L'incoronazione di Poppea

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L’INCORONAZIONE DI

POPPEA

CLAUDIO MONTEVER DI

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L’INCORONAZIONE DI POPPEA CLAUDIO MONTEVERDI (1567-1643)

Partner Opernhaus Zürich



Nero: Mich kĂźmmert weder der Senat noch das Volk! Ich reisse dem die Zunge heraus, der mich tadelt.



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HANDLUNG Prolog Fortuna und Virtù streiten darum, wer die grösste Macht hat. Amor mischt sich ein. Noch heute will er beweisen, dass er der Mächtigste von allen sei: «Ihr werdet zugeben müssen, dass sich die Welt auf einen Wink von mir verändert.»

Erster Akt Von Sehnsucht getrieben, ist Ottone auf dem Weg zu Poppea. Doch er muss erkennen, dass Poppea schon Besuch hat – Nerone ist bei ihr. Dessen Bodyguards beschweren sich über ihren Chef; er kümmert sich nicht um seine Pflichten und hat nur Augen für Poppea, der er völlig verfallen zu sein scheint. Nerone verabschiedet sich von Poppea. Solange er von seiner Frau Ottavia noch nicht getrennt ist, muss ihre Beziehung geheim bleiben. Poppeas Berater warnt sie eindringlich davor, sich auf Nerone zu verlassen. Die Welt der Mächtigen sei gefährlich. Doch Poppea ist sich ihrer Sache sicher. Ottavia weiss längst, dass Nerone sie mit Poppea betrügt, und verflucht die Treulosigkeit ihres Mannes. Ihr Berater schlägt ihr vor, sich ebenfalls einen Liebhaber zu nehmen. Ottavia reagiert äusserst gereizt. Auch der Philosoph Seneca ist ihr keine Hilfe. Valletto entlarvt Senecas Reden als eitle Selbstdarstellung voll von Doppelmoral. Nerone teilt Seneca mit, dass er seinen Willen durchsetzen und Poppea zu seiner Frau machen wird. Jedem, der ihm widerspricht, wird er die Zunge he­ rausreissen. Poppea weiss, dass Seneca ihrem Plan, Nerones Frau und Kaiserin zu wer­ den, im Weg steht, und verleumdet ihn Nerone gegenüber. Ausser sich vor Wut befiehlt Nerone Seneca, sich umzubringen. Ottone wirft Poppea Untreue vor. Poppea hat nur Verachtung für ihn übrig. Voller Verzweiflung wünscht Ottone Poppea den Tod.

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Ottones ehemalige Geliebte Drusilla hält, trotz seiner Leidenschaft für Poppea, noch immer zu ihm. Ottone versucht, sie und sich selbst von seiner wieder­er­ wachten Liebe zu überzeugen.

Zweiter Akt Seneca erhält den Befehl, sich selbst zu töten. Valletto hat einen erotischen Tagtraum. Nerone wird fast wahnsinnig vor Freude über Senecas Tod und seine nun endlich bevorstehende Hochzeit mit Poppea. Ottavia fordert Ottone auf, Poppea zu töten; falls er dazu nicht bereit sei, werde sie ihn der versuchten Vergewaltigung beschuldigen. In seiner Verzweif­ lung erzählt Ottone Drusilla von dem Mordplan und bittet sie, ihm dafür ihre Kleider zu leihen. Drusilla ist sofort dazu bereit. Poppea ist glücklich über den Tod Senecas. Von plötzlicher Müdigkeit über­ mannt, legt sie sich schlafen. Als Drusilla verkleidet, will Ottone Poppea töten. Amor kann den Mord verhindern.

Dritter Akt Drusilla glaubt sich am Ziel ihrer Wünsche und hofft auf eine glückliche Zukunft mit Ottone. Doch sie wird festgenommen und des Mordversuchs an Poppea angeklagt. Obwohl unschuldig, gesteht sie alles, um Ottone zu schützen. Nun droht ihr die Todesstrafe. Als Ottone sieht, dass die unschuldige Drusilla gequält wird, gibt er sich als der Schuldige zu erkennen: Auf Befehl Ottavias hat er in Drusillas Kleidern versucht, Poppea umzubringen. Nerone begnadigt Ottone, schickt ihn aber ins Exil. Drusilla darf ihn be­ gleiten. Nun kann Nerone Ottavia endlich verstossen und aus Rom verbannen. Verzweifelt verlässt Ottavia die Stadt. Poppeas Berater malt sich seinen gesellschaftlichen Aufstieg in den schil­ lerndsten Farben aus. Poppea und Nerone heiraten; Poppea wird Kaiserin.

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Rechtlich ist das Patriarchat passé. Die potente Frau hat es auch psychisch über­ wunden. Scham und Ge­ fallsucht hat sie abgestreift wie ein altes Kleid. Ihr Zu­ gang zur Lust: unmittelbar. Ihr Begehren: eigensinnig. Sie ist keine Leerstelle – weder existiert sie für den Mann noch durch ihn. Weit entfernt davon, ein Spiegelbild seiner Potenz zu sein, ist sie ein ihm gleichwertiges, aber nicht gleiches Gegenüber. Svenja Flaßpöhler



SIEG VON SEX UND KAPITALISMUS Regisseur Calixto Bieito im Gespräch

Calixto, du hast im Laufe deiner Karriere viele Opern unterschiedlichster Komponisten auf die Bühne gebracht, doch bisher noch nie ein Stück von Monteverdi. L’incoronazione di Poppea möchte ich schon seit vielen, vielen Jahren insze­­nie­ ren – seit ich das Stück vor ungefähr 30 Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Damals war ich sofort fasziniert davon. Seitdem warte ich auf die Ge­legen­heit. Und nun ist sie endlich da! Warum hat dich dieses Stück vom ersten Moment an fasziniert? Zuallererst wegen der Musik, die einfach unglaublich schön ist. Aber sie ist nicht nur schön – sie entfaltet gemeinsam mit der Handlung dieses Stückes auch eine am­bivalente Wirkung. In Poppea wird eine hedonistische, deka­dente Gesellschaft gezeigt, in der die Menschen sich extrem egoistisch ver­halten. Jeder ist getrieben von seinem persönlichen Ehrgeiz, Sexualität wird als Machtinstrument eingesetzt. Es kommt einem fast so vor, als sei damit unsere heutige Gesellschaft gemeint – obwohl das Stück vor mehr als 350 Jahren entstanden ist. Der Kaiser Nerone denkt ausschliesslich an seine eigenen Bedürfnisse, er sagt im Stück: Das Volk, der Senat, mein Ruf, das alles ist mir egal – solange ich das bekomme, was ich möchte, nämlich Poppea zu heiraten und zur Kaiserin zu machen, egal, zu welchem Preis. Die Charaktere, die Monteverdi und sein Librettist Busenello ge­ schaffen haben, sind uns so nah, dass wir uns vielleicht sogar leichter mit ihnen identifizieren können als mit Figuren aus Opern des 19. Jahrhunderts. Und die Art und Weise, wie sie sich musikalisch äussern, begünstigt das, denn die Musik baut ganz auf der Sprache auf. Ich denke übrigens, dass auch

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jungen Menschen der Einstieg in die Oper mit einem Stück wie Poppea leichter fallen könnte als mit den meisten anderen Opern. Deine Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat einen Laufsteg entworfen; spielt die Oper in deiner Inszenierung in der Modewelt? Ich will keine Fashion-Show machen und auch keine Geschichte über irgend­einen Modezar erzählen, das interessiert mich nicht. Dass wir uns für diesen Laufsteg entschieden haben, ist als Metapher für unsere heutige Welt ge­ meint. Es geht darum, wie wir uns selbst Tag für Tag auf Facebook und Instagram präsentieren, ständig Selfies von uns posten, unsere Meinung bedenken­ los auf Twitter öffentlich äussern, egal, wie extrem oder verletzend sie für andere sein mag. Mir kommt es vor, als seien viele Menschen heute regelrechte Exhibitionisten. Diskrete Menschen sind viel schwerer zu finden. Tatsächlich gibt es in Poppea kaum eine Figur, die nicht zuallererst an sich selbst denkt . Jeder möchte die Situation für seinen eigenen Vorteil ausnutzen, jeder möchte auf der sozialen Leiter ein paar Stufen nach oben kommen, wenn irgendwie möglich. Sehr schön zu sehen ist das an Arnalta, Poppeas Amme, die bei uns von einem Mann gespielt wird und in meiner Inszenierung eher ein politischer Berater ist: Er rät Poppea zunächst von einer Verbindung mit Nerone ab, aber als Poppea dann tatsächlich Kaiserin wird, ist er der erste, der von dieser Entwicklung profitieren möchte. Auch Seneca, der Philosoph und Lehrer Nerones, ist keineswegs der über allem stehende Moralist, sondern ein durchaus ambivalenter Charakter … Senecas Texte darüber, wie man leben sollte, deckten sich nicht unbedingt mit dem, wie er selbst lebte. Als Stoiker predigte er Enthaltsamkeit, hatte aber selbst nicht nur eine Ehefrau, sondern wohl auch die eine oder andere Geliebte. Er hielt andere dazu an, bescheiden zu leben, häufte aber selbst einiges an materiellem Besitz an. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch Nerone sich über die Argumente seines ehemaligen Lehrers einfach hinwegsetzte, seine Ehefrau Ottavia verstiess und Poppea heiratete. Um das allerdings tun zu

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können, musste Seneca mundtot gemacht werden; Nerone hat ihn zum Selbstmord gezwungen. Gibt es überhaupt eine positive Figur in diesem Stück? Vielleicht Drusilla. Sie liebt Ottone wirklich und ist sogar bereit, ihr Leben für ihn zu opfern. Aber sie ist wirklich die einzige! Nerones Ehefrau Ottavia ist zwar zu bemitleiden, weil Nerone sie mit Poppea betrügt; aber sie ist auch diejenige, die Ottone den Auftrag zum Mord an Poppea gibt. Ottone wiederum ist der unglückliche ehemalige Liebhaber Poppeas, der Nerone weichen muss; aber er ist bereit, Poppea zu töten, was ihn auch zu einer mindestens ambivalenten Figur macht. Zu Beginn der Oper streiten die drei Götter Fortuna, Virtù und Amor, also das Glück, die Tugend und die Liebe, darüber, wer die meiste Macht über die Menschen hat; Amor wird diesen Wettstreit am Schluss des Stückes gewonnen haben. Aber ist es wirklich die Liebe, die hier siegt? Wenn es ein Stück über die Liebe wäre, würde es vielleicht Nerone e Poppea heissen, aber nicht L’incoronazione di Poppea! Das Publikum zur Zeit Monte­ verdis wusste, dass Nerone seine schwangere Frau Poppea später er­mordet hat, und konnte das «Happy End» relativieren. Natürlich fühlen sich Nerone und Poppea voneinan­-der angezogen. Aber entscheidend ist, wie Poppea ihren Körper einsetzt, um Macht zu erreichen, wie Sex als Mittel eingesetzt wird, um im kapitalistischen System zu triumphieren. Ich kenne viele Po­li­tiker in Spanien, die ihre Körper eingesetzt haben, um Karriere zu machen, die keinerlei Moral haben, die andere Menschen nicht respektieren, unehrlich sind und demagogisch agieren. Und diese Politiker gibt es nicht nur in Spanien. Da muss man gar keine Namen nennen. Amor stand ja zur Zeit Monteverdis auch nicht unbedingt für die reine Liebe, sondern vielmehr für die Lust, die Begierde. Ja, das ist in der Musik deutlich zu hören, sie ist sehr verführerisch und erotisch. Monteverdi bewertet aber Erotik nicht per se negativ. Es bleibt immer ambivalent. Das gefällt mir.

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Wer sind die drei Götter Amor, Fortuna und Virtù in deiner Inszenierung? Sie sind für mich Kinder. Kinder können heute sehr despotisch sein, weil wir sie zu sehr verwöhnen – sie sind unsere Götter! Diese drei kleinen Götter spielen in unserer Inszenierung mit den Menschen und mit sich selbst. Kommen wir noch einmal auf das Bühnenbild zurück: Es ist ja nicht einfach ein Laufsteg, sondern ein Laufsteg, der eine elliptische Form hat und sehr nah am Publikum steht; das Orchester sitzt in der Mitte dieser Ellipse. Die Ellipse, die ja auch an eine Arena erinnert, zeigt uns unterschiedliche Perspektiven der Figuren und der Realität, sie macht die Figuren mehrdimen­ sional. Das finde ich sehr interessant. Der Kreis ist für mich zudem der Raum einer Frau, weil er das Zyklische impliziert. Und natürlich ist es, wie schon gesagt, ein Ort, an dem alle Figuren vollkommen ausgestellt sind. Es gibt keine Privatheit in diesem Raum, keine Geheimnisse. Es ist, als wären die Figuren andauernd auf Facebook, Instagram oder Twitter. Dazu gibt es Live-Kameras, die die Figuren ständig filmen. Es ist wie eine freiwillige 24-Stunden-Überwachung. Und die Figuren lieben es, sich ständig selbst auf einer Leinwand zu sehen. Es ist die permanente Selbst­dar­stellung. Das ist übrigens gar kein so neues Phänomen. Als ich in den 90er-Jahren in Bogotà bei einem Festival gearbeitet habe, wurde die Festi­val­ direktorin Tag und Nacht von einer Kamera verfolgt, die sie bei allem filmte, was sie tat, bei jeder noch so unwichtigen, alltäglichen Tätigkeit. Während der Proben hast du Monteverdis Poppea häufig mit den Dramen von Shakespeare verglichen. Der Plot der Poppea hat alle Zutaten eines guten Shakespeare-Dramas: Sex and Crime, Politik und Poesie. Wenn ich von Shakespeare spreche, denke ich natürlich auch an seinen vielzitierten Satz «All the world’s a stage, And all the men and women merely players». Wir könnten diesen Satz ersetzen mit «All the world’s a catwalk …» – die ganze Welt ist ein Laufsteg. Alle spielen

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ununterbrochen eine Rolle. Und wenn man sich daran gewöhnt hat – in der Politik ebenso wie in der Modewelt –, ständig eine Rolle zu spielen, verliert man irgendwann das Gefühl dafür, wo die Rolle aufhört und das «echte» Leben beginnt. Mit Nero und Poppea haben Monteverdi und sein Librettist erstmals in der Geschichte der Oper historische Figuren auf die Bühne gebracht. Ist es für die Vorbereitung deiner Inszenierung wichtig gewesen, diesen historischen Kontext zu kennen? Natürlich war es wichtig für mich zu wissen, was für ein Mensch Nero gewesen ist, wie grausam er sein konnte, wie verrückt er war, dass er sowohl mit Frauen als auch mit Männern Sex hatte, dass er unglaubliche Gelage veran­ staltet hat, für die seine Untertanen bezahlen mussten. Aber auch der Kontext, in dem Monteverdi diese Oper geschrieben hat, war wichtig für mich: Poppea entstand für die Karnevals­saison in Venedig zu einer Zeit, als Venedig wirtschaftlich und kulturell eine der wichtigsten Städte der Welt war. Monteverdi und sein Librettist benutzten die historischen Figuren, um etwas über ihre Gegenwart auszusagen. Diese Gegenwart muss von einer zynischen, voll­ kommen amoralischen Gesellschaft voller Intrigen geprägt gewesen sein. Um das zu erreichen, was sie wollen, gehen Nerone und Poppea über Leichen. Viel Hoffnung auf ein humaneres Leben gibt es in dieser dekadenten Gesell­ schaft nicht. Hoffnung gibt es nur in der Musik. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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EINE GESCHICHTE OHNE MORAL Dirigent Ottavio Dantone im Gespräch über «L’incoronazione di Poppea»

Ottavio Dantone, Sie haben lange Zeit darauf verzichtet, Monteverdi zu dirigieren; erst vor zwei Jahren mit einer Aufführung des Orfeo in Lau­san­ne sind Sie wieder zu diesem Kom­ponisten zurückgekehrt. Was war der Grund dafür? Als ich vor 15 Jahren an verschiedenen italienischen Theatern alle drei Mon­te­verdi-Opern einstudierte, war ich sehr unzufrieden mit dem Resultat. So sehr, dass ich nie wieder Monteverdi machen wollte. Ich empfand es damals als sehr schwierig, den Sängerinnen und Sängern zu vermitteln, was die Essenz der Musik Monteverdis ist: das recitar cantando nämlich, das «singende Sprechen» oder «sprechende Singen», das sowohl auf dem Rhyth­ mus des Sprechtheaters basiert als auch auf dem Rhythmus der Musik. Meiner Meinung nach geht der Rhythmus, den Monteverdi für die Gesangs­ stimmen ge­schrieben hat, auf den Rhythmus der gesprochenen Sprache im Sprechtheater der damaligen Zeit zurück. Dieser Rhythmus ist zwar in den Noten ausgeschrieben; das recitar cantando sollte – innerhalb gewisser rhythmischer Gren­zen – sehr frei wirken. Das scheint ganz einfach zu sein. Aber es gelang keinem der Sängerinnen und Sänger, mit denen ich damals zu tun hatte. Entweder war es zu frei, oder es war zu sehr das, was in den Noten stand. Inzwischen habe ich viel mehr Er­fahrung sowohl mit der Musik des Barock als auch in der Arbeit mit Sängern und dachte, vielleicht gelingt es mir nun besser, zu vermitteln, worum es geht. Meine eigene Inter­pretation interessiert mich dabei übrigens überhaupt nicht. Was mich interes­siert, ist, die Emotionen zu erzeugen, die für eine lebendige Aufführung nötig sind.

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Wenn man als Dirigent eine Neuproduktion von Monteverdis Poppea vorbereitet, gilt es zunächst, einige grundlegende Entscheidungen zu treffen, vor allem die, welche Fassung man für die Aufführung ver­ wenden möchte: Das Originalmanuskript der Oper ist verschollen, es existieren nur zwei Abschriften, die sich jedoch stark voneinander unterscheiden. Wie sind Sie vorgegangen? Das Manuskript aus Neapel scheint eine Bear­beitung des Manuskripts aus Ve­ne­dig zu sein, das wiederum eine Abschrift des Originals ist. Für mich liegt die Wahrheit in der Mitte. Zu Monteverdis Zeit war es normal, dass Kopien oder Abschriften Unterschiede aufwiesen gegenüber dem Originalmanuskript. Man hat die Partitur an die Gegebenheiten der jeweiligen Aufführung an­ gepasst – sei es, weil man andere Sängerinnen und Sänger zur Verfügung hatte, sei es, weil die Orchesterbesetzung eine andere war oder man an einem anderen Ort einen anderen musikalischen Stil bevorzugte. So sind die Ritor­ nelle für Or­chester im Manuskript aus Neapel vierstimmig, im Manuskript aus Venedig aber nur dreistimmig. In beiden Versionen haben die Ritornelle die gleiche harmonische Basis, nur die Instrumentierung ist anders. Für mich besteht die musikwissenschaftliche Arbeit nicht darin, auszuwählen, welches Manu­skript das richtige ist. Das ist nicht die Musikwissenschaft. Denn eben­die­se Musik­wissenschaft sagt ja, dass kein gültiges Manuskript existiert. Im 17. Jahr­hun­dert, aber auch im 18. und bis ins 19. Jahrhundert unterschie­ den sich verschiedene Aufführungen des selben Stückes stark voneinander. Ich habe mich entschieden, eine Fassung zu spielen, die vom venezianischen Manu­skript ausgeht – mit den Änderungen, die für unsere Besetzung not­ wendig sind. So verwenden wir zum Beispiel die vierstimmigen Ritornelle aus Neapel, denn hier am Opernhaus Zürich haben wir das volle Orchester zur Verfügung, mit allen Streichern und Bläsern. Man dachte also zu Monteverdis Zeit theaterpraktisch? Ja, und entsprechend besteht für mich die philologische Arbeit darin, den richtigen Ausdruck, die richtige Sprache für unsere Aufführung zu finden. Die Basis dafür ist nicht irgendein Original, das es sowieso nicht gibt, sondern der Versuch, zu verstehen, wie Monteverdi und seine Zeitgenossen gedacht

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haben, auf rhetorischer und auf psychologischer Ebene, und wie Emotionen erzeugt wurden. Auch in Bezug auf die Instrumente, die Monteverdi für seine Poppea verwendet hat, gibt es keine gesicherten Informationen, Sie müssen also als Dirigent selbst entscheiden, wie das Orchester zusammengesetzt ist. In seiner Orfeo-Partitur von 1607 listet Monteverdi alle Instrumente auf, die er damals verwendet hat. Das war übrigens eine grosse Ausnahme; zu Beginn des 17. Jahrhunderts schrieb niemand die Instrumentation aus, in den Noten findet sich normalerweise lediglich der Basso continuo. Die Instrumen­ tation des Orfeo kann uns als Inspiration dienen – es ist aber keine Wahrheit, an die man sich sklavisch halten müsste. Wir wissen dadurch immerhin, dass Monteverdi viele «mystische» Instrumen­te wie Cornetti, Trombe, Posau­nen, Harfen, Flöten, Clavicembali, Theorben verwendet hat – also eine sehr reiche Instrumentation bevorzugte. Die Zusam­mensetzung des Or­ches­ters hing von der Grösse des Saales ab und vom Platz, der für das Or­­chester zur Verfügung stand (das übrigens niemals im Graben sass, sondern immer auf der Bühne) und natürlich von den Klangfarben, die man erzeugen wollte. Für Poppea habe ich entschieden, keine Posaunen zu benutzen, denn diese wurden normalerweise für Situationen verwendet, die in der Unterwelt spielten. Aber ich habe versucht, möglichst viele verschiedene Klangfarben zur Verfügung zu haben. In unserem Orchester gibt es Cornetti, Violinen und Flöten, und im Basso continuo Harfe, Theorbe, Laute, Gitarre, zwei Cembai, Orgel, Viola da gamba und Violone, also ein Kontrabass mit fünf Saiten. Damit habe ich die Möglichkeit, jede theatralische Situation musi­kalisch zu kommentieren. Verwenden Sie für die Begleitung der Figuren jeweils unterschiedliche Instrumente? In einer komischen oder grotesken Si­tuation verwende ich das Dulcian, einen Vorgänger des Fagotts. Wenn ich da­gegen Seneca begleite, verwende ich eher die Orgel und den Kontrabass. Wenn Helligkeit und Weichheit gefragt sind – zum Beispiel für Amore –, spielen Harfe und vielleicht eher die Laute statt der Theorbe, die viel tiefer klingt. Wenn ich Rhythmus und Swing

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möchte, spielt die Gitarre. Es geht dabei nie um meinen persönlichen Ge­schmack, sondern darum, die ursprüngliche Idee des Stückes wiederher­ zustellen. Ich kann jede Entscheidung, die ich in Bezug auf die Instrumenta­ tion getroffen habe, in jedem einzelnen Takt genau begründen. Ich bediene mich einer wissenschaftlichen Herangehensweise, um grösstmögliche Natürlichkeit, grösstmögliche Freiheit zu erreichen. Mit welchen Instrumenten begleiten Sie den verrückten Kaiser Nero? Das ist ganz von der jeweiligen theatralen Situation abhängig. Es gibt Momente, in denen Nero zwar verrückt, aber zärtlich ist. Dann wird er auch ent­spre­chend mit zarten Instrumenten begleitet. Wenn dagegen seine Ver­rückt­heit im Vor­dergrund steht, wird auch die Auswahl der Instrumente entsprechend aus­fallen. So ist es bei allen Fi­gu­ren des Stücks, es ist immer abhängig von der Bühne, von der Situation. Die musikalische Interpretation ist also in diesem Fall eine sehr kreative Arbeit ? Ja, wobei ein Teil dieser Arbeit immer spekulativ bleibt. Neben der Instrumentation ist auch die Besetzung der Singstimmen nicht einfach zu entscheiden; Nero zum Beispiel wird in manchen Auffüh­ rungen von einer Frau oder sogar von einem Tenor gesungen; bei uns ist es David Hansen, ein Countertenor, der sehr hoch singen muss. Wir wissen, dass zu Monteverdis Zeit die Kastraten die am häufigsten verwendeten Sänger waren. Heute gibt es keine Kastraten mehr, das ist das Haupt­ problem, wenn wir diese Musik auf­führen wollen. Es gibt natürlich KastratenRollen, die von Männerstimmen gesungen werden könnten. Nero gehört nicht dazu. Ihn mit einem Tenor zu besetzen, ginge vollkommen an der Idee Monteverdis vorbei. Denn der musikdramatische Grund dafür, dass er so hoch singt, liegt in der Figur, die etwas Verrücktes, Hysterisches hat. Diese Rolle liegt sehr hoch, das ist sehr anstrengend für einen Countertenor – aber genau um diesen angespannten, angestrengten Effekt geht es! Ottone dagegen singt bei uns eine Frau, Delphine Galou, denn diese Rolle wiederum

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liegt für einen Countertenor sehr tief, für einen Contralto dagegen genau richtig – obwohl die Figur natürlich ein Mann sein müsste. Aber ein Contralto, also eine sehr tiefe Frauenstimme – diese Stimmlage ist übrigens sehr selten – hat immer etwas Androgynes. Man muss dazu auch sagen, dass es in der Zeit Monteverdis durchaus üblich war, dass Frauen Männerrollen sangen und umgekehrt. Das Spiel mit der Ambigui­tät war sehr beliebt. Johann Adolph Hasse hat eine Oper komponiert, Marc Antonio e Cleopatra, in der es nur zwei Figuren gibt; Marc Antonio wurde von einer Frau gesungen, Cleopatra von einem Mann! In Poppea sind die beiden Ammen, Arnalta und Nutrice, auch Männer, allerdings keine Kastraten, sondern sogenannte Haut-Contres, also sehr hohe Tenöre. Unsere Besetzung weist eine sehr grosse Vielfalt an Timbres auf; diese starken Kontraste sind natürlich bereits im Stück selbst angelegt. Poppea ist ja 1642/43 nicht für ein höfisches Theater komponiert worden, sondern für das erste öffentliche Theater in Venedig; die Oper musste sich also gut verkaufen. Hat dieser Umstand Monteverdis Art und Weise zu komponieren beeinflusst? Das glaube ich nicht. Monteverdis Stil ist grundsätzlich sehr theatralisch. Man weiss ja übrigens heute, dass das Stück gar nicht zur Gänze von Monte­ verdi geschrieben wurde. Es ist ein Pasticcio, wahrscheinlich von mehreren Autoren. Aber wer auch immer es komponiert hat, war ein Genie in Bezug auf Musikdramatik. Es gibt frühere Opern, die für höfische Theater komponiert wurden und in gewisser Weise musikalisch raffinierter sind. Orfeo und Poppea unterscheiden sich stark – Poppea ist sehr viel ex­pressiver, man könnte sogar sagen, extrovertierter angelegt. Allerdings liegen zwischen Orfeo und Poppea auch 30 Jahre. Opern von Monteverdi aus der Zeit zwischen den beiden Werken sind – abgesehen von Il ritorno d’Ulisse in patria – nicht erhalten. Natürlich hat sich Monte­verdis Art zu komponieren in diesen 30 Jahren weiterentwickelt, auch das The­ater insgesamt hat sich weiterent­wickelt, und Monteverdi hat mit der Zeit gelernt, die Herzen aller Zuschauer zu erreichen, nicht nur diejenigen mit einer musikalischen Bildung. In Poppea gibt es ja keinerlei allegorische Figuren, in denen sich ein Herrscher hätte spiegeln

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müssen; es ist eine pseudohistorische Geschichte über Liebe, Erotik, Verrat und Tod, die für jeden verständlich ist. Sowohl in Poppea als auch in Ulisse spürt man sehr stark, dass der visuelle, thea­tra­lische, dramatische Aspekt immer mitgedacht wurde. Es ist sehr beein­druckend, dass gleich eine der ersten Opern überhaupt dramaturgisch und theatralisch so gut funk­tioniert. Besonders bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass sie keine Moral hat – Poppea geht im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen, wird am Ende aber mit der Krone belohnt … Am Ende siegt die Liebe. Die Oper erzählt nicht, dass Poppea später von Nero ermordet wurde. Das damalige Publikum wusste das natürlich. Aber es war normal, historische Fakten für die Oper so zu verändern, dass ein «lieto fine», ein Happy End, möglich wurde; das war einfach die Konvention. In der Oper wird der Ehebruch Neros und schliesslich die Trennung von seiner Frau Ottavia verhandelt; ausserdem geht es um Verrat; Neros Lehrer, der Philosoph Seneca, wird zum Selbstmord gezwungen; es wird gesagt, dass der Herrscher ein Dieb ist. Das ist alles ziemlich krass, regelrecht zynisch. Es zeigt die Reali­tät so, wie sie zu Monteverdis Zeit in Italien anzutreffen war. Diese Amoralität ist das Überraschendste an diesem Libretto … … und kommt uns heute unglaublich modern vor. Welches sind die fas­ zinierendsten Momente in «Poppea»? Da gibt es mehrere. Zunächst der erste Auftritt von Poppea und Nerone, der unglaublich erotisch ist. Die Partie der Poppea liegt hier für eine Sopran­ stimme sehr tief, es ist eigentlich mehr ein Hauch gemeint als Gesang. Man spürt in der Musik, dass hier zwei Menschen auf der Bühne stehen, die direkt aus dem Bett kommen. Überhaupt ist Poppea eine sehr erotische Figur. Ihre erste Szene wird auch dadurch noch wirkungsvoller, dass sie in heftigem Kontrast steht zur vorhergehenden Szene mit Ottone, ihrem ehemaligen Lieb­haber, der noch immer in sie verliebt ist und vor ihrem Balkon voller Sehnsucht auf sie wartet; er muss schliesslich erkennen, dass Nero gerade bei ihr ist. Auch eine Szene Ottones finde ich sehr poetisch: Er plant später im Stück, Poppea zu ermorden, und sagt an dieser Stelle: Ich werde verbannt

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sein, aber im Paradies. Dazu erklingt eine fantastische Musik. Auch der Tod Senecas ist sehr berührend. Und das letzte Duett von Poppea und Nero, mit dem die Oper endet, ist ein regelrechter Pop-Song. Es ist für mich wie ein Lied von den Beatles, geschrieben für ein grosses Publikum. Ein bisschen auch wie die Filmmusik von Ennio Morricone – absolut perfekt in ihrer Einfachheit. Ausgerechnet dieses wundervolle Duett allerdings stammt gar nicht von Monteverdi … … nein, das hat wohl Benedetto Ferrari geschrieben. Für eine Musik wie diese braucht man kein Genie zu sein. Es gibt Millionen ähnlicher Stücke aus der Zeit – eine einfache Ciaccona, die auf einem Basso ostinato beruht. Faszinie­ rend sind die Harmonien, die durch die ausge­haltenen Noten von Poppea und Nerone entstehen und eine unglaubliche Spannung erzeugen. Dass die Oper mit einem so zarten Duett und nicht mit einem fröhlichen Chor oder einer tänzerischen Sinfonie aufhört, ist übrigens für die Zeit sehr ungewöhnlich und äusserst wirkungsvoll. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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NEROS EXZESSE Sueton

Seine Unverschämtheit, seine sexuelle Gier, seine Verschwendungssucht, Hab­ gier und Grausamkeit zeigte er vorerst nur hier und da und im geheimen, so als ob es sich dabei um Jugendtorheiten handle. Doch konnte es schon damals für niemanden einen Zweifel geben, dass dies Charakterfehler und keine Jugend­ sünden seien. So zog er sich gern, wenn es eben dunkel geworden war, eine Kappe oder eine Perücke über und schlich sich in üble Kneipen, durchstreifte die Gassen und trieb sein Spiel mit den Leuten. (...) Seine verbrecherischen Neigungen gewannen jedoch immer mehr die Oberhand, und so ging er allmählich von heimlichen Bubenstreichen ganz offen zu schlimmen Schandtaten über und gab sich keinerlei Mühe mehr, diese zu verheimlichen. Seine Mahlzeiten zog er von Mittag bis Mitternacht hin. Dazwischen such­ te er sich mehrmals durch warme und im Sommer durch eisgekühlte Bäder zu erfrischen. Zuweilen speiste er auch in der Öffentlichkeit, und zwar in einem Bassin, das zur Vorführung von Seeschlachten diente und für seine Zwecke mit Schranken umgeben war, entweder auf dem Marsfeld oder im Circus Maximus. Dabei liess er sich von den Dirnen und Flötenspielerinnen von ganz Rom bedie­ nen. Sooft er den Tiber hinab nach Ostia fuhr oder am Golf von Baiae vorüber­ segelte, waren am Ufer an bestimmten Stellen Pavillons aufgebaut, die zum Verweilen einluden und mit allem Luxus ausgestattet waren. Vornehme Damen spielten die Wirtinnen und luden ihn bald hier, bald da zum Landen ein. Oft sagte er sich auch selbst bei seinen Freunden zur Tafel an, und einer hatte einmal ein Schlemmerbankett auszurichten, das ihn 400 000 Sesterzen kostete. Ein anderer hatte für ein Gastmahl mit Rosenessenzen noch weit mehr auszugeben. Nicht genug, dass er Verkehr mit freigeborenen Knaben und mit verhei­ rateten Frauen hatte, er tat sogar einer Vestalin mit Namen Rubria Gewalt an. Die Freigelassene Acte hätte er beinahe zu seiner rechtmässigen Gemahlin ge­

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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macht. (...) Den jungen Sporus liess er entmannen und versuchte sogar eine Ge­schlechtsumwandlung vorzunehmen. Er stattete ihn mit einer Mitgift aus, liess ihm den roten Brautschleier umlegen und vollzog mit ihm feierlich die Hochzeitszeremonie. Dann liess er ihn in prächtigem Zug in seinen Palast geleiten und hielt ihn dort wie seine Gemahlin. Es existiert darüber heute noch der Ausspruch eines witzigen Zeitge­ nossen, der sagte, es wäre ein Segen für die Menschheit gewesen, wenn Neros Vater Domitius auch eine solche Frau gehabt hätte. Diesen Sporus kleidete er in den Ornat der Kaiserinnen und liess ihn in einer Sänfte herumtragen. Auf den Festversammlungen und Messen in Griechenland und bald auch in Rom auf dem Kunstmarkt hatte er ihn immer bei sich und tauschte immer wieder zärtliche Küsse mit ihm.

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NEROS GIER NACH BEIFALL Sueton

In seiner Jugend hatte er sich mit beinahe allen Künsten und Wissenschaften befasst. Nur von der Philosophie hatte ihn die Mutter ferngehalten, da, wie sie erklärte, Philosophie für einen künftigen Herrscher nur hinderlich sei. Von der Lektüre der alten Redner hielt ihn sein Lehrer Seneca fern, damit er umso län­ ger ein Bewunderer seines eigenen Rednertalents bleibe. Also wandte er seine Neigung der Dichtkunst zu; er schrieb gern und ganz mühelos Verse, und es stimmt nicht, was einige behaupteten, dass er die Werke anderer für seine eige­ nen ausgegeben habe. Ich habe selbst Schreibtafeln und Hefte in den Händen gehabt mit einigen recht bekannten Versen, die er eigenhändig niedergeschrie­ ben hat, und dabei sieht man auf den ersten Blick, dass diese weder irgendwoher entlehnt noch nach dem Diktat eines anderen niedergeschrieben sind, sondern von jemand, der genau überlegt und aus eigenem Können schafft, denn da ist vieles ausgetilgt oder durchgestrichen und darübergeschrieben. Auch der Ma­ lerei und Bildhauerei hat er sich mit nicht geringem Erfolg gewidmet. Seine vorherrschende Neigung war jedoch die Gier nach dem Beifall der Menge, und er war eifersüchtig auf jeden, der, ganz gleich wie, das Volk für sich zu gewinnen verstand.

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OTTAVIAS VERBANNUNG UND TOD Tacitus

Als nun Nero den Senatsbeschluss erhielt und sah, dass alle seine Verbrechen wie Ruhmestaten aufgenommen wurden, verstiess er Octavia mit der Behauptung, sie sei unfruchtbar; anschliessend vermählte er sich mit Poppaea. Diese, die schon lange Neros Mätresse war und ihn als Ehebrecher, dann als Ehemann beherrsch­ te, veranlasste einen der Diener Octavias, sie einer Liebschaft mit einem Sklaven zu bezichtigen. Als Schuldiger ausersehen wurde ein Mann namens Eukairos, der aus Alexandria stammte und sich auf das Flötenspiel verstand. Man unterwarf deswegen die Zofen einem peinlichen Verhör, und während unter dem Zwang der Folter einige dazu gebracht wurden, die falschen Angaben zu bestä­tigen, blieb die Mehrzahl beharrlich dabei, für die Keuschheit ihrer Herrin ein­zutreten; eine von ihnen antwortete dem Tigellinus, als er ihr zusetzte, Octa­vias Scham sei reiner als sein Mund. Trotzdem wurde sie verstossen, zunächst in der Form der bürgerlichen Scheidung, und erhielt das Haus des Burrus und die Güter des Plautus als unselige Geschenke; später wurde sie nach Campanien verwiesen, wo­bei man sie noch unter militärisehe Bewachung stellte. Darüber kam es zu zahl­reichen, offen geäusserten Klagen überall im Volk, das weniger Klug­heit be­sitzt, andererseits in seiner beschränkten sozialen Stellung geringeren Gefah­ ren ausgesetzt ist, als habe Nero aus Reue über seine Schandtat Octavia als seine Gattin zurückgerufen. Daraufhin zogen die Leute voller Freude zum Kapitol hinauf und erwiesen den Göttern endlich wieder ihre Verehrung. Die Standbilder Poppaeas rissen sie nieder, Octavias Bildnisse trugen sie auf den Schultern, bestreuten sie mit Blumen und stellten sie auf dem Forum und in den Tempeln auf. Man ging so­ gar zu Lobpreisungen des Princeps über, die sich wie eine Litanei von Anbe­tun­ ­­gen wiederholten. Und schon füllten sie den Kaiserpalast mit einer lärmenden

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Menschenmenge, als Soldatenhaufen, die man hinschickte, mit Schlägen und gezücktem Schwert das aufgeregte Volk auseinanderjagten. Wiederhergestellt wurde dann, was man während des Aufruhrs umgestürzt hatte, und Poppaeas Ehrensäulen wurden neu aufgerichtet. Diese Frau, schon immer vor Hass, jetzt auch vor Angst ausser sich, es könnte entweder das gewaltsame Vorgehen des Pöbels sich noch stärker auswirken oder Nero sich durch die Zuneigung des Volkes umstimmen lassen, warf sich ihm zu Füssen: Nicht in dem Masse stehe ihre Sache auf dem Spiele, dass sie um ihre Ehe kämpfe, obwohl ihr diese lieber sei als das Leben, vielmehr sei ihr Leben selbst in äusserste Gefahr gebracht durch die Klientenscharen und Sklaven Ottavias, die sich den Namen Volk zugelegt hätten und sich Frechheiten im Frieden leisteten, die kaum im Kriege vorkämen. Die Worte, die in ihrer Vielgestaltigkeit darauf angelegt waren, Angst und Zorn zu erregen, erschreckten Nero beim Anhören und brachten ihn zugleich in Wut. Daher beschloss man, nach irgend jemandem für ein Geständnis zu suchen, dem man auch das Verbrechen des Hochverrats anhängen könnte. Als geeignet erschien der Vollstrecker des Muttermords. Ancietus, er stand nach der Ausfüh­ rung der Untat in bescheidener Gunst, war dann aber umso ärger verhasst, weil man Helfer bei bösen Taten immerwie einen lebendigen Vorwurf vor Augen hat. So liess ihn der Kaiser kommen und erinnerte ihn an die frühere Dienst­ leistung: Als einziger habe er sich für die Errettung des Princeps gegen seine heim­tückische Mutter hilfreich eingesetzt; eine Gelegenheit, nicht geringeren Dank zu erwerben, biete sich jetzt, wenn er ihm die feindselige Gattin vom Halse schaffe. Weder Gewalt noch eine Mordwaffe brauehe man dafür: bekennen solle er sich lediglich zum Ehebruch mit Octavia. Eine Belohnung, die zwar im Augenblick noch geheim bleiben müsse, aber jedenfalls bedeutend sei, und einen abgeschiedenen Aufenthalt in anmutiger Gegend versprach er ihm – andernfalls, wenn er sich weigere, drohte er ihm den Tod an. Dann wurde er nach Sardinien verwiesen, wo er als recht wohlhabender Mann die Verbannung ertragen konnte und eines natürlichen Todes starb. Aber Nero erklärte in einem Erlass, Octavia habe den Präfekten auf die Hoffnung hin, die Flotte für sich zu gewinnen, verführt – dabei vergass er, dass er ihr kurz zuvor Unfruchtbarkeit vorgeworfen hatte – im Bewusstsein ihrer

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bösen Lust die Leibesfrucht abgetrieben, und dies habe er zuverlässig erfahren; darum verbannte er Octavia auf die Insel Pandateria. Keine andere Verbannte hat je die Menschen, die das mitansahen, mit tieferem Mitgefühl erfüllt. Nun war die junge Frau, die im 20. Lebensjahr stand, umgeben von Zenturionen und Soldaten, in Vorahnung des Unheils schon dem Leben entrückt, und konnte sich doch nicht in die Ruhe des Todes finden. Nach Ablauf weniger Tage erhielt sie dann den Befehl zu sterben, während sie beteuerte, sie sei ja schon Witwe und nur mehr die Schwester des Princeps, und die gemeinsamen Vorfahren mit dem Namen Germanicus und schliesslich Agrippinas Namen anrief, zu deren Lebzeiten sie zwar eine unglückliche Ehe, aber doch nicht den Tod habe auf sich nehmen müssen. Man band sie fest und öffnete ihr die Adern an allen Gliedern; und weil das durch die Angst gestaute Blut allzu langsam floss, half man durch den Dampf eines überheissen Bades dem Tode nach. Dazu kam eine noch ab­ scheu­lichere Grausamkeit: Ihr Haupt, abgeschlagen und nach Rom gebracht, bekam Poppea zu sehen.

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Die potente Frau hat den Sprung aus einer über­holten Gegenwart gewagt. Vorbei die Jahrzehnte des Über­ gangs, in der das so­genannte schwache Geschlecht bei­ nahe krampfhaft festhielt an dem ihm zugeschriebenen Opferstatus, weil noch keine andere Erzählung möglich schien. Vorbei die Zeit, in der Frauen kaum etwas wussten von der eigenen Lust und Gesetze einforderten, die für sie ihr Intimleben regeln. Svenja Flaßpöhler



POPPEAS AUFSTIEG UND TOD Tacitus

Ein nicht weniger Aufsehen erregendes ehebrecherisches Verhältnis bildete in diesem Jahr die Einleitung zu grossem Unheil für den Staat. Es lebte in der Stadt Sabina Poppaea, des T. Ollius Tochter, doch hatte sie den Namen des Gross­vaters mütterlicherseits angenommen, des in glänzender Erinnerung stehenden Pop­ peaus Sabinus, der Konsul gewesen war und im Ehrenschmuck seines Trium­phes erstrahlte. Diese Frau besass alle anderen Vorzüge ausser einer anständigen Gesin­ nung. Denn ihre Mutter, die die Frauen ihrer Zeit an Schönheit weit übertraf, hatte ihr Ruhm und wohlgestaltetes Äusseres in gleicher Weise vererbt; ihr Reichtum entsprach ihrer ertauchten Abkunft. Im Gespräch gewinnend, ver­ fügte sie über einen recht aufgeweckten Verstand. Bescheidenheit trug sie nach aussen zur Schau und führte in Wirklichkeit einen zügellosen Lebenswandel; nur selten ging sie unter die Leute, und dann nur mit halbverschleiertem Gesicht um gierige Blicke nicht zu befriedigen, oder weil es ihr gut stand, Auf ihren Ruf nahm sie niemals Rücksicht, ohne zwischen Ehemännern und Ehebrechern einen Unterschied zu machen; und da sie keiner eigenen oder fremden Leiden­ schaft nachgab, liess sie nur dort, wo sich für sie Nutzen zeigte, ihrer Sinnlich­ keit freien Lauf. So kam es, dass sie während ihrer Ehe mit dem römischen Rufus Crispinus, von dem sie einen Sohn hatte, der junge und verschwenderische Otto in seinen Bann zog, auch weil er als der am meisten begünstigte unter den Freunden Neros galt. Und nicht lange, so wurde durch den Ehebruch ein Ehe­ bund gestiftet. Mochte Otto in seiner Verliebtheit unvorsichtig sein, jedenfalls pries er die Schönheit und den feinen Geschmack seiner Gattin vor dem Princeps; vielleicht tat er es auch, um dessen Leidenschaft zu erregen und, wenn sie beide die gleiche

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Frau besässen, durch dieses Band sich zusätzlichen Einfluss zu verschaffen. Oft hörte man ihn beim Aufstehen von der Tafel des Kaisers sagen, er gehe natürlich jetzt zu ihr, ihm seien Adel und Schönheit zuteil geworden, der Wunschtraum aller und das Vergnügen der Glücklichen. Auf diese und ähnliche Lockmittel liess man keine lange Wartezeit verstreichen, vielmehr erhielt Poppaea Zutritt und gewann zunächst durch Schmeicheleien und Verführungskünste Einfluss, indem sie tat, als könne sie ihrer Begierde nicht widerstehen und sei von der Schönheit Neros gefangen; als dann des Princeps Liebe schon leidenschaftlich wurde, kehrte sie ihren Stolz hervor und erklärte, wenn sie länger als eine und die andere Nacht festgehalten werden sollte, sie sei doch verheiratet und könne ihre Ehe nicht aufgeben, da sie an Otto gefesselt sei wegen seiner Lebensart, in der ihm niemand gleichkomme; er sei nach Gesinnung und äusserem Aufwand ein grossartiger Mann; bei ihm bekomme sie zu sehen, was höchster Stellung würdig sei. Nero dagegen, der als Kebsweib eine Magd habe und eben durch den Umgang mit Acte festgebunden sei, habe aus dem Konkubinat mit einer Sklavin nichts als Verworfenheit und Schmutz mitbekommen. Ausgeschlossen wurde nun Otto aus der vertrauten Freundschaft, später aus der Gesellschaft und dem Gefolge und schliesslich, um nicht in Rom den Nebenbuhler spielen zu können, zum Statthalter der Provinz Lusitanien ernannt; dort lebte er bis zum Bürgerkrieg nicht entsprechend seinern früheren üblen Ruf, sondern an­ ständig und unsträflich, eifrig auf seine Müsse bedacht und in seiner Amtsfüh­ rung recht zurückhaltend. Nach dem Ende der Spiele fand Poppaea den Tod, und zwar infolge eines unbeabsichtigten Zornausbruches ihres Gatten, von dem sie, die schwanger war, durch einen Fusstritt schwer getroffen wurde. Denn an einen Giftmord möch­ te ich nicht glauben, obwohl einige Geschichtsschreiber dies berichten, mehr aus Hass als der Wahrheit entsprechend: er wünschte sich nämlich Kinder und war seiner Gattin in Liebe ergeben. Ihr Leichnam wurde nicht eingeäschert, wie es römische Sitte ist, sondern, wie bei ausländischen Königen üblich, mit einer Fülle von Räucherwerk einbalsamiert und im Grabmal der Iulier beige­ setzt. Trotzdem hielt man ein öffentliches Leichenbegräbnis, und er selbst rühmte auf der Rednertribüne ihre Schönheit, dass sie eines göttlichen Kindes Mutter gewesen sei, und andere Gaben des Glücks – anstelle von Tugenden.

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SENECAS DOPPELMORAL Cassius Dio

Bei späterer Gelegenheit (58 n. Chr.) kam es auch zu gerichtlichen Auseinander­ setzungen, und selbst diese brachten vielen Verbannung oder Tod. Nun geriet auch Seneca in Anklagezustand, und zwar warf man ihm unter anderem vor, dass er ein enges Verhältnis zu Agrippina (Neros Mutter) unterhalte. Offenbar hatte es ihm nicht genügt, mit Iulia Ehebruch betrieben zu haben, und er war auch durch seine Verbannung nicht gebessert worden, vielmehr näherte er sich auch Agrippina ohne Rücksicht auf ihre Wesensart und die des Sohnes, den sie hatte. Und dies war nicht der einzige Punkt, sondern es gab noch andere, in denen sich sein Tun im vollsten Widerspruch zu seinen philosophischen Lehren zeigte. So trat er als Ankläger der Tyrannis auf, wurde aber selbst zum Lehrmeis­ ter eines Tyrannen, beschimpfte die Gefährten der Machthaber, hielt sich jedoch nicht vom Kaiserpalaste fern, und während er manch tadelndes Wort gegen die Schmeichler fand, kroch er vor Messalina und den Freigelassenen des Claudius so würdelos, dass er von der Insel aus, wo er in Verbannung lebte, sogar ein Buch mit Lobsprüchen auf sie schickte. Aus Scham hat er es späterhin freilich unter­ drückt. Der gleiche Seneca, der dem Reichtum mit Scheltworten begegnete, er­warb sich selbst ein Vermögen von dreihundert Millionen Sesterzen, und obgleich er die Üppigkeit anderer rügte, nannte er fünfhundert Tischplatten aus Zitronenholz mit Elfenbeinfüssen, einander ganz gleich, sein eigen und bewir­ tete darauf seine Gäste. Mit diesen Hinweisen habe ich die weiteren Folgen für ihn deutlich aufgezeigt – das ausschweifende Leben, dem er sich gerade zu der Zeit hingab, da er eine höchst glanzvolle Ehe einging und sich mit erblühten Jungmännern vergnügte, eine Lebensweise, die er auch Nero zu führen lehrte. Dabei hatte Seneca früher ein solch herbes Wesen an den Tag gelegt, dass er seinen Zögling bat, ihm Kuss und gemeinsames Mahl zu erlassen. Für letzteres

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Ersuchen hatte er eine gute Ausrede zur Hand, nämlich den Wunsch, seinen philo­sophischen Studien in Musse und ungestört durch die Mahlzeiten des jungen Mannes nachgehen zu können. Was hingegen das Küssen betrifft, so kann ich mir keinen Grund für dessen Ablehnung denken; denn die wohl einzige Vermutung dafür, dass er einen solchen Mund nicht küssen wollte, erweist sich aufgrund seiner Beziehungen zu jungen Männern als unrichtig. Wegen dieser Verbindungen und seines ehebrecherischen Verhältnisses wurden gewisse Klagen gegen ihn laut: doch kam er dazumal nicht nur selbst wieder frei, und zwar ohne dass gegen ihn eine förmliche Anklage vorlag, sondern es gelang ihm auch noch, Pallas und Burrus loszubitten. Späterhin hatte er freilich nicht mehr so viel Glück.

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SENECAS TOD Tacitus

Als dies von dem Tribunen in Gegenwart von Poppaea und Tigellinus, also im Kreise der vertrautesten Ratgeber des wahnsinnigen Princeps berichtet wurde, fragte Nero, ob Seneca sich auf einen freiwilligen Tod einstelle. Da versicherte der Tribun, er habe keine Anzeichen von Angst, keinerlei Traurigkeit in seinen Worten oder seiner Miene feststellen können. Also erhielt er den Befehl, erneut hinzugehen und ihm den Tod anzukündigen. Doch mit ihm zu sprechen und ihm unter die Augen zu kommen hütete er sich und schickte einen seiner Zenturionen zu Seneca hinein, der ihm die Unabänderlichkeit des Todes ankündigen sollte. Jener verlangte unerschrocken die Schreibtafeln seines Testaments. Wem sei denn Neros Grausamkeit unbekannt gewesen? Es bleibe ihm ja nichts anderes übrig nach dem Mutter- und Brudermorde, als seines Erziehers und Lehrers Ermordung hinzuzufügen. Nachdem er dies und Ähnliches gleichsam für die Allgemeinheit gespro­ chen hatte, umarmte er seine Gattin; entgegen seiner augenblicklichen Mann­ haftigkeit ein wenig weicher geworden, bat er sie inständig, ihren Schmerz zu massigen, sich ihm nicht ewig hinzugeben, sondern in der Betrachtung seines in Tugend verbrachten Lebens die Sehnsucht nach dem Gatten durch die im sittlich Guten liegenden Trostmittel erträglich zu machen. Jene dagegen be­ teuer­te, auch ihr sei der Tod bestimmt, und verlangte nach der Hand, die ihr die Adern öffne. (...) Danach öffneten sie sich mit demselben Schnitt des Messers die Pulsadern. Weil Senecas greisenhafter und durch die karge Lebensweise geschwächter Körper dem Blut nur langsamen Abfluss ermöglichte, öffnete er auch an den Beinen und Kniekehlen die Adern; und durch die abscheulichen Qualen erschöpft, gab er, um nicht durch seinen Schmerz den Mut der Gattin zu brechen und selbst beim Anblick ihrer Martern der Schwäche anheimzufallen, ihr den Rat, sich in ein anderes Gemach zu begeben.

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Inzwischen bat Seneca, da sich das Sterben noch weiter hinzog und nur langsam vor sich ging, Statius Annaeus, das längst vorbereitete Gift zu holen: als man es brachte, trank er es, aber ohne Folgen, da seine Glieder schon erkaltet waren und der Körper sich der Wirkung des Giftes verschloss. Endlich stieg er in ein Bassin mit heissem Wasser, wobei er die zunächst stehenden Sklaven besprengte und hinzufügte, er weihe dieses Nass Jupiter, dem Befreier. Dann in das Dampf­ bad gebracht und in dessen Qualm erstickt, wurde er ohne jede Leichenfeier verbrannt.

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SELBSTDARSTELLUNG UND SOZIALE INSZENIERUNG Ramòn Reichert

Wir leben in einer Zeit, in der egozentrische Selbstdarsteller, Power-User und Influencer mittels Facebook, Instagram, WhatsApp, Twitter und Snapchat im­ mer mehr Einfluss auf soziale Rollenmodelle, Identitätsskripte und politische Denkweisen nehmen. Selfies gelten heute als ein zentrales Kulturmuster der digi­talen Gesellschaft. Die sogenannte Selfie-Generation hat eine neue Macht sozialer Inszenierung hervorgebracht, in welcher der Exhibitionismus des Priva­ ten und Intimen als etwas Selbstverständliches und Alltägliches gelten. Die Selbstverständlichkeit, mit der Selfies heute bei jeder Gelegenheit gemacht wer­ den, stellen neue Herausforderungen für die Gegenwartsgesellschaft dar. Mitt­ ler­­weile haben sich fragwürdige Genres herausgebildet, wie z.B. War-Selfies, Holocaust-Selfies oder Funeral-Selfies. Was unterscheidet Selfies eigentlich von früheren fotografischen Selbstpor­ träts? Der Kunstkritiker Jerry Saltz meint, dass sich in Selfies ein neues «visuelles Genre» manifestiert, das sich von allen anderen historischen Formen des Selbst­ porträts unterscheidet: «Abgesehen von den formalen Unterschiedlichkeiten zwischen den beiden Formen – der Rahmung und der Technik – ist das tradi­ tionelle fotografische Selbstporträt deutlich weniger spontan und zwanglos als das Selfie.» Unter «Selfies» verstehen wir Formen der visuellen Selbstthematisierung, mit der sich eine Person oder auch mehrere Personen (als «Gruppenselfie») zum Thema der Aufnahme machen. Dabei entstehen Selfies meist mit einer Digital­ kamera oder einem Smartphone von eigener Hand und können auf Online-Netz­ werken mittels Hashtagging (ein mit der Markierung # versehenes Schlagwort),

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Abonnement-Strukturen und Follower-Netzwerken eine grössere Öf­fent­lichkeit erreichen. Die hohe Verbreitungsdichte der Smartphones und ihrer mobilen Vernetzung mittels Apps hat dazu geführt, dass kommunikative Praktiken der Selbstthematisierung stark an Bedeutung gewinnen konnten. In Verknüpfung mit den bildgebenden Aufzeichnungs- und Speichermedien spielen Bilder in der alltäglichen Kommunikation eine zentrale Rolle. Soziale Medien üben dabei grossen institutionellen und normativen Druck auf die beteiligten Akteure aus, andauernd Selfies zu teilen. Unter diesem Druck gehen Smartphone-Nutzer oft absurde Risiken ein, um ein besonders spektakuläres Selfie zu schiessen – und der ein oder andere hat dabei sogar schon sein Leben verloren. Mit den «Selfies» rückt sich zwar jeder Einzelne ins Bildzentrum; als sozial geteilte Bilder müssen sich diese Selfies jedoch auch bestimmten Rollenerwar­ tungen, Körpernormen und Schönheitsidealen unterordnen. Dadurch gehören sie zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft, mit welchen der Einzelne versucht, Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit herzustellen.

Regime der Selbstdarstellung In der heutigen digitalen Gesellschaft haben sich neue Imperative für unser in­di­viduelles Rollenverhalten herausgebildet. Der neoliberale Imperativ des un­ ternehmerischen Selbst schuf das neue Rollenbild eines sich optimierenden Subjekts. Dieses Subjekt ist über die sozialen Netzwerke einem andauernden Feedback ausgesetzt und versucht, sich selbst möglichst optimal darzustellen, um sozial anerkannt zu werden. Selfies gelten daher als neue Währung auf dem neoliberalen Aufmerksamkeitsmarkt hyperindividueller Selbstdarsteller. Zudem ist die Ära der Post Privacy beherrscht vom Imperativ, sein (wahres) Gesicht zu zeigen, um dabei seine Authentizität unter Beweis zu stellen. Selfies verlagern dialogische face-to-face-Interaktionen ins Social Web und imitieren dabei For­ men der Kommunikation. Obwohl sie auf eine «Tyrannei der Intimität» (Richard Sennett) abzielen, tangieren sie die Grenzen des Mediums, denn sie können den Blick des Betrachters nicht erwidern. Dennoch sind Selfies grundsätzlich als

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Kommunikationsmittel zu verstehen. Denn wer bestimmte Stile und Codes der Selbstdarstellung beherrscht, möchte anerkannt werden, Einfluss ausüben und zu einer Gruppe dazugehören.

Image-Arbeit in der Like Economy Im Unterschied zu früheren Speicher-, Verarbeitungs- und Verbreitungstechno­ logien sind Selfies heute vor allem eines: Kommunikationsmedien. Als Medien obsessiver Echtzeit-Kommunikation versetzen sie die beteiligten Nutzer von Smartphones und Sozialen Medien in einen permanenten Zwang zur selbstbe­ züglichen Standortbestimmung und biografischen Bilanzierung. Diese Arbeit am eigenen Image bleibt allerdings fragmentarisch und unabgeschlossen – ihre dialektische Nervosität oszilliert zwischen den fotografischen Verstellungsküns­ ten eines angepassten Opportunismus und einer Arbeit am Selbst, die innerhalb der Anerkennungsspirale der Like-Economy nie aufhören darf. Wie die australischen Kommunikationstheoretiker Jean Burgess und Sonja Vivienne betont haben, liegt die Bedeutung der Selfies in der digitalen Gesell­ schaft vor allem darin, dass sie so obsessiv geteilt werden. Das Neue an Selfies ist, dass die Übertragung von Bildern instantan möglich sein kann, sie sind quasi in Echtzeit im öffentlichen Raum verbreitbar. Die rasante Verbreitung von digitalen Selbstbildern erweitert private Nutzungsräume und sorgt für eine bis­ her ungekannte Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit. Auch der Kunst­ historiker Geoffrey Batchen weist auf den kommunikativen Aspekt der visuellen Selbstthematisierung hin. Das Selfie ist in diesem Sinne weniger Medium der Repräsentation als Medium der Transaktion. Es etabliert eine ökonomische Be­ ziehung zwischen unterschiedlichen Akteuren und stellt ein Tauschobjekt zur Stabilisierung einer Tauschbeziehung dar.

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Anstatt dem Mann die Schuld für das Verharren in Passivität in die Schuhe zu schieben – beruflich, sexuell, existentiell –, kommt die potente Frau in die Lust. Sie begehrt und verführt, befreit sich aus der Objektposition, ist souveränes Subjekt auch der Schaulust. Anstatt die männliche Se­xu­ali­­tät zu entwerten, wertet sie ihre eigene auf. Anstatt den Mann für seinen Willen zu has­sen, befreit sie den ihren aus der jahrhundertelangen Latenz. Denn niemand kann sie von der Aufgabe entlasten, selbstbestimmt zu handeln. Niemand kann ihr abnehmen, die zu werden, die sie sein will. Svenja Flaßpöhler



DIE HOHE KUNST DER EROTISCHEN MANIPULATION Silke Leopold

An Kaiser Nero liessen schon die römischen Geschichtsschreiber Tacitus und Suetonius kein gutes Haar. Er habe seine halbe Verwandtschaft sowie zwei seiner Gemahlinnen umgebracht, seinen Erzieher, den Philosophen Seneca, und Scharen von Menschen, denen er seinen Aufstieg verdankte, in den Tod getrie­ ben, Rom in Brand gesteckt und die Tat den Christen in die Schuhe geschoben. Schliesslich habe er, als sich der römische Senat und prominente Heerführer gegen ihn stellten, sich auf jämmerliche Weise das Leben genommen. Tacitus fügte den Schandtaten Neros noch eine überaus abschätzige Beschreibung der Poppaea Sabina hinzu: Schön und verführerisch, geistreich und gebildet, aber auch berechnend und intrigant, habe sie alle Vorzüge einer Frau besessen, mit Ausnahme einer anständigen Gesinnung. Francesco Busenello, dem Juristen und Schriftsteller aus einer reichen vene­ zianischen Familie, kam diese Sicht auf den Herrscher Roms und des römischen Weltreichs durchaus zupass. Denn der Hass auf Rom – das päpstliche wohl­ gemerkt – war den Venezianern seit Jahrhunderten permanenter Gegnerschaft gleichsam in ihre politische Identität eingeschrieben. 1598 geboren, hatte Busenello bei Paolo Sarpi und Cesare Cremonini studiert, zwei Persönlichkeiten, deren Namen aufhorchen machen: Ersterer, Servitenmönch, Gelehrter und juristischer Berater der Republik Venedig, hatte sich in den langjährigen Streitig­ keiten zwischen der römischen Kurie und Venedig, in denen es um den Einfluss der Kirche auf die Politik der Serenissima ging, ebenso wortgewaltig wie erfolg­ reich auf die Seite Venedigs gestellt und wiederholt auch das Papsttum als Insti­ tution in Frage gestellt. Und Letzterer, Philosophieprofessor an der Universität

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Padua, lehrte als überzeugter Aristoteliker seine Schüler an der Allmacht Gottes und der Unsterblichkeit der Seele zu zweifeln und empfahl ihnen, das Diesseits über das Jenseits und das körperliche Vergnügen über die christliche Moral zu stellen. Busenello gehörte zu den Mitgliedern der 1630 gegründeten Accademia degli Incogniti, einem Debattierclub von notorischen Freigeistern, wo man literarische, politische oder gesellschaftliche Themen diskutierte. Und er begann 1640, Opernlibretti zu schreiben, der neuen Theaterform, die sich seit 1637 in Venedig als Karnevalsvergnügen zu etablieren begann, eine neue inhaltliche und dramaturgische Gestalt zu geben und seine Sicht auf die Welt in den Geschich­ ten, die da auf der Opernbühne erzählt wurden, unter die Leute zu bringen.

Das komplette Programmbuch Gesellschaft ohne moralischen Kompass können Sie auf Diese Geschichten aber waren düster und von einem Zynismus geprägt, der in www.opernhaus.ch/shop der bald vierhundertjährigen Geschichte der Oper kaum jemals wieder erreicht werden sollte. Der ganze erste Akt von La Didone (1641) spielte im brennenden, oder amTroja;Vorstellungsabend im Foyer zerstörten die Protagonisten waten förmlich im Blut, das Publikum wird Zeuge von Mord und Totschlag auf offener Bühne, die Geister der Ermordeten melden sich zuOpernhauses Wort, und wenn Aeneas diesem Inferno entkommt, um im fernen des erwerben Italien ein neues Troja zu gründen, dann mag der Zuschauer ahnen, auf welch schauderhaftem Fundament diese neue Stadt namens Rom gegründet sein wird. Und L’incoronazione di Poppea (1643), die an der Oberfläche so glanzvoll da­ herkam, die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe erzählte und mit einer prächtigen Krönung endete, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bitterböse Anklage einer Gesellschaft, die jeglichen moralischen Kompass verloren hat, in der jeder Einzelne Schuld auf sich lädt, in der niemand als Vorbild zur Identifi­ kation taugt und selbst das obligatorische Happy Ending den Sumpf der Sitten­ losigkeit nur noch tiefer macht. Busenello war der Erste, der den mythologischen Sujets der frühen Oper mit wachsender Konsequenz historische Stoffe, historisch verbürgte Persönlich­ keiten, Menschen gleichsam aus Fleisch und Blut und damit auch ein Ebenbild

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der Zuschauer im Parkett und in den Logen entgegenstellte. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen waren dabei keineswegs zufällig. Dass hier ein lasterhafter römischer Herrscher (und nicht etwa ein entfernter parthischer oder nubischer Potentat) als Exempel für moralische Verkommenheit herhalten musste, war durch­aus beabsichtigt. Rom als Sündenpfuhl: Auch wenn L’incoronazione di Poppea im heidnischen, antiken Kaiserreich spielte, dürfte wohl kaum jemandem im Publikum die Anspielung entgangen sein. Da ist Nero, der Kaiser – ein lasterhafter Schwächling, verheiratet mit seiner Stiefschwester Octavia, die ihm die Kaiserkrone garantiert, aber Wachs in den Händen seiner Geliebten Poppea, die ihrerseits ein abgefeimtes Flittchen ist. Sie vermarktet ihre körperlichen Reize zu Höchstpreisen, sie heiratet sich nach oben, bis sie an der Spitze angekommen ist: Zu Beginn der Oper ist sie die Gemahlin des Quästors Otho, aber schon die Geliebte des Kaisers. Und wie sie diesen dazu bringt, seine rechtmässige Gemahlin zu verstossen und sie selbst zu heiraten, ist ein Lehrstück über erotische Manipulation. Ginge es nun nach den Gesetzen dramatischer Erzählung, so müsste sich das Publikum mit den Opfern dieses doppelten Ehebruchs solidarisieren können. Das aber verweigert Busenello den Zuschauern, denn auch Octavia und Otho machen sich schuldig: Octavia, indem sie Otho zum Mord an seiner ungetreuen Gemahlin anstiftet, und Otho, indem er dazu bereit ist und sich auch noch der Mithilfe Drusillas be­dient, die ihn liebt und darauf hofft, ihn für sich zu gewinnen. Und wäre Amor nicht in letzter Sekunde dazwischengegangen, so hätte Otho die schlafende Poppea tatsächlich erdolcht. Es ist dieses Verbrechen, das Nero die Gelegenheit gibt, sich seiner Gemahlin und des Gemahls seiner Geliebten gleichzeitig zu entledigen und die Affäre mit Poppea durch Heirat und Krönung zu legalisieren. Es war ein Coup von grosser musikgeschichtlicher Tragweite, dass Monteverdi diesen Herrscher für einen Kastraten als Sopranrolle konzipierte; besser hätte man seine körperliche Abhängigkeit von Poppea kaum in Töne fassen können. Den in einem vertrackten Beziehungswirrwarr ineinander verknäuelten Protagonisten stellte Busenello eine Reihe weiterer teils historischer, teils frei erfundener Personen zur Seite – den Philosophen Seneca, der seinen Schüler Nero erfolglos zur Vernunft zu bringen versucht, den Dichter Lucano, der, kaum dass Seneca auf Befehl des Kaisers aus dem Leben geschieden ist, mit diesem

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gemeinsam ein lüsternes Loblied auf Poppeas Schönheit anstimmt, Arnalta, Poppeas bauernschlaue Amme, die ihren sozialen Aufstieg im Schlepptau ihres Schützlings geniesst, sowie Diener und Soldaten, die der Handlung zusätzliches Kolorit verliehen. Ihnen allen gab Busenello in seinem Libretto eine unverwech­ selbare Persönlichkeit. Wie etwa die beiden Soldaten zu Beginn der Oper vor Poppeas Haus Wache stehen müssen, während sich drinnen der Kaiser mit seiner Geliebten vergnügt, wie sie sich frustriert und müde ihrer Aufgabe mehr schlecht als recht widmen und dabei nach Art einer klassischen Dramenexposi­ tion in die Handlung einführen – das zeugt von einem untrüglichen Gespür für theatralische Effekte. Und mit Arnaltas Schimpfkanonaden, aber auch mit ihren listigen Gesellschaftsanalysen schuf Busenello einen neuen Rollentypus, der die venezianische Oper für lange Zeit beherrschen sollte. Monteverdi, der diese Rolle für einen Tenor konzipierte, trug mit den polternden Rhythmen der keifenden Erzieherin, mit dem schmeichlerisch-zärtlichen Wiegenlied, mit dem Arnalta sich selbst und Poppea in den Schlaf singt, und schliesslich mit ihrer Vision vom sozialen Aufstieg, in der sie sich in rhetorisch gebildeten, «vorneh­ men» musikalischen Floskeln übt, dazu bei, dass die Lachtränen im Publikum nicht versiegten.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Das Menschliche erwerben des Opernhauses hörbar machen

Claudio Monteverdi, ein ehrwürdiger, im zwanzig Jahre währenden Hofdienst zu Mantua wie im dreissig Jahre währenden Kirchendienst als Markuskapell­ meister in Venedig ergrauter Greis von 75 Jahren, seit 36 Jahren verwitwet, seit mehr als einem Jahrzehnt Geistlicher, mag auf den ersten Blick nicht als die ge­eignete Person erscheinen, ausgerechnet diesen moralisch verkommenen Büh­ nen­gestalten musikalisches Leben einzuhauchen. Und doch hätte Busenello keinen besseren Komponisten für sein Libretto finden können als den, der ein Menschenalter zuvor mit seinen Opern L’Orfeo (1607) und L’Arianna (1608) dem zarten Pflänzchen des vollständig in Musik gesetzten Dramas, das an seiner selbstverordneten Beschränkung auf den Sprechgesang schon nach kurzer

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Lebens­zeit wieder zu verdorren drohte, die entscheidenden dramatischen Im­ pulse gegeben hatte. «Arianna bewegte die Herzen, weil sie eine Frau war, und Orfeo, weil er ein Mann war» – so lautete Monteverdis musikdramatisches Credo, formuliert in einem Brief Ende 1616. Das Menschliche, die Abgründe der Seele ebenso wie die Glückseligkeit, hörbar zu machen, mit seiner Musik das Innerste der Personen nach aussen zu kehren, sah Monteverdi als seine ureigenste Aufgabe an. Dabei einhielt er sich jeglicher Wertung: seine Musik zeigte nicht mit dem Finger der Anklage auf Neros Schandtaten oder Poppeas Intrigen, sie denunzierte die Personen nicht, sondern erlaubte ihnen, gleichsam über sich selbst Auskunft zu geben. Das Lamento der verstossenen Ottavia etwa ist von einer derart zu Herzen gehenden Traurigkeit und Verzweiflung, dass man fast vergessen könnte, wieviel Schuld die mörderische Kaiserin auf sich geladen hat.

Die Leidenschaften hinter der Etikette Monteverdi war gnädiger als der Librettist: Seine Musik gab den als Fratzen spätrömischer Dekadenz gezeichneten Rollen ihre Würde zurück, liess einen Blick auf ihre verborgenen Gefühle, ihre Hoffnungen und Ängste zu und warb um Verständnis auch noch für die monströsesten Taten. Selten ist Monteverdis Musik so jung, so leidenschaftlich und so sinnlich gewesen wie in L’incoronazione di Poppea. Es scheint, als habe er, der angesehenste Musiker seiner Zeit, in kirchlicher Funktion und als Geistlicher über jeden moralischen Zweifel erha­ ben, auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen wollen. Er konnte das Rad der Operngeschichte gleichsam noch einmal neu erfinden und seinen Figu­ ren all jene Leidenschaften musikalisch in den Mund legen, die ihm selbst und allen anderen ehrbaren Zeitgenossen verwehrt gewesen wären. L’incoronazione di Poppea, die Verkehrung jeglicher Moral in ihr Gegenteil, wie es nur die Zeit des Karneval erlaubte, hat etwas Anarchisches, so als wolle der alte Monteverdi nun noch einmal der Welt vorführen, wie die Leidenschaften hinter der gesell­ schaftlich verordneten Etikette tatsächlich tobten.

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Poppea ist dafür das bemerkenswerteste Beispiel. Wie sie Nero mit schmachten­ den chromatischen Melodien und girrenden Koloraturen umgarnt, wie sie ihm das Eheversprechen gleichsam nach und nach in den Mund legt und schliesslich, kaum dass er es ausgesprochen hat, in einen tänzerischen Jubel aus­bricht – das ist ein musikalisches Profil von einiger charakterlicher Eindringlichkeit. Mit ihrer Krönung zur Kaiserin hat sie ihr Ziel erreicht, und mit dieser Zeremonie war die Oper ursprünglich auch zu Ende gegangen. Wir wissen sehr wenig über die Uraufführung der Incoronazione di Poppea im Karneval des Jahres 1643 im Teatro SS. Giovanni e Paolo, nicht einmal das genaue Datum, und es hat sich weder ein Libretto noch eine Partitur erhalten. Von dieser Aufführung existiert lediglich eine gedruckte Handlungsübersicht, ein «Scenario», das mit der Krö­ nungszeremonie endet. Spätere Bearbeiter hatten jedoch offenbar das Bedürf­ nis, dieser Apotheose der Unmoral noch ein Hohelied auf die Liebe folgen zu lassen. Erst 1646, drei Jahre nach Monteverdis Tod, taucht das wunderbare Schlussduett «Pur ti miro», in dem Nero und Poppea sich ihrer gegenseitigen Liebe versichern, in einer Quelle auf; musikwissenschaftliche Forschungen ha­ ben ergeben, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von Monteverdi, sondern von seinem Zeitgenossen Benedetto Ferrari stammt, ei­ nem der erfolgreichsten venezianischen Opernkomponisten der Zeit, und dass es einer seiner Opern entnommen wurde, um es der Incoronazione di Poppea anzufügen. Doch das sollte kein Grund zur Enttäuschung sein, im Gegenteil: Welches Glück, dass diese herrliche Musik am Schluss von Monteverdis L’in­ coronazione di Poppea die Zeiten überlebte – auch wenn sie dort, nach der Krönungsszene, eigentlich gar nicht hingehörte.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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Wenn eine allgemeine Lehre aus dieser Oper gezogen werden kann, dann die, dass von der Politik im Grunde wenig, ja gar nichts zu erhoffen ist. Politik degeneriert, noch bevor sie sich im modernen Sinne voll entfaltet hat; sie wird zum Mittel eines hemmungslosen Hedonismus, in dem die Herrscher nicht besser sind als die Dienerfiguren. Udo Bermbach


L’INCORONAZIONE DI POPPEA CLAUDIO MONTEVERDI (1567-1643) Dramma in musica in einem Prolog und drei Aufzügen Libretto von Giovanni Francesco Busenello nach dem XIII. und XIV. Buch der Annalen des Tacitus und dem Drama «Octavia» aus der Schule des Seneca Fassung Opernhaus Zürich 2018

Prolog

Fortuna Sopran Virtù Sopran Amore Countertenor Handlung

Poppea Sopran Nerone, Kaiser Countertenor Ottavia, Kaiserin Mezzosopran Ottone Contralto Seneca, Philosoph Bass Drusilla Sopran Nutrice Haute-Contre Arnalta Haute-Contre Damigella Sopran Lucano Tenor Valletto Tenor 1. Soldato / 2. Soldato Tenor 1. Famigliaro Countertenor 2. Famigliaro Tenor 3. Famigliaro Bass Liberto Bass


PROLOGO

PROLOG

Fortuna, Virtù, Amore.

Fortuna, Tugend, Amor.

SINFONIA

SINFONIA

FORTUNA

FORTUNA

Deh, nasconditi, o Virtù,

Verstecke dich, Tugend,

Già caduta in povertà,

seit langem schon bist du verarmt,

Non creduta Deità,

Göttin ohne Gläubige,

Nume ch’è senza tempio,

Gottheit ohne Tempel,

Diva senza devoti e senza altari,

Göttin ohne Anbeter und ohne Altäre;

Dissipata,

verstossen,

Disusata,

verbraucht,

Abboritta,

verhasst,

Mal gradita,

unerwünscht

Ed in mio paragon sempre schernita.

und im Vergleich zu mir immer verspottet.

Già Regina, hor plebea, che per comprarti

Einst Königin, jetzt Bettelweib, gezwungen,

Gl’alimenti e le vesti

dich selbst zu kleiden und zu nähren

I privilegi e i titoli vendesti.

durch Verkauf deiner Titel und Rechte.

Ogni tuo professore,

Jeder deiner Anhänger,

Se da me sta diviso

der sich von mir entfernt,

Sembra un foco dipinto

ist wie ein gemaltes Feuer,

Che nè scalda, nè splende,

das weder wärmt noch leuchtet;

Resta un color sepolto

eine begrabene Farbe

In penuria di luce.

durch Mangel an Licht.

Chi professa virtù non speri mai

Wer die Tugend verehrt,

Di posseder richezza, o gloria alcuna,

kann niemals auf grossen Reichtum oder Ruhm

Se protetto non è dalla Fortuna!

hoffen, wenn er nicht von Fortuna geschützt ist.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

VIRTÙ

TUGEND

Deh, sommergiti, malnata,

Versinke, du Unheilvolle,

Rea chimera della gente,

böses Trugbild der Menschheit,

Fatta Dea dagl’imprudenti.

von Törichten zur Gottheit erhöht!

Io son la vera scala,

Ich bin der einzig wahre Pfad,

Per cui natura al sommo ben ascende.

der den Menschen zum höchsten Ziel hinanführt;

Io son la tramontana,

ich bin der Wegweiser,

Che sola insegno agl’intelletti humani

nur ich verleihe dem menschlichen Geist

L’arte del navigar verso l’Olimpo.

die Gabe, den Olymp zu erklimmen.


Programmheft L’INCORONAZIONE DI POPPEA Opera musicale von Claudio Monteverdi Premiere am 24. Juni 2018, Spielzeit 2017 / 18

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach

Andreas Homoki

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung sowie die Gespräche mit Calixto Bieito und Ottavio Dantone sind Originalbeiträge für dieses Pro­ gramm­­buch; Poppeas Aufstieg und Tod, Ottavia Verban­ nung und Tod, Senecas Tod in: P. Cornelius Tacitus, Anna­ len, hg. von Erich Heller, München 1992; Senecas Dop­pelmoral in: Cassius Dio, Römische Geschichte, Bd. V, über­ setzt von Otto Veh, Zürich und München 1987; Neros Ex­ zesse in: C. Suetonius Tranquillus, Nero, übersetzt und hg. von Marion Giebel, Stuttgart 1978; Svenja Flasspöhler, Die potente Frau, Auszug, Berlin 2018; Ramon Reichert, Selbst­ darstellung und soziale Inszenierung, Originalbeitrag; Silke

Studio Geissbühler Fineprint AG

Leopold, Die hohe Kunst der erotischen Manipulation, Ori­ ginalbeitrag. Das Zitat von Udo Bermbach stammt aus: ders., Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Ge­ sellschaft in der Oper, Hamburg 1997. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 15. Juni 2018. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Walter Haefner Stiftung Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG PROJEKTSPONSOREN AMAG Kühne-Stiftung Baugarten Stiftung Ringier AG Familie Christa und Rudi Bindella Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung René und Susanne Braginsky-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Clariant Foundation Swiss Life Freunde des Balletts Zürich Swiss Re Ernst Göhner Stiftung Zürcher Festspielstiftung Max Kohler Stiftung Zürcher Kantonalbank GÖNNER Abegg Holding AG LANDIS & GYR STIFTUNG Accenture AG Juwelier Lesunja Josef und Pirkko Ackermann Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Alfons’ Blumenmarkt Stiftung Lyra zur Förderung hochbegabter, Allreal junger Musiker und Musikerinnen Ars Rhenia Stiftung Die Mobiliar Familie Thomas Bär Fondation Les Mûrons Berenberg Schweiz Neue Zürcher Zeitung AG Beyer Chronometrie AG Notenstein La Roche Privatbank AG Elektro Compagnoni AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung Stiftung Melinda Esterházy de Galantha StockArt – Stiftung für Musik Fitnessparks Migros Zürich Van Cleef & Arpels, Zürich Fritz Gerber Stiftung Verein «500 Jahre Zürcher Reformation» Gübelin Jewellery Else von Sick Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Walter B. Kielholz Stiftung Zuger Stiftung für Wirtschaft und Wissenschaft KPMG AG Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung FÖRDERER Max Bircher Stiftung Luzius R. Sprüngli Stiftung Denk an mich Elisabeth Stüdli Stiftung Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Fondation SUISA Garmin Switzerland Confiserie Teuscher Goekmen-Davidoff Stiftung Madlen und Thomas von Stockar Horego AG Zürich Stiftung für das Hören Sir Peter Jonas Zürcher Theaterverein Richards Foundation


Welche Rolle spielt Engagement?

Nur wer hinter den Kulissen langjährige Partner hat, kann auf der Bühne glänzen. Die Credit Suisse unterstützt das Opernhaus Zürich seit 1989 als Partner.

credit-suisse.com/sponsoring


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