Girl with a Pearl Earring

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GIRL WITH A PEARL EARRING

STEFAN WIRTH


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GIRL WITH A PEARL EARRING STEFAN WIRTH (*1975)

Mit freundlicher Unterstützung LANDIS & GYR STIFTUNG Pro Helvetia Ringier AG Kompositionsauftrag des Opernhauses Zürich gefördert durch die


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«Er ist ein aussergewöhnlicher Mann», sagte van Leeuwenhoek. «Seine Augen sind nicht mit Gold aufzuwiegen. Aber manchmal nimmt er die Welt nur so wahr, wie er sie sehen möchte, und nicht so, wie sie ist. Ihm ist nicht klar, welche Folgen sein Idealismus für andere haben könnte. Er denkt nur an sich und seine Arbeit, nicht an dich. Du musst achtgeben, dass…» Er brach ab. Die Schritte


meines Herrn waren auf den Stufen zu hören. «Achtgeben worauf, Mijnheer?», flüsterte ich. «Dass du bleibst, wer du bist.» Ich reckte das Kinn vor. «Dass ich eine Dienstmagd bleibe, Mijnheer?» «Das meine ich nicht. Die Frauen auf seinen Gemälden – er verlockt sie in seine Welt. Du könntest dich darin verlieren.» Tracy Chevalier: Das Mädchen mit dem Perlenohrring


HANDLUNG I Tanneke, die Dienstmagd der Vermeers, überbringt Griet die Nachricht, dass die Ehefrau des verstorbenen Malers sie sehen möchte. Die Vergangenheit wird lebendig: Jan und Catharina Vermeer begutachten Griet, die bei ihnen als Dienstmagd anfangen soll. Vermeer fällt auf, dass Griet das Suppengemüse nach Farben angeordnet hat. Griets Mutter erklärt ihr, dass sie keine andere Wahl haben: Griet muss für ihre Familie Geld verdienen. Am Sonntag darf sie jeweils nach Hause kommen. Als Erinnerung an ihre Familie erhält Griet eine Fliese, die ihr blind gewordener Vater früher gestaltet hat. Vor dem Haus der Vermeers wird Griet bereits von den Kindern erwartet. Sie lernt Tanneke kennen, die ihr das Haus zeigt und die Arbeiten zuteilt. Das Haus gehört Jan Vermeers Schwiegermutter, Maria Thins. Griet merkt bald, dass diese alte, wachsame Frau das Schicksal dieses Hauses in der Hand hat. Später begegnet Griet Vermeers Frau Catharina, die ein Kind erwartet. Zu Griets Aufgaben gehört auch der Gang zum Fleischer Pieter. Am folgenden Tag führt Catharina Griet in das Atelier des Malers. Der Geruch des Leinöls, mit dem Vermeer seine Farben mischt, erinnert Griet an ihren Vater. Sie prägt sich sorgfältig ein, wo jedes Ding steht. Beim Reinigen darf sie nichts an der Ordnung verändern. Bei einem weiteren Einkauf begegnet Griet dem Fleischer Pieter erstmals alleine. Am Sonntag darf sie mit ihrem Lohn nach Hause gehen.

II Beim Reinigen des Ateliers begegnet Griet Vermeer. Er erklärt ihr seine Camera obscura, ein optisches Hilfsmittel, das er beim Malen verwendet. Griet blickt in den Apparat und ist fasziniert. Die Kinder spielen vor dem Haus, als der Kunstmäzen van Ruijven kommt, um ein Gemälde abzuholen. Sein lüsterner Blick fällt auf Griet.

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Griet ist wieder bei Vermeer im Studio. Der Maler lehrt sie, die Farben differenzierter zu betrachten. Er ist von ihrer Wahrnehmungsgabe beeindruckt und möchte, dass sie ihm bei der Arbeit assistiert. Maria Thins hat gemerkt, dass Griet viel Zeit im Atelier verbringt. Da Vermeer schneller arbeitet, lässt sie sie gewähren, befiehlt ihr aber, mit niemandem darüber zu sprechen. An einem Sonntag in der Kirche lernt Griets Mutter Pieter kennen. Sie lädt ihn zum Essen ein. Später tauschen Pieter und Griet Zärtlichkeiten aus. Pieter wünscht sich, ihr Haar zu sehen, das sie stets unter einer Haube versteckt.

III Vermeer ist fast fertig mit einem neuen Gemälde. Maria Thins zeigt sich erfreut. Die Familie benötigt dringend Geld. Bei einem Besuch fordert van Ruijven ein Gemälde, auf dem Griet zu sehen ist. Vermeer und Griet sind im Atelier. Griet will nicht als Dienstmagd gemalt werden. Vermeer möchte Griet so malen, wie er sie zuerst gesehen hat. – Als sie das Gemälde von sich sieht, bemerkt Griet, dass noch etwas Entscheidendes fehlt: Sie ahnt, dass Vermeer vorhat, sie mit den Perlenohrringen seiner Frau zu malen, und befürchtet, dass dies ihr Ende in diesem Haus bedeuten könnte. Vermeer sieht Griets Haar, während sie sich umzieht. Griet sucht Pieter in der Taverne und geht mit ihm nach draussen. Sie werden intim. Kurz darauf versucht van Ruijven Griet zu vergewaltigen. Die Kinder halten ihn davon ab. Als Catharina ausser Haus ist, händigt Maria Thins Griet die Perlen aus. Griet begibt sich ins Atelier, wo Pieter eindringt und ihr einen Heiratsantrag macht. Griet bittet Vermeer, ihr Ohrlöcher zu stechen. Die Gegenwart kehrt zurück: Vermeer ist gestorben. In seinem Testament hat er verfügt, dass Griet die Perlen bekommt. Trotz finanzieller Not, besteht Catharina darauf, dass Griet die Perlen nimmt. Ein kurzer Moment der Erinnerung: Catharina hat entdeckt, dass Griet die Perlen getragen hat. Sie ist ausser sich und will Griet nicht mehr dulden. Griet verlässt das Haus. Es bleibt die Erinnerung an Vermeer. Sie verkauft die Perlen.

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Das Leben ist ein leuchtender Nimbus, eine halb-durchsichtige Hülle, die uns vom Anfang unseres Bewusstseins an bis zum Ende umgibt. Virginia Woolf



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RADIKALE INNERE ZUSTÄNDE Der Schweizer Komponist Stefan Wirth über die Stoffwahl und stilistische Überlegungen in seiner Oper «Girl with a Pearl Earring»

Stefan, Girl with a Pearl Earring ist deine erste grosse Oper. Was hattest du dir vorgenommen, als du anfingst, sie zu schreiben? Sie sollte einen Sog entwickeln, dem man sich nicht entziehen kann. Das war mir am wichtigsten, denn das macht für mich eine gute Oper aus. Und was sollte sie auf keinen Fall werden? Verzopft und altmodisch. Sie sollte aber andererseits auch kein abstraktes Kon­strukt werden, in dem man sich für die Figuren nicht mehr interessiert. Ich wollte, dass die Oper auf einer Geschichte aufbaut, aber radikale innere Zustände aufsucht. Manche Komponistinnen und Komponisten deiner Generation halten die Oper grundsätzlich für eine abgelebte Form, der man nichts Neues mehr hinzufügen kann. Wie ist das für dich? Ich habe ein Problem damit, wenn die Forderung nach Neuem gegen das Tradierte in Stellung gebracht wird. Mich interessiert nämlich vieles in der Musik, und wenn mich etwas packt, steige ich ein, egal aus welcher Zeit oder aus welchem Genre es stammt. Ich halte mich als Komponist nicht nur in einem, woran auch immer fest­ge­machten Jetztmoment auf und bewohne mit meinen Hörgewohnheiten ge­wisser­­massen die gesamte Musikgeschichte. Und gerade was die Oper angeht, habe ich Lust, mich auf den vermeintlichen Anachronismus der Form einzulassen. Deshalb habe ich mir auch ein – auf den ersten Blick – konventionelles literarisches Sujet ausgesucht. Ich nutze das als Plattform, um von dort aus zu Neuem aufzubrechen. Wenn man eine

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Oper schreiben will, muss man viele Konventionen akzep­tie­ren. Man kann sie alle abräumen, das ist überhaupt kein Problem, ich mache das bei anderen kompositorischen Arbeiten auch, aber dann ist es keine Oper mehr. Es gab Zeiten, in denen es verpönt war, mit zeitgenössischer Oper über­ haupt noch Geschichten erzählen zu wollen. Sind die end­gültig vorbei? Absolut. Dieses Traditionsverbot der Moderne ist abgeräumt. Wobei ich finde, dass diese heroische Zeit der Neuen Musik mit ihren Dogmen heute fast schon zu sehr diffamiert wird. Sie hat grossartige Werke und kompositorische Möglichkeiten hervorgebracht, die bis heute noch nicht ausgeschöpft sind. Man kann immer nur wieder staunen, wenn man sich damit beschäftigt. Aber natürlich hat eine aus­schlies­sende Ästhetik in den Zeiten der Globalisierung und der kulturellen Öffnung ausgedient. Heute bewegt sich die Gegen­ wartsmusik in einem grossen ästhetischen Freiraum. Ich versuche den zu nutzen, ohne so zu tun, als hätte es das 20. Jahrhundert nicht gegeben, denn das ist immer noch die Musik, die ich am meisten höre. Wir Komponisten können uns aus allen Epochen und existierenden Traditionen und künstlich erschaffenen Welten etwas bauen. Wichtig dabei ist, dass wir nicht dem Mainstream folgen und Erfolgsumfragen bedienen müssen. Das ist immer schwerer zu vermitteln. Aber es ist die Basis: Autorenmusik. Die ungebundene Recherche einer Autorin, eines Autors oder eines Kollektivs bleibt das einzige ästhetische Kri­te­rium für die Gegenwartsmusik.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Der Stoff, den du für deine Oper gewählt hast, war kommerziell sehr erfolgreich. Erwuchs daraus kein Problem für dich? Der Roman der ame­ ri­kanischen Schriftstellerin Tracy Chevalier war ein Bestseller, er wurde mit dem Holly­wood-Star Scarlett Johansson verfilmt. Und du schreibst eine Oper, die sich freimacht von dem Erfolg und nur, wie du es nennst, deiner Recherche folgt? Am Anfang, als wir uns um die Rechte bemühten, war es schwierig, weil da zwei Welten und völlig unterschiedliche Arten zu denken aufeinanderprall­ten. Der Agent von Tracy Chevalier war Feuer und Flamme für die Idee, den Stoff zu vertonen und sagte: Super, das bringen wir an den Broadway

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und spielen es im Londoner Westend. Können Sie mir nicht schon mal zwei, drei Songs schicken, damit ich einen ersten Eindruck davon kriege? Und ich musste sagen: Sorry, damit kann ich nicht dienen, mir schwebt etwas anderes vor. Das Opernhaus hat dann bei den Verhandlungen um die Rechte deutlich machen können, dass sich kommerzielle Hoffnungen bei einer Opern-Ur­aufführung kaum erfüllen werden und es aus­schliess­lich um die Ermöglichung von Kunst geht. Man spürte auch den Unterschied im Kultur­ver­ständnis zwischen der angelsächsischen Welt und dem alten Europa. Aber wir bekamen die Rechte. Das haben wir vor allem Tracy Chevalier zu ver­danken, die die Art des Projekts verstanden und sehr unterstützt hat. Wie bist du auf den Stoff gekommen? Das Opernhaus hat mich gefragt, ob es einen Stoff gibt, den ich gerne vertonen würde. Ich sass im Garten, habe darüber nachgedacht und plötzlich fiel mir dieses Buch ein, das ich vor Jahren gelesen hatte – Girl with a Pearl Earring. Das war’s! Ich bin bei der spontanen Idee geblieben. Ich kenne das vom Komponieren, es braucht diesen einen intuitiven Moment, in dem man spürt: Hier liegt etwas verborgen, das sich auszuloten lohnt, und von der ersten Note an spürst du, dass das Projekt möglich ist. Diese Intuition hat dich auch später nicht mehr getrogen? Nein, grundsätzlich habe ich das nicht mehr in Frage gestellt, obwohl es natürlich auf dem Weg schwierige Phasen gab. Sehr wichtig war die enge Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Librettisten Philip Littell, der genau verstanden hat, worum es mir geht und mit mir gemeinsam das Formgerüst geschaffen und einzelne Szenen auch immer wieder umgearbeitet hat. Was braucht ein literarischer Stoff, damit er sich für eine Oper eignet? Er muss Raum lassen für Musik. Das Buch spielt in der Welt des holländischen Malers Jan Vermeer. Es geht um das Betrachten von Bildern und Menschen und was der Anblick in den Betrachtern auslöst. Es geht um intensivierte Wahrnehmung, um Beziehungsspannungen, um Unausgesprochenes, aber umso stärker Empfundenes. Da höre ich sofort Musik.

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Tracy Chevalier erzählt eine fiktive Geschichte um die Entstehung von Vermeers Gemälde Mädchen mit einem Perlenohrring. Sie geht der Frage nach, wer das junge Mädchen auf dem berühmten Bild ist und in wel­ chem Ver­hältnis es zum Maler stand. Sie entwickelt eine Geschichte ohne spektakuläre äussere Ereignisse. Was geschieht, passiert klandestin. Ist es gut für eine Oper, wenn die literarische Vorlage handlungsarm ist? Das ist sehr gut. Ich will ja nicht zum Sklaven des Plots werden. Interessant wird es doch in der Oper immer dann, wenn die Handlung still steht, wie im berühmten Rigoletto-Quartett, in dem Verdi die Zeit anhält und alle Prota­gonisten gleichzeitig ihre unterschiedlichen Gefühle nach aussen kehren. Im Zentrum des Stoffes steht die Dienstmagd Griet. Sie ist das Mädchen Das komplette Programmbuch mit dem Perlenohrring. Wer ist diese Griet? Tracy erzählt die Geschichte aus Griets Perspektive. Es ist ihre Sicht auf die können Sie auf Welt, die in dem Buch zum Ausdruck kommt. Sie wird zwar von Vermeer gemalt, aber sie entwirft bei Tracy auch ein Bild von Vermeer. Darum habe ich www.opernhaus.ch/shop auch als Komponist quasi durch ihre Augen geblickt. Griet ist eine Figur mit vielen Fa­cet­ten. Sie hat die Dienstmagdstelle im Haus der Vermeers wider oder am Vorstellungsabend immuss Foyer Willen angetreten, weil ihre Familie in Not geraten ist. Als Bedienstete sie mit harter Arbeit, Schikane und Belästigung klarkommen. Gleichzeitig hat des sie eine extrem wache Beobachtungs­gabe. Sie erwerben ist hochbegabt und eine Opernhauses Seelenverwandte Vermeers. Sie hat den künst­lerischen Blick und assistiert ihm, indem sie seine Farben herstellt. Gleich­zeitig ist sie unglaublich geschickt darin, die Psychologie der Menschen und Machtver­hält­nisse in dem Haus zu durchschauen. Am Ende findet sie ihren Weg durch dieses Labyrinth und kann alle Bedrohungen, die mal subtiler, mal weniger subtiler Natur sind, ab­ wenden. Sie ist eine stille Heldin, mit der man sich gut identifizieren kann. Und wer ist Vermeer? Er ist die Blackbox. Das ganze Stück basiert darauf, dass man nicht weiss, wer er ist. Das ist ja auch bei der historischen Figur der Fall: Man weiss nicht viel über das Leben des Malers Jan Vermeer. Im Buch kommt er mir manchmal vor wie ein Gott, der nicht anwesend ist, den man aber spürt. Er existiert

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ausschliesslich in seiner Kunst. Deshalb hat Tracy auch so viel von ihr einge­fangen. Vermeer scheint eine warme Seele zu haben, immerhin schützt er Griet. Aber er kann auch kalt und unbeteiligt wirken. Als der Librettist Philip Littell und ich erfuhren, dass Thomas Hampson die Rolle übernimmt, haben wir darüber diskutiert, ob man ihm nicht eine grosse Arie komponieren sollte. Aber wir kamen zu dem Schluss, dass dieser Vermeer seine Gefühle nicht offenbart, indem er eine Arie singt. Er ist die grosse Leerstelle. Mich fasziniert an Vermeers Kunst auch, welche Bedeutung den Objekten in seinen Bildern zukommt, wie sinnlich und liebevoll sie von ihm in den Blick ge­nommen werden. Sie sprechen. Es scheint, als interessiere er sich mehr für den drapierten Samtstoff als für die Frau am Cembalo. Da entsteht ein Sog jenseits der Figuren, den ich für die Oper nutzen wollte. Wie ist das Verhältnis zwischen Griet und Vermeer? Das ist das grosse Thema. Ist es ein kühles Angestelltenverhältnis? Ist es die Kunstbeziehung zweier Seelenverwandter? Oder doch eine Liebesgeschichte? Vielleicht sucht Griet in Vermeer ihren Vater, der auch Künstler war und durch einen Unfall erblindet ist. Vielleicht sieht Vermeer in Griet die junge Frau, die Eros in sein Leben bringt. Ist das Verhältnis der beiden geprägt von Einvernehmlichkeit oder missbräuchlich? Es gibt ein grosses Spektrum in dieser Beziehung, und ich habe versucht, alles gleichzeitig zu erzählen. Eine Tat von grosser symbolischer Bedeutung ist im Roman das Stechen der Ohrlöcher. Griet muss die Perlenohrringe von Vermeers Frau tragen. Ja, das ist der einzige Augenblick, in dem er sie berührt und ihr etwas antut. Sie bittet ihn, das Ohr zu durchstechen. Genau. Beim ersten Ohrloch will sie es. Man könnte sagen, es ist die Ver­ einigung der Liebenden mit ihrer Zustimmung. Aber Vermeer besteht darauf, dass auch das zweite Ohr durchstochen wird, das auf dem Bild gar nicht zu sehen ist. Griet sieht das nicht ein. Er zwingt sie. Solche vielschichtigen Momente lassen sich durch Musik natürlich gut erzählen.

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Was folgte kompositorisch für dich aus der Wahl dieses Stoffes? Philip Littell hat im Libretto eine Abfolge von vielen Miniszenen – fast könnte man sagen – Genrebildern geschaffen, die auch im Roman schon so angelegt sind. Sie öffnen wie in der Malerei des 17. Jahrhunderts kleine Fenster in eine intime Welt. Diese Struktur gibt mir die Möglichkeit, was den Stil angeht, zu variieren, die Farben, den Ton, die Atmosphäre immer wieder zu ändern. Deine Partitur spielt mit der Verschränkung von Sichtbarem und Imagi­ niertem, Realem und Erinnertem, Anwesenheit und Abwesenheit. Gerade dieses Changieren macht die Kunstform Oper ja stark. Wir hatten anfangs überlegt, ob man mein Stück als Doppelabend mit Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg kombinieren soll, bevor klar war, dass es dafür zu lang sein würde. Es gibt Parallelen zwischen Blaubarts Welt, seinen Zimmern, dem Verborgenen dahinter und diesem Haus von Vermeer.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Hat dich die Malerei Vermeers beim Komponieren inspiriert? Wenn man eine Oper schreibt, muss man eine Welt erschaffen, und da ist der oder Vorstellungsabend imEr Foyer trans­am zendente Realismus von Vermeer schon eine enorme Anregung. malt die Sachen, die da sind, wie ein Fotograf, und gleichzeitig erfahren sie einedes Über­höhung. Man kommt durch seine Bildererwerben direkt zu Musik. In den Opernhauses Kosmos von Vermeer ein­zu­tauchen, Stimmungen zu hören, surreale Räume zu schaffen – das hatte für mich Potenzial auch im Sinne eines zeitgenössischen Komponierens. Ich habe beispielsweise versucht, Formen zu konstruieren, die aus der Maltechnik von Vermeer abgeleitet sind. Die ist wirklich faszinierend. Man nimmt an, dass er die Camera obscura, also diesen ersten «Fotoapparat», benutzt hat, um die Szenen mit einem unglaublichen Realismus abbilden zu können. Gleichzeitig wählt er einen ganz eigenen Weg, von der Farbe zur Figur zu kommen. Er arbeitet mit Farbaufträgen, schichtet sie auf der Leinwand und irgendwann erscheint die Figur. Sie ist nicht gezeichnet und entsteht daraus wie die Farben aufgetragen werden. In meiner Oper gibt es eine grosse Malszene, das ist der Moment, in dem Vermeer das Mädchen mit dem Perlenohrring malt. Ich habe diese Szene als eine rein

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instru­mentale Szene angelegt und mich von der Vermeerschen Maltechnik inspirieren lassen. Es gibt zunächst nur eine leere Akkord-Leinwand. Dann legt sich eine Farbe darüber, dann die nächste, immer noch ohne Figur. Es kommen einzelne Klang-Punkte hinzu, und langsam beginnt die Figur sich abzu­zeichnen aus einzelnen Tönen, die aus Akkordschichten gefiltert werden. Oper lebt vom Gesang. Fiel es dir leicht für Stimmen zu schreiben? Die Gesangslinien perfekt zu schreiben, war mir extrem wichtig. Es hat mich selbst ein wenig überrascht, wie sehr mich diese Aufgabe eingenommen hat. Ich habe die Phrasen immer wieder überarbeitet, hier noch einen Ton geändert, sie dort ein Viertel früher beginnen lassen, und erst als wirklich alles auf den Punkt war, kam die Emotion, so wie ich sie wollte.

Das komplette Programmbuch Du bist also auf den Spuren Bellinis gewandelt? können Sie auf lacht Ein bisschen. Sonst bin ich eher der strukturalistische Typ. Eine vollendete vokale Linie zu schreiben, ist ein Handwerk, das in der zeitgenössischen Musikwww.opernhaus.ch/shop kaum mehr gepflegt wird. Du kannst heute in der Horizontalen jeden Ton schreiben, den du willst. Das ist das Erbe der Atonalität. Aber ich oder am Vorstellungsabend im Foyer wollte diese Herausfor­ derung, perfekte vokale Linien zu schreiben, bei dieser Oper unbedingt meistern. Dieser Anspruch hat im Komponierprozess bei mir des alles andere überlagert. Opernhauses erwerben Du wusstest, für welche Sängerinnen und Sänger unserer Produktion du schreibst. Hat dich das beflügelt? Extrem. Das Instrument zu kennen, für das man komponiert, war sehr hilf­reich und hat auch meine kompositorischen Entscheidungen beeinflusst. Bei Laura Aikin beispielsweise habe ich gemerkt, ich muss es schwer machen, sie langweilt sich sonst zu Tode. Ich hätte ihre Partie nicht so geschrieben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es für sie ist. Ich wollte die Möglichkeiten ihrer Stimme ausschöpfen. Das gilt ebenso für Lauren Snouffer, die die Partie der Griet singt, für Thomas Hampson als Vermeer und alle anderen. Das Gespräch führte Claus Spahn

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Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge. Baruch de Spinoza



«Welche Farbe haben die Wolken?» «Weiss natürlich, Mijnheer.» Er hob die Augenbrauen ein wenig. «Wirklich?» Ich schaute noch einmal. «Und grau. Vielleicht wird es schneien.» «Jetzt komm, Griet, dir fällt bestimmt etwas Besseres ein. Denk an dein Gemüse.» «Mein Gemüse, Mijnheer?» Er machte eine kleine Kopfbe­­we­gung. Ich verärgerte ihn wieder. Mein Kinn spannte sich an. «Denk daran, wie du das Weiss getrennt hast. Deine Rüben und Zwiebeln – sind sie dasselbe Weiss?» Plötzlich begriff ich. «Nein. Die Rüben haben etwas


Grün drin, die Zwiebeln Gelb.» «Genau. Also, welche Farben siehst du jetzt in den Wolken?» «Ein bisschen Blau», sagte ich, nach­dem ich sie ein paar Minuten an­geschaut hatte. «Und – etwas Gelb. Und da ist ein bisschen Grün!» Ich war so aufgeregt, dass ich mit dem Finger auf sie deutete. Mein ganzes Leben hatte ich Wolken betrachtet, aber in dem Au­genblick kam es mir vor, als würde ich sie zum allerersten Mal sehen. Er lächelte. «Du wirst feststellen, dass die Wolken nur ganz wenig reines Weiss haben, und doch sagen die Leute, dass sie weiss sind.»


NACHDENKEN ÜBER FORM UND GEOMETRIE Der Regisseur Ted Huffman im Gespräch über sein Inszenierungskonzept von Stefan Wirths «Girl with a Pearl Earring»

Ted Huffman, nach Puccinis Madama Butterfly inszenierst du am Opern­ haus Zürich nun die Uraufführung von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring. Was machst du lieber: das Repertoire neu befragen, oder neue Stücke kreieren? Wenn wir wollen, dass die Oper als Kunstform überlebt, dann müssen wir mindestens so viele neue Werke auf die Bühne bringen wie Repertoirestücke. Hälfte-­Hälfte fände ich ein gutes Gleichgewicht. Ich habe selber immer wieder an Urauf­füh­r un­gen mitgearbeitet, nicht nur als Regisseur, sondern auch als Librettist. Es ist schön zu sehen, dass die Anzahl neuer Werke während der Zeit, in der ich am Theater arbeite, enorm gewachsen ist und dass auch das Publikum mitwächst. Ich verbringe viel Zeit damit, neue Stücke zu kreieren und mag diese Arbeit sehr! Aber natürlich liebe ich auch das Repertoire. Ich glaube nicht, dass ich mich für das eine oder das andere ent­scheiden könnte. Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring trägt den Titel eines be­ rühmten Gemäldes von Jan Vermeer. Welche Bedeutung hat dieses Porträt für die Oper? Die junge Frau, die auf Vermeers Gemälde zu sehen ist, blickt den Künstler an, der sie porträtiert. Ich glaube, dass dieser Blick den Betrachter fesselt, weil er so komplex ist: es drückt sich darin Aufregung aus, Angst, aber auch eine Energie, die etwas über das Verhältnis zwischen dem Künstler und der abgebildeten Frau erzählt. Dieses Gemälde ist einzigartig unter Vermeers Werken, weil es im Gegensatz zu seinen anderen Bildern, die oft einen

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grösseren Raumausschnitt zeigen, ganz auf das Gesicht fokussiert ist. Es wirkt sehr persönlich. Über die historische Entstehung dieses Gemäldes wissen wir nichts. Die Autorin Tracy Chevalier hat aber vom Bild aus­gehend eine Geschichte erfunden, die auch in Stefans Oper erzählt wird. Worum geht es? Erzählt wird die Geschichte von Griet, einem Mädchen aus einer unvermö­ gen­den Familie, die im Haushalt des Malers Jan Vermeer als Dienstmagd angestellt wird. Dort wird sie mit den harten Realitäten der damaligen Zeit, des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden, konfrontiert. Sie erfährt, was es bedeutet, eine Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht zu sein. Griet muss lernen, mit den Umständen in Vermeers Haus zu leben. Es ist ein Haushalt mit vielen Kindern, und Vermeers Frau Catharina erwartet schon das nächste. Griet hat aber auch die Aufgabe, im Atelier von Vermeer sauber zu machen, wo sie einer ganz anderen Welt begegnet: der­jenigen der klaren Formen, des Lichts und der Farben. Vermeer entdeckt, dass Griet ein gutes Auge für seine Arbeit hat, und er lässt sie daran teilhaben. So ent­wickelt sich eine intime Beziehung zwischen den beiden. Je weiter die Handlung voran­schrei­ tet, desto klarer wird aber, dass Griet und Vermeer in der realen Welt keine Be­ziehung führen können. Sie können sie nur im Atelier haben, in dem es keine gesellschaftliche Struktur gibt. Auf der Ebene der Kunst können sie sich als Gleichberechtigte begegnen, und in einer Szene erkennt man, dass Griets ästhetisches Urteilsvermögen dasjenige von Vermeer sogar übertrifft.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Tracy Chevaliers Roman schildert diese Geschichte äusserst detailreich. Der Regisseur Peter Webber hat den Roman mit Scarlett Johansson und Colin Firth in den Hauptrollen nah an einer möglichen historischen Realität verfilmt. Was kann eine Oper dem hinzufügen, und wie setzt du dich als Regisseur von diesem prominenten Film ab? Ich muss gestehen, dass ich den Film nicht gesehen habe. Absichtlich. Ich wollte ihn nicht in meinem Kopf haben. Diese Geschichte als Oper zu erzählen, finde ich deshalb interessant, weil Musik und Psychologie sehr eng miteinander verbunden sind. In Tracy Chevaliers Roman gibt es wenig

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Dialog, dafür sehr viele Momente, in denen die Erzählung Griets innere Gedankenwelt wiedergibt. Ich glaube, dass dieser innere Monolog, in dem es um psychologische Strukturen, aber auch um ästhetische Überlegungen geht, auch für Stefans Musik entscheidend waren. Mich inspirieren sie jedenfalls zur Inszenierung: Eine Bühne ist für mich immer ein Raum, der Ge­ danken darstellt, nicht nur äussere Schauplätze. Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass die Vorstellungskraft des Publikums angeregt wird, über die Orte des Geschehens nachzudenken, sie sich vorzustellen. Auf der Bühne wird also nicht eine Strasse in Delft zu sehen sein, aber es wird verschiedene Hinweise geben, die der Vorstellungskraft eine Richtung vorgeben. Waren die Gemälde von Vermeer eine wichtige Inspiration für deine Inszenierung? Auf jeden Fall. Ich kann mich gut erinnern, wie ich während einem Aus­tausch­ semester in London zum ersten Mal Gemälden von Vermeer begegnet bin. Es war in der National Gallery in einem sehr kleinen Eckzimmer. Vermeers Bilder lassen einen tatsächlich innehalten. Ich finde, dass darin eine grosse formale Klarheit und tiefe Menschlichkeit aufeinandertreffen. Man meint, den Geist des Künstlers zu fühlen. Genauso wenig, wie ich ein historisches Setting auf die Bühne bringen möch­te, interessiere ich mich aber dafür, VermeerBilder nachzustellen oder abzubilden. In meiner Inszenierung versuche ich, der Gedankenwelt Griets zu folgen und lasse bewusst Szenen entstehen, die ich dann auch wieder dekonstruiere. Die Menschen, Tische und Stühle möchte ich dabei genauso durchdacht platzieren, wie Vermeer das in seinen Gemälden macht. So will ich das Publikum dazu bringen, über Form und Geometrie nachzudenken. Form spielt in deiner Regiearbeit eine grosse Rolle, das hat schon deine Ma­da­­ma Butterfly gezeigt. Susan Sontag hat in ihrem Essay Against Inter ­pretation in den 1960er Jahren einmal sehr dafür plädiert, sich weni­ger mit dem Inhalt aufzuhalten und dafür die Form von Kunstwer­ ken sichtbar zu machen. Ist das ein Ansatz, der dich geprägt hat? Dieses Thema ist, wie du sagst, nicht neu. Aber ich finde, dass wir, die Opern

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machen, darüber nachdenken und sie besuchen, uns auch heute mit dieser Frage beschäftigen sollten. Ich bin sehr daran interessiert, durch die Form zu sprechen. Und eine Oper, die im Umfeld eines Künstlers spielt, der sich intensiv mit Fragen der Optik, der Geometrie und der Perspektive auseinander­ gesetzt hat, kommt mir da natürlich sehr entgegen. Ich nähere mich den Dingen auch oft durch die Form, wenn ich selber schreibe. Stark formalisierte Stücke wie beispielsweise Sarah Kanes 4.48 Psychose, das ich auch als Kammer­ oper von Philip Venables zur Uraufführung gebracht habe, haben mein Theaterverständnis geprägt. Wie bereitest du dich jeweils auf Uraufführungen vor? Oft muss ja über die Inszenierung nachgedacht werden, bevor das Stück überhaupt fertig vorliegt. Bei Stefans Oper hatte ich ein bisschen mehr Zeit, da diese Oper schon vor zwei Jahren auf die Bühne gelangen sollte. Und das Haus hat mir eine Aufnahme mit Klavier und markierten Singstimmen zur Verfügung gestellt. Das war eine grosse Hilfe. Aber Stefans Musik lebt natürlich stark von den strukturell aus­ge­feilten Klängen, die erst durch das Orchester hör- und erlebbar werden. Drei Wochen vor der Uraufführung weiss ich also noch immer nicht genau, wie das Stück klingen wird und freue mich sehr, bald eine Orchesterprobe zu hören. Allerdings wurde ich als Regisseur sehr früh in das Projekt hereingelassen und hatte die Möglichkeit, mich intensiv mit Tracy Chevalier, Stefan Wirth und dem Librettisten Philip Littell auszutauschen. Es war ihnen wichtig, dass die Bühne kein realistischer Ort, sondern eine abstra­hierte Umgebung ist. Das kam meiner Idee von Theater glückli­cher­­weise sehr entgegen. Ich glaube, es ist auch richtig, dass Musik sich dem Ver­ständnis zunächst entzieht, dass sie sich abstrakt anfühlt. Man muss sich ihr dann annähern. Jetzt, wo ich mit Stefans Musik von Tag zu Tag vertrauter werde, gefällt mir die Art und Weise, wie er die Gedanken der Figuren reflektiert, sehr gut.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Als ich zum ersten Mal von Stefans Idee hörte, eine Oper aus dem Stoff Girl with a Pearl Earring zu machen, war ich ein bisschen skeptisch.

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Oberflächlich gesehen, geht es doch um ein allzu bekanntes Narrativ über den berühmten Künstler und seine Muse… Mir gefällt gerade gut, dass sich diese Geschichte einer solchen Vereinfachung entzieht. Im Mittelpunkt steht nicht der Künstler, sondern die Persönlichkeit und auch die Sexualität von Griet selbst. Zwischen ihr und Vermeer entsteht ausserdem keine sexuelle Beziehung, sondern eine erotische Anziehungs­ kraft, die letztlich in einem künstlerischen Prozess mündet. Mit sexueller Energie wird Griet hingegen von den anderen beiden Männern des Stücks konfrontiert: der Kunsthändler van Ruijven, der viel Geld und Einfluss hat, belästigt Griet und versucht, sich an ihr zu vergreifen. Der junge Fleischer Pieter hingegen konfrontiert sie mit einer Art von sexueller Neugierde, die für Griet zwar ein unbekanntes Gebiet ist, die sie bei Pieter aber zulassen kann. Ich finde, dass Tracy Chevaliers Erzählung und Stefans Oper sehr ehrlich die Herausforderungen, Anziehungen und Gefahren wider­spiegeln, mit der eine junge Frau konfrontiert werden kann. Und im Rahmen der MeToo-Bewegung haben wir in den letzten Jahren glücklicherweise gelernt, diese Themen öffentlich zu diskutieren. Am Ende der Oper bricht Griet aus der Situation in Vermeers Haus aus und entscheidet sich für ein anderes Leben, in dem sie keine Dienstmagd mehr ist. Der grosse Bogen dieser Erzählung beschreibt also, wie eine junge Frau zu sich selbst findet.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Stefan Wirths Oper geht von einem Gemälde Vermeers aus. Im Zentrum der Oper malt Vermeer dieses Porträt. Am Ende ist es dasjenige, was von der Beziehung zwischen Griet und Vermeer übrigbleibt. Ist Kunst an sich auch ein Thema dieser Oper? Ich denke, dass uns diese Oper dazu bringen kann, ein Kunstwerk, das wir vielleicht nur aus der Populärkultur kennen, eingehender zu überdenken und vielfältigere Bedeutungsebenen dahinter zu entdecken. Ausserdem kann sie uns dazu anregen, über die Funktion von Kunst in unserer Gesellschaft nachzudenken. Meiner Meinung nach hilft uns die Kunst dabei, die Welt anders zu verstehen als sie auf den ersten Blick erscheint. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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DER WIRKLICHKEIT ENTRÜCKT In seiner Darstellung «Holländische Kultur im 17. Jahrhundert» versucht Johan Huizinga das Schaffen Jan Vermeers in Worte zu fassen.

Was soll man hier sagen über Jan Vermeer von Delft? Er ist einer der Meister, die alle Fachausdrücke ihrer Kraft berauben und die Kunstwissenschaft aus dem Konzept bringen. Bleiben wir so einfach wie möglich. Vermeer malte, oberflächlich betrachtet, gerade so, wie es seine zahllosen Kunstkameraden auch taten, nichts anderes als die Aussenseite des täglichen Lebens. Warum hat er es – soviel man weiss – beinah nie mit dem Porträt versucht? Doch gewiss nicht, weil er das Wesen seiner Gegenstände nicht tief genug ergründet hätte. Er gibt einen Menschen, mit Vorliebe eine Frau, in einer denkbar einfachen Handlung, in einer nüchternen, aber mit liebevoller Sorgfalt gemalten Umgebung, beim Lesen eines Briefs, beim Ausschenken einer Milchkanne, beim Warten auf ein Schiff. Alle diese unbedeutenden Figuren scheinen weit aus der gewöhnlichen Wirklichkeit entrückt zu sein in eine Sphäre von Klarheit und Harmonie, wo das Wort nicht mehr klingt und der Gedanke keine Form annimmt. Ihr Tun ist voll Geheimnis, wie man in einem Traum wahrzunehmen glaubt. Das Wort Realismus wäre hier ebenso angebracht wie eine Zange zum Fangen eines Ferkels. Es ist alles voll von unvergleichlichem poetischen Gehalt. Sieht man genauer zu, so sind es auch keine holländischen kleinen Frauen aus dem Jahr Sechzehnhundertsoundsoviel, sondern Gestalten aus einer elegischen Traumwelt, voll Ruhe und Frieden. Sie tragen auch nicht das Kostüm der Zeit, sondern dasjenige der Vision; es ist eine Symphonie in Blau und Grün und Gelb. Helles frisches Rot kannte Vermeer nur selten. Sogar jene wunderbare und triumphierende Malerei, die früher in der Sammlung Czernin in Wien zu sehen war, – der Maler vor seiner Staffelei – ist im Ton weder laut noch lebhaft. Vielleicht klingt es zu kühn, wenn ich meine, dass Vermeer gerade dort, wo er ein sehr bestimm-

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tes Geschehen von hoher Weihe zur Darstellung bringt, nämlich in den Emmausgängern*, nach meinem Urteil doch eigentlich nicht ins Schwarze trifft. Es ist nicht ein evangelisches Geschehen, was hier erzählt wird. Der Gegenstand ist lediglich ein Anlass, seinen Farbensinn spielen zu lassen. Vermeer bleibt mit all seinen von der allgemeinen Art abweichenden Qualitäten doch echt holländisch, weil er keine These hat, keine Idee und im strikten Sinn des Wortes auch keinen Stil. * Das Gemälde «Christus und die Jünger aus Emmaus» stellte sich später als Fälschung heraus. Der Kunstfälscher Han van Meegeren malte es 1936-1937.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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SCHÖN UND REINLICH Das Alltägliche und das Vornehme stellen in Vermeers Kunst keinen Widerspruch dar. Der Maler und Kunstkritiker Jan Veth über «holländische Reinlichkeit»

«Weiss gewaschen und hübsch gefaltet, ist eine Zierde für die Frauen», lautet ein alter Wäschemangel-Reim, dem Vermeer zugestimmt haben könnte. Obwohl sich seine Kunst stark von derjenigen seiner Landsleute und Zeitgenossen unter­ scheidet, ist er in dieser Hinsicht viel holländischer als sie. Nicht von ungefähr ist der Ausdruck für den Begriff schoon (schön) in unserem Idiom mit proper (reinlich) zusammengewachsen. So kann man auch das Wesen von Vermeers Schön­heitsdrang nicht von seinem unstillbaren Durst nach dem Reinlichen, Angemessenen, Kantigen und Wohlgeordneten trennen. Das zeigt sich unwillkürlich auch in diesem Gemälde [Der Liebesbrief]: Bei keinem anderen Maler wird man je den Besen, die beim Eintreten des Zimmers ausgezogenen Hausschuhe des Dienstmädchens, den Wäschekorb und das Nähkissen so gekonnt mit der Umgebung einer Lautenspielerin in Einklang gebracht sehen, die in Hermelin und Seide gekleidet und mit Perlen behängt vor einer Ledertapete dargestellt ist. Erlesene Vornehmheit und bürgerliche Gepflegtheit können bei Vermeer Hand in Hand gehen, da er die sprichwörtliche holländische Reinlichkeit im Sinne des Geistesadels und der Poesie überhöht hat.

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MANCHMAL SIEHT MAN SO MEHR Auszüge aus einem Gespräch zwischen dem Kunstkritiker Martin Gayford und dem Künstler David Hockney über die optischen Hilfsmittel von Jan Vermeer

Martin Gayford: Schon vor Längerem hat man bemerkt, dass Vermeer und Antoine van Leeuwenhoek nicht weit voneinander lebten (der grosse Wissenschaftler kümmerte sich nach dem Tod des Malers um dessen Nachlass). Neue Forschungen haben vor Kurzem ergeben, dass diese beiden weltberühmten Persönlichkeiten Teil einer untereinander stark verbundenen Gruppe lokaler Kunsthandwerker, Künstler und Amateurwissenschaftler waren, die bereits seit dem späten 16. Jahrhundert existierte. Zwei dieser Männer sind für Vermeers Werk von besonderer Bedeutung. Jacob Spoors (1595-1677), ein Notar, Chirurg und Geometer, führte optische Experimente durch. In seinem Buch Rede von den Neuen Wundern der Welt (1638) erläutert er die Idee, Mathematik, Geometrie und damit auch die Optik könnten die Geheimnisse von Gottes Universum lüften. Diese Idee liefert einen Hinweis darauf, warum Vermeer so viel Zeit und Mühe darauf verwendete, mit grösstmöglicher Treue das Erscheinungsbild der ihn umgebenden realen Welt wiederzugeben, denn darin offenbarte sich der göttliche Plan. Und dann gab es einen Militäringenieur namens Johan van der Wyck (1623-1679), der in den 1650er-Jahren in Delft tätig war und einen internationalen Ruf als meisterhafter Linsenmacher und Erfinder genialer optischer Apparaturen genoss. 1655 veranstaltete er in Den Haag eine öffentliche Vorführung, bei der er ein «Gläserpaar» (vermutlich eine Linse oder vielleicht ein Arrangement von Linsen) in seinem Fenster platzierte, wodurch «alle Gegenstände draussen auf der Strasse» auf einen «Tisch» im Inneren des Raums projiziert wurden. Das, was das Publikum in Den Haag dabei sah, dürfte dem Bild Strasse in Delft ziemlich nahe gekommen sein.

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David Hockney: Vermeer und andere Künstler, die eine Camera obscura benutzten, schauten nicht wirklich auf die Welt, sondern sie blickten auf eine flache Projektion von ihr, und manchmal sieht man so mehr, vor allem solche Dinge wie Strukturen auf Ziegelwerk oder im Stoff und Muster in Geweben. Martin Gayford: Doch unabhängig davon, welche Methoden Vermeer im Einzelnen benutzte, ganz offenkundig faszinierten ihn optische Vorrichtungen. Seine Bilder zeigen, wie sehr er die betonten Details und Oberflächenstrukturen schätzte, die er mithilfe einer Linse sehen konnte. Doch offenkundig schätzte er auch die seltsamen Verwandlungen, kleinen Fehler und Verzeichnungen, die sich dadurch ergaben. In dieser Hinsicht ähnelt Vermeer einem zeitgenössischen Künstler wie Gerhard Richter – ein erklärter Bewunderer Vermeers. Richter scheint fasziniert von der Art, in der die Fotografie die Welt weniger darstellt als sie verunklart, indem er einen Schleier aus Wisch- und Unschärfeeffekten generiert. Richter verwendet diese Nebenwirkungen der Kamera auf brillante Weise und niemand schätzt ihn geringer, weil seine Quelle ein Foto war. Im Gegenteil, wenn man das nicht realisiert, hat man seine Bilder nicht verstanden. Fast zwei Jahrhunderte vor der Erfindung der Fotografie muss Vermeer etwas Ähnliches empfunden haben. Häufig ist es die weiche Unschärfe mancher Abschnitte, ein Effekt, der nur in einem mittels optischer Hilfsmittel geschaffenen Bild zu sehen war, die das Geheimnis und die Schönheit seiner Gemälde ausmacht. Wenn man leugnet, dass er Linsen verwendete, dann verkennt man seine Leistung, die genau darin besteht, die Poesie erkannt zu haben, die in dieser neuen Form der Weltwahrnehmung liegt. David Hockney: Wahrscheinlich benutzte Vermeer ähnliche Techniken wie viele andere Künstler. Nur malte er seine Bilder einfach besser. Dass man ein Werkzeug versteht, erklärt noch nicht den Zauber der Schöpfung. Nichts kann das erklären. Es heisst, man solle ein gewisses Geheimnis bewahren, doch tatsächlich ist es unmöglich, dieses Geheimnis loszuwerden. Optische Vorrichtungen hinterlassen keine Spuren, sie machen das Gemälde nicht.

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Ich wusste es. Ich hatte das Gemälde nicht lange betrachtet – es kam mir zu merkwürdig vor, mich selbst zu sehen –, aber ich hatte sofort gewusst, dass der Perlen­ohr­ring fehlte. Ohne den gab es nur meine Augen, meinen Mund, den weissen Rand meines Leibchens, die dunkle Fläche hinter meinem Ohr, jedes für sich, jedes getrennt. Der Ohrring würde das alles verbinden. Er würde das Gemälde voll­ständig machen. Und


ich würde auf der Strasse stehen. Ich wusste, er würde keinen Ohrring von van Ruijven oder van Leeuwenhoek oder sonst jemandem borgen. Er hatte Catharinas Perle gesehen, und er würde dafür sorgen, dass ich sie trug. Er ver­wen­de­­te für seine Gemälde das, was er wollte, ohne an die Folgen zu denken. Es war, wie van Leeuwenhoek gesagt hatte. Wenn Catharina ihren Ohrring auf dem Bild sah, würde sie explodieren.



Sie haben mir gesagt, Sie haben Bilder von Vermeer gesehen: Sie sind sich sicher klar darüber, dass es Bruchstücke einer gleichen Welt sind, dass darin immer, wie genial auch wiedergegeben, der gleiche Tisch, der gleiche Teppich, die gleiche Frau, die gleiche neue und einzigartige Schönheit erscheint, ein Rätsel in jener Epoche, in der nichts ihr gleicht oder sie erklärt, wenn man sich nicht mit einer rein thematischen Verwandtschaft begnügt, sondern den ganz besonderen Eindruck zu begreifen versucht, den die Farbe hervorbringt. Marcel Proust Die Gefangene


WIE EIN TRÖSTENDER STERN Auf Jan Veth wirkte Vermeers Mädchenporträt «wie aus dem Staub zerstossener Perlen zusammengeschmolzen». Seine Beschreibung des Gemäldes ist 1908 entstanden.

Das Gemälde von diesem über die Schulter schauenden Kind mit dem mehr oder weniger türkischen Kopfschmuck aus kornblumenblauem Tuch ist fein aber prägnant. Im weissen Teil des herabhängenden Tuches wird der Sinn des Malers für die Geradlinigkeit zelebriert. Die Darstellung, die gross und edel ist, scheint zugleich lebendig und bestimmt, bewegt und ohne Spielerei, schnittig und zart, wie die saubere Musterung im samtenen Stoff eines Schmetterlingsflügels. Der Lichtentwurf des Gesichts ist wie errötendes Elfenbein, der Schatten der Haut veränderlich kühl, und die Übergänge sind aus stumpfem Amber. Das Modell ist ohne Makel, zerbrechlich wie der Schattenhauch in einem Rosen­ blatt. Aber zwei Dinge in diesem weichen Antlitz von so ausserordentlichem Schnitt sagen mehr als die grosse Perle, die am kleinen Ohrläppchen hängt: Es ist der Mund aus Rubinlippen, der begierig geöffnet ist wie eine taufrische Blü­ ten­knospe, und es sind die grossen, dunkelgrau glühenden Iris-Kugeln, die in einem cremefarbenen Weiss schwimmen: Es ist der ruhig-fragende Blick dieser zwei leuchtenden Kinderaugen. Und so kühl, rein, fein und stark wie der Ausdruck dieser Augen liegt dieses kostbare Köpfchen vor jenem dumpfen, dunklen Hintergrund, genau wie ein tröstender Stern, der im tiefen, weiten nächtlichen Himmel steht.

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Das Gemälde war völlig anders als alle anderen, die er gemacht hatte. Es war nur von mir, von meinem Kopf und meinen Schultern, kein Tisch und kein Fenster, keine Puder­quaste oder Vorhänge, die es weicher machten oder den Blick ablenkten. Er hatte mich mit meinen runden Augen gemalt, Licht fiel auf mein Gesicht, aber die linke Hälfte lag im Schatten. Ich trug Blau, Gelb und


Braun. Durch das Tuch um meinen Kopf sah ich nicht aus wie ich selbst, sondern wie eine Griet aus einer anderen Stadt, aus einem ganz anderen Land sogar. Der Hintergrund war schwarz, sodass ich sehr allein wirkte, obwohl ich unverkennbar jemanden anschaute. Es war, als würde ich auf etwas warten, von dem ich nicht glaubte, dass es je eintreffen würde.



Wahrscheinlich führte er mir vor Augen, wie sehr ich andere über mein Leben hatte bestimmen lassen. Erfüllen Menschen wie er eine höhere moralische Funktion, indem sie uns zeigen, woraus unsere Annahmen und Überzeugungen gemacht sind? Anders gefragt: Erstreckt sich der Zweck der Kunst auf den lebenden Künstler?

Rachel Cusk Das komplette Programmbuch Der andere Ort können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben


STEFAN WIRTH Komponist

Der Pianist und Komponist Stefan Wirth wurde 1975 in Zürich geboren. Er stu­dierte am Konservatorium seiner Heimatstadt Klavier bei Hadassa Schwimmer sowie Liedgestaltung bei Irwin Gage und anschliessend in den USA bei Ste­phen Drury und Leonard Hokanson. Auch seine kompositorische Ausbildung erhielt er vornehmlich in den USA, wo er u.a. bei Michael Gandolfi und P. Q. Phan studierte. 1999 ermöglichte ein Leonard Bernstein Fellowship die Teilnahme an den Tanglewood Sommerkursen, wo er mit George Benjamin ar­ beitete. Zudem studierte er bei Oliver Knussen und Colin Matthews im BrittenPears Young Artist Programme in Aldeburgh/England. Aufträge erhielt Stefan Wirth unter anderem vom Collegium Novum Zürich, dem Münchener Kammer­ orchester, dem Ensemble Makrokosmos, dem Ensemble ö!, der Camerata Varia­ bile, dem Berner Kammerorchester, dem Ensemble Aequatuor sowie vom WDR für die Wittener Tage für neue Kammermusik, vom Deutschlandfunk, den Poe­ tischen Liedertagen in Weimar, der Ruhrtriennale und dem Lucerne Festival. Ausserdem hat Stefan Wirth als Pianist, Komponist und Arrangeur für verschiedene Musiktheater-Produktionen mit Regisseuren wie Christoph Marthaler und Frank Castorf zusammengearbeitet. Als Pianist zeitgenössischer Musik spielt er als festes Mitglied im Collegium Novum Zürich sowie im Ensemble Contre­ champs (Genf). Er ist mehrfach mit Heinz Holliger aufgetreten und hat 2013 mit Pierre Boulez dessen zweite Klaviersonate erarbeitet. Als Liedbegleiter trat er mit Künstlern wie Christoph Homberger, Thomas Hampson oder Noëmi Nadel­mann auf. Überdies ist Stefan Wirth Mitglied der Vier-Flügel-Formation «Gershwin Piano Quartet», mit der er auf bedeutenden Festivals in ganz Europa, Südamerika, Kanada, China sowie im Nahen Osten konzertierte.

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TRACY CHEVALIER Autorin

Tracy Chevalier, 1962 in Washington D.C. geboren, ist eine amerikanische Autorin. Sie studierte Englische Literatur am Oberlin College, Ohio und zog 1984 nach London, wo sie zunächst als Lektorin arbeitete und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia studierte. Ihr erster Roman The Virgin Blue (Das dunkelste Blau) wurde 1997 veröffentlicht. Der Durchbruch gelang ihr 1999 mit dem internationalen Bestseller Girl with a Pearl Earring (Das Mädchen mit dem Perlenohrring), der in fast 40 Sprachen übersetzt wurde und sich weltweit über 5 Millionen Mal verkaufte. Mit Scarlett Johansson und Colin Firth in den Hauptrollen wurde der Roman 2003 auch als Kinofilm zum Erfolg (Regie: Peter Webber). Tracy Chevalier hat insgesamt zehn Romane veröffentlicht, darunter 2018 die in den 1970er-Jahren spielende Othello-Adaption New Boy (Der Neue) und 2019 A Single Thread (deutsch: Violet).

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PHILIP LITTELL Librettist

Philip Littell verfasste sein erstes Libretto 1994 im Auftrag der San Francisco Opera für Conrad Susas The Dangerous Liaisons, 1998 folgte dort A Streetcar Named Desire für André Previn. Im Jahr darauf schrieb er das Libretto für Michael Torkes Four Seasons, die von Disney in Auftrag gegebene Jahrtausendfeier der New York Philharmonic. Weitere Opern, Liederzyklen, Oratorien und Chorwerke hat Philip Littell in Zusammenarbeit mit Libby Larsen, Stephen Hartke, Jake Heggie, Peter Golub, David Conte und Frank Ticheli verfasst. Als Schauspieler war Philip Littell oft in Produktionen von Christoper Alden zu er­leben, darunter als Peachum (The Three Penny Opera) und Tanzmeister (Le Bour­geois Gentilhomme / Ariadne) an der Long Beach Opera, in L’Histoire du soldat mit dem Eos Orchestra sowie als Alter Gefangener (La Périchole) an der New York City Opera. Mit der Künstlergruppe Clarac-Deloeuil war er in Pascal Dusapins To Be Sung sowie als Doktor in Pelléas et Mélisande an der Opéra Fran­çais in New York zu sehen. Zusammen mit dem Komponisten Eliot Douglass verfasste er mehrere Musiktheaterwerke.

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GIRL WITH A PEARL EARRING STEFAN WIRTH (*1975) Opera in Three Movements Libretto von Philip Littell nach dem gleichnamigen Roman von Tracy Chevalier (1999) Uraufführung

Personen (in der Reihenfolge des Auftritts)

Griet, eine Frau um die 30 / ein 16-jähriges Mädchen Tanneke, Dienstmagd im Haushalt Vermeers Pieter, ein junger Fleischer Griets Mutter

Sopran

Alt

Bariton

Mezzosopran

Catharina, Vermeers Ehefrau / Maria Thins Tochter Jan Vermeer, Maler

Sopran

Bariton

Children engine, repräsentiert Vermeers Kinder Maria Thins, Schwiegermutter von Vermeer Van Ruijven, Kunsthändler und Mäzen

Sopran

Mezzosopran Tenor


FIRST MOVEMENT

ERSTER SATZ

1676. She is fetched.

1676. Sie wird geholt.

Bare stage, except for a side of beef, hanging from a hook. Near it stands a woman. It is Griet. She has on her apron.

Leere Bühne, nur eine Fleischhälfte hängt an einem Haken. Eine Frau steht in der Nähe davon. Es ist Griet. Sie trägt ihre Schürze.

GRIET

GRIET

I almost dropped my knife.

Ich habe fast mein Messer fallen lassen.

And we see Tanneke. Tanneke approaches.

Man erkennt Tanneke. Sie nähert sich.

GRIET very composed

GRIET ruhig

Hello Tanneke.

Hallo Tanneke.

They look at each other. Neither has seen each other for a long time. Tanneke is full of her errand. Griet entirely self-possessed.

Sie sehen sich an. Beide sind sich lange nicht begegnet. Tanneke ist beladen mit Besorgungen, Griet vollkommen selbstbeherrscht.

GRIET

GRIET

And how…

Und wie…

TANNEKE in a rush

TANNEKE in Eile

Mistress wants to see you. You’re to come to the house this afternoon.

Die Herrin will dich sehen. Du sollst zum Haus kommen heute Nachmittag.

GRIET coolly

GRIET kühl

How is Maria Thins?

Wie geht es Maria Thins?

no answer

keine Antwort

And how is Catharina?

Und wie fühlt sich Catharina?

TANNEKE

TANNEKE

As well as can be expected.

Den Umständen entsprechend.

she just has to spill

sie muss es loswerden

My mistress had to sell some property. She’s being clever with the arrangements.

Meine Herrin musste Eigentum verkaufen. Sie hat alles klug geregelt.

GRIET aware of other customers waiting to be served

GRIET merkt, dass andere Kunden bedient werden wollen

Good.

Gut.

TANNEKE

TANNEKE

The children will be all right…

Den Kindern wird es an nichts fehlen…

GRIET pointedly

GRIET direkt

Would you like to buy something?

Möchtest du etwas kaufen?


TANNEKE

TANNEKE

No.

Nein.

A man wearing a bloody apron approaches the side of beef. He takes in the scene. It flusters Tanneke.

Ein Mann mit blutiger Schürze nähert sich der Fleischhälfte. Er begreift die Situation. Das verwirrt Tanneke.

TANNEKE

TANNEKE

Mind you come this afternoon.

Sieh zu, dass du heute Nachmittag kommst.

she leaves

sie geht

GRIET looks down at a child plucking at her apron

GRIET schaut auf ein Kind hinunter, das an ihrer Schürze zupft

There you are. Where’s Jan and Oma?

Da bist du also. Wo sind Jan und Oma?

she sees her Mother enter, holding another child by the hand

sie sieht ihre Mutter eintreten, mit einem weiteren Kind an der Hand

There they are!

Da sind sie ja!

MOTHER

MUTTER

Who was that?

Wer war das?

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben GRIET

GRIET

Oh… a customer.

Oh… eine Kundin.

MOTHER

MUTTER

She didn’t buy anything.

Sie hat aber nichts gekauft.

GRIET

GRIET

Can you watch the boys this afternoon? I have some errands to run.

Kannst du heute Nachmittag auf die Jungen aufpassen? Ich muss Besorgungen machen.

MOTHER

MUTTER

Where are you going?

Wohin gehst du?

Griet doesn’t answer. She begins to remove her apron. Her mother leaves with the children. The handsome man in the bloody apron, Pieter, who has observed all this, exchanges a look with Griet, then shoulders the carcass and carries it away.

Griet antwortet nicht. Sie legt ihre Schürze ab. Ihre Mutter geht mit den Kindern weg. Pieter, der gut­aussehende Mann in der blutigen Schürze, hat alles beobachtet, wechselt Blicke mit Griet, schultert den Tierkörper und trägt ihn fort.

The voices of Catharina and Vermeer address her from the penumbra. The past.

Die Stimmen von Catharina und Vermeer sprechen sie aus dem Halbschatten an. Die Vergangenheit.

CATHARINA

CATHARINA

Well she’s not very big. Is she strong enough? Oh!

Nun, sie ist nicht sehr gross. Kann sie zupacken? Oh!

Griet drops her knife as if it’s been knocked out of her hand, it skitters across the floor.

Griet lässt das Messer fallen, als hätte man es ihr aus der Hand geschlagen, es schlittert über den Boden.

VERMEER chiding

VERMEER tadelnd

Catharina.

Catharina.


Programmheft GIRL WITH A PEARL EARRING Opera in Three Movements von Stefan Wirth

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Libretto von Philip Littell nach dem gleichnamigen Roman von Tracy Chevalier (1999)

Uraufführung am 3. April 2022, Spielzeit 2021/22 Herausgeber

Intendant

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Titelseite Visual

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich

Andreas Homoki Fabio Dietsche

Carole Bolli

François Berthoud

Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept

Druck

Textnachweise: Die Handlung und die beiden Gespräche sind für dieses Programmheft entstanden. Weitere Textquellen: Tracy Che­valier, Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Deutsch von Ursula Wulfekamp), Hamburg 2019; Virginia Woolf, Moderne Romankunst, in: dies., Der gewöhnliche Leser – Essays I, Frankfurt am Main 1997; Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg 2015; Johan Huizinga, Holländische Kultur im 17. Jahrhundert, München 2017; Jan Veth, Beelden en Groepen, Amsterdam 1920 (Deutsch von Patrick Schetters /Red. Fabio Dietsche); David Hockney & Martin Gayford, Vermeer und Rembrandt:

Studio Geissbühler

Fineprint AG

Die Hand, die Linse und das Herz (Auszüge), in: dies., Welt der Bilder, München 2016; Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5: Die Gefangene, Frankfurt am Main 2004; Rachel Cusk, Der andere Ort, Berlin 2021 Bildnachweise: T + T Fotografie, Toni Suter fotografierte die Klavierhauptprobe am 25. März 2022. Foto Stefan Wirth S. 57: Florian Kalotay Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Clariant Foundation

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

PROJEKTSPONSOREN Baugarten Stiftung René und Susanne Braginsky-Stiftung Freunde des Balletts Zürich

Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Swiss Life

Hans Imholz-Stiftung

Swiss Re

Kühne-Stiftung

Zürcher Kantonalbank

GÖNNERINNEN UND GÖNNER Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Familie Thomas Bär Bergos Privatbank Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Fritz Gerber Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG

Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Die Mobiliar Fondation Les Mûrons Mutschler Ventures AG Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung

Landis & Gyr Stiftung FÖRDERINNEN UND FÖRDERER CORAL STUDIO SA Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland

Horego AG Richards Foundation Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar



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