexander Puschkin, «Jewgeni Onegin»

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EIN INTIMES DRAMA Pjotr Tschaikowskis Brief an den Freund und Komponisten Sergej Tanejew

Es kann durchaus sein, dass Sie Recht haben, wenn Sie sagen, meine Oper sei nicht bühnenwirksam. Aber ich antworte Ihnen darauf, dass ich auf eine Büh­ nen­wirksamkeit pfeife. Die Tatsache, dass ich keine szenische Ader habe, ist längst anerkannt und ich gräme mich jetzt darüber recht wenig. Wenn sie nicht bühnenwirksam ist, so inszeniert sie nicht und spielt sie nicht. Ich habe diese Oper deshalb geschrieben, weil ich eines Tages den unaussprechlichen Drang verspürte, alles das in Musik zu setzen, was sich im Onegin für Musik anbietet. Das habe ich getan, wie ich es konnte. Ich arbeitete mit unbeschreiblicher Hingabe, Begeisterung und kümmerte mich wenig um Bewegung, Effekte usw. Ich pfeife auf Effekte. Und was sind denn schon Effekte! Wenn Sie sie zum Beispiel in irgendeiner Aida finden, so versichere ich Sie, dass ich um nichts in der Welt eine Oper mit einer solchen Handlung schreiben könnte, weil ich Menschen brauche und keine Puppen; ich nehme mich gern einer jeden Oper an, in der, auch ohne starke und unerwartete Effekte, Wesen, wie ich, ein Gefühl erleben, das auch von mir erlebt wurde und mir verständlich ist. Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharao, irgendeines verrückten Mörders kenne ich nicht, verstehe ich nicht. Im Übrigen, ich ernte die Früchte meiner geringen Belesenheit. Würde ich jegliche Art Literatur besser kennen, würde ich natürlich auch etwas Passendes gefunden haben für meinen Geschmack und gleichzeitig etwas Bühnenwirksames. Leider kann ich selber nichts finden und treffe keine Menschen, die mich auf einen Stoff aufmerksam machen würden, wie zum Beispiel Carmen von Bizet – eine der wunderbarsten Opern unserer Zeit. Sie werden fragen: Was will ich eigentlich? Gestatten Sie, ich sage es Ihnen. Ich brauche keine Zaren, Zarinnen, Volksaufstände, Schlachten, Märsche, mit einem Wort alles das, was mit dem Attribut Grand opéra bezeichnet wird. Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber


erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können. Ich habe nichts gegen ein phantastisches Element, weil man hier nicht eingeengt ist und der Weite der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Bezüglich Ihrer Bemerkung, dass sich Tatjana nicht sofort in Onegin ver­ liebt, sage ich, dass Sie sich irren. Gerade sofort: «Kaum tratst du ein, hab ich’s erkannt, ich erstarrte ganz, erglühte!» Denn sie verliebt sich in Onegin nicht deshalb, weil er so oder anders ist; sie braucht ihn nicht kennenzulernen, um sich zu verlieben. Noch vor seinem Erscheinen ist sie schon verliebt in einen unbestimmten Helden ihres Romans. Onegin brauchte sich nur zu zeigen, und sofort versah sie ihn mit allen Eigenschaften ihres Ideals und übertrug auf einen lebenden Menschen jene Liebe, die sie zum Kind ihrer hitzigen romantischen Phantasie empfand. Die Oper Onegin wird niemals Erfolg haben, ich weiss das im voraus. Ich werde niemals Künstler finden, die auch nur ungefähr meinen Forderungen entsprechen könnten. Beamtentum, die Routine unserer grossen Bühnen, der Unsinn der Inszenierungen, das System, Invalide zu halten, ohne den Jungen Platz zu machen, alles das lässt meine Oper für eine Oper unmöglich erscheinen. Stellen Sie sich den Orlow oder den Dawydow in der Rolle des Lenski vor, oder die Alexandrowa und sogar die Ljuschtschenko als Tatjana, Führer oder sogar Melnikow als Onegin! Lachhaft und armselig! Viel lieber gäbe ich diese Oper auf die Bühne des Konservatoriums, und dieses wünsche ich sogar. Das würde besser zu meinem bescheidenen Werk passen, das ich sogar nicht «Oper» nen­ nen werde, wenn es gedruckt werden sollte. Ich werde es: «lyrische Szenen» nennen, oder irgendetwas in diesem Sinne. Ja, diese Oper hat keine Zukunft, ich wusste es, als ich sie schrieb, und dennoch schrieb ich sie, werde sie beenden und in die Welt schicken, wenn Jürgenson sie zum Druck annimmt. Ich werde nicht nur nichts unternehmen, dass sie am Mariinski-Theater gegeben wird, ich werde mich, wenn es geht, dagegen­stellen. Wenn meine Begeisterung an der Handlung des Onegin von meiner Beschränktheit, Stumpfheit zeugt, von meiner Kenntnislosigkeit und Unwissenheit der szenischen Bedingungen, so tut es mir leid, aber wenigstens ist das, was ich geschrieben habe, buchstäblich aus mir geflossen und nicht er­ dacht, nicht herausgepresst.



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TATJANAS UNTERGANG Anselm Gerhard

Manchen Kennern der russischen Literatur scheint Tschaikowskis Jewgeni One­ gin ein Verbrechen an Puschkins grossartigem «Roman in Versen». Vladimir Nabokov ereiferte sich noch 1964 über «das unglaubliche Libretto» dieser «läppischen und schludrigen» Oper. Bereits im November 1878 hatte Iwan Turgenjew seine Irritationen in einem Brief an Tolstoi formuliert: «Aber was für ein Libretto! Stellen Sie sich vor: Puschkins Verse, die die Figuren beschrei­ ben, werden diesen selbst in den Mund gelegt. Zum Beispiel, wenn es über Lenski heisst ‹Er sang […]›, steht im Libretto ‹Ich singe […]› usw.» In der Tat ist die 1879 uraufgeführte Oper in vielerlei Hinsicht ungewöhn­ lich. Natürlich war es nicht möglich, die polyperspektivische und in jedem De­ tail ironische Konzeption von Puschkins Epos auf die Bühne zu übertragen. Mit seinem Bruder Modest Tschaikowski entschied sich der Komponist für eine radikale Zuspitzung auf die irreale Liebe Tatjanas zum Titelhelden. Ein bei Puschkin nur nebenbei erwähnter (namenloser) Ehemann Tatjanas tritt im dritten Akt der Oper sogar leibhaftig auf. Statt einer stringenten Entwicklung der Liebesgeschichte (im Sinne einer Einheit der Handlung) entschied sich Tschaikowski – der Gattungstitel «Lyrische Szenen» deutet es an – überdies für drei, nur lose miteinander verbundene Momentaufnahmen, die freilich jede für sich ein aussergewöhnlich hohes Mass an Einheit ausprägen.

Ein unschicklicher Brief Gleichzeitig wollte der Komponist so viele originale Verse Puschkins wie nur möglich übernehmen – mit oder ohne syntaktische Anpassungen. Am ein­ drücklichsten ist ihm dies in der berühmten Briefszene gelungen. Diese stellte bereits bei Puschkin einen Fremdkörper dar, weil ihre Verse nicht der kunst­ vollen Anlage der eigens für den Roman konzipierten «Onegin-Strophe» folgen:

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am Sonett orientierte Gruppen von vierzehn Versen, in denen sich sieben Paare mal umschliessend, mal über Kreuz und eben im Paar reimen. In Tatjanas Brief hingegen klappert wiederholt auch ein dritter Vers mit demselben Reim nach – Stolpersteine, die ihre emotionale Verwirrung spiegeln. Ein Fremdkörper ist die Szene auch in der Oper: Wenn sich im ersten Akt von Verdis La traviata die Titelheldin in ganz ähnlicher Weise einer erwachten Liebe bewusst wird, sind ihr zwanzig lyrische Verse und etwa acht Minuten zugemessen. In Gounods Faust singt Marguerite im Lied über den König von Thule und der anschliessenden «Juwelenarie» 28 Verse in etwas mehr als zehn Minuten. Tschaikowski dagegen komponiert fast achtzig Verse. Mit nahezu vierzehn Minuten Dauer handelt es sich um eine der längsten Monologszenen der Operngeschichte. Dabei ist das Schreiben eines Briefes alles andere als eine dramatische Si­ tuation. Wenn überhaupt, werden deshalb Briefe in der Oper von überraschten Empfängern laut gelesen, selten findet sich das Diktat eines Briefes. Ganz anders in diesem experimentellen Werk: Hier sehen wir, wie Tatjana einen Brief schreibt, den sie nach den damals geltenden Regeln als unverheiratetes Mädchen gar nicht schreiben (und noch weniger abschicken) dürfte. Nicht nur unter russischen Adligen, sondern auch in bürgerlichen Kreisen westlicher Staaten hatte damals eine Frau gefälligst auf den ersten Schritt des Mannes zu warten. Dies ist aller­ dings auch das einzige Spannungsmoment in Tschaikowskis Umsetzung eines zur stillen Lektüre bestimmten Textes: Wir wissen zunächst nicht, ob Tatjana ihren Brief tatsächlich abschicken wird. Tschaikowski war sich von Anfang an solcher Probleme bewusst. Noch vor der Ausarbeitung der Partitur schrieb er seinem Bruder: «Ich weiss genau, dass die Oper zu wenig Handlung, zu wenig Bühneneffekte haben wird.» Doch ging es ihm um «die Einfachheit der Vorgänge». Und so aussergewöhnlich die Idee ist, Puschkins Brief zum Kern eines musikalischen Dramas zu machen, so schnör­ kel­los ist die Briefszene komponiert. Dort werden nur an sechs Stellen einzelne Wörter wiederholt, mit ganz wenigen Ausnahmen gibt es keine Melismen. Fast jede Note entspricht einer Silbe, jede Silbe entspricht einer Note. Konsequent verzichtet Tschaikowski auf wesentliche Merkmale dessen, was auch in seinen Opern selbstverständlich zum Prinzip einer Arie gehört.

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Dabei handelt es sich bei dieser Briefszene um eine unglaubliche Herausforde­ rung: Alle Verse haben denselben Rhythmus. Im immergleichen Metrum des vierhebigen Jambus ist ausnahmslos die Betonungsfolge dadamm-dadammdadamm-dadamm(da) vorgegeben. Fast scheint es, als habe der Komponist die Monotonie des vorgegebenen Versmasses noch übersteigern wollen – zum Bei­ spiel wenn die mehrfach wiederholte Oboenmelodie am Anfang des eigentlichen Briefschreibens ebenfalls aus genau acht «Silben» (Achteln) besteht. Damit er­ gibt sich aber eine Versuchsanordnung, die mit der sogenannten «Literaturoper» des 20. Jahrhunderts weit mehr zu tun hat als mit jeglicher Operntradition. Wie ist es aber Tschaikowski gelungen, dass Tatjanas Monolog nicht ein­ tönig wirkt, dass auch bei der hundertsten Begegnung mit dieser Briefszene keine Langeweile aufkommt? Ganz einfach: Offensichtlich hat er aus den Schwä­ chen früherer Versuche (wie in Dargomyschskis 1872 erstmals aufgeführter Oper Kamennyj gost’ / Der steinerne Gast), Verse von Puschkin unverändert in Musik zu setzen, gelernt. Er wechselt zwischen auf- und volltaktigen Melodien, lässt einmal nur eine Silbe, dann aber auch drei, fünf oder gar sieben Silben auftaktig singen. Mit dieser rhythmisch differenzierten Gestaltung des Jambus weist die Briefszene überdies direkt auf das Eröffnungsbild zurück, in dem Tschaikowski bei der Vertonung vier- und fünfhebiger Jamben ebenfalls mit verschiedenen Auftaktlängen gespielt hatte. Diese auffällige musikalische Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr: Sie unterstreicht Tatjanas verzweifelten Versuch, aus den erdrückenden sozialen Zwängen des russischen Landlebens auszubrechen. Diese Zwänge werden in der Eröffnungsszene auf eine Weise sicht- und hörbar, die nur bei reichlich oberfläch­ ­­licher (jedoch verbreiteter) Betrachtung als Inszenierung einer «har­mo­­nischen und heilen Welt» missverstanden werden kann. Aus dem Innern des Hauses singen zunächst Tatjana und ihre Schwester Olga von ihren Träume­reien – mit Versen, die Tschaikowski einem Gedicht des siebzehnjährigen Puschkin entnom­ men hat. Im Vordergrund kommentieren dann zwei ältere, mit Hausarbeiten beschäftigte Frauen, Tatjanas und Olgas Mutter sowie deren Kinderfrau, die Utopien der jungen Mädchen mit ihrem resignierten Lebensrückblick: Mutter Larina war das Opfer einer arrangierten Heirat. Sie hatte nicht den inzwischen verstorbenen Larin geliebt, sondern einen jungen Gardeoffizier, und so «tobte

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und weinte sie anfangs» auf dem abgelegenen Landgut, dachte gar an Scheidung. Aber am Ende gewöhnte sie sich an die hauswirtschaftliche Routine – von Puschkin mit einem sarkastischen Zweizeiler kommentiert: «Privyčka svyše nam dana: / Zamena sčastiju ona.» («Die Gewöhnung ist uns vom Himmel geschenkt; Ersatz für Glück ist sie.») Und damit auch keinem Leser die schneidende Ironie dieser Pointe entgehen möge, nannte er in einer Fussnote als vermeintliche Quelle die Selbsterkenntnis eines französischen Romanhelden von 1802: «Wenn ich so verrückt wäre, an das Glück zu glauben, würde ich es in der Gewohnheit suchen» – als ob der von Werther-Einflüssen und Inzestfantasien gespeiste Welt­ schmerz des von Chateaubriand imaginierten René etwas mit dem platten Leben in den Weiten der russischen Provinz zu tun haben könnte.

Das komplette Programmbuch Klebrige Marmelade können Sie auf Puschkins Versroman ist nicht nur ein – im «Westen» immer noch zu entde­ www.opernhaus.ch/shop ckendes – Ausnahmewerk der «Weltliteratur», sondern auch ein Vexierspiel mit inter­textuellen Verweisen und ständigen Wechseln der Perspektive, die jede oder amEinfühlung Vorstellungsabend im kaum Foyer dauerhafte in die Figuren durchkreuzen. Da das Musiktheater über vergleichbare Möglichkeiten der Distanzierung und Ironisierung verfügt, liegtdes der Schluss nahe, dass Tschaikowskis schwermütige Oper die leichtfüssige Opernhauses erwerben Ironie Puschkins verfehlt hat. Gerade die Eröffnungsszene mit dem Loblied auf die «Gewöhnung» könn­ te als (vermeintlicher) Beweis für diese These herangezogen werden. Denn der zitierte Zweizeiler ist hier nicht mehr distanzierter Kommentar des Erzählers, sondern Tatjanas Mutter selbst in den Mund gelegt. Aber handelt es sich bei dieser Eröffnungsnummer wirklich um ein Loblied auf die «Gewöhnung»? Bereits der merkwürdige Satztitel «Duet i kvartet» sollte uns misstrauisch wer­ den lassen. Gewiss wird hier aus dem Duett der Schwestern durch das Hinzu­ treten der Mutter und der Kinderfrau ein Quartett. Dramaturgisch bedeutet aber die Überblendung der zweiten Strophe des Duetts der jungen Mädchen mit der wie nebenbei gesprochenen Unterhaltung zwischen den alten Frauen den Zusammenstoss zweier Welten. Olgas und Tatjanas Träumereien wirken

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wie sinnlose Flausen angesichts Larinas Resignation. Präzise in dem Moment, wenn Larina und die Kinderfrau mit Puschkins Versen von der «vom Himmel» geschenkten «Gewöhnung» sprechen, verstummen die Schwestern, aus dem Quartett wird wieder ein Duett, diesmal freilich ein Duett der alten Frauen. In der patriarchalischen Gesellschaft des alten Russlands ist kein Raum für die Bedürfnisse junger Mädchen. Die Macht der «Gewöhnung» ist stärker als jeder Wunsch nach Veränderung, Tatjanas Versuch, aus der Langeweile des immer gleichen Provinzlebens auszubrechen, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Die abgeschiedene Lebenswelt der Familie Larin, in die ein «modischer Tyrann» wie Jewgeni Onegin, Puschkins negativer Held, einbrechen wird, ist also durchaus nicht so gemütlich, wie es scheinen mag. Tschaikowski hat die trügerische Idylle aus einer Perspektive beleuchtet, die vielleicht nicht ironisch, sehr wohl aber distanziert genannt werden kann. Dies gilt insbesondere für die verwendeten musikalischen Mittel: Der Zweizeiler, der die «Gewöhnung» zu preisen scheint, wird von Larina und der Kinderfrau im Kanon gesungen – in dieser Gesellschaft hat sich jede Frau der unerbittlichen Logik eines Kanons unterzuordnen, in dem die zweite Stimme das Vorgegebene unverändert über­ nimmt. (Das Gleiche wird am Ende des zweiten Aktes dann auch für den grausa­ men Ehrenhandel Onegins und Lenskis gelten, wenn Tschaikowski die Duel­ lanten wieder in die ungewöhnliche Struktur eines strengen Kanons zwingt.) Aber nicht nur deswegen hinterlassen die gut vier Minuten dieser Eröff­ nungsnummer den Eindruck einer drückenden Schwüle, in der die Zeit still­ zustehen scheint. Keine einzige Modulation in eine Dur-Tonart weist einen Ausweg aus dem lastenden g-Moll der Gesänge, denen jede vorwärtstreibende Energie fehlt. Das Unerträgliche der Situation wird immer wieder durch den sogenannten neapolitanischen Sextakkord unterstrichen, der seit dem 18. Jahr­ hundert stereotyp auf extremen Schmerz verweist und hier zu einem Gesamt­ eindruck beiträgt, der so klebrig wirkt wie die Marmelade, die beim Einkochen der Früchte entsteht, von dem die Szenenanweisung ausdrücklich spricht. So ist es gewiss kein Zufall, dass Tschaikowski in der Briefszene zu den Worten «Ich schreibe Ihnen» die Oboe mit einer Phrase aus sieben auftaktigen Achteln genau das rhythmische Modell dieses Lobpreises auf die «Gewöhnung» aufgreifen lässt. Tatjana durchbricht sämtliche Anstandsregeln und schreibt

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Onegin, weil sie endlich aus dieser klebrigen «Gewöhnung» ausbrechen will. Tschaikowski hat dabei mit ebenso subtilen wie wirkungsvollen Mitteln ver­ deutlicht, wie sich Tatjana allmählich in das Traumbild einer idealen Liebe hinein­steigert und sich wenigstens so von ihren lastenden Lebensumständen befreit – am Ende der Briefszene wird Tatjana (so die Szenenanweisung) das Fenster ihres Zimmers öffnen. Während die Musik am Anfang der Briefszene noch von regelmässigen Zweitakt-Phrasen – genau wie in der Eröffnungsnum­ mer – geprägt ist, findet sie in dem Moment, wenn Tatjana Onegin und sich selbst ihre Liebe erklärt, zu immer unregelmässigeren Gestalten, zunächst zweiund dreitaktigen Doppelversen, dann schliesslich konsequent zu dreitaktigen Phrasen. Dass es dabei auf das Objekt von Tatjanas Liebe gar nicht ankommt, war auch Tschaikowski klar: «Noch vor seinem Erscheinen ist sie schon verliebt in einen nicht näher bestimmten Helden ihres Romans.» Diese Interpretation spitzt das zu, was wir in Puschkins Brieftext lesen können, übrigens an der Stelle, zu der Tschaikowski erstmals eine wirklich emphatische Melodie erklingen lässt: «Du erschienst mir in Traumbildern, Du warst mir lieb, bevor ich Dich sah.» Einer allzu verwirrenden Vielfalt musikalischer Ereignisse begegnet Tschai­ kowski, indem er mehrmals mit der Wiederholung gleicher musikalischer Ab­ schnitte vereinheitlichende Strukturen andeutet. Auch sind alle melodischen Gestalten von Tatjanas Solo in einen Rahmen gefasst, der mit der Spannung zwischen Unterquart und Terz – so schon beim allerersten Beginn auf die (nicht von Puschkin stammenden) Worte «Und auch wenn ich dabei untergehe» – eine ganz andere melodische Energie ermöglicht als die immer wieder in den Grund­ ton absinkenden Melodien der Eröffnungsnummer. Keineswegs handelt es sich dabei – wie von Richard Taruskin behauptet – um «die Aufeinanderfolge von vier Romanzen, die durch Rezitative verbunden» sind. Zwar lassen sich in der Tat vier grössere Abschnitte isolieren; entscheidend ist jedoch die konsequent vorwärtstreibende Gestik Tatjanas, die sich in einen wahrhaften Liebesrausch hineinsteigert, der am Ende durch die Emphase der höchsten Sopranlage über­ höht wird, jedoch keinen Bezug zur Realität hat. An den entscheidenden Stel­ len bricht Tschaikowski das entrückte Des-Dur bei Formulierungen wie «Wer bist Du: mein Schutzengel oder mein heimtückischer Versucher?» durch den

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melodischen Abstieg über die «falschen», nur zur Moll-Tonart passenden Töne ces und heses zum as, was im Orchester den fahlen Beleuchtungswechsel von Des-Dur nach Heses-Dur (also A-Dur) nach sich zieht. Den Melodien, mit denen Tatjana auftrumpfen will, ist nicht nur mit die­ sem Abgleiten nach Moll das Scheitern eingeschrieben. Ab dem dritten grösse­ ren Abschnitt sind sie allesamt abwärtsgerichtet. Zwar findet sich in der musi­ kalischen Umsetzung von Puschkins Brief begreiflicherweise keine Entsprechung zu dem maliziösen Hinweis des Dichters, er habe Tatjanas Brief aus dem Fran­ zösischen übersetzen müssen, da ja eine Gutsbesitzertochter nicht in der Lage sei, längere Briefe in russischer Sprache zu verfassen. Tschaikowskis illusions­lose Darstellung von Tatjanas selbstvergessener Liebe ist aber um nichts weniger distanziert und gebrochen als die zwischen Empathie und Spott schwankenden Beschreibungen Puschkins. Auch der Komponist macht sich keine Illusionen darüber, dass ein solcher Gefühlsüberschwang zu dem «Untergang» führen wird, von dem Tatjana bereits im ersten Vers der Briefszene spricht. In den fein kalkulierten Bezügen zu den melodischen und rhythmischen Eigenheiten der Eröffnungsnummer wird deutlich, dass diese junge Frau scheitern wird. Am Ende kann Tatjana noch zufrieden sein, wenn sie eines Tages in der «Gewöhnung» an einen ungeliebten Ehemann und hauswirtschaftlichen Tätig­ keiten wie dem Einkochen von Beeren einen «Ersatz für Glück» erkennen sollte. Noch schärfer formuliert hat Puschkin dieses grausame Scheitern einer grossen Liebe mit einer Nebenbemerkung zu Tatjanas letzter Ansprache an Onegin: «Für die arme Tanja waren alle Schicksale gleich.» Zur Pointe dieser Formulierung gehört, dass unklar bleibt, ob es sich um einen Autorenkommentar handelt oder um die Selbsterkenntnis der (unglücklich) verheirateten Frau. Tschaikowski hätte sich bei der Komposition dieser Worte dafür entscheiden müssen, sie einer Bühnenfigur in den Mund zu legen, so dass er diesmal auf deren Verwendung verzichtete. Der Schärfe dieser und vieler anderer Charakterisierungen von Puschkins Figuren ist er aber mit ganz eigenen und auf ihre Weise atemberauben­ den kompositorischen Verfahren gerecht geworden, die nicht weniger skeptische Distanzierungen und melancholische Brechungen erkennen lassen.

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REUE ODER DAS SINNLICHE EINES MANUSKRIPTS Alexander Puschkin und «Jewgeni Onegin» Dana Grigorcea

Neulich auf einem Dachterrassenfest unter Literaten, bei flackerndem Kerzen­ licht, sprach man über grosse Themen, die früher ausgiebig behandelt, heute aber in der Literatur nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die Reue. Wo gibt es noch das seitenweise Klagen über die eigenen Verfehlungen, das Grübeln über die eigene Unzulänglichkeit, über Gut und Böse, und dann den Schrecken, dass es vielleicht zu spät ist für eine Wiedergutmachung? Wie soll Reue vorkom­ men, wenn Selbsteingeständnisse und echtes Bedauern fehlen? Das wurde heftig diskutiert. Da sind andere Erzähltechniken, das Bedauern kommt schon noch vor, fragmentarisch eben, oder nicht? Aber warum die Ausflüchte des Fragmen­ tarischen, Abgehackten? Wo doch die Reue einer gewissen Ruhe und Stille bedarf. Vielleicht, weil die eingestandene Reue der christlichen, katholischen und orthodoxen Beichtpflicht entstammt, die heutzutage kaum mehr praktiziert wird. Damit ist die Reue, wie auch überhaupt der Glaube, Privatsache geworden. Hat sich denn wirklich Radikales ereignet, das alles verändert hat? Und auch für den Künstler? Ja – man betrachte nur schon die Manuskripte von einst: Mittels grafologischer Analysen lassen sich allerlei Rückschlüsse auf den Charak­ ter des Schriftstellers ziehen und auch untersuchen, wie seine Gemütslage beim Schreiben bestimmter Textstellen war, ob er fahrig geschrieben hat oder expan­ siv, druckstark oder druckschwach, einen Satz einfach oder mehrfach durchge­ strichen hat, mit Nachdruck, oder aber ob er seine Schrift mit vielen Girlanden und Bögen versehen hat, langsam und verträumt, lange auf der Seite verblieben ist. Heutzutage entstehen keine solchen Manuskripte, vor dem Bildschirm un­

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serer Computer lässt der Arbeitsprozess keine Spuren mehr. Beim Sichten alter Manuskripte wird uns bewusst, wie viel sinnlicher die Welt war, in der sie ent­ standen sind, und dass man früher mit weit mehr Stoffen und Gerüchen in Kontakt kam und zum Schreiben weit mehr Körpereinsatz benötigte. Man kann sich fragen, ob die verminderte Sinnlichkeit unserer Welt, die uns gewisserma­ ssen abstumpft, dieses schnellere Gleiten durch das Leben, das uns die techni­ sche Entwicklung und zuletzt die Digitalisierung ermöglicht haben, uns als Menschen nicht auch fehlbarer, weil auch minder schuldfähig gemacht haben. Ein Blick in Alexander Puschkins Manuskripte verrät: Er hat in seinen Arbeitsheften am Rand auch noch gezeichnet. Jede Seite mutet einen heutigen Betrachter wie ein Kunstwerk an, das eingerahmt werden könnte, eine Seelen­ schau, ein Manifest. Puschkin hat Manuskripte hinterlassen, bei deren Sichtung Literaturkritiker und Historiker frohlocken. Er hatte eine schöne, regelmässige, nach rechts geneigte Schrift und schrieb stets mit Gänsefeder oder Bleistift, vor allem aber mit der Gänsefeder. Eine solche wurde ihm auch von Johann Wolf­ gang Goethe zu­geschickt – Puschkin liess dafür ein rotes Etui aus Saffianleder anfertigen. Er schätzte schöne Dinge mit weicher Haptik. Ein berühmtes Por­ trät zeigt ihn auf einem Diwan am Fenster, auf vielen Kissen ruhend, mit weit geöffnetem weissen Hemd, nachdenklich, das Ende einer Gänsefeder im Mund. Es ist die erotische Inszenierung eines Schöpfers. Von sich fertigte Puschkin auch zahlreiche humorige Selbstporträts an – das bekannteste ist jenes mit der Mönchskappe, Auge in Auge mit dem Teufel. Andere Selbstbildnisse in Travestie schildern ihn als Jüngling mit schöner Locken­pracht, als Greis, als Hofmohr, als Pferd oder als Dante Alighieri mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Wie Dante, der Latein auf der Seite liess und dem Italienisch des Volkes zu literarischem Rang verhalf, erwies auch Puschkin dem Volksrussischen diesen Dienst und verewigte sich als Spracherneuerer. Mit dieser Zeichnung wusste er seinen späteren Ruhm vorwegzunehmen. Er war jung und kühn, grossmäulig und impulsiv, setzte das Selbstbewusstsein seiner jungen Jahre immer zur Schau. Er wusste sich allerdings, vor allem in der Kon­ zentration am Schreibtisch, richtig einzuschätzen. Puschkin schrieb schön reinlich in seine grossen Arbeitshefte, strich aber auch viel durch. Die Zeichnungen waren ihm eine Denkhilfe beim Schreiben.

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Wo heut­zutage die Schriftsteller bei Inspirationspausen vor dem Laptop Gefahr laufen, im Internet wegzusurfen und von da nur sehr viel später zu ihrem Schreib­ programm zurückzukehren, gab es bei Puschkin die vermeintlich mindere Ver­ führung des aus dem Fenster Schauens – oder aber er blieb bei seinem Blatt und zeichnete. Puschkin zeichnete vorausgegangene Szenen nach, nahm mit den Skizzen Szenen vorweg oder zeichnete schlicht das, was ihn an dem Tag beschäf­ tigt hatte, womit seine Arbeitshefte oft auch den Charakter von intimen Tage­ büchern annahmen. Auch machte er mit seinen Selbstdarstellungen en travestie deutlich, dass er Kunst als Mimesis, mithin als Seelenerkundung und als Ein­ übung in die Empathie empfand. Eines seiner Bilder zeigt Puschkin zusammen mit seiner Figur Eugen One­ gin. Zwei Freunde mit Frack und Zylinder an der Newa in Sankt Petersburg. Onegin ist mit dem Rücken gezeichnet, an der steinernen Brüstung aufgestützt, ein wenig nach hinten geneigt, in lässiger Pose, er schaut auf den Fluss. Puschkin hingegen, dessen Gesicht mit der länglichen Nase frontal zu sehen ist, hat sich gerade umgedreht und macht einen Schritt auf den Freund zu, streckt die Arme nach ihm, scheint beherzt auf ihn einzureden. Wer bist Du, mein Freund, was treibt Dich um? Und wieso verhältst Du Dich so, wieso? Es ist ein Ringen des Autors mit seiner Figur, ein Leiden an dessen Fehlern. Ganze sieben Jahre lang hat Puschkin an dem Versepos Eugen Onegin ge­ schrieben, zwischen 1823 und 1830. In der vollständigen Fassung wurde das mit dem Gattungsnamen «Roman in Versen» versehene Werk erst drei Jahre später veröffentlicht. Puschkins grosse Arbeitshefte zeugen von einer obsessiven Beschäftigung mit der Figur Onegins. Seitenweise ist die Schrift durchgestrichen, jede Zeile einzeln. Wer ist Eugen Onegin? Wer kann er sein? Was treibt ihn um? Am Anfang schwebte Puschkin eine Don-Juan-Figur vor, nach dem Vorbild des romantischen Dichters Lord Byron, der damals in Mode war und den Pusch­ kin verehrte. Seine Verehrung für den englischen Poeten war so gross, dass er sich gerne als den «russischen Byron» bezeichnen liess und auch eine Affäre ein­ging mit einer verflossenen Liebschaft von Byron, der Griechin Calypso Polichroni. Eugen Onegin betritt also die Bühne als Frauenheld. Er ist ein Gentleman aus gutem Hause, mit einer Blasiertheit, die ihn vor der Kulisse einer russischen Familienidylle unter fröhlichen Gästen sofort zum Aussenseiter

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macht, zum Rebellen. Obwohl er in seinem Verhalten eine beträchtliche Kühle zutage legt, fällt ihm die junge Tatjana gleich auf, und er lobt sie vor seinem Freund Lenski. Ein Lob, das etwas verzwickt formuliert ist und auf einen inne­ ren Konflikt Onegins zwischen seiner wahren, leidenschaftlichen Natur und seinem Erscheinungsbild hinweist: Wäre er Lenski, sagt er zu diesem, würde er nicht Olga wählen, deren Äusseres auf keinerlei inneres Feuer schliessen lasse, sondern Olgas Schwester Tatjana. Die junge Tatjana aber, die unter anderem Lord Byron liest, verfällt sofort dem Charme Onegins. Der Byron-Experte Peter Cochran schreibt, dass ein Untertitel des Eugen Onegin-Versromans un­ bedingt «how reading Byron will ruin your life» hätte lauten müssen. Tatjana ist ein kühnes Mädchen, fern von ihr die Trägheit des Herzens, das einen in der Romantik auch befallen kann. Sie will handeln, die ganze Nacht über schreibt sie einen Brief an Eugen Onegin. Wie ihr Schöpfer Puschkin kämpft auch sie um die richtigen Worte, mit der Scham, enthüllt sich, sucht dabei Wahrhaftigkeit. Erschöpft, lässt sie in den ersten Morgenstunden den Brief Eugen Onegin zukommen. Am Rand der Aufzeichnung dieser Szene zeichnet Puschkin Tatjana stehend, mit offenem Haar, das Gesicht schamerfüllt zur Sei­ te gewandt, mit der linken Hand bedeckt. Das Nachthemd fällt in Falten, wie eine Toga, die rechte Brust ist unbedeckt. Onegin aber wird Tatjana abweisen, er wird sagen, er sei nicht für die Ehe gemacht und seine Gefühle würden rasch erkalten. Doch damit nicht genug: Onegin begleitet seinen Freund Lenski zu Tatjanas Namensfest und tanzt zu­ nächst mit ihr und dann, beleidigt vom Gerede der Gäste, mit Lenskis Olga. Lenski ist verletzt, die Freunde streiten sich, und der erhitzte Lenski verlangt Satisfaktion. Ein Duell soll die Sache regeln. Puschkin selber stürzte sich in zahlreiche Duelle – man staunt also über diese Selbstreflexion eines Unverbes­ serlichen. In der Vorahnung seines Todes besingt Lenski sein junges Leben und seine Sehnsüchte, eine umso berührendere Szene, als sie sich mit dem Leben seines Schöpfers deckt. Mit 37 Jahren focht Puschkin sein letztes Duell aus und starb qualvoll, zwei Tage später, an einem Bauchschuss. Aber unser Hauptheld, Onegin, will sich eigentlich nicht duellieren, schon auf dem Feld bereut er den Bruch mit dem Freund. Er lamentiert, aber dies

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natürlich abseits, für sich, denn nach aussen verhält er sich weiterhin kühl. Er folgt den Regeln des Duells – und streckt den Freund mit einem Schuss nieder. Es ist diese romantische Damnation des Helden, der dem Epos die Span­ nung verleiht; der Zwiespalt zwischen seinem Gefühl und dem, wie er glaubt, sich geben zu müssen. Dieses Thema ist heutzutage, in unserem Kulturkreis zu­mindest, in der Literatur seltener geworden. Im Unterschied zu Puschkins Männerfiguren haben seine Frauenfiguren den richtigen Instinkt und nehmen sich auch mehr Freiheiten, im Handlungs­ raum der Geschichten, zumindest. Sie reden offen und geradeheraus über die Zwänge und über ihre Wünsche, auch über Vergangenes, und verkörpern auf eine delikate, unaufdringliche Art das Natürliche im Menschlichen, sie versu­ chen erst gar nicht, sich zu verstellen. Eines von Puschkins Bildern im Manu­ skript zeigt Tatjana, verzweifelt auf einen Stuhl gesunken, den Fächer lau in den Händen haltend, als würde er gleich umfallen. Sie wurde von Onegins Taten schwer getroffen und gibt sich im Moment ihrer Traurigkeit hin. Ihre Füsse hingegen hält sie in graziler Pose. Puschkin hat übrigens in viele Manuskripte Frauenfüsschen gekritzelt, oft gekreuzt und in schmalen Ballettschuhen dargestellt. Er, der Begriffsübertra­ gungen über die Künste hinweg so schätzte, hat die Spitze des Ballettschuhs, die man französisch Pointe nennt, bei einigen seiner Werke ans Ende gesetzt – und damit eine textliche Pointe, ein überraschende Wendung, herbeigeführt. Auch hier wird es eine Frau sein, die die Pointe bereithält: Tatjana. Nach sechsjährigem Herumirren durch die Welt kehrt Onegin 26-jährig nach Sankt Petersburg zurück und besucht das Fest eines Fürsten. Dieser ist glücklich ver­ heiratet – mit der schönen Tatjana. Onegin erblickt sie und versteht, dass er leidenschaftlich in sie verliebt ist. Er trifft sie heimlich, und auch sie gesteht ihm, dass sich nichts an ihren Gefühlen geändert hat. Doch will sie ihrem Ehemann die Treue halten. Eugen Onegin ist am Boden zerstört. Reue? Und wie!

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Die schweizerisch-rumänische Schriftstellerin Dana Grigorcea lebt mit Mann und Kindern in Zürich. Für ihren Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» erhielt sie u.a. den 3sat-Preis. Im Frühjahr erscheint ihr dritter Roman.

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Er zog als Mensch mich lebhaft an, mit seinem Hang zum Phantasieren, den unnachahmlichen Manieren, dem unbeirrbar scharfen Geist. Ich war verbittert, er vereist. Uns beide hatte schon das Leben, der Leidenschaften Spiel genarrt, uns beiden war das Herz erstarrt; wir hatten Jugend hingegeben, und nur Fortunas blinden Hohn und unsrer Mitwelt Hass zum Lohn. Alexander Puschkin, ÂŤJewgeni OneginÂť

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JEWGENI ONEGIN PJOTR TSCHAIKOWSKI (1840-1893) Lyrische Szenen Libretto von Konstantin Schilowski und Pjotr Tschaikowski Nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin

Personen

Larina

Mezzosopran

Tatjana Olga

Sopran

Mezzosopran

Filippjewna

Alt

Jewgeni Onegin Lenski

Bariton

Tenor

Fürst Gremin

Bass

Ein Hauptmann Triquet Saretzki

Bariton

Tenor Bariton

Chor

Bauern und Bäuerinnen, Gutsbesitzer, Offiziere, Ballgäste Ort

ein russisches Landgut


1. AKT ERSTES BILD INTRODUKTION NR. 1  D UETT UND QUARTETT Das Theater stellt den Garten beim Gut der Larins dar. Links ist ein Haus mit Terrasse, rechts ein Baum mit ausladenden Zweigen, in einem Rundbeet Blumen. Im Hintergrund ein baufälliger, hölzerner Zaun, hinter dem man im dichten Grün eine Kirche und ein Dorf sieht. Es wird Abend. Larina sitzt unter dem Baum und kocht Marmelade ein, dem Gesang der Töchter lauschend. Filipjewna steht neben ihr und hilft ihr beim Kochen. Bei der zweiten Strophe des Duetts von Tatjana und Olga beginnen die beiden Alten ein Gespräch. Aus dem Haus hört man Gesang. Die Türen zur Terrasse sind geöffnet. TATJANA

«Habt ihr hinter dem Hain die nächtliche Stimme des Sängers der Liebe gehört, des Sängers seines Kummers? Als die Felder in der morgendlichen Stunde schwiegen, habt ihr da den traurigen und schlichten Klang der Schalmei gehört?» OLGA

«Habt ihr hinter dem Hain die nächtliche Stimme des Sängers der Liebe gehört, des Sängers seines Kummers? Als die Felder in der morgendlichen Stunde schwiegen, habt ihr da den traurigen und schlichten Klang der Schalmei gehört?»

OLGA

«Habt Ihr geseufzt, als Ihr die leise Stimme des Sängers der Liebe, des Sängers seines Kummers vernahmt? Habt Ihr geseufzt, als Ihr in den Wäldern den Jüngling saht und dem Blick seiner erloschenen Augen begegnet seid?» LARINA

Wie habe ich Richardson geliebt! NJANJA

Sie waren damals jung! LARINA

Nicht weil ich ihn gelesen hatte, doch erzählte mir damals die Fürstin Alina, meine Moskauer Cousine, ständig von ihm. NJANJA

Ja, ich erinnere mich! Zu jener Zeit war Ihr Gatte noch Bräutigam, aber Sie träumten damals notgedrungen von einem anderen, der Ihnen mit Herz und Verstand weit mehr gefiel. LARINA

Ach, Grandison, ach Richardson! – In der Tat war er ein bekannter Geck, ein Spieler und ein Sergeant der Garde. NJANJA

Längst vergangene Jahre! LARINA

Wie war ich immer angezogen!

LARINA

Sie singen. Auch ich sang in längst vergangenen Jahren, erinnerst du dich? Auch ich habe gesun­ gen!

Immer nach der Mode!

NJANJA

Immer nach der Mode und was mir stand!

Sie waren damals jung! TATJANA

«Habt Ihr geseufzt, als Ihr die leise Stimme des Sängers der Liebe, des Sängers seines Kummers vernahmt? Habt Ihr geseufzt, als Ihr in den Wäldern den Jüngling saht und dem Blick seiner erloschenen Augen begegnet seid?»

NJANJA

LARINA

NJANJA

Immer nach der Mode und was Ihnen stand! LARINA

Doch plötzlich, ohne mich zu fragen... NJANJA

...wurden Sie getraut, danach, um den Kummer zu vertreiben, fuhr der gnädige Herr bald hierher.


Programmheft JEWGENI ONEGIN Oper von Pjotr Tschaikowski (1840-1893) Lyrische Szenen Libretto von Konstantin Schilowski und Pjotr Tschaikowski Nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin Premiere am 24. September 2017, Spielzeit 2017/18

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Zusammenstellung, Redaktion

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Textnachweise: Handlung: Simon Berger/Beate Breidenbach. Die Gespräche mit Barrie Kosky und Stanislav Kochanovsky sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Marcel Proust, Vom Geschmack der Erinnerung, in: ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Stuttgart 2013. Den Brief von Pjotr Tschaikowski entnahmen wir dem Band Eugen Onegin. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg 1985. Die Texte von Anselm Gerhard und Dana Grigorcea sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Puschkin-Zitate entnahmen wir dem Band Eugen Onegin/ Evgenij Onegin, Zweisprachige Ausgabe, Bremen 2012. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavier­ hauptprobe am 13. September 2017. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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