Sweeney Todd

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SWEENEY TODD

STEPHEN SONDHEIM


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SWEENEY TODD The Demon Barber of Fleet Street A Musical Thriller Musik und Liedtexte von Stephen Sondheim (*1930) Buch von Hugh Wheeler, nach dem Theaterstück von Christopher Bond



Bryn Terfel, Barry Banks Spielzeit 2018/19


Angelika Kirchschlager, Bryn Terfel Spielzeit 2018/19



HANDLUNG Erster Akt Fünfzehn Jahre verbrachte der Barbier Benjamin Barker in der Verbannung. Er war von Richter Turpin zu Unrecht verurteilt worden, denn der hatte es auf Lucy, die Frau des Barbiers, abgesehen. Nun kehrt Benjamin Barker unter dem Namen Sweeney Todd nach London zurück, um sich an Turpin zu rächen. In London verabschiedet sich Sweeney Todd von seiner Reisebekanntschaft Anthony Hope und begegnet Mrs. Lovett, die direkt unter dem ehemaligen Salon des Barbiers in der Fleet Street eine schlecht laufende Bäckerei mit Fleisch­ pasteten betreibt. Als Sweeney Todd Mrs. Lovett fragt, ob der Stock über ihrer Bäckerei zu vermieten sei, erzählt Mrs. Lovett ihm vom Schicksal der Familie Barker: Nachdem Richter Turpin den Barbier in die Verbannung geschickt hatte, vergewaltigte er seine Frau, die daraufhin Gift nahm. Und auch Barkers Tochter Johanna fiel dem Richter in die Hände: Er nahm das Kind als Mündel bei sich auf. An Sweeneys heftigen Reaktionen erkennt Mrs. Lovett den Benjamin Barker von damals, für den sie schon immer eine Schwäche hatte. Sweeney be­ schliesst, wieder in seinen ehemaligen Salon in der Fleet Street einzuziehen und schwört Rache. Auf der Strasse trifft er auf Tobias, der «Pirellis magisches Haarwuchselixier» anpreist. Sweeney Todd fordert den vorgeblich italienischen Barbier Pirelli zu einem Wettkampf heraus – und gewinnt. Unterdessen hat Anthony in den Strassen Londons zufällig Johanna am Fenster gesehen und sich sofort in sie verliebt. Obwohl Richter Turpin und sein Büttel Bamford ihm Gewalt androhen, falls er noch mal in der Nähe Johannas auf­taucht, lässt sich Anthony nicht abschrecken und plant, mit Johanna zu fliehen; er bittet Sweeney Todd um Hilfe. Dieser ist bald darauf in einer heiklen Situation: Pirelli ist gar kein Italiener, sondern der Ire Daniel O’Higgins, der vor fünfzehn Jahren vorübergehend Ben­ jamin Barkers Gehilfe war. Er hat Todd erkannt und fordert die Hälfte seiner

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Einnahmen; ansonsten will er ihn an den Büttel Bamford verraten. Sweeney bringt ihn kurzerhand um. Da erscheint der Richter, um sich für die Hochzeit mit seinem Mündel Johanna von Sweeney Todd rasieren zu lassen. Doch kurz bevor Sweeney dem Richter das Rasiermesser an die Kehle setzt, platzt Anthony herein und berich­ tet Sweeney von seiner geplanten Flucht mit Johanna. Ausser sich vor Wut verlässt der Richter den Barbiersalon. Sweeney Todd schwört nun Rache an der ganzen Menschheit. Mrs. Lovett erinnert ihn an Pirellis Leiche – und hat auch gleich die retten­ de Idee: Da Fleisch in London sehr teuer und noch dazu schwer zu bekommen ist, könnte der Tote doch wunderbar zu Fleischpasteten verarbeitet werden…

Zweiter Akt Mrs. Lovetts Fleischpasteten erfreuen sich mittlerweile in London allergrösster Beliebtheit. Anthony sucht Johanna in der ganzen Stadt und findet sie schliesslich in einem Irrenhaus, wo Richter Turpin sie einsperren liess. Zusammen mit Sweeney schmiedet er einen Plan, um Johanna zu retten. Doch Sweeney spinnt seine eigene Intrige: Um den Richter noch einmal in seinen Barbiersalon zu locken, schreibt er Turpin, er könne sein Mündel nach der vereitelten Entführung bei ihm abholen. Tobias, der nach Pirellis Tod Mrs. Lovetts Gehilfe wurde, entdeckt, dass Mrs. Lovett im Besitz von Pirellis Portemonnaie ist. Das bestätigt Tobias in sei­ nem schon länger gehegten Verdacht, Sweeney Todd könnte etwas mit Pirel­lis plötzlichem Verschwinden zu tun haben. Mrs. Lovett sperrt Tobias daraufhin in der Backstube ein. Der Büttel Bamford hat Beschwerden erhalten wegen eines scheusslichen Gestanks aus dem Schornstein der Pastetenbäckerei und will nun diesen Be­ schwer­den nachgehen; dieses Ansinnen überlebt er nicht. Währenddessen gibt sich Anthony als Perückenmacher aus und verschafft sich Zutritt zu Foggs Irrenanstalt, wo Johanna festgehalten wird. Bei Johannas

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Befreiung wird Mr. Fogg getötet. Anschliessend bringt Anthony – wie mit Sweeney Todd verabredet – Johanna in Todds Barbiersalon in die Fleet Street. Dort lässt er sie – als Matrose verkleidet – zurück, um die Flucht zu organisieren. Im Barbiersalon taucht plötzlich die verrückte alte Bettlerin auf, die in der Fleet Street schon länger Unheil vermutet. Da Sweeney Todd jeden Moment den Richter im Salon erwartet, macht er kurzen Prozess mit der Bettlerin. Dann vollzieht er endlich seine lang ersehnte Rache an Richter Turpin. Johanna, die sich im Salon versteckt hatte und ihr Versteck im falschen Moment verlässt, ent­kommt Sweeneys Rasierklinge nur knapp. Als Sweeney Todd und Mrs. Lovett in der Backstube die diversen Leichen entsorgen wollen, macht Sweeney eine furchtbare Entdeckung…

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TIEFSCHWARZER HUMOR Ein Gespräch mit dem Regisseur Andreas Homoki über die Schwierigkeiten und Chancen einer speziellen Gattung des Musiktheaters

Andreas Homoki, mit Stephen Sondheims Sweeney Todd kommt erstmals während Ihrer Intendanz ein Musical auf die Bühne des Zürcher Opernhauses. Warum haben Sie sich für dieses Stück entschieden? Weil es Spass macht! Sie meinen also, Ihnen als Regisseur macht es Spass, ein Musical zu inszenieren? Ja, es macht mir grossen Spass. Und ich denke, es gehört auch zum Musik­­ theater dazu. Wir haben als Opernhaus Zürich einen Kulturauftrag, und wir sind stolz darauf, zeitgenössische Opern herauszubringen und neue Stücke in Auftrag zu geben. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass ein grosser Teil des zeit­genössischen Musiktheaters eben Musical ist. Natürlich ist das Musical nicht unser Kerngeschäft, es ist ein gemischtes Genre und enthält viele Elemente aus dem Schauspiel und dem Tanz. Wir können also nicht jedes Musical gleich gut machen. Aber Sweeney Todd ist sehr opernhaft und passt deshalb auch gut ins Opernhaus. Hat die Wahl von Sweeney Todd auch etwas damit zu tun, dass Sie ein pas­sendes Stück gesucht haben, um Bryn Terfel wieder einmal nach Zürich zu holen? Vor einigen Jahren fragten wir Bryn, was er gern einmal bei uns machen würde, und da sagte er: Sweeney Todd. Das fand ich sofort reizvoll. Aber es ist auch eine grosse Herausforderung für uns.

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Worin besteht die? Im Fall von Sweeney Todd vor allem in der Tontechnik, also der Mikrofonie­ rung der Sängerinnen und Sänger. Aber auch für unser Orchester ist es eine interessante Herausforderung, einmal etwas stilistisch ganz Anderes zu spielen. Sie haben auch eine persönliche Verbindung zum Musical – ursprünglich wollten Sie gar nicht Opernregisseur, sondern Musicalregisseur werden. Musical war für mich der Einstieg; gegenüber der Oper war ich als junger Mensch eher skeptisch, ich hatte einfach nie eine gute Operninszenierung ge­sehen. In der Musikhochschule wirkte ich dann in einem Musical-Projekt mit, habe getanzt, gesungen und auch selbst Vokal-Arrangements geschrieben. Bei den Proben ent­deckte ich, dass ich irgendwie Talent für Regie habe. Und eine meiner ersten Begegnungen mit professioneller Theaterarbeit war eine Hospitanz bei der euro­päischen Erstaufführung von La Cage aux Folles am Theater des Westens 1985 in Berlin. Das war für mich damals eine tolle Erfahrung. Am ersten Probentag sagten Sie, Sie hätten grossen Respekt vor dieser Pro­duk­tion. Warum? Sweeney Todd ist ein sehr gross dimensioniertes Musical, und das an einem HauWs wie dem Opernhaus zu machen, ist schon etwas Besonderes. Warum? In der Ent­­wicklung des Musicals lässt sich beobachten: Je jünger das Stück, desto kleiner die Besetzung – aus Kostengründen; eine Musical-Company besteht oft nur aus 20 Leuten und einer kleinen Band, denn man will ja Geld verdienen. Diese ver­klei­nerte Form ermöglicht eine grosse Virtuosität mit vielen temporeichen Ver­wand­lungen. Das hat das Genre geprägt und auch die Komponisten beeinflusst in dem, was sie tun. Ein solches Musical zu nehmen und auf den grossen Apparat zu übertragen, mit 48 Choristen, bedeutet einen sehr viel grösseren logistischen und organisato­rischen Aufwand – mein Respekt bezieht sich also eher auf diese logistische Heraus­forderung als auf eine ästhetische.

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Bryn Terfel, Brindley Sherratt Spielzeit 2018/19

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Musical ist ja zunächst gute Unterhaltung und muss perfekt gemacht sein. Sweeney Todd hat aber durchaus auch noch andere Ebenen; worum geht es für Sie in diesem Stück? Sweeney Todd spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in London. London ist der Prototyp der modernen Stadt und der industriellen Gesell­ schaft. Die so­zialen Unterschiede, die Masse der Menschen, die hier zu­ sammenleben, die Un­ge­rech­tig­keiten, die gesellschaftlichen Verwerfungen, die Brutalität der früh­kapitalistischen Stadtgesellschaft waren etwas ganz Neues und Er­schrecken­des. Es tauchen Phä­no­mene auf, die es davor nicht gegeben hat, wie zum Beispiel ein Massenmörder wie Jack the Ripper, und es ist kein Zufall, dass viele Schauerge­schich­ten, wie auch diese, gerade hier angesiedelt sind. Da steckt ausgesprochen viel Sozialkritik drin: Sweeney Todd zeigt eine Gesellschaft, die sich um niemanden schert, wenn er nicht zur Oberschicht gehört, und die den Mitgliedern dieser Ober­schicht die Freiheit gewährt, sich gegenüber allen anderen extrem rücksichtslos und ungerecht zu verhalten. Richter Turpin steht in Sweeney Todd prototypisch für diese Gesellschaft. Turpin ist ein richtiges Schwein, ein grausamer Machtmensch, der das Leben von Sweeney zerstört hat. Nach 15 Jahren kommt Sweeney Todd unter falschem Namen nun nach London zurück und will sich rächen. Sweeney wird dann von seinem ehemaligen Gehilfen Pirelli erpresst, der ihn erkannt hat und damit droht, ihn zu verraten. Deshalb sieht Sweeney sich gezwungen, diesen Pirelli umzubringen. Im gleichen Haus wie sein Barbier-Salon befindet sich auch der Pastetenladen von Mrs. Lovett, und so kommt man fast zufällig auf die Idee, das Fleisch des Er­mor­deten zu Pasteten zu verarbeiten. Denn Fleisch ist zu der damaligen Zeit in London teuer, viele Leute hungern. Das Groteske ist nun, dass diese neue Sorte Pasteten einen unglaublichen Erfolg hat und die Nachfrage sehr schnell steigt; der Markt muss mit einem ent­­sprechenden Angebot beliefert werden. Es bleibt also nicht bei nur einem Mord. So verwandelt sich die Bäckerei von Mrs. Lovett in eine Art In­dustrie­ be­­trieb. Das Morden geschieht in beschleunigtem industriellen Massstab durch die Automatisierung bestimmter Vorgänge, wie zum Beispiel Sweeneys

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neuen Barbierstuhl, der die Männer, denen Sweeney die Kehle durchge­­schnit­ ten hat, auf direktem Weg nach unten in Mrs. Lovetts Backstube befördert. Das alles war für meinen Ausstatter Michael Levine und mich eine klare Metapher für die frühe Industriegesellschaft und den beginnenden Kapitalismus, der sich damals noch ohne jede soziale Abfederung ausbreiten konnte. Dessen Spielregel lautete: Der eine frisst den anderen, die Sieger fressen die Verlierer. Also Kapitalismuskritik mit dem Kannibalismus-Motiv … Ja, genau. Sweeney wird also zum Massenmörder, zum Monster. Erstaunlicher­ weise ist er uns trotzdem nicht völlig unsympathisch, denn das Musical liefert – im Gegensatz zu seinen Vorlagen – eine Begründung für Swee­neys Hass auf Richter Turpin. Vor 15 Jahren hatte Turpin Sweeney zu Unrecht in die Verbannung ge­ schickt, um sich an seine Frau heranzumachen; nun will er Sweeneys Tochter heiraten, die seither Turpins Mündel ist. In unserer Inszenierung wird man die Erbarmungslosig­keit dieses Richters besonders gut sehen: in der Szene nämlich, in der ein sehr junger Mensch, fast noch ein Kind, von Turpin willkürlich und gnadenlos zum Tod verurteilt wird. Wir als Zuschauer können es dann fast nicht mehr erwarten, dass Sweeney ihn endlich umbringt. Zusätzlich machen die Stilmittel der Komödie und des Musicals uns zu amüsier­ ten Zeugen seines Tötens, groteskerweise nicht zu­letzt durch die explizite Darstellung der Automatisierung. Erst kurz vor Schluss kippt das Stück, wenn Sweeney – ohne es zu wissen – seine totgeglaubte Frau umbringt. In dem Moment, in dem ihm das klar wird, ist sein Leben zuende – ebenso wie das Stück, das uns in seinem Verlauf zu Sweeneys Komplizen gemacht hat. Zuvor hat sich aus dem persönlichen Rachemotiv ein regelrechter Blutrausch entwickelt, ein Hass auf die gesamte Menschheit. Niemand hat mehr, so Sweeney, das Recht zu leben, ihn selbst und Mrs. Lovett eingeschlossen. Ja, denn in diesem System sind alle schuldig geworden – selbst wir als Zu­-

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schauer. Es entsteht eine regelrecht apokalyptische Vision. Dazu passt auch das «dies irae»-­Motiv, das mehrmals im Stück zitiert wird. Wie ist die Musik in Sweeney Todd gemacht? Sie folgt ganz klar den musikdramaturgischen Prinzipien des Musicals und der Ope­­rette, das heisst, es wird musikalisches Material exponiert und be­­stimm­ten Fi­gu­­ren und Situationen zugeordnet. Anschliessend wird dann sehr be­wusst mit Re­­minis­­zenzen gespielt. Sweeney Todd ist fast komplett durch­komponiert. Um­­stel­lun­gen sind praktisch nicht möglich, alles ist zwingend miteinander verbunden. Anders als in traditionellen Musicals dominiert hier die Musik, die Dialoge sind meist nur Übergänge. Diese Musik ist sowohl rhythmisch als auch tonal sehr an­spruchs­­voll und schwer zu singen; es gibt durchgehend interessante, überraschende harmo­nische Wendungen. Fast scheint es, als zwinkere Sondheim uns zu, um zu sagen: Schaut mal, wie gut ich das kann! Seine Musik bedient die musikalische Idiomatik des Genres mit einer intellektuellen Virtuosität, die es vor ihm so nicht gab. Aber das Wichtigste ist: Man bekommt diese Musik nicht über! Seit anderthalb Jahren beschäftige ich mich jetzt damit, und ich höre die Musik immer noch gern. Welche Theatersprache haben Sie mit Ihrem Bühnenbildner Michael Levine für dieses Musical gewählt? Wir haben bei der Vorbereitung schnell festgestellt, dass das Stück eine sehr offene Form hat. Die Regieanweisungen sprechen davon, dass die Bühne zu Beginn leer ist. Dann tritt die «Company» auf, das ist bei uns der Chor, der erstmal dem Publikum in Form eines Prologs erzählt, wer Sweeney Todd war und worum es in der Geschichte geht. Das Stück ist also eigentlich eine Moritat und dadurch sehr nah an Brechts Theater. Der Chor übernimmt im weiteren Verlauf immer wieder die Rolle des Erzählers und lässt dabei die handelnden Figuren in den Hintergrund treten. Das wird von Sondheim mit Fade out- oder Simultaneffekten sehr geschickt variiert. Deshalb haben wir eine naturalistische Bühnenlösung schon ziemlich früh ausgeschlossen. Wir haben nach einer Form gesucht, die immer wieder zeigt: Wir machen Theater, und alles, was entsteht, entsteht aus den Figuren und der Bühne, die aus

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ganz rudimentären Elementen besteht: einem Holzsteg, der nach oben und unten verfahrbar ist, woraus sich eine obere und eine untere Welt ergibt … …also gesellschaftlich gesehen, oben und unten? Ja, zum einen metaphorisch gesehen; zum anderen aber auch ganz praktisch, weil oben Sweeney seinen Barbier-Salon hat, und sich unten – im gleichen Haus – die Pasteten-Bäckerei von Mrs. Lovett befindet. Die Leichen werden, nachdem Sweeney seine Kunden getötet hat, wie ein Sack voll schmutziger Wäsche mit einem ein­zigen Handgriff von oben nach unten befördert. Insgesamt gibt es sogar drei Spiel­ebenen, wobei die mittlere oft die Strasse dar­stellt. Die oberste steht für die aristokratische Welt, die Figuren können wie im Puppentheater nur mit dem Oberkörper erscheinen. Hier taucht auch der Richter auf. Aber diese Ebenen halten wir nicht dogmatisch durch, sondern spielen damit. Der Charme des Theaters muss darin bestehen, dass man mit ganz wenigen Mitteln die Orte wechseln kann – der Zuschauer kann dann selbst dazu assoziieren. Einige wichtige Elemente werden natürlich auch ganz konkret bedient, wie etwa Sweeney Todds Barbierstuhl.

Und die Zeit, in der das Stück spielt, wird in diesem eher abstrakten Setting durch die Kostüme definiert? Ja, wir spielen das Stück in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber die Kostüme sind expressionistisch überzeichnet, also verfremdet. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Faszination des Bösen im Theater? Der Reiz dieses Stückes liegt vor allem in seinem tiefschwarzen Humor. Die Grausamkeit der Vorgänge – Menschen werden zu Pasteten verarbeitet – darf mich als Zuschauer nicht wirklich erreichen, ich soll schliesslich darüber lachen können. Sweeney Todd bleibt trotz allem eine musical comedy, also eine Komödie. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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Angelika Kirchschlager, Bryn Terfel, Chor der Oper Zürich Spielzeit 2018/19



Elliot Madore, Mélissa Petit Spielzeit 2018/19



EINE WELT OHNE MORAL Stephen Sondheims Musical Thriller «Sweeney Todd» Angela Reinhardt

Darf ein Musical ins Opernhaus? Mit Ausnahme von Leonard Bernsteins West Side Story oder Candide gelingt es dem populären amerikanischen Musik­theater nur höchst selten, gegen die Vorurteile von Seiten der «hohen Kunst» anzu­ kommen. Wo das Genre, trotz seiner schon lange bewiesenen Lust aufs Grenzen­ sprengen, in Europa bis heute auf herablassendes Misstrauen stösst, da wurde Stephen Sondheims Musical Thriller in den USA sofort als moderne amerika­ nische Oper akzeptiert – bereits 1984, fünf Jahre nach der Uraufführung, in­ szenierte die New York City Opera Sweeney Todd. Das Stück über den Teufelsbarbier von Fleet Street entstand 1979, zwölf Jahre nach Hair und acht Jahre nach Jesus Christ Superstar. Es fiel auch am Broad­way völlig aus dem Rahmen. Die durchkomponierte Partitur verzichtet auf Rock- oder Jazzrhythmen, Sondheim zitiert stattdessen immer wieder ganz bewusst bekannte Opernformen: lyrische Soprangespinste für die zarte Johanna, parodistische Tenorspitzentöne für den italienischen Barbier Pirelli, ein selbstzu­ friedenes Bassbuffo-Parlando für Johannas Vormund Turpin. Die glutvollen Aufschwünge des jungen Anthony für seine Angebetete gemahnen an Puccinis Melos, die Rachegesänge des mörderischen Barbiers erinnern nicht nur deshalb an Wagners Fliegenden Holländer, weil berühmte Baritone wie Bryn Terfel die grandiose Rolle für sich entdeckt haben. Das sind lange noch nicht alle Klang­ farben, die, und sei es manchmal nur blitzartig, aus Sondheims symphonischer Partitur herausleuchten – gleich in den ersten Bläserfanfaren tönt Strawinsky durch und später noch einmal in den abrupten Akkordgewittern von Todds Rache­schwüren, Johannes sehnsüchtiges Strophenlied über die Singvögel könn­ te von Prokofjew oder Debussy stammen, die Moritatengesänge von Kurt Weill

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oder im spöttischen Primitivismus mancher Chöre sogar von Carl Orff. Virtuos greift Sweeney Todd mitten ins Klangfarbenspektrum des 20. Jahrhunderts, arbei­ tet mit Leitmotiven und komplexen Ensembleszenen, und wurde doch wie jedes moderne Musical für eine Aufführung mit Mikrofonverstärkung komponiert. Die Faszination des Stückes, das weder Musical noch Oper ist und in dem sich die Leichen türmen, liegt irgendwo zwischen Groteske und griechischer Tragö­ die. Sondheims Musical Thriller passt eigentlich in keine Kategorie. Angeblich soll es ihn in London wirklich gegeben haben, den mörderischen Barbier, aber wahrscheinlich ist die Sage von Sweeney Todd nur eine urbane Legende, eine populäre Nachtmahr, genährt von den tiefsitzenden Ängsten der Menschen vor Massenmördern und Kannibalismus. 1846 taucht die Geschichte zum ersten Mal im Druck auf, unter dem Titel The String of Pearls, or: The Fiend of Fleet Street erscheint sie als Fortsetzungsroman in einer billig verkauften Wochenzeitschrift, heute würden wir Boulevardpresse dazu sagen. Dort finden sich Mrs. Lovetts Pastetenladen und der ominöse Friseurstuhl, der Menschen verschwinden lässt. Bereits ein Jahr später bringt George Dibdin Pitt ein Schau­ spiel über den populären Horrorstoff heraus, Sweeney Todd wird zu einem der berüchtigten Bösewichter Londons, er treibt sein Unwesen in zahlreichen Büh­ nenadaptionen und selbst in frühen Schwarzweissfilmen. 1968 greift der junge Dramatiker Christopher Bond den Stoff auf, er bearbeitet das alte Melodram und spielt selbst den Tobias Ragg. Er gibt der Hauptperson einen psychologi­ schen Hintergrund, zeigt Todd ganz im Sinne des Sozialdramas der damaligen Zeit als Opfer der elitären Klasse und erfindet das wichtige Motiv der Rache. Sondheim sah 1973 eine Aufführung von Bonds Stück, sein Musical beruht auch sprachlich stark auf dieser Vorlage. Buchautor Hugh Wheeler, den Sondheim vom Vorgängermusical A Little Night Music kannte, und Uraufführungsregisseur Harold Prince, einer der mass­ geblichen Kreativen des Broadway über viele Jahrzehnte hinweg, tragen nun das Ihre zur Adaption von Bonds Schauspiel bei, vor allem aber sind es Sondheims Musik und Texte, die der Londoner Gruselmär ihre bis heute berühmteste Form geben. Das alte Melodram wird mit Elementen der Groteske, des epischen Theaters und des Rachedramas aufgerüstet, auch ein kräftiger Schuss Kapitalis­ mus-Kritik fliesst hinein und die Tradition des Grand Guignol, des trivialen

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Grusel- und Horrortheaters der Franzosen. Musikalisch komponiert Sondheim im Grunde ein Pastiche aus den verschiedensten Formen – der Komponist glaubt fest an den traditionellen Aufbau eines Musicals aus Nummern, aber er wählt und verbindet sie höchst raffiniert. Vom britischen Vaudeville bis zum OpernArioso, vom Bänkellied bis zur Ballade und zum so genannten Patter Song (viel Text, schnell gesungen) zitiert Sondheim alles herbei, er verwendet musikalische Formen wie Walzer, Fandango, Toccata oder Passacaglia. Jeder Person ist ein Leitmotiv zugeordnet, diese werden handlungstragend verarbeitet, harmonisch verändert, gespiegelt oder komplex verknüpft. Die Partitur ist von einer harmo­ nischen Finesse, die das Broadway-Musical sonst nur selten erreicht; ihr musik­ geschichtlicher Reichtum stammt dabei praktisch vollkommen aus dem alten Europa, bis hin zur sakralen Melodie des Dies Irae, die in vielerlei Varianten er­klingt und zum ersten Mal auf die Worte «Swing your razor high, Sweeney» den tödlichen Zorn der Titelfigur untermalt. Eine weitere Inspiration war Alfred Hitchcocks bevorzugter Komponist Bernhard Herrmann, der für Sondheims Ohren weitaus fortschrittlichere Film­ musik schrieb als die meisten seiner Zeitgenossen. Als junger Mann war Sond­ heim fasziniert vom Film Hangover Square, in dem ein Komponist zum Massen­ mörder wird; in Sweeney Todd schlägt sich Herrmanns Einfluss in der ständig unter den Dialogen murmelnden Musik nieder, die wie im guten Horrorfilm für Spannung sorgt. Die Kombination so unterschiedlicher Stile mag man für eklektizistisch halten und nicht gewagt genug für eine moderne Oper – das Musical aber zielt nicht auf musikalische Avantgarde, sondern auf die Integrität des Stückes, auf die perfekte Einheit aus Buch, Musik, Texten und Inszenierung. In Mrs. Lovetts ersten Song «The worst pies in London» etwa ist das Wegschnip­ pen von Ungeziefer bereits rhythmisch hineinkomponiert: Text, Musik und Aktion spielen perfekt ineinander. Nirgendwo hält die Handlung inne, damit der Gesang sich ausbreiten kann (genau diesen Aspekt hasst Sondheim an der Oper), sondern die Musik transportiert immer Inhalt, ist immer spannend. Die Worte sind durchweg wichtig. Was dieses besondere, opernhafte Musical von den meisten modernen Opern unterscheidet, ist seine Spannung und Theatralik, die dramaturgische Stringenz und die sprachliche Brillanz des Librettos. Sondheim ist berühmt für

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seine Mehrfach- und Binnenreime, Wortspiele, Chiasmen und andere rhetorische Figuren, die er manchmal überreich einsetzt, oft wird einem schwindlig von zu viel Bedeutung. Das beste Beispiel ist der Song «A little Priest», in dem Todd und Mrs. Lovett fröhlich-makaber über den Geschmack von Fleischpasteten in Bezug auf den vormaligen Beruf ihres Inhalts plänkeln. Sondheim fasst den ge­planten Kannibalismus in einen leichten, beschwingten Walzer, wie er hier oft Gegensätzliches vereint und schöne Musik zu dunklen oder gar grausamen Situationen kombiniert – wenn der Barbier sein Rasiermesser mit lyrischer Wär­ me als alten Freund besingt, wenn er im schwärmerischen «Pretty Women» mi­nutenlang seine bevorstehende Rache auskostet, bevor er dem Richter die Kehle durchschneidet (oder eben nicht, weil er unterbrochen wird). Stephen Sondheim sieht das Melodram als «die Gegenseite zur Farce», bewusst vereint er beide in diesem Musical und pendelt die Rachegeschichte zwischen greller Satire und tiefschwarzer Tragik ein. Mit der alten Vorlage, die bis zu Christopher Bond bereits einfache Songs enthielt, floss die britische Tradition der Ballad Operas ein, die über die Three Penny Opera auch zu den Moritaten-Singspielen von Bertolt Brecht und Kurt Weill führt. Genau wie eine Moritat spricht die Eröffnungsnummer «The Ballad of Sweeney Todd» das Publikum direkt an, gesungen wird sie wie im griechischen Drama vom Chor; sie kehrt immer wieder, strukturiert die Handlung, erklärt und fasst zusammen. Die exaltiert plappernde Figur der Mrs. Lovett mit ihrem Cockney-Akzent stammt aus den Burlesken des Volkstheaters, erinnert aber mit ihrem Bedürfnis nach Kleinbürgeridylle und den dafür begangenen Verbrechen genauso an Figu­ ren von Bert Brecht. Das epische Theater und das Zeitalter der Industrialisierung brachte haupt­ sächlich Regisseur Harold Prince ins Stück – gleich am Anfang deutlich hörbar in der schrillen Fabriksirene, sichtbar in der «maschinellen» Beseitigung der Opfer durch den Barbierstuhl, die Todds Morde gewissermassen zu einer effek­ tiven Industrie macht und Mrs. Lovetts Betrieb ankurbelt. Schon in seinem ersten Auftritt erhebt Todd Anklage gegen die «wenigen Privilegierten, die sich über die Würmer da unten lustig machen». In der Motivation seiner vielen Morde liegt eine entscheidende Änderung Sondheims gegenüber der Vorlage von Christopher Bond: Der liess Todd weitermorden, weil er Blut gerochen

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hatte und eben der Sage nach ein Massenmörder war. Im Musical aber rächt sich der Barbier, zum Opfer einer korrupten Klasse geworden, indem er die Ordnung umkehrt: Nicht mehr «die da unten» müssen der Oberklasse dienen, sondern «Those above will serve those down below» – als Futter. Wie gut können wir Benjamin Barker verstehen, den einst braven Mann, der sich nun als Rächer Sweeney Todd nennt: Seine Empörung ist richtig und wahrhaftig, aber sein Handeln ist falsch. Die Szene seiner endgültigen Wendung ins Böse gleicht, mit Sondheims feiner Prise dunklen Lachens gewürzt, den grossen Wahnsinnsszenen, die wir aus der Oper kennen. Todd wird zum Rächer und tötet in seinem verzehrenden Durst nach Vergeltung fast seine eigene Tochter. Spätestens wenn er am Schluss unwissend sein Liebstes vernichtet, erreicht die Figur die Dimension einer grie­ chischen Tragödie. Es gibt eine Katharsis, aber sie bleibt kurz, denn die Vernich­ tung ist vollkommen. Am Schluss des Musicals ist die Welt gründlich zerstört, fast alle sind tot. Zwar ist das junge Paar glücklich vereint, Johanna aber wurde bei der Befreiung aus dem Irrenhaus zur Mörderin, dessen Insassen heulen durch die Strassen. Die braven Bürger essen Menschenfleisch und der liebe, harm­lose Toby ist wahnsinnig geworden in einem Keller voller Leichen. Der alte Groschen­roman hat sich in Stephen Sondheims Händen zu einer Tragödie der nihilistischen Zerstörung ausgewachsen. Zwischen Farce und Tragik, La­ chen und Entsetzen, zwischen dem dunklen, brütenden Todd und der grellen Mrs. Lovett bleibt eine Welt ohne Moral übrig, in der ein trockener, gewinn­ orientierter Pragmatismus genauso bereitwillig über Leichen geht wie die Unter­ drückten im Kampf um Rechtfertigung.

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Brindley Sherratt, Mélissa Petit Spielzeit 2018/19



Angelika Kirchschlager, Liliana Nikiteanu Spielzeit 2018/19



NOTIZEN ÜBER EINE REISE NACH ENGLAND Alexis de Tocqueville, 1835

Eine wellige Ebene, oder eher eine Anhäufung kleiner Hügel. Am Fuss dieser Hügel ein nicht sehr breiter Fluss (der Irwall), der langsam zum Irländischen Meer hinfliesst. Zwei Bäche (der Medlok und der Irk), die überall zwischen den Bodenerhebungen hindurchlaufen und sich nach tausend Umwegen in den Fluss ergiessen. Drei Kanäle, von Menschenhand gemacht, die an genau der gleichen Stelle ihre stillen, trägen Fluten zusammenströmen lassen. Über dieses wasser­ reiche Gebiet, zu dessen Bewässerung Natur und Kunst gemeinsam bei­ge­tragen haben, sind wie durch Zufall Paläste und Hütten verstreut. In der äusseren Erscheinung der Stadt zeugt alles von der persönlichen Macht des einzelnen Menschen, nichts von der geregelten Gewalt der Gesellschaft. Die menschliche Freiheit enthüllt auf Schritt und Tritt ihre eigenwillige und schöpferische Kraft. Nirgends erweist sich die langsame und beständige Tätigkeit der Regierung. Auf dem Gipfel der Hügel, die ich eben beschrieben habe, erheben sich dreissig oder vierzig Fabriken. Mit ihren sechs Stockwerken ragen sie hoch in die Luft. Ihr unabsehbarer Bereich kündet weithin von der Zentralisation der Industrie. Um sie herum sind gleichsam willkürlich die erbärmlichen Behau­ sungen der Armen verteilt; auf unzähligen gewundenen schmalen Pfaden ge­ langt man dorthin. Zwischen ihnen liegt unbebautes Land, das nicht mehr den Reiz ländlicher Natur hat, ohne schon die Annehmlichkeiten der Stadt zu bie­ ten. Der Boden dort ist schon aufgewühlt, an tausend Stellen aufgerissen; aber er ist noch nicht von menschlichen Siedlungen bedeckt. Dies sind die Steppen der Industrie. Die Strassen, welche die einzelnen, noch schlecht zusammenge­ fügten Teile der grossen Stadt miteinander verbinden, bieten wie alles andere das Bild eines hastigen und noch nicht vollendeten Werkes: die rasche Leistung einer gewinnsüchtigen Bevölkerung, die Gold anzuhäufen versucht, um dann

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mit einem Schlag auch alles andere zu haben, und bis dahin die Bequemlichkeit des Lebens verschmäht. Einige dieser Strassen sind gepflastert, aber die Mehr­ zahl besteht aus Buckeln und schlammigem Boden, in dem der Fuss des Pas­ santen oder der Wagen der Reisenden einsinkt. Kehrichthaufen, Trümmer von Häusern, Lachen mit fauligem Wasser erscheinen da und dort vor allen Häusern der Einwohner oder auf den mit Höckern und Löchern durchsetzten Flächen der öffentlichen Plätze. Nirgendwo haben die Grundwaage des Geometers und das Band des Feldmessers ihre Arbeit verrichtet. Aus diesem übel riechenden Labyrinth, inmitten dieses unermesslichen und düsteren Ziegelhaufens ragen hin und wieder herrliche Steinpaläste auf, deren kannelierte Säulen das Auge des Fremden überraschen. Man denkt an eine mittelalterliche Stadt, in der sich die Wunderwerke des 19. Jahrhunderts hinbrei­ ten. Wer aber vermöchte das Innere jener abseits gelegenen Viertel zu beschrei­ ben, der Schlupfwinkel von Laster und Elend, welche die gewaltigen Paläste des Reichtums mit ihren abscheulichen Windungen umfangen und er­drücken? Über dem Landstreifen, der tiefer liegt als der Flussspiegel und überall von gewaltigen Werkstätten beherrscht wird, erstreckt sich ein Sumpfgebiet, das durch die in grossen Abständen angelegten Gräben weder trocken gelegt noch saniert werden konnte. Dort enden gewundene und enge Gässchen, gesäumt von einstöckigen Häusern, deren schlecht zusammen gefügte Bretter und zerbrochene Scheiben schon von weitem eine Art letzten Asyls ankünden, das der Mensch zwischen Elend und Tod bewohnen kann. Unter diesen elenden Behausungen befindet sich eine Reihe von Kellern, zu der ein halb unterirdischer Gang hinführt. In jedem dieser feuchten und ab­stossenden Räume sind zwölf bis fünfzehn menschliche Wesen wahllos zu­ sammengestopft. Um dieses Elendsquartier herum schleppt einer der Bäche, die ich vorhin beschrieben habe, langsam sein stinkendes Wasser, das von den Industriear­beiten eine schwärzliche Farbe erhält. Er wird in seinem Lauf nicht durch Kai­mauern eingeschlossen. Die Häuser sind willkürlich an seinen Ufern errichtet worden. Von der Höhe seiner abschüssigen Ufer sieht man, wie er sich mühselig zwischen Erdbrocken, halbfertigen Wohnstätten oder frischen Ruinen seinen Weg bahnt. Das ist der Styx dieser modernen Unterwelt.

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Ein dichter, schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Durch ihn hindurch scheint die Sonne als Scheibe ohne Strahlen. In diesem verschleierten Licht be­wegen sich unablässig dreihunderttausend menschliche Wesen. Tausend Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth. Aber es sind nicht die gewohnten Geräusche, die sonst aus den Mauern grosser Städte auf­ steigen. Die Schritte einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel entweicht, das gleichmässige Hämmern des Webstuhles, das schwere Rollen der sich begegnenden Wagen – dies sind die einzelnen Geräusche, die das Ohr unentwegt treffen. Nirgends ist der Hufschlag von Pferden zu hören, die den reichen Bewohner zu seiner Wohnung oder zu seinen Vergnügungen tragen. Nirgends der Ausbruch von Freude, fröhliche Rufe, der Zusammenklang von Instrumenten, die einen Festtag ankünden. Nirgends begegnet das Auge der glücklichen Behäbigkeit, die ihre Musse in den Strassen der Stadt spazieren führt oder auf dem nahen Land einfache Freuden sucht. Ständig drängt sich die Menge in dieser Stadt, aber ihre Schritte sind hart, ihre Blicke zerstreut, ihr Ausdruck ist finster und roh. Inmitten dieser stinkenden Kloake hat der grosse Strom der menschlichen Industrie seine Quelle, von hier aus wird er die Welt befruchten. Aus diesem schmutzigen Pfuhl fliesst das reine Gold. Hier erreicht der menschliche Geist seine Vollendung und hier seine Erniedrigung; hier vollbringt die Zivilisation ihre Wunder, und hier wird der zivilisierte Mensch fast wieder zum Wilden.

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Angelika Kirchschlager Spielzeit 2018/19


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KANNIBALISMUS – FASZINATION UND TABU Christian W. Thomsen

Der Kannibale von Rothenburg, «der deutsche Menschenfresser», «der Kan­ni­ bale von nebenan» – da haben wir wieder einmal einen jener anscheinend so seltenen Fälle. Die Sensationspresse stürzt sich voller Gier auf ihn und schlach­ tet ihn aus. Sie spielt mit dem Grauen und der Angstlust. Seriöse Psychiater versichern, es handle sich um eine besonders seltene, besonders abnormale Form perverser Sexualität. So kann man die Nachricht verdauen, während es einen schüttelt. Aber, geben wir es zu, gelesen haben wir die Berichte über Armin M. aus dem verträumten Städtchen Rotenburg an der Fulda, zugleich angezogen wie abgestossen. «Die Liebe geht durch den Magen», und nicht nur im Sprich­ wort kommt es vor, dass man jemanden «zum Fressen gern» hat. Die Vorgänger von Armin M. haben es mitunter sogar zu makabrer Berühmtheit gebracht: «In Hannover an der Leine Strippenstrasse Nummer acht Wohnt der Massenmörder Haarmann Der aus Kindern Blutwurst macht. Aus dem Bauch da macht er Würste Aus dem Rücken macht er Speck Aus dem Kopf da macht er Sülze Alles andre wirft er weg.» Oder Joachim Georg Kroll, der 1982 in Duisburg verurteilte achtfache Mörder, der das Fleisch kleiner Mädchen im Suppentopf kochte. Oder jener japanische Student in Paris, der in den frühen achtziger Jahren seine ihm untreu gewor­ de­­ne Freundin schlachtete und im Kühlschrank einfror, um sie ganz zu sich nehmen zu können. Dann Bokassa, Kaiser von eigenen und französischen Gna­ den auf zentralafrikanischem Operettenthron, der seine Gegner scharen- und stückweise in Gefriertruhen zur kulinarischen Weiterverarbeitung bereithielt.

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Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Wechselt man aus der Wirklichkeit ins Märchen, zu Sagen und Mythen, entdeckt man, dass darin kannibalische Riesen, Unholde und Hexen ihr Unwesen treiben. Auch die Märchen der Gebrüder Grimm – Rotkäppchen, Dornröschen, Hänsel und Gretel, Der Kleine Däumling, Blaubart – sind alles Menschenfresser-Märchen, die, nationalspezifisch abgewan­ delt, Kindergemüter auf die Initiationen in die dunkle Seite des menschlichen Trieblebens vorbereiten. In der von Charles Perrault bearbeiteten französischen Fassung von Dornröschen «(Die Schöne, die im Walde schlief») treibt eine amü­ sierte Hofkultur mit dem Entsetzen Spott: «Morgen will ich zum Abendessen die kleine Morgenröte verspeisen.» – «Aber Madame…», sagte der Haushof­ meister. «Ich will es», sagte die Königin, und sie sagte es mit der Stimme einer Menschenfresserin, die Lust hat, frisches Fleisch zu essen. «Und zwar in Essig­ sosse mit Zwiebeln.» Die Gebrüder Grimm, anders als Perrault, tilgen die kannibalistischen An­ spielungen und führen wie beim Rotkäppchen, von dem es über hundert Varian­ ten gibt, eine Happy-End-Konvention ein. Bei Perrault lauten die Schlussworte noch ganz direkt: «Damit ich dich fressen kann!» Damit werfen die sexualpsycho­ logischen Antriebskräfte ihr gutbürgerliches Tarnkleid beiseite und enthüllen offen, worum es in vielen Märchen geht: um aggressive Sexualfantasien, die den anderen vollständig dominieren und ihn sich ganz einverleiben wollen. Erst mit dem Essen und Sicheinverleiben, so suggerieren diese Fantasien, beginnt das Leben. Fressen und gefressen werden regieren die Welt, und das sei ein wahrhaft universales, ja kosmisches Prinzip, das auch vor Sternhaufen und Galaxien nicht Halt mache. Deshalb muss es auch nicht verwundern, dass die Schöpfungsmythen vieler Kulturen, nicht nur der griechischen, kannibalischer Natur sind. Bei Francesco de Goya ist es Chronos (Saturn), der Gott der Zeit, der seine eigenen Kinder verschlingt. Die Berner erfreuen sich seit 1546 ihres Kindlifresser-Brunnens auf dem Kornhausplatz. Juden sollen es gewesen sein, die einst Ritualmorde an Kindern begingen. Seither machte man den Jüngsten mit der Mär vom Kinderfresser oder Schwarzen Mann Angst. Damit wird die Furcht vor dem Fremden und Anders­ artigen beschworen, die Furcht vor anderen Sitten, Gebräuchen, Religio­nen, verteufelt aus Angst und Unkenntnis. Vermag man die Fremden gar als Men­

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schen­fresser abzustempeln, dann sanktioniert dies die eigene Untat. Man kann die Fremden zu Hunderttausenden abschlachten wie die Spanier die Indianer in Brasilien und Mexiko. Eine weitere Dimension, jene der masslosen Rache, welche sich mit frevle­ rischen Omnipotenzträumen des Verbrechers paart, der es den Göttern gleichtun will, offenbart sich in Senecas Atreus, der seinem Bruder Thyestes dessen eige­ ne Kinder zum grausigen Mahle auftischt. Im Alten Testament gelangen wir zum Kern der Sache, warum unser christlich-jüdischer Kulturkreis Inzest und Kannibalismus zu den stärksten gesellschaftlichen Tabus erhoben hat. Immer wieder beschwört dort Jahwe die Israeliten, seine Gesetze zu befolgen. Täten sie es nicht, würden sie wie die Barbaren, die keine Schranke von Sitte und Gesetz kennten und über die eigenen Frauen und Töchter herfielen, um sie zu verzehren. Das Kannibalismustabu als wichtigste Demarkationslinie von Sitte und Kultur, viel stärker als das ohnehin beständig und aller Orten übertrete­ne Tötungsverbot. Andere Kulturkreise, etwa die Ozeaniens, kennen derartige Schranken keineswegs. Im 18. Jahrhundert wird Jonathan Swift mit seinem Modest Proposal (Bescheidener Vorschlag), in dem er als rationaler So­zial­ökonom argumentierend die Kinder verhungernder Iren den Reichen wie leckere Span­ ferkel zum Mahle anbietet, zum Erfinder der kannibalischen Gastrosophie im Dienste der politischen Satire. Immer wieder drängt unser kollektives Unterbewusstsein ans Licht. Kan­ nibalenfilme haben Dauerkonjunktur, nicht erst seit Grüne Tomaten, wo eine reizende alte Dame uns erzählt, dass sich ein tyrannisches Ekelpaket durchaus in saftigen Koteletts und Filetstücken nahrhaft und lustvoll geniessen lässt. Man denke auch an Hannibal Lecter, die kannibalische Intelligenzbestie im Schweigen der Lämmer, oder an Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber oder an Delikatessen. Auch sonst ist der kannibalistische Topos allgegenwärtig, und noch immer ruft er ambivalente Urängste und tiefe Sehnsüchte wach. Das Phänomen Kannibalismus mag anthropologisch in unserer Natur an­ gelegt sein. Kompensatorisch lässt es sich vielleicht am Besten mit Satire, Ironie, Witz und Groteske in Schach halten – mit Geschichten, die allesamt um unsere Ambivalenzen wissen. Es gelingt nicht immer.

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Angelika Kirchschlager, Ensemble Spielzeit 2018/19



Brindley Sherratt, Iain Milne, Chor der Oper Zürich Spielzeit 2018/19



MENSCHENFLEISCH UND FLEISCHPASTETEN Jason Lemon

Kunden eines vegetarischen Restaurants in Bangkok, Thailand, waren schockiert, als sie Fleischstücke in ihrem Essen fanden – aber sie waren erst recht abgestos­ sen, als sie entdeckten, dass es sich dabei um Menschenfleisch handelte. Obwohl den Restaurantbesuchern zuerst nicht klar war, dass das Fleisch auf ihren Tellern von Menschen stammte, meldeten sie das «vegetarische» Re­ staurant den Behörden. Nach weiteren Untersuchungen machte die Polizei eine verstörende Entdeckung: Die Überreste eines vermissten 61-Jährigen, der das Restaurant besucht hatte, fanden sich in der Küche, die voll war mit Blut. Prasit Inpathom, das Opfer, war zuletzt am 21. Oktober gesehen worden, wie er in besagtem Restaurant ein Getränk zu sich nahm. Lokalen Berichten zufolge war der Mann vermutlich in einen Streit mit dem Restaurantbesitzer ge­raten. Im Verlauf des Streits wurde er getötet, und der Restaurantbesitzer hatte die Idee, den Getöteten seinen Kunden zu servieren, um ihn loszuwerden. Der Polizei zufolge ist der Verdächtige verschwunden. Verstörende Berichte von Kannibalismus tauchen immer wieder auf, sind aber nicht immer glaubwürdig. Zu Beginn dieses Jahres flutete eine Geschichte das Internet, nach der ein neues Restaurant in Tokio angeblich Menschenfleisch servierte. Wie viele Quellen, darunter auch die japanische Regierung, bestätig­ ten, war die Geschichte jedoch komplett erfunden. Eine tatsächliches Kannibalen-Pärchen wurde jedoch 2017 in Russland verhaftet, nachdem es angeblich mindestens 30 Menschen getötet hatte, wie die britische Zeitung Metro berichtete. Das Paar, Natalia Baksheeva und Dmitri Baksheev, hat aus den Mordopfern Fleischpasteten hergestellt und sie verschie­ denen Restaurants zum Test angeboten. Ein Café-Besitzer berichtete, Natalia habe sich bei ihm als Köchin beworben und angeboten, das Café mit Fleisch zu beliefern. «Sie war sehr aktiv, hat viele

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Fragen gestellt, wo wir unser Fleisch kaufen und wie frisch es ist. Sie sagte, sie könne uns mit Fleisch beliefern», sagt Vitali Yakubenko, der Café-Besitzer. «Ich antwortete ihr, dass wir nur mit zertifizierten Lieferanten arbeiten.» Überreste der Opfer wurden in den Kühlschränken und Gefriertruhen des Paares gefunden und waren im ganzen Haus verteilt, das sich auf dem Gelände einer Militärakademie in Südrussland befand. Es wurde auch berichtet, dass Natalia erfolgreich einige ihrer Fleischpasteten an Studenten einer Universität verkauft hat. Newsweek, 31.10.2018

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KOMÖDIE ODER TRAGÖDIE? Ein Gespräch mit Dirigent David Charles Abell über Stephen Sondheims «Sweeney Todd»

David Charles Abell, ist Sweeney Todd ein Musical? Oder ist es ein Mix aus verschiedenen Genres? Es ist ein Musical, das von verschiedenen Genres beeinflusst wurde: Zualler­ erst natürlich von der Oper, was sich an den Stimmtypen ablesen lässt, die Sondheim verwendet, aber auch an den grossen Themen, um die es geht in diesem Stück. Auch vom Film ist Sweeney Todd beeinflusst: Sondheim ist ein grosser Kino-Fan, und musikalisch liess er sich von der Filmmusik zu Hangover Square inspirieren, einem film noir aus den 1940er Jahren von John Brahm, zu dem Bernard Herrmann die Musik schrieb. Daneben gibt es in Sweeney Todd auch Überblendungen, wie sie in Filmen verwendet werden: Ein musikalisches Thema wird ausgeblendet, während gleichzeitig ein anderes musikalisches Thema langsam eingeblendet wird. Auch die Operette hat Spuren hinterlassen, wie wir in dem Wiener Walzer hören können, der er­klingt, wenn Sweeney Todd und Mrs. Lovett sich vorstellen, wen sie so alles zu Fleischpasteten verarbeiten könnten. Oder der Jazz... Ja, zum Beispiel in dem wunderbaren Song By the sea. Sondheim wurde zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren – 1930 in New York. Dort hat er die verschiedensten Musikstile kennengelernt. Abgesehen davon besitzt er eine äusserst umfangreiche Plattensammlung mit den ausgefallensten Stücken aus der klassischen Musik. Er sah sich alle Broadway-Musicals an und hörte im goldenen Zeitalter des Jazz viele Jazz-Konzerte. Oscar Hammerstein war sein Mentor, der grösste Komponist und Librettist für Musiktheater in den USA.

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Ausserdem hat Sondheim eine klassische Ausbildung genossen; er ist ein hervorragender Pianist und singt auch selbst sehr gut, so dass er seine über Nacht komponierten Songs den Interpreten seiner Musicals häufig auch selbst am Klavier vorgestellt hat. Sind Sie Stephen Sondheim persönlich begegnet? Ja, mehrmals; das erste Mal traf ich ihn im Aufzug in der Juillard School, und die erste Frage, die ich ihm stellte, war: Was halten Sie davon, wenn Ihre Musicals in Opernhäusern aufgeführt werden? Keine ganz unwichtige Frage in unserem Zusammenhang… was hat er geantwortet? «Das ist prima, macht es ruhig!» Sie haben die Stimmtypen erwähnt, die Sondheim in Sweeney Todd verwendet; hatte er für die beiden Hauptrollen von Anfang an Opern­ stimmen vorgesehen? Für Sweeney sicher, obwohl Len Cariou, der die Rolle in der Uraufführung 1979 sang, kein ausschliesslich klassischer Opernsänger war. Ganz bestimmt müssen alle Tenorpartien in diesem Stück von klassisch ausgebildeten Sängern gesungen werden; Pirelli ist zudem ein «italienischer» Tenor, auch wenn er nur vorgibt, Italiener zu sein. Sondheim nimmt hier die italienische Belcanto-Oper auf die Schippe... O ja! Nicht zufällig ist Pirellis erster Auftritt im 6/8-Takt komponiert, ein Rhythmus, der nur zu sehr an die Auftrittsarie des Barbiers, «Largo al factotum», aus Rossinis Barbier von Sevilla erinnert; dazu singt Pirelli in einem sehr lustigen Englisch mit italienischem Akzent. Und dass er von Sweeney Todd ausgerechnet in dem Moment stranguliert wird, in dem er sein hohes C singt, ist natürlich auch kein Zufall. Johanna scheint der klassische Typ einer zum ersten Mal verliebten jungen Opernheldin zu sein…

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Ja, dieser Stimmtyp – eine Soubrette – geht nicht zuletzt auf die Operette des 19. Jahrhunderts zurück, die in den USA immer sehr präsent war, mit Stücken von Gilbert und Sullivan, Offenbach und Johann Strauss, deren Werke in englischer Sprache aufgeführt wurden. Anthony, Johannas Geliebter, ist ein hoher Bariton, fast ein Tenor – also auch die Stimmkombination für das junge Liebespaar geht auf die Operetten-Tradition zurück. Und der Böse ist natürlich ein schwarzer Bass... Richter Turpin sollte unbedingt mit einer Opernstimme besetzt werden! Wir haben hier am Opernhaus Zürich eine sehr luxuriöse Besetzung, und zwar für alle Rollen. Tobias ist vielleicht diejenige Rolle, die am stärksten für einen Musical-Sänger gedacht ist – was auch inhaltlich Sinn ergibt, denn To­bias ist ein Junge von der Strasse, ein Waisenjunge, der kein Zuhause hatte, bevor Pirelli ihn zu seinem Gehilfen machte und ihn seitdem ausbeutet wie einen Sklaven. Auch die verrückte alte Bettlerin, ein kaputter Mensch, der auf der Strasse lebt und sich mit gelegentlichen Liebesdiensten durchschlägt, sollte rauer klingen als die übrigen Figuren. Sie ist in unserer Produktion ebenfalls mit einer Opernsängerin besetzt, die aber ganz neue Wege geht und sich die für Musical typische Gesangstechnik, das Belting, angeeignet hat; hierbei wird hauptsächlich mit der Bruststimme gesungen, zu der die Kopf­ stimme nur ein wenig beigemischt wird.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Sondheim hat für jedes seiner Musicals eine ganz eigene musikalische Welt erschaffen. Wie würden Sie die musikalische Welt von Sweeney Todd beschreiben? Die spezielle musikalische Welt von Sweeney Todd entsteht zunächst durch die Harmonik. Sondheim ist ein so exzellenter Pianist, dass er in der Lage ist, am Klavier ganz neue Klänge zu erfinden. Er hat einmal beschrieben, dass er sich häufig zwingt, in besonders unbequemen Tonarten zu improvisieren, um auf diese Art und Weise neue Harmonien zu finden. Die Ballade von Sweeney Todd, mit der das Stück beginnt, war zuerst in der entlegenen Ton­art es-Moll notiert. Im Orchester gibt es hier ein geradezu obsessives Osti­ nato, das im Musical «Vamp» genannt wird. Die Melodie, die der Chor dazu

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singt, erinnert an ein englisches Volkslied, allerdings in Moll; das alles klingt düster und unheimlich, und man spürt sofort: Etwas Schreckliches wird passieren. Diese ostinate Begleitfigur wird später immer dann zu hören sein, wenn Sweeney jemanden umbringt; in der ganz hohen Lage der Violinen klingt es wie das Schneiden eines Messers, ziemlich brutal. Die Gefährlichkeit Sweeneys ist also schon von den allerersten Takten des Stückes an musikalisch präsent. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie intelligent dieses Musical gemacht ist. Sondheim arbeitet also mit einer Art Leitmotiven. Ein sehr wichtiges Leitmotiv ist das «dies irae»-Zitat, das ursprünglich aus einem mittelalterlichen Hymnus stammt und von sehr vielen Komponisten zitiert wurde. Der «dies irae», der Tag des Zorns, bezieht sich auf das Jüngste Gericht, vor dem sich – nach der Bibel – am Ende der Welt alle versammelt werden, um ihr Urteil zu empfangen. Ein wichtiges Thema in Sweeney Todd: Hier ist ausgerechnet der Richter, der ja für Gerechtigkeit einstehen sollte, die Verkörperung der Ungerechtigkeit und des Bösen. Sweeney wiederum erscheint als der Rächer, der diesen Richter bestrafen und die Gerechtigkeit wieder herstellen will, eine Art alttestamentarischer Rachegott. Dass Sweeney diese Rachegefühle hat, wird jeder verstehen; allerdings verliert Sweeney dann im weiteren Verlauf des Stückes vollkommen die Kontrolle. Dass Sondheim für diesen Themenkomplex den mittelalterlichen «dies irae»-Hymnus zitiert, steht in einer langen Tradition. Das «dies irae»-Motiv erklingt zum ersten Mal im Chor zu den Worten «Swing your razor high, Sweeney», und später immer wieder, zum Beispiel in der grossen Solo-Nummer von Sweeney Todd, der sogenannten Epiphany, in der er der ganzen Menschheit Rache schwört. Gegen Ende des Stückes werden ja auch vermehrt apokalyptische Bilder heraufbeschworen: Die Stadt brennt, die Irren sind aus dem Irrenhaus ausgebrochen und nun in der ganzen Stadt unterwegs, der Mond hat sich verdüstert, schwarzer Regen fällt... Das ist auch ein Bild dafür, dass die Rachepläne von Sweeney Todd ausser Kontrolle geraten sind – er hat wahllos Menschen getötet und sie zu Fleisch­

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pasteten verarbeitet, die von anderen Menschen gegessen wurden. Wahrlich apokalyptisch! Und das in einem Musical, von dem man eher leichte Unterhaltung erwarten würde… Andreas Homoki und ich haben während der Proben viel diskutiert; ich war der Meinung, das Stück sei eine Tragödie, Andreas wiederum war überzeugt davon, dass es eine Komödie ist. Der Punkt ist: Wir haben beide recht! Es ist eine schwarze Komödie. Mrs. Lovett sagt an einer Stelle im Stück: «To seek revenge may lead to hell. But everyone does it, if seldom as well as Sweeney.» Wenn man so sehr besessen ist von dem Gedanken, Rache zu üben, dann kann das unbeabsichtigte Folgen haben.

Das komplette Programmbuch Wir haben vorhin über die Stimmtypen gesprochen und darüber, dass können Sie auf sich Sweeney Todd sehr gut mit Opernsängerinnen und -sängern besetzen lässt. Warum verwenden Sie trotzdem Mikrophone? www.opernhaus.ch/shop Die Instrumentation dieses Musicals stammt von Jonathan Tunick, der ein guter Freund von mir ist; mit ihm habe ich schon an vielen Musicals ge­ oder am im war,Foyer arbeitet. Als er Vorstellungsabend 1979 mit der Instrumentierung der Partitur beschäftigt gehörte die Verstärkung am Broadway schon zum Standard. Auch wenn die des Instrumentation immer dann, wenn gesungen erwerben wird, zurückgenommen ist Opernhauses und nur aus Streichern und Holzbläsern besteht. Dennoch gibt es einige Stellen, an denen es schwer ist für die Stimmen, über das Orchester zu kommen, zum Beispiel in Mrs. Lovetts Song The worst pies in London. Ein bisschen Unterstützung von der Tontechnik ist hier schon nötig. Aber wir wollen auf keinen Fall, dass das Publikum den Eindruck bekommt, es sässe im Kino und hörte die Musik nur aus den Lautsprechern. Der Klang wird hauptsächlich live aus dem Orchestergraben und von den Sängern zu hören sein. Die Verstärkung bringt vor allem Klarheit und hilft natürlich auch im Dialog, der häufig über Musik gesprochen wird. Ausserdem hat man so die Möglichkeit, mit ein paar Effekten zu spielen und zum Beispiel die Orgel mit ein wenig Hall zu versehen, was sie unheimlicher klingen lässt.

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Was ist für Sie als Dirigent die grösste Herausforderung in Sweeney Todd? Das Stück ist insgesamt schwierig zu dirigieren, sogar schwieriger als die meisten Opern, die ich bisher dirigiert habe. Das hat mit der Kombination von gesprochenem Text und Gesang zu tun. Natürlich folgen die Sänger dem Dirigenten, wenn sie singen. Wenn sie jedoch Dialog sprechen, halten sie sich an keine musikalische Struktur, sie sind in diesem Moment Schauspieler und müssen in ihrem Spiel frei sein. Allerdings wird häufig über der Musik gesprochen; dann muss ich das Timing mit dem Orchester so anpassen, dass ich bei bestimmten Stichworten einen bestimmten Takt erreicht habe. Gegen Ende des zweiten Aktes wird die Struktur immer komplizierter, gesprochener Dialog und Gesang wechseln sich in rascher Folge ab. Es gibt in der Partitur auch sogenannte «safety bars», die so oft wiederholt werden können, bis ein Umbau fertig oder der Dialog zuende ist. Ich muss also immer sehr engen Kontakt zur Bühne haben. Kurz vor Schluss des Stückes singen Mrs. Lovett und Sweeney in zwei völlig verschiedenen Tempi, was das musikalische Äquivalent dafür ist, dass sie sich gedanklich und emotional in völlig verschiedenen Welten befinden. In einem bestimmten Moment müssen die beiden dann wieder im selben Tempo singen – und ich muss bis dahin mit dem Orchester an der richtigen Stelle angekommen sein... Sweeney Todd hier am Opernhaus Zürich zu dirigieren, macht mir grossen Spass. Es gibt auch Fassungen mit 13 oder sogar nur 7 Musikern, wie sie zum Beispiel in London in einem Pie-Shop aufgeführt werden. Wir jedoch haben hier ein fantastisches Orchester mit über 50 hervorragenden Musikerinnen und Musikern zur Verfügung, und diesen Luxus geniesse ich sehr. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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Mélissa Petit, Elliot Madore, Chor der Oper Zürich Spielzeit 2018/19



Mélissa Petit, Liliana Nikiteanu Spielzeit 2018/19



Bryn Terfel Spielzeit 2018/19




Programmheft SWEENEY TODD The Demon Barber of Fleet Street, A Musical Thriller Musik und Liedtexte von Stephen Sondheim (*1930)

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Buch von Hugh Wheeler, nach dem Theaterstück von Christopher Bond Premiere am 9. Dezember 2018, Spielzeit 2018/19

Wiederaufnahme am 22. Dezember 2023, Spielzeit 2023/24 Herausgeber

Opernhaus Zürich

Intendant

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion

Beate Breidenbach

Layout, Grafische Gestaltung

Carole Bolli

Titelseite Visual

François Berthoud

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept und Logo Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Beate Breidenbach. – Die Interviews mit Andreas Homoki und David Charles Abell sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Angela Reinhardt, Eine Welt ohne Moral. Zu Stephen Sondheims «Sweeney Todd», Originalbeitrag für dieses Programmheft. Alexis de Toqueville, Erinnerungen an eine Reise nach England, in: ders., Autobiographie, Stuttgart 1954. Kannibalismus: Fas­ zi­nation und Tabu. in: DIE ZEIT, 18. Dezember 2002. Men­ schen­fleisch und Fleischpasteten: https://www.news­week. com/restaurant-served-murdered-victim-body-vegeta­ rians-1195447 (Deutsch von Beate Breidenbach).

Studio Geissbühler Fineprint AG

Das Libretto zu «Sweeney Todd» kann im Programmheft nicht abgedruckt werden, da der Verlag uns die AbdruckRechte nicht erteilt hat. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavier­ hauptprobe am 29. November 2018. – Die Illustrationen stammen von Florian Streit. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Atto primo

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

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Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung

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Elisabeth K. Gates Foundation Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Irith Rappaport Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar


Verschenken Sie Erinnerungen! Erinnern Sie sich an Ihren ersten Opernhausbesuch? An das Eintreten in diesen atemberaubenden Saal, daran, wie der grosse Kronleuchter erlischt und das Orchester die ersten Töne spielt, an die erste gesungene Note? Bei diesen Zeilen schwelgen leider nicht alle gleicher­ massen in Erinnerungen. Für einige Menschen liegt ein Opernhausbesuch schlicht und einfach ausserhalb der finanziellen Möglichkeiten. Aus diesem Grunde laden wir Sie dazu ein, zu spenden und weniger privi­ legierten Mitmenschen dieses kulturelle Erlebnis zu schenken. Öffnen Sie die Opernhaustüren für Fami­ lien mit schmalem Budget und schaffen Sie damit nachhaltige Kindheitserinnerungen! Im Februar 2024

realisieren wir eigens dafür eine Zusatzvorstellung unserer ansonsten ausverkauften Kinderoper «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer». Die Eintritts­ karten werden aus Ihren Spenden finanziert und in Kooperation mit der Caritas Zürich vergeben. Mit nur CHF 35 ermöglichen Sie einem Kind den Opernbe­ such. Möchten Sie eine ganze Familie ins Opernhaus einladen? Dann spenden Sie CHF 190. Einfach online spenden unter www.opernhaus.ch/spenden.

Helfen Sie mit, unseren Saal mit staunenden Kinderaugen und schallendem Gelächter zu erfüllen! Ein gemeinsames Engagement von Opernhaus Zürich, KulturLegi Zürich, Caritas Zürich



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