Parsifal

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PARSIFAL

R ICHAR D WAGNER


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PARSIFAL RICHARD WAGNER (1813–1883)





HANDLUNG Erster Aufzug Auf Montsalvat ist die einstmals stolz für ihren Glauben kämpfende und von diesem getragene Gemeinschaft zerrüttet. Ihr Anführer Amfortas wurde schwer verwundet, aber nur er ist in der Lage, den in der Burg bewachten heiligen Gral zu enthüllen und damit das darin aufbewahrte Blut zur Stärkung aller zu erneuern. Alle Bemühungen, ein Mittel zu finden, das ihn heilt, sind bisher fehl­geschlagen. Gurnemanz, der schon unter Amfortas’ Vater Titurel der Ge­ mein­schaft diente, versucht die alte Ordnung aufrecht zu erhalten und fordert die überlieferten Rituale ein. Die morgendliche Routine wird unterbrochen durch die Ankunft einer rätselhaften Frau, die Gurnemanz einen Balsam überreicht, der für Amfortas bestimmt ist. Dieser kommt, von Schmerzen gepeinigt, um sein tägliches Bad zu nehmen. Ihm wie auch den älteren Bewohnern von Montsalvat ist die Frau unter dem Namen Kundry bekannt, die von Zeit zu Zeit erscheint, um ihre Hilfe anzubieten. Amfortas verspricht, den Balsam zu probieren, auch wenn er weiss, dass ihm nur eines helfen kann: Sein Amt einem anderen zu übergeben. Vor langer Zeit schon wurde ihm verhiessen, dass ein durch Mitleid wissender, reiner Tor ihn erlösen werde. Gurnemanz erzählt den erst jüngst in die Gemeinschaft Aufgenommenen, was es mit Amfortas und seinem Leiden auf sich hat. Von seinem Vater Titurel wurde ihm neben dem Gral auch der heilige Speer anvertraut, somit die beiden höchsten Reliquien ihres Glaubens, dem nur der angehören darf, der sich Keusch­heit bewahrt. Ein fanatischer Gegner wuchs der Gemeinschaft in Kling­ sor heran, der – nachdem er sich selbst entmannt hatte, um das Keuschheitsgelüb­ de wahren zu können – von Titurel verstossen worden war. Seither setzt er alles daran, die Gefolgsleute von Amfortas zu vernichten, indem er sie von ihm willig dienenden Mädchen verführen lässt, so dass sie der Gralsgemeinschaft ver­loren sind. Um seinem Tun Einhalt zu gebieten, zog Amfortas gegen Kling­sor mit

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dem heiligen Speer in den Krieg, jedoch erlag auch er der Verführung einer Frau. Klingsor entwendete ihm den Speer und fügte ihm jene Wunde zu, die nur mit dem Speer selbst wieder zu schliessen ist.

Zweiter Aufzug Klingsor ahnt die Gefahr, die von dem bis nach Montsalvat gelangten Toren ausgeht. Er ruft Kundry zu Hilfe, die dazu verdammt ist, unerlöst durch die Welt zu irren, bis ein Mann ihr widerstehen kann. Sie war es, die Amfortas sein Keuschheitsgelübde vergessen liess, nun soll sie auch den von Gurnemanz ver­ jagten Toren, der – von der Welt ferngehalten – auch deren sinnlichen Ver­ lockun­gen bisher widerstand, zu Fall bringen. Freudig begrüsst von Klingsors Mädchen, deren jedes den Unbekannten für sich gewinnen will, bleibt dieser ungerührt, doch als Kundry ihn mit seinem Namen – Parsifal – anspricht, ihm von seiner Vergangenheit erzählt, wird er aufmerksam. Mit dem Vorwand, ihm einen letzten Kuss seiner Mutter überbringen zu wollen, lockt sie ihn in ihre Arme. Doch der Kuss weckt Parsifals Sinne. Jäh begreift er das Leiden des Am­ for­tas. Er stösst Kundry zurück und bittet sie, ihm den Weg zurück zu Amfor­tas zu weisen. Rasend vor Zorn über Parsifals Zurückweisung verflucht ihn Kundry: Nie solle er Montsalvat wieder finden. Der von ihr zu Hilfe gerufene Klingsor versucht den heiligen Speer gegen Parsifal zu schleudern, doch dieser gewinnt sich die Waffe und verlässt Kundry mit den Worten: Du weisst, wo du mich wie­derfinden kannst.

Dritter Aufzug Gurnemanz klammert sich noch immer an die Hoffnung, dass die von Titurel ge­gründete Gralsgemeinschaft einen würdigen Nachfolger finden möge, obwohl alles um ihn in vielen Jahren des Wartens zusammengebrochen ist. Kundry, die plötzlich wieder unvermutet auftaucht und ihm völlig verändert scheint, lässt ihn an vergangene Zeiten denken. Eine dunkel vermummte Gestalt nähert sich, die ihn weder grüsst noch be­achtet. Ungehalten fordert Gurnemanz den Fremden auf, Mantel und Waffen

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abzulegen, so sei es Brauch am Karfreitag, der heute begangen werde. Als dieser der Aufforderung nachkommt, erkennt Gurnemanz in ihm den Toren wieder, der jetzt den heiligen Speer mit sich führt. Nach Jahren des Umherirrens hat Parsifal endlich sein Ziel erreicht. Gurnemanz begrüsst ihn als Retter und Er­ löser, denn über der Gralsburg liegt tiefes Leid: Amfortas verwehrt die Enthül­ lung des Grals, um seinen Tod zu erzwingen; Titurel ist bereits gestorben. In Selbstanklagen bricht Parsifal zusammen, doch Gurnemanz salbt ihn zum neu­ en König. Parsifals erste Handlung ist die Taufe Kundrys, dann führt Gurne­ manz ihn zu Amfortas, der anlässlich der Totenfeier für Titurel noch einmal den Gral enthüllen soll. Doch Amfortas weigert sich und verlangt danach, getötet zu werden. Da berührt Parsifal mit dem Speer seine Wunde, die sich endlich schliesst, und enthüllt den Gral.

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Matti Salminen Spielzeit 2010 / 1 1


«GENIESTREICH DER VERFÜHRUNG» Ronny Dietrich

«Anfortas, der Hüter des Grals, siecht an einer unheilbaren Speerwunde, die er in einem geheimnisvollen Liebesabenteuer empfangen. Titurel, der ursprüngli­ ­che Gewinner des Grales, sein Vater, hat im höchsten Alter dem Sohne sein Amt, somit die Herrschaft über die Gralsburg Monsalvat übergeben. Er muss dem Amte vorstehen, trotzdem er sich durch den begangenen Fehltritt dessen un­ würdig fühlt, bis ein Würdigerer erscheint, es ihm abzunehmen. Wer wird dieser Würdigere sein? Woher wird er kommen? Woran wird man ihn erkennen? – » Mit diesen Worten beginnt der Parsifal-Prosa-Entwurf, den Richard Wag­ ­ner Ende August 1865 für König Ludwig II. verfasste, doch seine Beschäf­ti­gung mit diesem Stoff nahm bereits 20 Jahre früher ihren Anfang, als der Komponist während eines Kuraufenthaltes in Marienbad den Parzival von Wolf­ram von Eschen­bach gelesen hatte und dadurch mit der Geschichte vom heiligen Gral be­kannt geworden war. Als erstes Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Gralsthematik entstand der Lohengrin. In seiner Autobiografie Mein Leben berichtet Wagner in Erinnerung an das Frühjahr 1857, als er mit seiner Frau Minna das Zürcher «Asyl» bei der Villa Wesendonck bezog, von einer neuerlichen Annäherung an den ParsifalStoff: «Nun brach auch schönes Frühlings­wetter herein; am Karfreitag erwach­ te ich zum ersten Male in diesem Hause bei vollem Sonnenschein; das Gärtchen war ergrünt, die Vögel sangen, und endlich konnte ich mich auf die Zinne des Häuschens setzen, um der langersehnten verheissungsvollen Stille mich zu er­ freuen. Hievon erfüllt, sagte ich bedeutungsvoll, dass heut ja Karfreitag sei, und entsann mich, wie bedeutungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolf­ rams Parzifal aufgefallen war. Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die Meistersinger und Lohengrin konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit jenem

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Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein idealer Gehalt in überwältigender Form an mich heran, und von dem Karfreitags-Gedanken aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte geteilt, sofort mit wenigen Zügen flüchtig skizzierte.» Allerdings gestand Wagner viele Jahre später seiner Cosi­ ma ein, diese Erinnerung sei «bei den Haaren herbeigezogen wie meine Lieb­ schaf­ten, denn es war kein Karfreitag, nichts, nur eine hübsche Stimmung in der Natur, von welcher ich mir sagte: So müsste es sein am Karfreitag». Zwar ist das erwähnte skizzierte Drama nicht erhalten, doch belegen zahl­ reiche Briefäusserungen Wagners an Mathilde Wesendonck, dass ihn der Ge­ dan­ke an eine Parsifal-Dichtung nicht mehr losliess, wobei er sich von Anfang an von Wolfram von Eschenbachs Epos distanzierte, denn dieser habe «von dem eigentlichen Inhalte rein gar nichts verstanden». Wesentlicher als dessen An­ einanderreihung von «Abenteuer an Abenteuer» erschien ihm die Verbindung des Grales – bei Wolfram ein «kostbarer Stein» – mit der Leidensgeschich­te von Jesus, wie sie Robert de Boron um 1300 in einer Dichtung um Joseph von Arimathia niedergelegt hatte. Dieser zufolge warf man Joseph unter der Ankla­ ge, den Leichnam Jesu gestohlen zu haben, in den Kerker, in dem ihm Jesus erschien und ihm jenen Kelch übergab, aus dem er beim letzten Abendmahl getrunken und der später sein Blut aufgefangen hat. Dank dieses als Gral be­ zeich­neten Kelches überlebte Joseph die Zeit bis zu seiner Befreiung durch die Römer, um dann die Gralsgemeinschaft zu gründen. Wagner an Mathilde Wesendonck: «Wen schauert es nicht von den rüh­ rendsten und erhabensten Gefühlen, davon zu hören, dass jene Trinkschale, aus der der Heiland seinen Jüngern den letzten Abschied zutrank, und in der endlich das unvertilgbare Blut des Erlösers selbst aufgefangen und aufbewahrt ward, vorhanden sei, und wem es beschieden, dem Reinen, der könne es selbst schauen und anbeten. Wie unvergleichlich! Und dann die doppelte Bedeutung des einen Gefässes, als Kelch auch beim heiligen Abendmahl, offenbar dem schöns­ten Sakrament des christlichen Kultus! Daher denn auch die Sage, dass der Gral (Sang Réal) (daraus San(ct) Gral) die fromme Ritterschaft einzig er­ nähre, und zu den Mahlzeiten er Speis und Trank gewähre.» Bei allem Enthusiasmus aber wird Wagner immer wieder von Zweifeln ein­ geholt, zudem arbeitet er in dieser Zeit an Tristan und Isolde, ein Werk, das mit

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seiner Verklärung der sinnlich-erotischen Liebe gleichsam einen Gegenentwurf zum Lob der Askese in Parsifal darstellt, zugleich aber liegt beiden Werken Schopenhauers Philosophie der Weltverneinung zugrunde. So kommt es im­ mer wieder zu gedanklichen Überschneidungen. Im oben zitierten Brief vom 30. Mai 1859 an Mathilde heisst es: «Dieser letzte Akt des Tristan ist nun eine wahres Wechselfieber: tiefstes, unerhörtestes Leiden und Schmachten, und dann unmittelbar unerhörtester Jubel und Jauchzen. Weiss Gott, so ernst hat’s noch Keiner mit der Sache genommen… Das hat mich auch allerneuestens wieder gegen den Parzifal gestimmt. Es ging mir kürzlich nämlich wieder auf, dass dies wieder eine grundböse Arbeit werden müsse. Genau betrachtet ist Amfortas der Mittelpunkt und Hauptgegenstand. Es ist denn nun aber keine üble Geschichte das. Denken Sie um Himmels willen, was da los ist! Mir wurde das plözlich schrecklich klar: es ist mein Tristan des dritten Aktes mit einer un­ denklichen Steigerung. Die Speerwunde und wohl noch eine andre – im Her­ zen, kennt der Arme in seinen fürchterlichen Schmerzen keine andere Sehn­ sucht als die, zu sterben.» Mit der Erkenntnis, dass die Figur des Amfortas von «ungeheuer tragi­ schem Interesse» ist, stand Wagner wiederum vor der Schwierigkeit, neben diesem seine Hauptfigur Parsifal nicht verblassen zu lassen. Schliesslich war es die einzige weibliche Figur seines Parsifal-Entwurfes, die ihn – wie den Titel­ helden im zweiten Aufzug – «hellsichtig» werden liess: «Sagte ich Ihnen schon einmal, dass die fabelhafte Gralsbotin ein und dasselbe Wesen mit dem verfüh­ rerischen Weibe des zweiten Aktes sein soll? Seitdem mir dies aufgegangen, ist mir fast alles an diesem Stoffe klar geworden. Dies wunderbare grauenhafte Geschöpf, welches den Gralsrittern mit unermüdlichem Eifer sklavenhaft dient, die unerhörtesten Aufträge vollzieht, in einem Winkel liegt, und nur harrt, bis sie etwas Ungemeines, Mühevolles zu verrichten hat, – verschwindet zu Zeiten ganz, man weiss nicht wie und wohin? – dann plötzlich trifft man sie einmal wieder, furchtbar erschöpft, elend, bleich und grauenhaft: aber von Neuem unermüdlich, wie eine Hündin dem heiligen Grale dienend, vor dessen Rittern sie eine heimliche Verachtung blicken lässt: ihr Auge scheint immer den rechten zu suchen, – sie täuschte sich schon – fand ihn aber nicht. Aber was sie sucht, das weiss sie eben nicht: es ist nur Instinkt.»

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Forscht man in Kundrys von Wagner nur angedeuteten Vergangenheit, so kann man sie interpretieren als Inkarnation des Weiblichen, geboren dazu, sich gegen die zunehmend von Männern dominierte Welt zu wehren und sie mit ihrer Sinn­lichkeit der Ohnmacht zu überführen. Wagners Gespür für die Abgründe der menschlichen Psyche lässt Kundry im Parsifal den Fluch auferlegen, ent­ weder ihre weibliche Leidenschaftlichkeit – nun zum Verderben der Männer – auszuleben oder einer Erlösung teilhaftig zu werden, die sie sich selbst entfrem­ den wird. Eine intensivere Studie zwischen Mann und Frau als jener im zweiten Aufzug, in der Kundry Parsifal zu verführen sucht, ist kaum denkbar. Für das Team Claus Guth und Christian Schmidt bildet die Inszenierung von Richard Wagners Parsifal den vorläufigen Abschluss einer fast 10-jährigen Beschäftigung mit dessen Werken, in denen sie – angefangen vom «Liebesver­ bot» (und mit Ausnahme des Lohengrin) – seine Werke zuletzt fast in chronolo­ gischer Reihenfolge auf die Bühne brachten. Die zuletzt beim Ring gemachten Erfahrungen mit Wagners Gedankenwelt, seinem Bemühen, die Welt zu be­grei­ fen und zu verändern, liess sie den gewaltigen Sprung hautnah spürbar werden, der den Parsifal von den übrigen Werken trennt. Nicht nur musikalisch, sondern – wesentlich geprägt von des Komponisten intensive Auseinandersetzung mit Schopenhauers Schriften und deren persönli­ cher Aneignung – auch philosophisch. Wagners in jedem seiner Werke themati­ sierte Gesellschaftskritik, zunächst festgemacht an der Diskrepanz zwischen Kunst und Leben, und seinem schliesslichen Appell der Notwendigkeit einer politischen Bewusstseinsveränderung im Ring des Nibelungen, weicht im Parsifal einem neuen Gedanken: Ohne die Bereitschaft jedes Einzelnen, sich des Menschseins als höchste geschaffene Kreatur bewusst zu werden und Verant­ wortung zu tragen jenseits aller gesellschaftlichen Vereinbarungen, wird die Welt nicht zu retten sein. Mitleiden ist die Fähigkeit, die dem Menschen beige­ geben wurde und derer er sich wieder erinnern muss. Vorgeführt wird dieser Prozess in Wagners Bühnenweihfestspiel an der Titelfigur, die durch alle Entwicklungsstadien des Menschseins geführt wird. Als eine Art Kaspar Hauser in seiner Jugend fern der Zivilisation aufgewachsen, wird er mit seinem Entschluss, die Mutter zu verlassen, als quasi unbeschriebe­ nes Blatt in eine Welt hineingeworfen, die voller rätselhafter Begegnungen für

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ihn ist und ihn komplett überfordern. Zwar gelingt es Gurnemanz am konkre­ ten Beispiel des von Parsifal getöteten Schwans ihm ein erstes Bewusstsein von Schuld begreifbar zu machen, doch was ihm im ersten Aufzug mit der Grals­ enthüllung durch den an einer blutenden Wunde leidenden Amfortas weiterhin zugemutet wird, bleibt zunächst ohne Einfluss auf seine Persönlichkeit. Sein Erwachen zu eigenem Bewusstsein erfolgt erst in jenem Moment, in dem ihn Kundry bei seinem Namen nennt und damit den Prozess seiner Individuation in Gang setzt. Muriel Barbery beschreibt in ihrem 2008 erschienenen Roman Die Eleganz des Igels die Bedeutung dieses Moments: «Die Offenbarung fand statt, als ich mit fünf Jahren zum ersten Mal zur Schule ging und die Überra­ schung und den Schrecken erlebte, eine Stimme zu hören, die sich an mich rich­tete und meinen Namen aussprach. Ich hob den Kopf in einer ungewohn­ ten Bewegung, die mich fast schwindlig machte, und begegnete einem Blick. Eine Frau, deren helle Augen und lächelnden Mund ich jetzt betrachtete, bahnte sich einen Weg zu meinem Herzen, und indem sie meinen Namen aus­ sprach, trat sie in eine Nähe zu mir, die ich mir bis dahin nicht einmal hätte vorstellen können. Ich schaute um mich herum auf eine Welt, die plötzlich in Farben getaucht war.» War Parsifal bis zu diesem Punkt der Handlung in seiner Naivität und Un­ wissenheit eine ideale Projektionsfläche für jene, die ihm begegneten, so be­ ginnt nun seine Wandlung zu einem sich seiner Verantwortung bewussten Menschen, der aber durch die Aufarbeitung der im Unterbewusstsein erlebten traumatischen Ereignisse geprägt und dadurch determiniert ist, die ihm von allem Anfang an mit an Fanatismus grenzender Unbedingheit abgeforderte Auf­gabe als Heilsbringer und Erlöser erfüllen zu müssen. Die übergrosse Sehnsucht, mit der alle Beteiligten in Wagners letztem Werk Parsifal als Retter aus einer ausweglosen Situation herbeisehnen, erinnert an die Rezeptionsgeschichte des Werkes selbst. Nach Ablauf der Aufführungs­ sperre durch Bayreuth und den ersten legalen Aufführungen, zunächst in Zü­ rich am 13. April 1913, dann in Barcelona am 31. Dezember 1913, erfolgte eine un­über­schaubare Flut von Inszenierungen, die die religiöse Sehnsucht einer Welt einfängt, die an einer Zeitenwende stand. Das Leitungsteam beschäf­ tigt in seiner szenischen Umsetzung diese frappierende Parallelität zwischen der

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in Wagners Bühnenweihfestspiel vorgeführten Sehnsucht nach einer Er­löser­ figur und der Flut von Parsifal-Inszenierungen im Jahre 1914, das mit dem Aus­bruch des Ersten Weltkriegs und der sich daran anschliessenden Zeit der Orientierungslosigkeit und Sinnsuche die Problematik der Gemeinschaft der Gralsritter widerspiegelt und in der Einsetzung einer neuen Leitfigur ein zu hinter­fragendes Ende nahm. Die Parallelität des Ausbruchs des Parsifal-Fiebers und der fast zeitglei­ chen des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 kann man zwar nicht anders als zufällig bezeichnen, doch spiegeln sich in beiden Ereignissen «Denkhaltungen wider, die in ihrer Ähnlichkeit, ja weitgehenden Identität, frappieren», wie Nora Eckert in ihrer brillanten Studie Parsifal 1914 analysiert. Es ist eine Pa­ ral­le­lität, der Claus Guth in seiner Inszenierung nachspüren möchte, da sie die gerne nur als mystisch rezipierten Vorgänge erdet. Der Beginn der Handlung ist daher im Jahre 1914 angesiedelt, führt im 2. Aufzug in die Aufbaujahre nach dem Ersten Weltkrieg, um im letzten Aufzug dann die Geschehnisse, die zur Machtergreifung führten, zu reflektieren. Die Übergänge in diesem Zeitraum, bestimmt von einer epochalen Mentalität, sind fliessend – von den Erlöser­fan­ ta­sien vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hin zu dem Ruf nach einer Iden­ti­fi­ kationsgestalt in den Nachkriegswirren, die für eine bessere Zukunft garantiert, sind nur graduell, nicht prinzipiell. So bewahrt auch der Bühnenraum seine Identität – «zum Raum wird hier die Zeit» – und präsentiert sich als Ar­chi­­tek­tur mit Skulpturcharakter oder umgekehrt, deren Räume zwar jeweils neu definier­ bar oder atmosphärisch aufladbar sind, die aber an der unabding­baren Wieder­ kehr geschichtlicher Verläufe keine Zweifel aufkommen lassen. Die schon fast hysterisch zu nennende Sucht, Wagners Erlösungsverspre­ chen teilhaftig werden zu wollen, reflektierte im Jahr 1914 auch Thomas Mann während der Arbeit an seinem Roman Der Zauberberg. Eine ebenso geschlosse­ ne Gesellschaft wie die der Gralsritter, die abhängig ist von der Stärkung durch den Gral, delektiert sich hier an Wagners Musik, entschlossen, sich in eine rea­ li­­tätsferne Welt zu katapultieren, die erst der Ausbruch des Krieges in neue Bahnen lenkt. Zu den angesprochenen Ebenen gesellt sich für Claus Guth zudem die von ihm in allen seinen Inszenierungen immer wieder gestellte Frage nach dem

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auch im Parsifal latent durchgeführten archaischen Muster des klassischen Familienkonflikts. Waren in einer frühen Version des Stoffes Amfortas und Klingsor als Wolkendämonen Brüder, so finden sich auch in Wagners Parsifal Hinweise darauf, dass hinter den als Gegensatzpaar postulierten Kotrahenten andere Rivalitäten lauern. Beide haben sich eines Tabu-Bruches schuldig ge­ macht. Gleichsam über Kreuz muss der, der sich nach sinnlicher Liebe sehnt, qua seines Amtes sie verneinen, und der, der sie in sich abtötete, um dieses Amt zu erlangen, sie bejahen – beide in Abhängigkeit von der Vaterfigur des Titurel. Auch dies eine spannende und zu hinterfragende Konstellation.

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Thomas Hampson Spielzeit 2010 / 1 1


Boguslaw Bidzinski, Andreas Winkler, Yvonne Naef Spielzeit 2010 / 1 1


DIE MÖGLICHKEIT DER KLAGE IN DER WONNE Egon Voss

So unwiderlegbar Parsifal Richard Wagners letztes Werk ist, geschrieben am Ende eines Lebens, das fast siebzig Jahre währte, so problematisch-klischeehaft ist es, diesem Werk die Charakteristika eines Altersstils zu unterstellen, etwa mit Zügen des Asketisch-Reduzierten oder neuer, geläuterter Einfachheit. Ador­ nos Behauptung beispielsweise, die Zahl der musikalischen Motive sei «geringer als in den anderen Werken der reifen Zeit», ist eine Übertreibung, wenn nicht falsch. Zum einen lässt die Eigenart von Wagners Umgang mit Motiven gar keine eindeutige Definition dessen zu, was als Motiv gelten kann und was nicht; und zum anderen lehrt ein Blick auf die früher so beliebten Motivtafeln in Kla­ vierauszügen und Textbüchern, dass findige Motivjäger auch im Parsifal nicht weniger Motive fanden als in den Meistersingern oder im Tristan. Das Zurück­ genommene der Parsifal-Musik, das wie abgeklärte Einfachheit aussieht, ihre über weite Strecken aller Wagnerschen Üppigkeit wie abhold anmutende Karg­ heit täuschen. Die Parsifal-Musik ist von ausgesucht-raffinierter Sinnlichkeit und sie ist nichts weniger als einfach, eine Aussage, die sich nicht allein auf die äussere Struktur bezieht, sondern gleichermassen, wenn nicht noch stärker auf ihren inneren Gehalt, auf Charakter und Ausdruck, Sinn und Bedeutung. Wenn man Wagners Kunst die der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit genannt hat, dann ist Parsifal deren höchste Erscheinungsform. Hier erscheint alles mit allem ver­ knüpft, der «Beziehungszauber» (Thomas Mann) ins Extrem geführt und da­ mit in eine Rätselhaftigkeit überführt, die von äusserster Komplexität ist, schier unauflösbar – und gerade darum zu zahllosen Lösungen fähig. Man nehme allein die enigmatischen Generalpausen, die zwar auch einen strukturellen Sinn haben, darin aber nicht aufgehen. Die motivischen Beziehungen zwischen der Musik Kundrys und jener Herzeleides haben Kurt Overhoff vermuten lassen,

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auch Herzeleide sei eine Inkarnation Kundrys. Und was bedeutet es, dass beim Öffnen von Titurels Sarg im 3. Akt ausgerechnet die abstürzende Figur aus dem Kundry-Motiv erklingt? Die Reihe der Beispiele lässt sich beliebig fortsetzen. Stets erhält dem äusseren Schein nach Nichtzusammengehöriges eine Verbin­ dung, oftmals paradox anmutend, entsprechend Wagners gerade an der Par­si­ fal-­­Musik entwickeltem Wort von der «Möglichkeit der Klage in der Wonne» (Richard Wagner, zitiert von Cosima Wagner in Die Tagebücher). Das wohl bemerkenswerteste Kennzeichen der Parsifal-Musik ist ihre von der Tradition oder – vorsichtiger ausgedrückt – vom Üblichen abweichende mu­sikalische Dramaturgie, deren wichtigstes Material das veränderte Verhältnis zur Zeit ist. Das zeigt sich vor allem am Bewegungsduktus der Musik, der lang­ sam ist, Langsamkeit suggeriert. Adorno sprach sehr richtig davon, dass die Musik im Parsifal meist auf das für Wagner sonst so charakteristische «Mo­ ment des in Schwung Kommens» verzichte. Sie vermeidet aber nicht nur die energisch-­elanvoll vorantreibende Bewegung – den Zug voran – und den daran geknüpften grossen dynamischen Bogen – so als sei das unbekümmerte Voran­ gehen, das doch im Wesen der Musik zu liegen scheint, ein Tabu –, sondern sie schaltet meist sogar auch den bloss kontinuierlichen Fluss aus, als komme die Musik immer wieder zum Stillstand oder verlasse den Zustand der Bewegungs­ losigkeit gar nicht. Die Verfahrensweisen, mit denen sie das erreicht, sind viel­ fältig. Besonders ins Auge fallen die zahlreichen Pausen, die die Bewegung hem­men oder unterbrechen. Besonders ganztaktige General­pausen, gesetzt an Stellen, an denen man sie vor allem dramaturgisch nicht erwartet (wie etwa beim ersten Auftritt von Amfortas nach Ohn’ Urlaub!), wecken den Eindruck, als müsse die Musik sich immer wieder auf sich selbst besinnen. Jedenfalls han­ delt es sich bei den langen Pausen nicht um Momente des blossen Schweigens, die Wagner – wie Titurels Anrede an Amfortas im 1. Akt deutlich zeigt – viel­ mehr auszukomponieren pflegt. Gleichfalls den Eindruck des Stillstands der Bewegung vermitteln Fermaten, die Töne und Klänge ungemessen verlängern, ein Eindruck, der freilich meist schon dadurch zustande kommt, dass viele Töne und Klänge ohnehin von langer Dauer sind. In ähnlicher Weise wirkt die immer wieder zu beobachtende Tendenz zur Aufhebung oder zumindest Ver­ schleierung des Metrums durch synkopische Notationen. Das beste Beispiel

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dafür bietet der Anfang des Vorspiels mit dem einstimmig vorgetragenen Abend­mahl-Motiv. Es wäre völlig verfehlt, die notierten Synkopen als solche zu spielen; denn damit entstünde ein Zeitverlauf, der in zählbaren metrischen Einheiten erfassbar wäre. Ein solcher ist nicht gemeint. Auch hier geht es darum, eine andere, ratio­ nal weniger greifbare Form von Zeit und Bewegung zu vermitteln, die Zeit, wie wir sie gewöhnlich erleben, aufzuheben. Ein drittes wesentliches Mittel, das in diese Richtung zielt, sind Klangflächen, in sich bewegte oder gar kreisen­ de Klän­ge, wie in Amfortas’ Waldesmorgenpracht-Musik, und Ostinati wie das Glocken-Motiv und seine Handhabung. Die ständig gleiche Bewegung hebt am Ende die Bewegung auf; es entsteht das Paradox einer unbewegten Unbe­ wegt­heit oder bewegungslose Bewegung. Zu den rhythmischen Verfahrensweisen, die dem Zeitfluss und dem «In Schwung Kommen» entgegenwirken, gesellen sich die harmonischen. Der Ein­ druck des Voranschreitens oder gar Vorantreibens der Musik wird ja, insbeson­ dere bei Wagner, durch eine Harmonik geweckt, die Spannungen erzeugt, auf deren Lösung der Hörer wartet. Im Parsifal wird dieser kausal-logische oder dramatisch-dramaturgisch-konsequente Zusammenhang, der das Nacheinander der Ereignisse hervorhebt, häufig in ein gleichsam neutrales Nebeneinander verwandelt. Wagner erzielt diese Wirkung vor allem durch das Vermeiden do­ minantischer Verbindungen, die im Sinne traditionellen Kadenzierens und Mo­du­lie­rens logisch und dynamisch-vorangehend erscheinen. An die Stelle dessen setzt er mit Vorliebe subdominantische Folgen. Sie prägen Motive wie das Gral- und das Glaubens-Motiv, Motivsequenzen – siehe den Schlusschor – und Schlusswendungen. Vielfach werden auch entfernte Tonarten unvermittelt-­ übergangslos nebeneinander gestellt, oder es wird anstelle von Modulationen mit Rückungen gearbeitet wie in der Verwandlungsmusik des 1. Aktes. Beson­ ders im 3. Akt treten zudem noch Folgen reiner Dreiklänge in Grundstellung auf, deren archaisierender Effekt in die gleiche Richtung zielt. Das gleichsam unverbundene Nebeneinander der Akkorde weckt die Assoziation des Raums und lässt sich in Analogie setzen zu Gurnemanz’ berühmten Wort «zum Raum wird hier die Zeit». Es geht im Parsifal, wie die Musik es darstellt, nicht um das traditionell lineare Erzählen einer Geschichte, so sehr das Textbuch diesen Ein­

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druck, zumindest äusserlich, auch vermitteln mag. Man bedenke jedoch: Die Personen der Handlung stehen sämtlich ausserhalb der menschengewohnten Zeitlichkeit; Endlichkeit, wie sie sich im Tod manifestiert, tritt lediglich als Aus­nahme, als Abweichung von der Norm in Erscheinung; und Kundry, die weib­li­che Hauptperson, vor allem aber der Stachel im Fleisch der Gralswelt, ist gar ein Wesen, das expressis verbis Jahrtausende durchlebt hat, in immer neuen Gestalten, identisch im Nichtidentischen und jenseits von Ort und Zeit. Kau­ salität und Diskursivität gelten da nicht oder nur sehr eingeschränkt; es sind die nichtrationalen oder gar irrationalen Züge der Geschichte, die den Komponis­ ten interessieren und zu deren Anwalt er die Musik macht. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Wagnerschen Parsifal, so könnte man die Hypothese wagen, Wagner habe die Musik des Werks von der Musik der Blumenmädchen her konzipiert und entwickelt. Am 9. Februar 1876, also fast ein Jahr vor Beginn der Arbeit am Parsifal, notierte Wagner – völlig unabhängig vom Parsifal und daher auch noch ohne allen Text – Melo­ die und Satz des späteren Komm! Holder Knabe!, das er – und das erscheint besonders bemerkenswert – schon eine Woche später dem Parsifal und zwar den Blumen­mädchen zuordnete. Dass diese Musik in der Tat eine Keimzelle war, wird zum einen daran ersichtlich, dass ihre Tonart As-Dur ist, die Tonart nicht nur des gesamten Werkes, in der es nämlich beginnt und schliesst, son­ dern auch die Ton­art der Gralswelt, die Tonart der drei zetnralen Gralsmotive: Abendmahl-, Gral- und Glaubens-Motiv. Damit aber nicht genug: Das Komm! Holder Knabe! enthält auch den aufsteigenden Sekundgang von der Quinte zur Oktave in parallelen Sexten aus dem Dresdner Amen, das konstitutiv ist für das Gral-Motiv. In diesen Zusammenhängen deutet sich an, was über das Komm! Holder Knabe! hinaus durchgeführt ist, dass nämlich Grals- und Klingsorwelt, vom Sujet und Textbuch her Gegenwelten, musikalisch sehr nahe beieinander lie­ gen, um nicht zu sagen, identisch sind. Die Blumenmädchenszene beginnt im Orchester mit dem aufsteigenden Dreiklang mit anschliessender Sexte, als hebe eine Variation des Abendmahl-Motivs an; vor allem erfolgt anschliessend eine Sequenz von der Terz aus, ganz wie beim Abendmahl-Motiv, das ja gleichfalls zuerst von as, dann von c aus erklingt. Des weiteren verliert die vom as’’ zum

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es’’ sich senkende Melodie der ersten Soloblume das Glaubensmotiv, und das Was zankest du... schliesslich ist abgeleitet vom ersten Orchesterzwischenspiel des Chors Zum letzten Liebesmahle aus dem 1. Akt. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass der für das Motiv Kundrys konstitutive Akkord – im Kern lesbar als Molldreiklang mit grosser Sexte, die meist im Bass liegt – in zahlreichen Wendungen auftritt, die die Gralswelt be­ treffen, die vermeintlich intakte Welt des Heils. Der allein schon durch das Sujet gegebene Bezug zum Lohengrin, exemplarisch vorgeführt im unüberhörbaren Zitat des Schwan-Motivs, ruft den Gedanken an das A-Dur des Grals dort he­ rauf. Es hat den Anschein, als sei auch im Parsifal A-Dur die allerdings nur heimliche, verborgene Gralstonart, das gesamte Stück hindurch beinahe ängst­ lich gemieden und nur ein einziges Mal auftretend, nämlich unmittelbar, bevor Gurnemanz die vom Gral gegebene Prophezeiung über die Erlösung des Am­ fortas, den Torenspruch, preisgibt. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens erscheint As-Dur, die Gralstonart im Parsifal, als getrübtes, eingedunkeltes, vom Eigentlichen abgelenktes A-Dur, Indiz dafür, dass die Gralswelt im Parsifal nicht mehr so heil und makellos ist wie im «Lohengrin» und es – das ist besonders bemerkenswert – allem Anschein nach auch nicht wieder wird. Die Abdunkelung der Klänge ist überhaupt eines der ganz wesentlichen Charakteristika der Parsifal-Musik. Reiner Violinklang in hoher Lage, wie man ihn gerade aus der anderen Gralsoper, Lohengrin, kennt und auch hier erwarten würde, ist auf wenige kurze Stellen beschränkt, die wie ferne Erinnerung an das ältere Werk wirken. Im Karfreitagszauber wird die hochgeführte Geigenkanti­ lene, die im übrigen im gesamten Werk ausgespart ist, bevor sie sich noch aus­ sin­gen kann, abgebrochen. Die Instrumentation ist von Mischklängen geprägt, an denen meist Instrumente mittlerer und tiefer Lage beteiligt sind. Die Ten­ denz ist deutlich ablesbar an der Forderung nach einer Alt-Oboe anstelle des üblichen Englischhorns, einem Instrument, das neben mehr Sonorität vor allem einen dunkleren Klang hat. Auch die vergleichsweise häufige solistische Füh­ rung des Fagotts, das Wagner als Soloinstrument gar nicht sonderlich schätzte, zeigt die Vorliebe für abschattierte Klänge an. Das Musterbeispiel für den ab­ ge­dunkelten Klang aber ist die Instrumentation des Parsifal-Motivs beim Auf­ treten der Titelfigur im 3. Akt, bei der Trompeten und Posaunen im Pianissimo

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mit Hörnern gemischt spielen. Die Abdunkelung betrifft auch die verwendeten Lagen und Tonarten. Die Neigung zu den B-Tonarten ist unverkennbar, Ton­ arten, denen zumindest im 19. Jahrhundert eine dunklere Färbung zugespro­ chen wurde, eher der Nacht- als der Lichtseite von Welt und Leben zugeordnet. Ob B-Tonarten objektiv dunkler sind, bleibe dahingestellt; fest steht aber, dass man im 19. Jahrhundert im festen Glauben an den Charakter der Tonarten Musik mit B-Vorzeichnung anders gespielt hat als Kreuztonarten. Die Vorzei­ chen sind als Spielanweisung, als Charakterbezeichnung zu werten. Die Ab­ dunkelungstendenz setzt sich fort in der Harmonik, in der bereits genannten Vorliebe für subdominantische Verbindungen, in der Neigung zu harmonischen Nebenstufen, insbesondere jenen in Moll, in der Verwendung archaisch-alter­ tümlicher Akkordfolgen. Deren Musterbeispiel ist die Folge reiner Dreiklänge bei Wirkte dies der heilige Tag? im 3. Akt, die danach noch eini­ge Male auftritt, im übrigen ein nur geringfügig verändertes Zitat des Anfangs von Palestrinas Stabat mater (es war im Sommer 1878 in der Bearbeitung Richard Wagners im Druck erschienen). Das Prinzip der Abdunkelung, des Im-Dunkeln-Lassens oder In-DunkelTauchens trifft sich mit der erwähnten Neigung zur Ambivalenz und Mehr­ deutigkeit. So finden sich in den Orchestertakten nach Parsifals der Rettung letzter Pfad mir schwindet im 3. Akt zwei allerdings versteckte Zitate aus an­ deren Opern Wagners: zunächst erklingt in der Klarinette eine Anspielung auf die Venus-Melodie Geliebter komm! Sieh dort die Grotte aus Tannhäuser, dann ertönen der Tristan-Akkord und seine Auflösung und zwar gleich dreimal hin­ tereinander, einmal sogar in der gleichen Tonart und Lage wie in Tristan und Isolde. Zu dem, was gleichzeitig auf der Bühne geschieht – Kundry holt Wasser für den ohnmächtigen Parsifal –, will das nicht passen, aber wer wollte anderer­ seits genau bestimmen, was es besagt? Sicher ist nur, dass die Beziehung zwi­ schen Parsifal und Kundry auch noch im 3. Akt von Erotik und Sehnsucht danach geprägt ist. Dunkel erscheint auch, warum das Leidens-Motiv des Am­ fortas – jene absteigende Bassfigur, die erstmals bei Zeit ist’s, des Königs dort zu harren im 1. Akt auftritt – bis zum Ende der Oper unverändert bleibt. Der übermässige Dreiklang, der dieses Motiv prägt und wohl sein mar­ kantestes ist, ist zumindest nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts eine

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scharfe Dissonanz, als solche sinnvoller Ausdruck für das Leiden des Amfortas. Dessen Leiden aber endet, so wie das Textbuch die Geschichte erzählt, mit Parsifals Ein­zug in den Gral und mit der Berührung der Wunde durch die Lanze, den Speer. Dennoch verharrt das Amfortas-Motiv in seiner Dissonanz, die selbst noch dort erklingt, wo es im Text heisst: «Sei heil, entsündigt und ge­sühnt!». Hätte hier nicht landläufigem Verständnis gemäss die Dissonanz aufgelöst und das Motiv entsprechend dem Geschehen auf der Bühne geändert werden müssen? Es ist oftmals, als stelle die Musik im Parsifal den Text in Frage, der so bestimmt und zielstrebig scheint, so entschieden-eindeutig in seinen Lösungen und Antworten. Der Komponist Wagner fällt dem Textautor Wagner gleichsam in den Arm und belässt es – darin ganz ein Autor der Mo­ derne – beim Formulieren von Fragen, vermutlich, weil er sich der Antworten nicht mehr sicher ist.

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«PARSIFAL»PROSA-ENTWURF Richard Wagner

Der Gral ist die kristallene Trinkschale, aus welcher einst der Heiland beim letzten Abendmahl trank und seinen Jüngern zu trinken reichte: Joseph von Arimathia fing in ihr das Blut auf, welches aus der Speerwunde des Erlösers am Kreuze herabfloss. Sie ward als heiligstes Heiligtum lange Zeit der sündigen Welt geheimnisvoll entrückt. Als in rauhester, feindseligster Zeit endlich unter der Bedrängnis durch die Ungläubigen, die heilige Not des Christentums am Höchsten stieg, trieb die Sehnsucht, das wundervoll stärkende Heiligtum, von dem alte Kunde vorhanden war, gottbegeisterte, von heiligem Liebesverlangen ergriffene Helden, zum Aufsuchen des Gefässes, in welchem das Blut des Hei­ lands (sangue réale, – woraus: San Gréal – Sanct Gral – der heilige Gral ent­ stand) lebendig und göttlich belebend sich der heilsbedürftigen Menschheit erhalten hatte. Titurel und seinen Treuen ist das Heiligtum wunderbar entdeckt und in Pflege übergeben worden. Er scharte um sich die heilige Ritterschaft zum Dienst des Grales, baute die Burg Monsalvat in wildem, unnahbar entlegenem Gebirgswald, die niemandem aufzufinden war, als wer zur Pflege des Grales sich würdig erwies. Seine Wunderkraft bekundete das Heiligtum zunächst da­ durch, dass es seine Hüter jeder irdischen Sorge überhob, indem es für Speise und Trank der Gemeinde sorgte: durch geheimnisvolle Schriftzeichen, welche beim Erglühen des Kristalls an dessen Oberfläche sich zeigten, und nur dem würdigen Hüter der Ritterschaft verständlich waren, meldet der Gral die här­ testen Bedrängnisse Unschuldiger in der Welt und erteilt seine Weisungen an diejenigen der Ritter, welche zu ihrem Schutze entsendet werden sollten. Die Ausgesandten begabt er mit göttlicher Kraft, so dass sie überall siegen. Den Tod bannt er von seinen Geweihten: wer das göttliche Gefäss erblickt, kann nicht

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sterben. Nur aber, wer von den Verlockungen der Sinnenlust sich bewahrt, erhält sich die Kraft des Segens des Grales: nur dem Keuschen offenbart sich die beseligende Macht des Heiligtumes. Jenseits der Gebirgshöhe, in dessen heilig nächtiger Waldung Monsalvat – nur dem Geweihten zugänglich – liegt, dort, wo sich anmutige Talwindungen dem Süden und dessen lachenden Ländern zuziehen, liegt eine andere, ebenso heimliche als unheimliche Burg. Nur auf zauberhaften Wegen wird auch sie aufgefunden; der Fromme vermeidet ihr zu nahen; wer ihr aber naht, kann der bangen Sehnsucht nicht wehren, mit der es ihn nach den glänzenden Zinnen verlockt, welche aus einer nie gesehenen Pracht aus wunderbarsten Blumen­ baumwaldung hervorragen, und von wo zauberisch süsser Vogelgesang her­ dringt, berauschende Wohlgerüche sich über den Umkreis ergiessen. – Dies ist Klingsors Zauberschloss. Dunkle Sagen gehen über den Zauberer. Niemand sah ihn: man kennt ihn nur an seiner Macht. Diese Macht ist: Zaube­ rei. Das Schloss ist sein Werk: durch ein Wunder ist es entstanden, mitten in einer früher öden Gegend, in welcher zuvor nur die Hütte eines Einsiedlers gestanden. Wo jetzt Alles auf das Üppigste und Berauschendste wie an einem ewigen Frühsommerabende blüht und webt, war einst – in nackter Wüste – nur das einsame Hüttchen zu sehen. Wer ist Klingsor? Dunkle unfassliche Mären, sonst weiss man nichts von ihm. Vielleicht kennt ihn der alte Titurel? Doch durch ihn ist nichts zu erfahren: im höchsten Greisenalter erstumpft, ist er nur noch durch die Wundermacht des Grales unter den Lebendigen. Es gibt aber einen alten Waffenknecht Titurels, Gurnemans, der jetzt noch Anfortas treulich dient: der müsste etwas wissen: auch gibt er manchmal zu verstehen, dass er etwas von Klingsor wüsste; aber man bringt nicht viel von ihm heraus: hat er kaum etwas unglaublich Seltsames berichten zu wollen in Anschein genommen, so schweigt er wieder, lächelnd, als ob man von so was nicht sprechen dürfe. Vielleicht hat es ihm einst Titurel verboten. Man vermutet, Klingsor sei derselbe, der einst als Einsiedler fromm jene jetzt so veränderte Gegend bewohnte: – es heisst, er habe sich selbst ver­ stümmelt, um die sinnliche Sehnsucht in sich zu ertöten, welche zu bekämpfen durch Gebet und Busse ihm nie vollständig gelungen sei. Von der Gralsritter­ schaft, der er sich anschliessen wolle, sei er durch Titurel zurückgewiesen wor­

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den, und zwar aus dem Grunde, dass die Entsagung und Keuschheit aus in­ ners­ter Seele fliessen, nicht aber durch Verstümmelung erzwungen sein müsse. Niemand weiss hiervon Genaues. Nur ist gewiss, dass seit Anfortas Zeiten man plötzlich von jenem Zauberschlosse gehört hat, und dass die Gralsritter häufig gewarnt wurden, nicht in die Schlingen zu geraten, die von jener Gegend aus nach ihrer Reinheit ausgeworfen würden. Jenes Schloss birgt in Wahrheit die schönsten Frauen der Welt und aller Zeiten, die dort durch Zauber unter Klingsors Bann gehalten, und zum Ver­ derben der Männer, namentlich der Gralsritter, von ihm mit aller Macht der Verführung ausgestattet wurden. Man meint, es seien Teufelinnen. Mehrere Gralsritter sind von ihren Fahrten nicht heimgekehrt; man fürchtet, sie seien in Klingsors Macht gefallen. Gewiss ist leider, dass Anfortas selbst, als er den seine Ritterschaft drohenden Zauber zu bekämpfen ausgezogen war, in die Schlingen der Verführung fiel, von einem seltsamen, wunderschönen Weibe abseits ge­ lockt, und dort tückisch von Bewaffneten überfallen wurde, die ihn binden und zu Klingsor führen sollten: mit Mühe habe er sich gewehrt, und, zur Flucht gewendet, jenen Speerstich in die Seite erhalten, an dem er nun siecht, und von dem ihn nichts zu heilen vermag… So hat der Elende endlich durch brünstig Gebet den Gral um ein Zeichen gefragt, ob er Erlösung hoffen dürfe, und wer ihn zu erlösen berufen sein könne? Das Zeichen hat erglänzt: er hat die Rätsel­ worte gelesen: «mitleidend leidvoll wissend ein Tor wird dich erlösen»!…

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Aus dem ersten «Parsifal»-Prosa-Entwurf für König Ludwig II., Ende August 1865

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Yvonne Naef Spielzeit 2010 / 1 1


Michael Laurenz, Yvonne Naef Spielzeit 2010 / 1 1



AUF DER SUCHE NACH ERLÖSUNG Nora Eckert

General Stumm aus Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften sinnierte über jenen aus der Gruppe der «geschwollenen Wörter» stammenden Begriff der Erlösung. Es kamen ihm die «unerlösten Nationen» der Kaiserlich-Königlichen Donaumonarchie in Erinnerung und die Vorliebe bestimmter Leute für dieses Wort. Anstoss nahm er an dem unglaubwürdig versicherten Ernst des Zustan­ des, nämlich unerlöst und damit erlösungsbedürftig zu sein. «Es wurde ihm auf diese Art deutlich, dass es nicht ein natürliches, einfaches und menschli­ches Geschehen ist, was mit solchen Worten ausgedrückt wird, sondern irgend­eine abstrakte und allgemeine Verwicklung...». Der inflationäre Gebrauch des Wor­ tes stand unübersehbar in Beziehung zu einer allgemeinen und allgegenwärti­ gen Unzufriedenheit. «So waren sie schliesslich überzeugt, dass die Zeit, in der sie lebten, zu seelischer Unfruchtbarkeit bestimmt sei und nur durch ein be­ sonderes Ereignis oder einen ganz besonderen Menschen davon erlöst werden könne. Man war überzeugt, dass es nicht mehr weitergehe, wenn nicht bald ein Messias komme.» Musil begann die Arbeit am unvollendet gebliebenen Roman 1925. Es entstand, wie die Zitate andeuten, auch eine Beschreibung der Zeitstimmung und geistigen Verfassung Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg. Musils Diag­ no­se trifft im wesentlichen auch auf die Befindlichkeiten im Deutschen Reich zu. Auf jeden Fall im Hinblick auf die Erlösungsbedürftigkeit. Die religiöse Sehnsucht hat solche Vorstellungen noch befördert. Über­ haupt ist die Erlösung seit jeher ein zentraler Begriff der christlichen Religion. Im Alten Testament tritt sie als Heils- und Gnadentat Gottes auf, im Neuen Testament ist sie an Jesus und seinen Kreuzestod als Sündenvergebung gebun­ den. Andere Religionen kennen sie ebenso, auch wenn das Wie und Wozu di­

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vergieren. Arthur Schopenhauer erhoffte Erlösung in der Willens- und damit Lebensverneinung. Ludwig Feuerbach lehrte die Erlösung von den Sünden durch die Liebe. Beide Ideen griff Wagner auf. Die Erlebnispsychologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts schliesslich propagierte das individu­ ali­sierte Offenbarungserlebnis als erlösende Erfahrung. Erlösung wurde in die Seele des Menschen hinein verlagert. Eine Philosophie der Erlösung entwarf der Schopenhauerianer Philipp Mainländer. Sein Werk erschien posthum 1879. Er war fünfunddreissig Jahre alt, als er sich 1876 das Leben nahm und so seine Erlösungsphilosophie prak­ tisch vollstreckte. Denn sie war in der Tat eine Philosophie für Lebensmüde, die die Sehnsucht nach dem Tod predigte. Sie enthielt vor allem ein Verfalls- und Untergangsprogramm. Anders als das Vorbild Schopenhauer glaubte Main­ länder an das Himmelreich als Lohn für die Selbstverleugnung. Er hielt deshalb das Christentum für die «Blüthe aller menschlichen Weisheit». Auf­lösung und Nichtsein begannen bei ihm mit Gott, da er annahm, dass die Welt aus Bruch­ stücken des zersplitterten Gottes bestehe. In ihrer Vielheit sei eine Tendenz zu ständiger Aufsplitterung angelegt, die im Nichts endet. Mainländer sah die Welt durchweht vom «gewalthigen Atem einer vorweltlich gestorbenen Gottheit». Hier war Wagners «Erlösung dem Erlöser» beim Wort ge­nom­men. Mainländers Gott fand schliesslich selbst zum erlösenden Nichts. Für die Mitwirkung des Menschen am göttlichen Nichtsein empfahl er die geschlechtliche Askese. Vieles bei Mainländer trägt den Stempel Schopenhauerscher Philosophie – etwa der in der ästhetischen Kontemplation «bewegungslos» gewordene Wille. Zum Sinnbild des kontemplativen Zustands werden ihm die beiden Engel zu Füssen der Sixtinischen Madonna, die als Bildzitat eine bemerkenswerte Kar­ riere erlebten und in den Kitschfundus eingingen. Das ist bezeichnend für eine Philosophie, die selbst bedenklich nahe am Gefühlskitsch laboriert. Der Kunst komme die Rolle zu, den Menschen von der «Welt der Rastlosigkeit, der Sorge und Qual» zu befreien. «Die Kunst bereitet das menschliche Herz zur Erlösung vor, aber die Wissenschaft allein kann erlösen» – sprich: der Philosoph, der alle Zusammenhänge des Weltschicksals erfasst. Da diesem in der Person Mainlän­ ders nicht viel an der Welt liegt, er das Dasein für ein einziges Übel hält und die körperliche Existenz zum Ekeln findet, ist das Weltschicksal schnell besiegelt.

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Die Erkenntnis lautet, «dass Nichtsein besser ist als Sein» und «dass das Leben die Hölle und süsse stille Nacht des absoluten Todes die Vernichtung der Hölle ist». Also bedeutet Erlösung vor allem «Erlösung von sich selbst». Selbsthass erscheint ihm als möglicher Übergang zur Willensverneinung. Solche kuriosen Erscheinungen wie Philipp Mainländer pointieren die Fadenscheinigkeit pessimistischer Philosophie. Gerade diese Mischung aus Tri­ vialisierung und Zuspitzung unter Abzug von Schopenhauers sprachlicher Brillanz und Suggestion offenbaren den philosophischen Holzweg. Friedrich Nietzsche hatte die «Philosophie der Erlösung» im Reisegepäck und fand für sie, kaum überraschend, nur Spott. Den Autor nennt er ob seiner Entsagungsund Keuschheitspredigt einen «süsslichen Virginitäts-Apostel». Eine gewisse Sympathie für Schopenhauers Pessimismus hegte Nietzsche gleichwohl. Denn im Zusammenhang mit der Frage, was deutsch sei, rühmte er deren entsetzten Blick «in eine entgötterte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig gewordene Welt». Jemand wie Mainländer gebe jedoch keine sichere Handhabe, ob es sich um ein «ehrliches Entsetzen» handle, das sich gegen eine Gesellschaft und ihre Politik, ihre Gefühls- und Denklage richtet, die auf das Deutschland, Deutschland über Alles ausgerichtet sei. Denn das sei am allerwenigstens pessimistisch. Aber in genau dieser Ambivalenz gedieh eine Philosophie des popularisierten Pessimismus. Als ob der gründerzeitliche Optimismus ihr gerade zum Auf­ schwung verhalf. Nietzsche übersah wohl diese konträre Abhängigkeit, nicht aber die Parallele zwischen Mainländer und dem Wagner des Parsifal – beide «seien Apostel der unbedingten Keuschheit». Die Kunst als Erlöser blieb, wie der Fall Wagner zeigt, kein bloss philoso­ phischer Beschluss. Auch nachfolgende Künstlergenerationen setzten program­ matisch auf Erlösung. In der Vorkriegszeit galt das insbesondere für den Ex­ pressionismus. Die Künstlergruppe Der Blaue Reiter wollte den Materialismus ihrer Zeit durch ein Reich des Geistes überwinden. Je abstrakter die Kunst, desto spiritueller wurde ihr Selbstverständnis. Kandinsky sprach vorzugsweise vom «Erlösungsklang» in seinen Bildkompositionen. Die Rede war vom «geis­ tigen Leben» und «inneren Sinn», von «innerer Notwendigkeit». Das diffuse Verlangen nach Erlösung und seine religiöse Verbrämung er­ scheint als Kompensation nicht erfüllter politischer und gesellschaftlicher Uto­

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pien, von denen das Bürgertum seit dem Ausgang des achtzehnten Jahrhun­ derts träumte. Stets war es bei der Erfüllung kurz gehalten und schlecht bedient worden. Die Reichsgründung von 1871 hatte die politische Mitwirkung nicht wirklich verbessert. Der Anfang vom Ende dieser Fehlentwicklung war erreicht, als an die Politik messianische Forderungen gerichtet wurden. So reifte im zwan­zigsten Jahrhundert die Empfänglichkeit für politische Extreme. Die Be­ dingungen der Massengesellschaft trugen ihren Teil dazu bei. Den Zusammenhang von Politik, Gesellschaft und Erlösung formulierte auch Walther Rathenau in seiner Schrift Zur Kritik der Zeit von 1912. Zu­ nächst konstatierte er die auf Vermassung der Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert angebrochene neue Zeit, in der die Mechanisierung ihren Ur­ sprung habe. Mit dieser Entwicklung ging die «Entgermanisierung» und die schwindende Bedeutung der Religion einher. Doch die «entgermanisierte» Be­ völkerung verfüge noch über genügend transzendente Kräfte. «Beweis ist die echte und grosse Sehnsucht edlerer Naturen, die nicht mit geringerer Inbrunst als vor zweitausend Jahren auf Erlösung wartet.» Aber die mechanistische Welt­ anschauung dominiert und träumt ihrerseits vom «Streben nach dem aus­ schliess­lich Vernünftigen». Der so gearteten Welt graut vor ihr selbst. «Es ist, als sei die Welt flüssig geworden und zerrinne in den Händen. Alles ist möglich, alles ist erlaubt, alles ist begehrenswert, alles ist gut.» Indes: «Der Mensch aber begehrt Glauben und Werte.» Die ständig wechselnden Moden im «Inventar der Zeiten» sind zwar eine Antwort auf die transzendente Heimatlosigkeit, aber sie sind bloss Spiel. Als Sehnsucht, die sich teils hilflos, teils kindisch immer neue Orte sucht, will Rathenau sie dennoch ernst genommen wissen – ganz wie den Erlösungsglauben. Dass dieser im Krieg seine Erfüllung finden könnte, wie 1914 nicht wenige hofften, davon distanzierte sich Rathenau. 1912 lautete die Gleichung noch: «Alle Politik ist Wirtschaftspolitik, Kriegsbereitschaft.» Und: «Moderne Kriege sind im Völkerleben das gleiche, was Examina im zivilen Leben sind, Befähi­ gungsnachweise.» Das klang so pragmatisch, wie es gemeint war. Im Gegen­ satz zu anderen wollte der Seelensucher Walther Rathenau, als die nüchterne Kriegs­prog­nose Wirklichkeit geworden war, an keine höhere Kriegsmetaphysik glauben.

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Franz Borkenau erschien die Sehnsucht nach Erlösung wie ein Kontinuum deutscher Geschichte. Dabei stellte er immer nur Ansätze, Aufschwünge fest, die «durchweg den Charakter von Erwecken haben» haben, aber keine Fort­ entwicklung besässen. Als Beispiele nennt er Pietismus, Sturm und Drang, Ro­ mantik, Jugendbewegung. «In jedem dieser Ansätze geht es eindeutig um die Erlösung. In jedem wird nach dem grossen Erlebnis gesucht, das das Leben dem Einzelnen und der Gesamtheit von innen heraus grundlegend umstürzt. Zur Erlösung aber gehört unausweichlich der Erlöser.» Im säkularisierten Deutschland hat das Heilige als «erlösende Brücke zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen» immer mehr an Bedeutung verloren. Je schwächer es wurde, desto verhängnisvoller konnte «die Dämonie der rein weltlichen Mächte» erstarken und desto dringlicher wurde der Ruf nach dem Erlöser. Deshalb, so Borkenau, sei neuere deutsche Geschichte zuallererst Religionsge­ schichte. Zu ergänzen bliebe: politische Religionsgeschichte. Durchaus typisch für die Zeit nach 1945, in der Borkenaus Betrachtungen entstanden, ist die Betonung des Dämonischen am Dritten Reich. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Erweckungsbewegungen der neueren Geschichte immer auch eine machtpolitische Komponente enthielten. Zu kurz allerdings greift Borkenaus Urteil, dass der Nationalsozialismus «nur als religiöse Verirrung, nur als Ersetzung des Gottmenschen durch den Menschengott» zu verstehen sei. Sebastian Haffner fasste es pointierter, als er von 1933 als dem Jahr der Erlösung und Befreiung der Deutschen von der Demokratie sprach. Die Hoff­ nung auf den Retter mochte viele dafür empfänglich gemacht haben, in der Machtergreifung tatsächlich das Herabkommen des Menschengottes zu sehen. Messianische Vorstellungen waren in allen Schichten und politischen Lagern virulent.

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Egils Silins, Yvonne Naef Spielzeit 2010 / 1 1


Stuart Skelton, Teresa Sedlmair, Viktorija Stanelyté, Irène Friedli, Katharina Peetz Spielzeit 2010 / 1 1



DAS WELTABSCHIEDSWERK: PARSIFAL Peter Wapnewski

Parsifal an Tristans Siechbett Der nach dem Gral umherirrende Parsifal «an Tristans Siechbette»: So war es einst geplant, so wurde es nicht ausgeführt, es hätte die Stringenz des in seiner figurenarmen Einsamkeit und spröden Einsträngigkeit mächtigen Geschehens nur geschwächt. Mehr noch: Parsifal wäre zur Unzeit gekommen, der Held des Liebes-Widerstandes konnte der Held des Tristan-Wagners nicht sein. Wie denn aber, wenn nun seinerseits Tristan aufträte in Parsifals erhabener Tempelwelt? Er tut es in der Tat, denn es war ja die Analogie Tristan: Amfortas, die Wagner die Episode ursprünglich hatte planen lassen. Beide können sie an ihrer Wunde nicht sterben. Beide sind sie liebes-zerstört. Beide begehren sie als Genesung den Tod. Beide sind sie durch die Liebe vernichtet in dieser Welt, für diese Welt. Der eine aber will sie verlassen, um sich von aller Liebe zu reini­ gen, alles Liebesschicksal abzustreifen. Der andere will sie verlassen, um total der Liebe zu gehören, dem Liebesschicksal endgültig anheim zu fallen. Der eine will die Welt überwinden, um mit ihr auch die Liebe zu überwinden, um gänz­ lich von Liebe überwunden zu sein. Nichts also hätte Parsifal an der Bahre des Wunden auszurichten vermocht, da doch Tristan nur durch Isolde erlöst wer­ den kann, und da doch Parsifal nur um die Erlösung des Amfortas willen den Weg des Irrens auf sich nahm. Parsifal, er hätte in der Konfrontation mit Tristan einen kruden Kontrast, eine Antithese, eine Antinomie repräsentiert, die Wag­ ner in jener Phase seines Lebens, Erlebens und Bewusstseins nicht gemäss war. Der Parsifal, früh angelegt in Wagners Schaffensentwürfen, wurde als Welt­ abschiedswerk auch eines des Abschieds von Tristan und Isolde. Werk des Ab­ schieds von einer Totalität der Hingabe, einer Absolutheit des Begehrens, einer

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Radikalität von Willen und Vorstellung, wie das Leben in all seiner Lebenswirk­ lichkeit sie nicht will, sie nicht erträgt. Der Parsifal wurde, in einem – wie zu zeigen sein wird – sehr ambivalenten Verhältnis zur gelebten und erlebten In­ dividualität seines Schöpfers, eine Rücknahme der Tristan-Liebes-Religion.

Feier der Reinheit Im Juli des Jahres 1887 schreibt einer, der einmal ein Freund war, die folgen­ den Gedanken zu einer Naturgeschichte der Moral nieder: «Was bedeuten as­ ketische Ideale? – Oder, dass ich einen einzelnen Fall nehme, in Betreff dessen ich oft genug um Rat gefragt worden bin, was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner in seinen alten Tagen eine Huldigung dar­ bringt? In einem gewissen Sinne freilich hat er dies immer getan; aber erst zu­ allerletzt in einem asketischen Sinne. Was bedeutet diese ‹Sinnes›-Änderung, dieser radikale Sinnes-Umschlag? – denn ein solcher war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in seinen Gegensatz umspringt? Hier kommt uns, gesetzt, dass wir bei dieser Frage ein wenig Halt machen wollen, alsbald die Erinnerung an die beste, stärkste, frohmütigste, mutigste Zeit, welche es vielleicht im Lebens Wagners gegeben hat: das war damals, als ihn innerlich und tief der Gedanke der Hoch­ zeit Luthers beschäftigte. Wer weiss, an welchen Zufällen es eigentlich gehangen hat, dass wir heute an Stelle dieser Hochzeitsmusik die ‹Meistersinger› be­ sitzen? Und wie viel in diesen vielleicht noch von jener fortklingt? Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass es sich auch bei dieser ‹Hochzeit› Luthers um ein Lob der Keuschheit gehandelt haben würde. Allerdings auch um ein Lob der Sinnlichkeit: – und gerade so schiene es mir in Ordnung, gerade so wäre es auch ‹Wagnerisch› gewesen. Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit gibt es keinen notwendigen Gegensatz; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzens­ liebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. Wagner hätte, wie mir scheint, wohlgetan, diese angenehme Tatsächlichkeit seinen Deutschen mit Hilfe einer holden und tapferen Luther-Komödie einmal wieder zu Gemüte zu führen, denn es gibt und gab unter den Deutschen immer wieder Verleumder der Sinnlichkeit.»

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Es ist wahr, die mönchisch-männerbündische Rittergemeinschaft; die Stimmen von oben oder von unten; die himmelfliehende Spiritualität; die peinvolle Sin­ nenfeindschaft des Konzepts, das da in stringenter Simplizität das Ideal der sittlichen Reinheit gleichsetzt mit dem anfechtbaren Gebot der sexuellen Ent­ haltsamkeit: alles dies gibt dem Text, gibt der Handlung von Wagners Parsifal etwas seltsam Artifizielles, gibt dem «Spiel» eine befremdliche Entrücktheit, verweist es in die ferne Fremde von Kastengeist und elitärer Ordensregel. Und mag es auch mit Nietzsche und anderen allzu einfach sein, hier Rom zu hören, «Roms Glauben ohne Worte», so ist doch deutlich, dass diese Glocken eine hehre Entsagungsweise einläuten, die nicht von dieser Welt – und also für Menschen von dieser Welt schwer zu vernehmen ist. [...] Übrigens hat Wolfram von Eschenbach, Wagners von ihm freilich drama­ turgisch genial vereinfachte Hauptquelle, sich die Sache mit dieser geschlechts­ passiven Kultgemeinschaft leicht- und ihr Begreifen darum nicht leichter ge­ macht: Bei ihm dienen Angehörige beider Geschlechter dem Gral. Da aber laut Gralgesetz lediglich der König verheiratet sein (sich indes nicht dem erotischen Spiel des Minnedienstes hingeben) darf, müssen Mann und Frau dieses Wun­ der­reiches wie sinnenleere Kunstfiguren in zeremoniöser Abstraktion miteinan­ der umgegangen sein. Eine sterile Männerwelt mit para-christlichen Gesten, die als solche bis zur Kontrafaktur gehen: Das Geheimnis der Eucharistie vollzieht seinen ding­ lichen Prozess in gegenläufiger Richtung, nicht werden Brot und Wein in Leib und Blut verwandelt, sondern Leib und Blut spenden Brot und Wein und nähren geduldig die fahle Gemeinde.

Das Weib und das Menschliche Über das Weibliche im Menschlichen, dies der Titel der letzten unter den vielen theoretischen Schriften Wagners, sie blieb unvollendet und war gedacht als Abschluss des Essays über Kunst und Religion. Der seinerseits so etwas wie die theoretische Begründung des Bühnenweihfestspiels von Parsifal liefern sollte. Eine merkwürdige Abhandlung, mit mancherlei bestürzend «modern» anmu­ ten­den Ideen, freilich vor allem in den nicht dem Ehegedanken gewidmeten

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Partien. Denn durchgehend handelt es sich um eine Apotheose der idealen Ehe bei heftigster Schmähung der herkömmlichen, der konventionellen, der miss­ brauchten Ehe. Die nicht minder zu verachten sei als das andere Extrem, die Polygamie. Ein strenges Programm, sittliche Veredelung und moralische Festigung des Menschen aus dem durch Liebe geadelten Ehebund erwartend. Wohl auch so etwas wie eine private Mythologie mit häuslich-finalen Zügen. Und blitzhaf­ ten, die Zeit überspringenden Einsichten, wie sie etwa bei dem leidenschaftli­ chen Wagner-Verehrer Otto Weininger wieder auftauchen, dem Autor von Ge­ schlecht und Charakter, der sich in jüdischem Selbsthass wie in wütendem Antifeminismus durch den Parsifal bestätigt und ermutigt fühlen konnte, – und die kluge Urenkelin Nike Wagner stellt sachlich-provokant fest: «Parsifal, das ist ‹Geschlecht und Charakter› auf dem Theater». Wagner starb über dem Manuskript dieser Abhandlung. Man wird die letzten Worte seiner schreibenden Hand nicht ohne Betroffenheit zur Kennt­ nis nehmen: «Gleichwohl geht der Prozess der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich. Liebe – Tragik.» Dann ist «die Feder schräg über die Seite ins Leere ausgelaufen» (Curt von Westernhagen).

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Blumenmädchen des Opernhauses erwerben Das Ende: Im Kunstwerk die Verherrlichung der geschlechtlichen Askese als Akt sittlicher Reinigung. In der theoretischen Abhandlung die Verherrlichung der Eheliebe als Akt sittlicher Reinheit. In jedem Falle: Überwindung des for­ dernden Triebes als Ausweis wahrer Menschlichkeit. So in der Kunst, so in der Reflexion. Und im gelebten Leben? Das Leben findet sich – in diesem Falle zumindest – nun doch auch in der Kunst wieder. So im zweiten Aufzug des Parsifal. Die Blumenmädchen, die doch unzweifelhaft von Klingsor zu bösem Geschäft gehalten werden: nämlich die Gralsritter zu bestricken und sie, wie einst Kundry den König Amfortas, zu verführen und damit zu de-potenzieren, das heisst sie in ihrer Funktion aufzu­ heben, zu erledigen, – diese Blumenmädchen, von Wagner mit betörenden Tö­ nen begabt, haben ihn offenbar über alles Mass interessiert. Er wollte nämlich,

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erstaunlich genug, «keine verführerischen Mädchen, sondern beseelte Blumen, – des fleurs animées». So bezeugt es jemand, der es aus naher Nähe wissen muss, Judith Gautier. […]

Letzte Gottesgabe Im September 1881 kam lieber Besuch nach Wahnfried: Judith Gautier, des Dichters bezaubernde Tochter, eine romantische Schönheit von offenbar atem­ beraubendem Reiz, jedenfalls sprechen sich die Schilderungen ihrer Person überquellend in Formeln purer Poesie aus. Man kannte sich seit langem schon und kannte sich gut. Im Juli 1869 hatte Théophile Gautiers Tochter, damals noch verheiratet mit Catulle Mendès, Wagner und Cosima von Bülow in Trib­ schen besucht. Ausser durch berückende Schönheit und leidenschaftliches Temperament war sie ausgezeichnet durch den Beinamen «Orkan». Judith brachte dem Meister eine solchem Attribut gemässe Bewunderung entgegen. Er litt es gerne. Dann kann das Jahr der ersten Bayreuther Festspiele, 1876. Auch Judith Gautier war unter den Gästen. Und wenn Cosimas Tagebuch anderthalb Jahre später das von verzweifelten Tränen zeugende Bekenntnis aufweist: «Das Leid, vor welchem mir bangte, blieb nicht aus, von assen brach es herein! Gott helfe mir!» (12. Februar 1878), – dann ist damit das letzte Wort in dieser Sache ge­ sagt, der Schlussstrich gezogen unter eine Beziehung, deren leidenschaftliche Intensität, schwärmerische Passion und dunkel glühende Hoffnungslosigkeit bezeichnend sind für das, was man im Tone trockenen Registrierens wohl «Altersleidenschaft» nennt. Von Wagners Briefen ist ein Teil erhalten. Da wer­ den in einem sperrig-wunderlichen Französisch die rührendsten, heftigsten, leidenschaftlichsten Liebesbekenntnisse ausgesprochen, und wie und was im­ mer ihr konkretes Substrat gewesen sein mag, Wagner hat diese Frau glühend geliebt und umworben. «Teure, die ich liebe!» heisst es am 6. Februar 1878, und dann: «Ich habe den ersten Akt beendet.» Den ersten Akt des Parsifal. Des Hohen Liedes von Askese und Entsagung, der weihevoll-festlichen Verdammung aller erotischen Begierde und sexuellen Lust. Im September 1876 hatte man sich trennen müs­

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sen, im April und Mai 1877 verfasst Wagner den Text der Dichtung, zur glei­ chen Zeit die Briefe der Leidenschat an Judith, im Dezember 1877 lässt er ihr das Textbuch schicken. Am 1. Oktober hat er ihr geschrieben: «Ja! Es geht an die Musik zum Parsifal. Ich konnte nicht mehr existieren, ohne mich in ein solches Unternehmen zu stürzen.» Das Drama der Sinnenabtötung als Rettung vor der Sinnenlust. Im November: «Je me sens aimé, et j’aime. Enfin, je fais la musique du Par­sifal...». Und er gedenkt ihrer Umarmungen als «un dernier don des dieux». Von dieser Musik indes hat er ihr bereits eine Probe geschickt, – eine Pro­ be welcher Partie? Der Abendmahlmusik. «Nehmet hin meinen Leib…»: Das wird man als einen Akt der kühnsten Blasphemie deuten müssen, der unbefan­ gen-ungeheuren Übertragung des eucharistischen Geheimnisses der Transsub­ stantiation aus heiligem Bezirk der Gotteskommunikation auf den unheiligen der Menschenbegierde. Ein Vorgang, schwer glaublich, – hätte ihm nicht der mittelalterliche Dichter vorgearbeitet, der Wagners Quelle war für seine gewal­ tige Liebestragödie von Tristan und Isolde: Gottfried von Strassburg:

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Sie «ist Brot für alle Lebenden, oder am im Foyer und damitVorstellungsabend ist ihr Tod überwunden, er lebt. Wir lesen von ihrem Leben, lesen von ihrem Tod, und all dies ist uns heilig wie das Brot. des Opernhauses erwerben Ihr Leben, ihr Tod sind unser Brot. Und also lebt ihr Leben, lebt ihr Tod. So leben sie noch, obwohl sie tot sind, und ihr Tod ist das Brot der Lebenden.»

Eine Liebesgeschichte als lebenspendendes Brot, – so wie das Evangelium leben­ ­spendend. Und Wagner hat die Kühnheit, das von ihm gewandelte Abend­mahls­ geheimnis (Leib wird zu Brot) noch in die Intimität der privaten Liebesgeschich­ te zu übertragen und im Zitat des Heiligen das Unheilig-Sinnliche zu alludieren. Im Februar 1878 also ist alles zu Ende, zumindest äusserlich. Dreieinhalb Jahre später, Ende September 1881 also, sieht man sich wieder. Judith bringt ihren Geliebten mit, einen Komponisten mit dem schönen Namen Benedictus.

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«Alle Beteiligten bewahrten Haltung. Nur macht ihr Wagner einmal vom Fens­ ter Wahnfrieds aus merkwürdig abbittende Zeichen – als Cosima ihn dabei ertappt, sagt er, er habe sie mit Malwida [von Meysenburg] verwechselt. Der ganze Vorfall ist ihm peinlich. Sich zur Arbeit verabschiedend, sagt Wagner zu Judith: ‹Ma chère enthousiaste, prenez pitié de moi.›» Vierzehn Tage später ist die Partitur des zweiten Aufzugs, die Partitur des flimmernden Aufzugs der Blumenmädchen und der inbrünstigen Verführungs­ künste Kundrys, abgeschlossen. Prenez pitié de moi...

Reinigungs-Exercitium Das Werk der Sinnenflucht und Weltüberwindung ist musikalisch getragen von einer, wie die Musikwissenschaft weiss, Kompositionstechnik sehr anderer Art als etwa der Ring. Wie «einfach» aber auf raffinierteste Weise diese Partitur auch sein mag, sie begleitet das kultisch-entsagungsvolle Geschehen mit den sinn­ lichsten Farben. «Die Liebe lerne kennen…», der dies komponierte, kannte sie, hiess sie mitspielen, – wie leise auch immer. In solchem Zusammenhang ist es von Gewicht, dass eben zu jener Zeit der Plan von Luthers Hochzeit Wagner beharrlich bewegte, – als eine Art wohl von Kontrapunktum zum Parsifal. Und es ist nicht ohne Reiz und Aussagekraft, dass Judith Gautier zu den ganz Wenigen gehört, denen Wagner schon früh von diesem Dramenplan er­ zählt, damals beim ersten Besuch in Tribschen (186). Im Braunen Buch kann man, eingetragen unter den Daten vom 19. und 22. August 1868, die Skizzen lesen; und den Luthersatz: «Da, im Pfaffenhochmut steckt der Teufel: ich muss ihn bannen! – Ich nehme ein Weib.» Der Mönch, der sich die Nonne zum Weibe nimmt, weil er mit ihr sich selber finden wird. Parsifal, der Kundry zurückstösst, weil er nur ohne sie sich selber finden wird. Nur gegen sie. Es ist nichts geworden aus diesem Dramenplan, – wie aus vielem anderen nichts wurde. Aber er hat sich stetig immer wieder gemeldet, und tat es mit besonderer Intensität zur Zeit der Parsifal-Prüfung. Es war, auch als er zur äusseren Ruhe gefunden hatte, viel gegenläufiger Aufruhr in diesem grossen Manne, der nun älter, der nun alt wird.

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Wie, wenn es sich in allen Werken, in allem Werk Wagners um den Versuch handelte, mit eigener Schuld, mit anders nicht abzuwehrender Bedrohung des eigenen Innern fertig zu werden, ins Reine zu kommen? Eine Vorstellung, die im Zusammenhang mit der Schöpfer-Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert nichts eigentlich Bestürzendes hat. Wem ein Gott zu sagen gibt, was er leidet, der über­windet in solchem Sagen schon sein Leid; zumindest ein Teil dieses Leides. Kunst als Objektivierung der subjektiven Not kann Rettung sein, niemand hat es deutlicher erlebt und überlebt als Goethe, so sagen es das Buch Suleika, die Marienbader Elegie in jedem Vers. Der elende Wille zum Leben, der als Energie seine erbärmlichste Ausprä­ gung findet im Zeugungstrieb, ist gemäss Schopenhauer Quelle aller Unfrei­ heit. Seine Abtötung mithin Voraussetzung der Freiheit. Wagner hat mit die­ sem grossen Gedankenkomplex das Orchester des Ring instrumentiert; er hat ihn auch umgesetzt in die verzehrende Urgewalt der Tristan-Musik, – freilich auf dialektische Weise gebrochen: Es ist wahr, nur wer den Lebenstrieb als Liebestrieb bricht, hat Freiheit in dieser Welt, für diese Welt. Die Umkehrung aber lautet: Nur wer diese Welt verlässt, kann den Lebenstrieb als Liebestrieb transzendieren in das Reich metaphysisch-physischer Freiheit: «…stürben wir/ um ungetrennt,/ewig einig/ohne End,/ohn Erwachen…/der Liebe nur zu leben!» Ob solche Beschwörung dem grossen Magier Sublimierung brachte, ob Trost und die Hoffnung der Erlösung (wer spricht von Glück), mag eine müs­ si­­ge, eine unerlaubte Frage scheinen. Um jedenfalls die zerstörerische Heftig­ keit sinnlichen Wünschens und erotischen Begehrens zu disziplinieren, gänzlich zu sedieren, bedurfte es der extremen Beschwörung christlicher Riten und der Vergegenwärtigung ihrer kultischen Gestik, ihres sakralen Apparates. Wagners Parsifal ist der Versuch, den Klingsor in uns zu überwinden. Ist der Versuch, Tristan und Isolde zu überwinden im Heilsdienste an dieser, in dieser Welt. Die Heilstat als soziale Wendung gegen die absolute Un-Sozialität der TristanLiebe.

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DER ROTE RITTER Adolf Muschg

Unterweisung Ein seltsames Gefühl: an der Hand ins Gotteshaus geführt zu werden. Von Gott hatte Parzifâl allerhand gehört, nicht aber, dass er ein Haus habe; und es zeigte sich, dass der Junker noch nie eine Kirche betreten hatte. Sein Wirt musste ihm vormachen, wann und wo das Knie zu beugen war und wie man die Hände faltete. Mit frischen, aber fremden Augen sah Parzifâl einen Kahlkopf im bun­ ten Rock vor einem Kreuz stehen, an dem, von Kerzen angeflackert, das Bild eines tot gestochenen Mannes hing. Die Lanzenwunde an seiner Seite tropfte noch immer. Der Raum, höher als lang, bildete seinerseits ein Kreuz, auch wenn die Querbalken nur kurze Stummel waren. In der Nische zur linken Hand sah er wieder einen bärtigen Leichnam querüber im Schoss einer Frau liegen. […] Geradeaus, hoch über dem Kruzifix, war König Artus auf goldenem Stuhl ab­ gebildet, aber mit einem Strahlenkranz und auch sonst nicht allzu ähnlich. Menschen und Bilder glichen einander überhaupt nicht sonderlich; und alle Bildmenschen im Gotteshaus mussten etwas Schweres tragen, ein Kreuz, einen Toten, einen Strahlenkranz, wenigstens einen Bart. Am rechten Seiten­ altar der Kirche war jemand gekreuzigt, der trug zwar einen Bart, doch un­ zweifelhaft auch ein Frauengewand, das von Brüsten geschwellt war. […] Kaum zwei Dutzend Menschen füllten das kleine Gotteshaus, Herrschaft und Gesinde, nach Geschlechtern getrennt. Das murmelte im Chor und res­ pondierte dem Kahlkopf, der zu singen und leiern begonnen hatte. Er musste hier der Gastgeber sein, denn vor ihm beugten sich alle, während er immer wieder dem Toten am Kreuz seine Referenz erwies. Er hatte eine dünne Stim­ me, die sich in der Höhe des Raumes verlor, und sang in einer fremden Mund­ art. Parzifâl fand nicht, dass er sein prächtiges Kleid gut trage. Es war weder geschnitten noch gegürtet, nur ein Sack, von dem zwei silberne Bänder hingen und ebenfalls ein Kreuz auf dem Rücken trug. Er drehte und wendete sich

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gemessen. Wenn er nicht mit gefalteten Händen vor seinem Tisch hin und her ging, öffnete er die Arme, um seine langen Flügelärmel auszubreiten. Parzifâl genoss den sanften Druck von Pelz und Seide, die Mantelwärme auf Schultern und Hüften, das Nachgeben des Stoffes beim Beugen der Knie. Er verstand nicht recht, was der Violette zu besorgen hatte, und warum selbst der Graf sich vor ihm neigte, nachdem sich zuvor der Kahle unterwürfig ge­ zeigt hatte. Nun schritt er wie ein König um einen goldenen Tisch herum, aber es sah nicht so aus, als ob man hier etwas zu essen bekäme. Lustiger waren die zwei Knaben in durchbrochenen Hemden, die den Gastgeber auf Schritt und Tritt begleiteten. Wenn nicht alles täuschte, ahmte einer ihn nach. Sie dienten ihm dazu mit allerlei Gerät und schienen dabei das Lachen zu verbeissen. Auch sie hielten die Augen gesenkt und die Hände gefaltet. […] Jetzt drehte der Kahlschädel seinen Gästen den breiten Rücken zu. Er öffnete ein Schränklein, beugte sich inbrünstig und schien etwas zu küssen, dann zu verschlucken, während die Gäste murrten. Einer der weissen Knaben zog an seinem Seil, so dass die Glocke Laut gab. Der Kahle hatte sich gereckt und hielt einen Becher über sich, trank verstohlen daraus, und die Gäste murr­ ten noch lauter. Der eine Knabe schwang ein Gefäss an einer Kette herum, aus dem ein süssverbrannter Geruch wölkte. Schliesslich nahm der Kahle dem Knaben das Gefäss aus der Hand und schwenkte es gegen den Burgherrn. Er breitete die Arme aus, sang noch ein paar Sätzlein und machte sich, von den Knaben gefolgt, durch eine Seitentür davon. Der Burgherr tippte sich auf die Schultern, stand auf […] und reichte die Rechte Parzifâl. Sie war eiskalt. Alle warteten, bis der Graf mit Parzifâl das Gottes­ haus verlassen hatte. Eine alte Magd tippte sich bei seinem Anblick auf Stirn, Brust und Schultern. Er tat desgleichen, worauf sie ihn entgeistert anstarrte.

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Wie Anfortas noch einmal an seiner Wunde leidet, dass es nicht mehr schön ist Das Bett war der reine Hohn auf das Leiden in ihm, denn es hätte bequemer nicht sein können. Es wurde zusammengehalten von Saiten aus Salamander­ haut, die gleichzeitig als Traggurte dienten. Salamander brennt niemals, auch

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nicht in der kältesten Hölle. Die Bettstatt war mit kostbaren Steinen besetzt: Korund und Almandîn, Chryopras, Hyacinth und Spinell, Sardonyx, Peridot, Heliotrop und Rosenquarz – ihre Heilkraft war spezifisch und wohlbekannt. Sie halfen nur nicht. Sie halfen wohl, aber nur um den Leib am Gefrieren zu halten, und die Qual am Kochen. Sie waren Stellvertreter des Hauptsteins, der alle Morgen wieder vor Anfortas getragen wurden, damit er ihn sehe: von allen heilsamen Steinen den grausamsten. Denn er hilft ja nicht weiter als bis zur Verewigung der Qual. Und doch rückten sie ihm das Ding vor Augen, von denen sie erst das Wolfs­fell und dann die Lider reissen müssen. Er presst sie zusammen mit der Neige seiner Kraft … es nützt ihm nichts. Er muss es sehen, das Bild des Wun­ sches, der einmal die Gestalt einer Frau gehabt haben mag, dieser und jener. Jetzt hat er keine Gestalt mehr und keinen Namen: auch «Qual» ist kein Name mehr dafür. Doch darauf gestossen werden, die Wärter tun es nicht anders. Wer sind sie? Sind es noch Menschen? – Am Anfang der Ewigkeit hatten sie noch mit ihm gestöhnt; das haben sie längst vergessen. Sie sind erstarrt im Dienst. Gefühllos sind ihre Leiber unter den schwarzen Mänteln mit den ge­ zähnten Kreuzen. Sie verrichten ihren heillosen Helferdienst wie eine Notdurft. Kein Wunder, dass sie auch draussen nur noch töten können oder sterben. Beides erscheint ihnen wie Befreiung. Alles Menschengefühl ist erstorben auf Munsalvaesche. Sie wollen nur noch dämmern, die Rittergespenster. Früher haben sie ihrem Herrn den Grâl, das Folterwerkzeug, am Abend vorgetragen; dann ist sein Ächzen und Gurgeln den Wächtern durch Mark und Bein gedrungen und hat ihnen den Schlaf ge­ raubt. Jetzt hören sie es kaum mehr. Er quält sich gelinder, sagen sie. Das sagen sie nur so. Denn längst sind Morgen und Abend eins in den Mauern der Grâls­ burg. Und es gilt ihnen gleich, was sie tun, da es hoffnungslos bleibt in jedem Fall. Wir tun unsern Dienst, sagen sie und hören sich selbst nicht mehr zu. Doch, sie tun ihren Dienst. Sie schieben Aloëholz nach in die ungeheuren Essen, wo die Hölle lodert, ohne zu wärmen. Sie tragen Handschuhe, wenn sie sich mit dem Herrenluder beschäftigen, gegen das Leichengift, gegen das fres­ sende Gift der Lanze, mit der sie nach Vorschrift operieren, die erbarmungs­ losen Spender von Erbarmen. Sie hören das gleiche trostlose Gurgeln, wenn sie

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zustechen und wenn sie einholen. Sie bewegen sich pflichtschuldig bis zur Un­ sichtbarkeit. So kann es scheinen, als sei der Leichnam das einzige Lebendige in ihrer Mitte; nicht mehr Anfortas, nur noch seine Qual. Sogar die Sorge ist erstorben auf ihren Mienen und eingefroren zu einer Maske aus Neid. Ist es möglich, dass sie Anfortas um seine Qual beneiden? Sogar das ist möglich auf Munsalvaesche. Wo alles unmöglich geworden ist, ist auch alles möglich: sogar, dass die kaum noch Lebenden den so gut wie Toten beneiden. Immerhin, seine Qual macht ihn sorglos. Denn es ist, neben der Qual, auch für Sorge kein Raum mehr übrig, so wenig wie für Hoffnung. Sie aber haben immer noch die Sorge, ihre Pflicht zu tun, ihre grausige, unbe­ dankte Pflicht. Und Anfortas darf sie noch immer beherrschen; nicht er, son­ dern was stärker ist als er: seine Qual. Weiden sie sich etwa auch daran? Oh, wenn der Grâl sie weidet in seinem Überfluss, dann wachen sie auf. Dann trieft ihnen Saft von den schmalen Lip­ pen, Fett, Blutsuppe und Maulbeerwein. Ihre Gesichter verschliessen sich vor Ekel und Wonne zugleich. Sie geniessen es, mit ihrem Herrn um die Wette zu stöhnen. Der Frass schmatzt aus ihrem halboffenen Mund, ihre letzte Lust. Ist es nicht auch die höchste an der grausigen Unlust ihres Herrn? Sie lassen ihn büssen, unter dem Mantel des Kreuzes. Dass er eine Lust wenigstens büssen durfte, die ihnen abgesprochen wurde für immer… dafür fressen sie stöhnend. Und stöhnend soll er dafür leiden wie kein Tier.

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Yvonne Naef, Stuart Skelton Spielzeit 2010 / 1 1



Yvonne Naef, Stuart Skelton Spielzeit 2010/11


ZUR PARTITUR DES «PARSIFAL» Theodor W. Adorno

Von aller Wagnerischen Musik ist die des Parsifal am wenigsten ins öffentliche Bewusstsein eingegangen, und über ihr Eigentümliches ist denn auch, sieht man allenfalls von den Formanalysen von Alfred Lorenz ab, wenig Eindringen­ des gesagt worden. Die lex Parsifal, die dem Bühnenweihfestspiel eine Schutz­ frist über die damals geltenden dreissig Jahre hinaus verschaffen sollte, kam nicht zustande; dafür aber umgibt es eine Art Schutzschicht, an der die Ehr­ furcht vorm kultischen Element und die Furcht vor der Langeweile gleichen Anteil haben mögen. Diese Furcht jedenfalls ist grundlos. Gerade in der Schwer­ fälligkeit, die den arglosen Opernbesucher schreckt, verbirgt sich das stets noch befremdend Neue. Ein Moment des Umständlichen war Wagner von je eigen; es hängt zusammen mit seiner suggestiven Gestik, der Neigung, den Hörer tot zu reden. Die Götterdämmerung mahnt zuweilen, in ihrem breiten Musikstrom, an jenen Schwimmer des Uhlandschen Gedichts, den der eigene Panzer niederzwingt; die Armatur der Leitmotive der gesamten Tetralogie, die deren Schlussstück mit sich schleppt, lähmt die Entwicklung. Im Parsifal stei­ gert sich das und schlägt um: der Meister des Übergangs schreibt am Ende eine statische Partitur. Die Kunst des Hörens aber, die verlangt wird und die lernen muss, wer das Werk begreifen will, ist, wie schon an gewissen Stellen der Götter­ dämmerung, eine des Nachhörens: des Lauschens. Der versteht den Parsifal, der das Zuviel daran, das Extravagante, versteht, Eigenheit und Manier, wie schon im Beginn des Vorspiels jene melodielos schwebenden Holzbläserakkor­ de, in denen die erste Strophe des Abendmahlthemas vier Takte nach dessen eigentlichem Abschluss verhallt. Es ist, als suchte der Parsifalstil nicht bloss die musikalischen Gedanken darzustellen, sondern deren Aura mitzukom­ponieren, wie sie nicht im Augenblick des Vollzugs, sondern dem des Verklingens sich

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bildet. Nur der kann der Intention folgen, der mehr noch dem Echo der Musik sich überlässt als dieser selbst. Das statische Wesen des Parsifal, erzeugt aus der Idee eines sich gleich bleibenden, wiederholbaren Rituals im ersten und dritten Akt, heisst komposi­ torisch: über weite Strecken, mit der grossen Ausnahme der Kundryszene des zweiten Aktes, Verzicht auf fliessenden Verlauf und reibende Dynamik. Die Zahl der Motive ist geringer als in den anderen Werken der reifen Zeit. Der Tendenz nach sind die meisten Zaubersprüche, Sigel nach der Art des «Nie sollst du mich befragen» aus dem Lohengrin, auf den die Verfahrungsweise des Parsifal überhaupt, dem Stoff zuliebe, in manchem zurückgreift. Diese Motive sind durch ihren allegorischen Gehalt gleichsam von innen aufgezehrt, aske­ tisch abgemagert, entsinnlicht; sie alle haben, wie das «Parsifal»-Idiom insge­ samt, etwas Gebrochenes, Uneigentliches; die Musik trägt ein schwarzes Visier. Aus dem Nachlassen primärer Erfindungskraft schafft Wagners Gewalt die Tu­ gend eines Altersstils, der nach dem Goetheschen Satz zurücktritt von der Er­ scheinung. Dem Vergleich des umdüsterten, gleichsam abgeblendeten Fan­fa­ ren­motivs des Parsifal mit dem Siegfriedmotiv wird jener Charakter offenbar; als wäre jenes Motiv bereits Zitat aus der Erinnerung. Zugleich jedoch sind die fragmenthaften Motive viel nackter da als etwa im Tristan, viel weniger in­ einander verwoben, weniger in den Gang der Komposition hineingezogen, weniger auch variiert. Oft werden sie, absichtsvoll-unbekümmert, bloss wie Bildchen aneinandergereiht. Die Wendestelle des Ganzen freilich, Kundrys Ruf «Parsifal», löst aus dem Klang der Blumenmädchenensembles, bei zwei festge­ haltenen Mittelstimmen, sich heraus und enthüllt gerade in der Identität mit dem Vorausgehenden sich als nichtidentisch. Meist aber verzichtet die Musik auf jenen Moment des in Schwung Kommens, der sonst gerade die Wagneri­ sche Form definiert. Dem blossen Aneinanderrücken der Motive, dem entsagungsvollen Ver­ zicht auf musikalische Zusammenfassung und freien Abgesang entspricht aller­ orten ein Hang zur Vereinfachung. Wenn gegen Ende des zweiten Akts der Speer überm Haupt des Helden schweben bleibt, so wird das Wunder musika­ lisch nicht durch Glanz und Reichtum der Faktur, sondern durch eine äusserste Reduktion der Mittel gespiegelt. Das Glaubensmotiv in Trompeten und Posau­

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nen, ein Harfenglissando, ein Oktavtremolo der Geigen, das ist alles. Durchweg kehrt die Orchesterbehandlung von Melodieteilung, solistischer Aufspaltung, vom Ideal der kleinsten Differenz sich ab. Sie ist weit chorischer als in den Musikdramen zuvor; Brucknerischer, könnte man sagen. Tuttistellen wechseln mit rezitativähnlichen, nur andeutend begleiteten. Aber das Raffinement dieser Simplizität ist beispiellos; die Finessen sind ausgespart, nicht vergessen. Das cho­rische Verfahren beruht auf Verdopplung. Sie erlaubt kaum einem Instru­ ment, kaum einer Klanggruppe mehr, als solche kenntlich zu werden. Ein Misch­klang, wie der am Anfang, wo das Abendmahlmotiv begleitet wieder­ kehrt, von Geigen, Oboen und einer «sehr zarten», also nicht solistisch hervor­ tretenden Trompete vorgetragen, ist einzigartig. Die Kunst der Bläsermischun­ gen, die im Lohengrin sich auf das Holz beschränkte, wird nun auch dem Blech zuteil: Trompeten sowohl wie Posaunen werden gern durch die bis zum äus­ sers­ten genutzten Hörner verdoppelt. Das mildert die helle Schärfe des Klangs; er wird voller zugleich und dunkler, so wie das Gesamtkolorit des Parsifal: solcher abgeblendete Orchesterklang des gedämpften Forte hat, über den spä­ ten Mahler bis zu Schönberg hin, die äusserste Tragweite für die neue Musik gewonnen. Im Kompositionsmaterial ward die Vereinfachungstendenz zum Archai­ sieren: Kirchentonarten klingen an. Wagners reifste Kompositionserfahrung sucht den alten Widerspruch seines œuvres, den von fanfarenhafter Diatonik und süchtiger Chromatik, zu beschwichtigen, indem diese in die Hölle ver­ bannt wird – der Tristanakkord, in tiefer Holzbläserlage, symbolisiert nun die Klingsorwelt –, während die Diatonik verfremdet, verdunkelt ist durch modale Akkordverbindungen, auffällige Nebenstufen in Moll. Sie zeitigen die viel be­ merkte Anähnelung des Parsifalstils an Brahms, die im Übrigen am äusserlichs­ ten des harmonischen Vorrats haftet und die innere Zusammensetzung der Komposition kaum betrifft. Diese kennt, ausser bei ein paar Themenkombina­ tionen, kaum Polyphonie, auch keine «durchbrochene Arbeit». Dafür zeigt die Harmonik ein selbst der Götterdämmerung gegenüber höchst avanciertes Ele­ ment: die unaufgelöste Dissonanz. Das Vorspiel schliesst mit einem DominantSeptim-Akkord in As-Dur. Nach den Regeln der Harmonielehre mag man das darauf folgende fes der Posaunen, mit dem der ersten Akt beginnt, als Trugfort­

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schreitung deuten; aufgefasst wird – in der Zäsur des aufgehenden Vorhangs – jener Septim-Akkord als absolut, ins Unendliche fragend. Und der schon im Ring verwendete verminderte Septim-Akkord mit der darüber liegenden klei­ nen None des Grundtons, der bei dem grossen Ausbruch des Parsifal im zwei­ ten Akt, «Amfortas! Die Wunde!» ertönt, wird überhaupt nicht harmonisch fortgesetzt, sondern das Kundrymotiv, das der Akkord begleitet, stürzt einstim­ mig ab. Der grossartige Zersetzungsprozess der musikalischen Sprache, die – analog Kundrys expressionistischem Stammeln – sich in unverbundene Ausdrucks­momente dissoziiert, bedroht das traditionelle harmonische Gefüge. Der Parsifal markiert die historische Stelle, wo erstmals der in sich vielschich­ tige, gebrochene Klang sich emanzipiert, für sich selbst einsteht. Wohl war die unmittelbare Wirkung des Parsifal auf die Komponisten weit geringer als die von Tristan, Meistersingern und Ring. Er passt am wenigsten in die neudeutsche Schule; élan vital und bejahende Gebärde fehlen so sehr, dass man die Rettung am Ende so wenig glaubt wie manchmal im Märchen. Gerade im dritten Akt herrscht ein gepresster Ton, dem gegenüber Parsifals Erlösungstat etwas Scheinhaftes und Ohnmächtiges hat; am Ende hielt Wagner seinem Schopenhauer doch besser die Treue, als die es wollen, die ihn zum Apos­tel von Erneuerungen degradieren. Eben darum aber war die unterirdische Wirkung des Parsifal umso nachhaltiger. Was immer dem falschen Glanz ab­ sagte, hat an ihm sich gebildet: die sakrale Oper ist eine Vorform von Sachlich­ keit. Schon an einer klagenden Stelle des Glockenchors aus Mahlers Dritter Sym­phonie steht eine offene Reminiszenz an die Trauermusik für Titurel; und Mahlers Neunte ist ohne den dritten Akt, zumal das fahle Licht des Karfreitags­ zaubers nicht zu denken. Am stärksten aber war der Einfluss auf Debussys Pelléas et Mélisande; die Oper des französischen Antiwagnerianers ist musika­ lisch wie traumhafte Schatten des Musikdramas. Der karge Umriss, das statische Nebeneinander der Klänge, das verhängte Kolorit, das Ineinander von Archaik und Moderne – Mittelalter als Vorwelt –, all das kommt dorther, und der Rhyth­ mus des Parsifalmotivs geistert durch das Gebilde, das am Anfang der neuen westlichen Musik steht und eigentlich schon dem des Neoklassizismus. Durch den Parsifal hindurch drang Wagners Kraft ein in die Generation, die ihm ab­ schwur. Seine Schule ist mit dem Parsifal über sich selbst hinausgegangen.

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Was aber Parsifal mit dem Pelléas gemein hat, ist das Element des Jugendstils, den Wagner in Deutschland inaugurierte, längst ehe es den Namen gab. Die Aura des reinen Toren selber gleicht der des Wortes Jugend um 1900, die «flüchtig hingemachten» Blumenmädchen den ersten Jugendstilornamenten; ein solches Ornament ward als Mélisande zur Heldin. Die Idee des Bühnenweih­ festspiels ist genau eine von Kunstreligion – das Wort ist übrigens noch weit älter, von Hegel – wie im Jugendstil. Das ästhetische Gebilde soll durch die wählerische Konsequenz seines Stils einen metaphysischen Sinn beschwören, dessen Substanz der entzauberten Welt mangle. Auf die Erzeugung solcher «Weihe» ist der Parsifal angelegt: ihr gilt die Aura der Gestalten wie der nach­ hallenden Musik. Dem künstlerischen Ausdruck dessen, was nach dem Scho­ penhauerschen Dogma das Wesen der Welt ist, des blinden Willens durch Mit­ leid, und der Verherrlichung des Quietivs, der Verneinung des Willens durch Mitleid, wird von dem Werk schimärisch die Kraft der Erlösung zugetraut. In der Vergeblichkeit dieser Hoffnung aber, der Unwahrheit des Parsifal, ent­ springt seine Wahrheit, die Unmöglichkeit, aus blossem Geist den entsunkenen Sinn zu beschwören. Der Kunsterlöser bedarf der Erlösung als ein heimlicher Klingsor. Was am Parsifal überdauert, ist der Ausdruck der Hinfälligkeit von Beschwörung selber.

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Stuart Skelton Spielzeit 2010/11


WAS WAGNER UNS KOSTET Friedrich Nietzsche

Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Ein dunkles Gefühl hierüber ist auch heute noch vorhanden. Auch der Erfolg Wagners, sein Sieg, riss dies Gefühl nicht in der Wurzel aus. Aber ehemals war es stark, war es furchtbar, war es wie ein düsterer Hass – fast drei Vierteile von Wagners Leben hindurch. Jener Widerstand, den er bei uns Deutschen fand, kann nicht hoch genug ge­ schätzt und zu Ehren gebracht werden. Man wehrte sich gegen ihn wie gegen eine Krankheit, – nicht mit Gründen – man widerlegt keine Krankheit –, son­ dern mit Hemmung, Misstrauen, Verdrossenheit, Ekel, mit einem finsteren Ernste, als ob in ihm eine grosse Gefahr herumschliche. Die Herren Ästhetiker haben sich blossgestellt, als sie, aus drei Schulen der deutschen Philosophie heraus, Wagners Prinzipien mit «wenn» und «denn» einen absurden Krieg machten – was lag ihm an Prinzipien, selbst den eigenen! – Die Deutschen selbst haben genug Vernunft im Instinkt gehabt, um hier sich jedes «wenn» und «denn» zu verbieten. Ein Instinkt ist geschwächt, wenn er sich rationalisiert: denn damit, dass er sich rationalisiert, schwächt er sich. Wenn es Anzeichen dafür gibt, dass, trotz dem Gesamt-Charakter der euro­ päischen décadence, noch ein Grad Gesundheit, noch eine Instinkt-Witterung für Schädliches und Gefahrdrohendes im deutschen Wesen wohnt, so möchte ich unter ihnen am wenigsten diesen dumpfen Widerstand gegen Wagner unter­ schätzt wissen. Er macht uns Ehre, er erlaubt selbst zu hoffen: so viel Gesund­ heit hätte Frankreich nicht mehr aufzuwenden. Die Deutschen, die Verzögerer par excellence in der Geschichte, sind heute das zurückgebliebenste Kulturvolk Europas: dies hat seinen Vorteil – eben damit sind sie relativ das jüngste. Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Die Deutschen haben eine Art Furcht vor ihm vor ganz kurzem erst verlernt – die Lust, ihn loszusein,

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kam ihnen bei jeder Gelegenheit. – Erinnert man sich eines kuriosen Umstan­ des noch, bei dem, ganz zuletzt, ganz unerwartet, jenes alte Gefühl wieder zum Vorschein kam? Es geschah beim Begräbnisse Wagners, dass der erste deutsche Wagner-Verein, der Münchener, an seinem Grabe einen Kranz nieder­legte, dessen Inschrift sofort berühmt wurde. «Erlösung dem Erlöser!» – lautete sie. Jedermann bewunderte die hohe Inspiration, die diese Inschrift diktiert hatte, jedermann einen Geschmack, auf den die Anhänger Wagners ein Vorrecht ha­ ben: viele aber auch (es war seltsam genug!) machten an ihr dieselbe kleine Korrektur: «Erlösung vom Erlöser!» – Man atmete auf. – Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Messen wir sie an ihrer Wirkung auf die Kultur. Wen hat eigentlich seine Bewegung in den Vorder­ grund gebracht? Was hat sie immer mehr ins Grosse gezüchtet? – Vor allem die Anmassung des Laien, des Kunst-Idioten. Das organisiert jetzt Vereine, das will seinen «Geschmack» durchsetzen, das möchte selbst in rebus musicis et musi­ cantibus den Richter machen. Zu zweit: eine immer grössere Gleichgültigkeit gegen jede strenge, vornehme, gewissenhafte Schulung im Dienste der Kunst; an ihre Stelle gerückt den Glauben an das Genie, auf deutsch: den frechen Dilettantismus (– die Formel dafür steht in den Meistersingern). Zu dritt und zu schlimmst: die Theatrokratie –, den Aberwitz eines Glaubens an den Vor­ rang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters über die Künste, über die Kunst. Aber man soll es den Wagnerianern hundertmal ins Gesicht sagen, was das Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! Daran hat auch Wagner nichts verändert: Bayreuth ist grosse Oper – und nicht einmal gute Oper... Das Theater ist eine Form der Demolatrie in Sachen des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiszit gegen den guten Geschmack... Dies eben beweist der Fall Wagner: er gewann die Menge – er verdarb den Geschmack, er verdarb selbst für die Oper unsren Geschmack! – Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Was macht sie aus dem Geist? Befreit Wagner den Geist? – Ihm eignet jede Zweideutigkeit, jeder Dop­ pelsinn, alles überhaupt, was die Ungewissen überredet, ohne ihnen zum Be­ wusstsein zu bringen, wofür sie überredet sind. Damit ist Wagner ein Verführer

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grossen Stils. Es gibt nichts Müdes, nichts Abgelebtes, nichts Lebensgefährli­ ches und Weltverleumderisches in Dingen des Geistes, das von seiner Kunst nicht heimlich in Schutz genommen würde – es ist der schwärzeste Obskuran­ tismus, den er in die Lichthüllen des Ideals verbirgt. Er schmeichelt jedem ni­ hilistischen (– buddhistischen) Instinkte und verkleidet ihn in Musik, er schmeichelt jeder Christlichkeit, jeder religiösen Ausdrucksform der décadence. Man mache seine Ohren auf: alles, was je auf dem Boden des verarmten Lebens aufgewachsen ist, die ganze Falschmünzerei der Transzendenz und des Jen­ seits, hat in Wagners Kunst ihren sublimsten Fürsprecher – nicht in Formeln: Wagner ist zu klug für Formeln – sondern in einer Überredung der Sinnlich­ keit, die ihrer seits wieder den Geist mürbe und müde macht. Die Musik als Circe... Sein letztes Werk ist hierin sein grösstes Meisterstück. Der Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behal­ ten, als der Geniestreich der Verführung... Ich bewundere dies Werk, ich möch­ te es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich es... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis von Schön­ heit und Krankheit geht hier so weit, dass es über Wagners frühere Kunst gleich­sam Schatten legt – sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand beinahe?... So weit sind wir schon reine Toren... Niemals gab es einen grösseren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen – nie lebte ein gleicher Kenner alles klei­ nen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen, aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! – Trinkt nur, meine Freunde, die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen Seele mit Zauber­ mädchen-Tönen zu willen redet! – Es gab nie einen solchen Todhass auf die Erkenntnis! – Man muss Zyniker sein, um hier nicht verführt zu werden, man muss beissen können, um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich – cave canem... Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Ich beobachte die Jüng­ linge, die lange seiner Infektion ausgesetzt waren. Die nächste, relativ unschul­

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dige Wirkung ist die Verderbnis des Geschmacks. Wagner wirkt wie ein fortge­ setzter Gebrauch von Alkohol. Er stumpft ab, er verschleimt den Magen. Spezifische Wirkung: Entartung des rhythmischen Gefühls. Der Wagnerianer nennt zuletzt rhythmisch, was ich selbst, mit einem griechischen Sprichwort, «den Sumpf bewegen» nenne. Schon viel gefährlicher ist die Verderbnis der Begriffe. Der Jüngling wird zum Mondkalb – zum «Idealisten». Er ist über die Wissenschaft hinaus; darin steht er auf der Höhe des Meisters. Dagegen macht er den Philosophen; er schreibt Bayreuther Blätter; er löst alle Probleme im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Meisters. Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbnis der Nerven. Man gehe nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass mit feierlicher Wut Instrumente genotzüchtigt werden – ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? – Die Jünglinge beten Wagner an... Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt. – Typisches Telegramm aus Bayreuth: bereits bereut. – Wagner ist schlimm für die Jünglinge; er ist verhängnisvoll für das Weib. Was ist, ärztlich gefragt, eine Wagnerianerin? – Es scheint mir, dass ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-Alternative stellen könnte: eins oder das andere. – Aber sie haben bereits gewählt. Man kann nicht zween Herren dienen, wenn der eine Wagner heisst. Wagner hat das Weib erlöst; das Weib hat ihm dafür Bayreuth gebaut. Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat nichts, was man ihm nicht geben würde. Das Weib verarmt sich zugunsten des Meisters, es wird rührend, es steht nackt vor ihm. – Die Wagnerianerin – die anmutigste Zweideutigkeit, die es heute gibt; sie verkörpert die Sache Wagners – in ihrem Zeichen siegt seine Sache... Ah, dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre Frauen und schleppt sie in seine Höhle... Ah, dieser alte Minotaurus! Was er uns schon gekostet hat! Alljährlich führt man ihm Züge der schönsten Mädchen und Jünglinge in sein Labyrinth, damit er sie verschlinge – alljährlich intoniert ganz Europa «auf nach Kreta! auf nach Kreta!...»

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Stuart Skelton Spielzeit 2010/11


Spielzeit 2010/11



PARSIFAL RICHARD WAGNER (1813–1883) Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen Libretto vom Komponisten Uraufführung: 26. Juli 1882, Festspielhaus Bayreuth

Personen

Amfortas Titurel

Bariton Bass

Gurnemanz Parsifal Klingsor Kundry

Bass

Tenor

Bariton

Mezzosopran

Zwei Gralsritter Vier Knappen

Tenor und Bass

Sopran und Tenor

Klingsors Zaubermädchen

Sopran und Alt

Stimme aus der Höhe

Alt

Chor

Die Brüderschaft der Gralsritter Jünglinge und Knaben

Tenor und Bass

Tenor, Alt und Sopran


ERSTER AUFZUG VORSPIEL Im Gebiet des Grals. – Wald, schattig und ernst, doch nicht düster. Eine Lichtung in der Mitte. Links aufsteigend wird der Weg zur Gralsburg angenommen. Der Mitte des Hintergrundes zu senkt sich der Boden zu einem tiefer gelegenen Waldsee hinab. – Tagesanbruch. – Gurnemanz (rüstig greisenhaft) und zwei Knappen (von zartem Jünglingsalter) sind schlafend unter einem Baume gelagert. – Von der linken Seite, wie von der Gralsburg her, ertönt der feierliche Morgenweckruf der Posaunen.

Nach allen Kräutern, allen Tränken forscht und jagt weit durch die Welt: ihm hilft nur eines, – nur der Eine! ZWEITER RITTER

So nenn uns den! GURNEMANZ ausweichend

Sorgt für das Bad! Die beiden Knappen haben sich dem Hintergrunde zugewendet und blicken nach rechts. ZWEITER KNAPPE

Seht dort die wilde Reiterin! ERSTER KNAPPE

GURNEMANZ erwachend und die Knaben rüttelnd

Hei! Wie fliegen der Teufelsmähre die Mähnen!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben He! Ho! Waldhüter ihr, – Schlafhüter mitsammen, – so wacht doch mindest am Morgen.

ZWEITER RITTER

Ha! Kundry dort?

Die beiden Knappen springen auf.

Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott, dass ihr berufen, ihn zu hören!

Gurnemanz senkt sich mit den Knappen auf die Knie und verrichtet mit ihnen gemeinschaftlich stumm das Morgengebet; sobald die Posaunen schweigen, erheben sie sich langsam.

Jetzt auf, ihr Knaben! Seht nach dem Bad. Zeit ist’s, des Königs dort zu harren.

ERSTER RITTER

Die bringt wohl wicht’ge Kunde? ZWEITER KNAPPE

Die Mähre taumelt. ERSTER KNAPPE

Flog sie durch die Luft?

Er blickt nach links in die Szene.

Dem Siechbett, das ihn trägt, voraus seh ich die Boten schon uns nahn.

ZWEITER KNAPPE

Jetzt kriecht sie am Boden hin.

Zwei Ritter treten, von der Burg her, auf.

Heil euch! Wie geht’s Amfortas heut? Wohl früh verlangt er nach dem Bade: das Heilkraut, das Gawan mit List und Kühnheit ihm gewann, ich wähne, dass das Lind’rung schuf?

ERSTER KNAPPE

Mit den Mähnen fegt sie das Moos. Alle blicken lebhaft nach der rechten Seite. ZWEITER RITTER

Da schwingt sich die Wilde herab!

ZWEITER RITTER

Das wähnest du, der doch alles weiss? Ihm kehrten sehrender nur die Schmerzen bald zurück: schlaflos von starken Bresten, befahl er eifrig uns das Bad. GURNEMANZ das Haupt traurig senkend

Toren wir, auf Lind’rung da zu hoffen, wo einzig Heilung lindert!

KUNDRY stürzt hastig, fast taumelnd, herein. Wilde Kleidung, hoch geschürzt; Gürtel von Schlangenhäuten lang herabhängend: schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar; tief braun-rötliche Gesichtsfarbe; stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr und unbeweglich. – Kundry eilt auf Gurnemanz zu und dringt ihm ein kleines Kristallgefäss auf.

Hier? Nimm du! – Balsam...


Programmheft PARSIFAL Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen von Richard Wagner (1813–1883) Premiere am 26. Juni 2011, Spielzeit 2010/11 Wiederaufnahme am 25. Februar 2018, Spielzeit 2017 / 18

Herausgeber

Intendanz

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich Andreas Homoki Ronny Dietrich Carole Bolli, Joachim Buroh Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise Die Inhaltangabe sowie der Beitrag «Geniestreich der Verführung» wurden für dieses Programmbuch geschrieben – Egon Voss, «Die Möglich­keit der Klage in der Wonne», in «Wagner. Parsi­fal – Der Opern­führer. Libretto, Analyse, Kommentare, Dokumenta­ tion» hrsg. von Ulrich Dürner, München 1990 – Richad Wagner, «‹Parsifal›-Prosa-Ent­ wurf», in «Richard Wagner. Das Braune Buch. Tage­buchaufzeichnungen 1865 bis 1882», hrsg. von Joachim Bergfeld, München 1988 – Nora Eckert, «Auf der Suche nach Erlösung», in Nora Eckert: «Parsifal 914 – Über Heils­bringer, Volkes Wille und die Instrumentalisierung des Krieges», Hamburg 2003 – Peter Wapnewski, «Das Welt­ab­schiedswerk: Parsifal», in Peter Wap­new­ski: «Tristan der Held Richard Wagners», Berlin 1981 – Adolf Muschg, «Unterweisung» und «Wie Anfortas noch einmal an seiner Wunde leidet, dass es nicht mehr schön ist»,

Studio Geissbühler Fineprint AG

Auszüge aus Adolf Muschg: «Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl», Frankfurt /Main 1993 – Theodor W. Adorno, «Zur Partitur des ‹Parsifal›», in Theodor W. Adorno: «Moments musicaux», Frank­furt /Main 1964 – Friedrich Nietzsche, «Was Wagner uns kostet», in «Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Schriften und Auf­zeich­nungen über Richard Wagner», hrsg. von Dieter Borch­meyer, Frankfurt /Main, 1983. Bildnachweise Suzanne Schwiertz fotografierte das «Parsifal»-Ensemble bei den Klavierhauptproben am 18. und 21. Juni 2011. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Walter Haefner Stiftung Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Max Kohler Stiftung

Kühne-Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Swiss Life Swiss Re Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

GÖNNER Abegg Holding AG LANDIS & GYR STIFTUNG Accenture AG Juwelier Lesunja Josef und Pirkko Ackermann Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Alfons’ Blumenmarkt Stiftung Lyra zur Förderung hochbegabter, Allreal junger Musiker und Musikerinnen Ars Rhenia Stiftung Die Mobiliar Familie Thomas Bär Fondation Les Mûrons Berenberg Schweiz Neue Zürcher Zeitung AG Beyer Chronometrie AG Notenstein La Roche Privatbank AG Elektro Compagnoni AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung Stiftung Melinda Esterházy de Galantha StockArt – Stiftung für Musik Fitnessparks Migros Zürich Van Cleef & Arpels, Zürich Fritz Gerber Stiftung Verein «500 Jahre Zürcher Reformation» Gübelin Jewellery Else von Sick Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Walter B. Kielholz Stiftung Zuger Stiftung für Wirtschaft und Wissenschaft KPMG AG Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung FÖRDERER Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Luzius R. Sprüngli Garmin Switzerland Elisabeth Stüdli Stiftung Goekmen-Davidoff Stiftung Fondation SUISA Horego AG Confiserie Teuscher Sir Peter Jonas Madlen und Thomas von Stockar Richards Foundation Zürcher Theaterverein


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