I vespri siciliani

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I VESPRI SICILIANI

GIUSEPPE VERDI

Der rein elektrische Audi SQ8 e-tron.

Future is an attitude

SQ8 e-tron quattro, 504 PS, 28,0–24,5 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. D

Quiet, impressive.

I VESPRI SICILIANI

GIUSEPPE VERDI (1813-1901)

Partnerin Opernhaus Zürich

HANDLUNG

Erster Akt

Sizilien ist besetzt. Das Land leidet unter der Fremdherrschaft. In besonderem Mass leiden die Frauen, denn die Gewalt der Besatzer richtet sich vor allem gegen sie.

Elena, Sizilianerin, trauert um ihren Bruder, der von den Besatzern hingerichtet wurde. Sie wird genötigt, in aller Öffentlichkeit zu singen. Ihr Lied enthält eine kaum verhüllte Aufforderung, sich endlich gegen die Besatzer aufzulehnen. Doch mit dem Erscheinen Monfortes, der der Anführer der Besatzer ist, wird jeglicher Widerstand im Keim erstickt.

Arrigo, der Elena liebt, ist traumatisiert aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, erklärt aber, trotzdem weiter für die Freiheit kämpfen zu wollen. Monforte ist von Arrigos Mut beeindruckt und will ihn auf seine Seite ziehen. Zugleich warnt er ihn vor Elena – ohne Erfolg.

Zweiter Akt

Procida ist nach Palermo zurückgekehrt, wo er hofft, gemeinsam mit Elena und Arrigo einen Aufstand gegen die Besatzer anzuzetteln. Arrigo gesteht Elena seine Liebe. Diese will ihn heiraten, wenn er den Tod ihres Bruders rächt.

Procida stachelt die Besatzer dazu an, sich mit Gewalt die sizilianischen Frauen zu nehmen, die ihnen gefallen. Er hofft, damit die Wut der Sizilianer auf ihre Unterdrücker zu schüren. Doch diese wehren sich nicht einmal, als die Besatzer ihre Frauen verschleppen. Procida beschliesst, einen Mordanschlag auf Monforte zu planen.

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Dritter Akt

Monforte hat den Brief einer kürzlich verstorbenen Sizilianerin erhalten; sie schreibt darin von einem Sohn, den sie bekam, nachdem Monforte sie vergewaltigt hatte. Dieser Sohn ist Arrigo. Nun redet sich Monforte ein, dass seine quälende Einsamkeit gelindert und sein Leben an der Seite seines Sohnes glücklicher werden wird.

Monforte konfrontiert Arrigo damit, dass er sein Vater ist. Doch Arrigo ist emotional überfordert und reagiert aggressiv – er begreift, dass dies das Ende seiner Beziehung zu Elena bedeutet.

Monforte feiert ein grosses Fest. Auch Elena und Procida erscheinen, um den Mordanschlag gegen Monforte auszuführen. Als Arrigo davon erfährt, warnt er Monforte. Doch dieser ignoriert alle Warnungen. Als Elena Monforte töten will, geht Arrigo dazwischen und verhindert den Mordanschlag.

Vierter Akt

Arrigo sucht Elena im Gefängnis auf und gesteht ihr, dass er Monfortes Sohn ist. Sie verzeiht ihm. Arrigo will sich mit Elena gemeinsam hinrichten lassen.

Als die Exekution vollzogen werden soll, verspricht Monforte, die Verschwörer zu begnadigen, wenn Arrigo sich zu ihm bekennt. Im letzten Moment vor der Hinrichtung ruft Arrigo: «Mein Vater». Monforte stoppt die Hinrichtung und verkündet die Hochzeit von Elena und Arrigo, die noch am gleichen Abend stattfinden soll.

Fünfter Akt

Schon steht die Hochzeit bevor. Procida erklärt Elena, dass die Hochzeitsglocken zugleich auch das Signal für den Beginn des Aufstands gegen die Besatzer sein sollen. Um ein Gemetzel zu verhindern, lehnt Elena die Verbindung mit Arrigo ab. Monforte ignoriert die Weigerung Elenas und erklärt die beiden zu Mann und Frau. Die Glocken läuten. Das Massaker beginnt.

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O patria!

ICH FOLGE BILDERN

IN MEINEM KOPF

Regisseur Calixto Bieito im Gespräch

Calixto, du hast dich im Laufe deiner Karriere immer wieder mit den Opern von Giuseppe Verdi auseinandergesetzt. Deine erste Verdi-Inszenierung, Un ballo in maschera 2000 im Teatro Liceu in Barcelona, hat dich über Nacht bekannt gemacht, und deine Inszenierungen von Il trovatore und La traviata an der Staatsoper Hannover haben dort 2004 für Skandal und Abonnements-Kündigungen in grosser Zahl gesorgt. In den letzten Jahren hast du unter anderem Don Carlos in Basel, Macbeth in Frankfurt, Simon Boccanegra in Paris, Aida in Berlin, das Requiem und Falstaff in Hamburg inszeniert. Nun widmest du dich hier in Zürich den Vespri siciliani. Inwiefern hat sich die Art und Weise, wie du dich Verdis Opern näherst, verändert?

In meiner Inszenierung des Trovatore damals in Hannover haben die Figuren ihre Wut auf der Bühne sehr stark ausagiert. Es war sehr realistisch dargestellte Gewalt zu sehen, die damals das Publikum schockiert haben mag, was aber gar nicht meine Intention war . Jedenfalls kann und möchte ich das heute nicht mehr so einfach wiederholen. Kunst ist natürlich keine Entsprechung der Wirklichkeit, sollte aber in meinen Augen dennoch etwas erschaffen, das wir als authentisch empfinden. Schon mit Simon Boccanegra in Paris habe ich versucht, einen anderen Weg zu gehen auf meiner Suche nach Authentizität. Diesen Weg möchte ich nun mit den Vespri siciliani hier in Zürich fortsetzen.

Was heisst das für deine Theatersprache?

Das heisst, dass ich eher Bildern folge, die ich im Kopf habe, und den Erinnerungen aus meiner Kindheit. Im Zusammenhang mit dem Beginn von I vespri siciliani denke ich zum Beispiel an den Tod eines Nachbarn, der an

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Krebs gestorben ist, als ich noch sehr jung war. Bis heute sind mir die Geräusche präsent, die der Sarg gemacht hat, als er durch das enge Treppenhaus transportiert wurde. Meine Mutter hielt mir die Augen zu, als der Sarg an unserer Wohnung vorbeigetragen wurde, aber natürlich habe ich ihn trotzdem gesehen. Und auch an die trauernde Witwe erinnere ich mich gut, obwohl ich wirklich noch sehr klein war. Eine andere bleibende Erinnerung ist die an eine Frau, die mir immer auf eine sehr besondere Art und Weise über das Gesicht streichelte, wenn wir uns begegneten. Ich fühlte mich sehr unwohl dabei. Erst später erfuhr ich, dass sie ihr Kind bei einem Unfall verloren hatte. Und natürlich hat auch die Kirche einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, nicht nur im positiven Sinn. Vieles in der Kirche machte mir Angst. Zugleich übten kirchliche Rituale und das Singen im Kirchenchor eine grosse Faszination auf mich aus; diese Rituale haben etwas sehr Theatralisches, und die Erinnerung daran hat mich für diese Inszenierung sehr inspiriert.

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Du denkst, so jedenfalls empfinde ich es auf den Proben, beim Entwickeln der Inszenierung mehr in Bildern als in Narrativen… …ja, ich versuche zuerst, Bilder zu finden und aus diesen Bildern dann die Erzählung zu entwickeln. Eines dieser Bilder ist die Darstellung des Raubs der Sabinerinnen von Rubens, es zeigt einen Gründungsmythos der Stadt Rom. Die französischen Besatzer in der Opernhandlung – es sind im Stück tatsächlich nur Männer – sprechen im Libretto diesen Mythos direkt an, um zu rechtfertigen, dass sie die sizilianischen Frauen vergewaltigen; als Besatzer glauben sie, sie hätten das Recht dazu, und die Frauen seien ihr Eigentum. In allen Kriegen wird sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt. Aber auch in sogenannten Friedenszeiten gibt es sie, ich lese in letzter Zeit oft von Gruppenvergewaltigungen in verschiedenen Ländern, in Indien zum Beispiel, aber auch in Spanien. Ich finde das unfassbar brutal und primitiv.

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Herz der Oper I vespri siciliani ist die Beziehung zwischen Monforte und seinem Sohn Arrigo – sehr charakteristisch für Verdi, der sich Zeit seines Lebens als Komponist an den Beziehungen von Vätern und ihren Kindern abgearbeitet hat.

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Diese Beziehung spielt in vielen Opern von Giuseppe Verdi eine Rolle, in Simon Boccanegra ebenso wie in Don Carlos, La traviata oder Rigoletto.

In Vespri siciliani kommt hinzu, dass Arrigo zunächst nicht weiss, dass Monforte sein Vater ist – er hasst ihn, weil er Franzose und der Anführer seiner Feinde ist. Die Geschichte spielt laut Libretto im von den Franzosen besetzten Sizilien im 13. Jahrhundert, und Arrigo ist das Kind einer von Monforte vergewaltigten Sizilianerin. Als er erfährt, dass Monforte nicht nur sein grösster Feind, sondern auch sein Vater ist, ist Arrigo emotional vollkommen überfordert. Zudem ist er einer extremen emotionalen Manipulation ausgesetzt; Monforte ist zwar mächtig, aber zugleich auch sehr einsam, und Arrigo soll nun diese Einsamkeit lindern und für das Glück und das seelische Wohlbefinden seines Vaters verantwortlich sein. Das würde jeden Sohn überfordern! Monforte versucht auf geradezu sadistische Art und Weise, Arrigo emotional zu erpressen: Er droht damit, Arrigos Geliebte Elena hinrichten zu lassen, um Arrigo dazu zu bringen, ihn als seinen Vater anzuerkennen. Daran würden auch seelisch gesündere und emotional stabilere Charaktere als Arrigo früher oder später zerbrechen.

Du hast es gerade angesprochen – Hintergrund für die Konflikte zwischen Arrigo, Elena und Monforte ist die Besatzung Siziliens durch die Franzosen. Verdi schrieb das Stück für die Pariser Oper, später arbeitete er es für Auführungen in Italien um; wegen der Zensur musste er allerdings den Schauplatz von Sizilien nach Portugal verlegen und den Titel in Giovanna da Guzman ändern.

Zu Verdis Zeit waren die italienische Risorgimento­Bewegung und die nationale Einigung Italiens sehr präsent, Nationalismus war vorwiegend positiv besetzt. Nach allem, was das 20. Jahrhundert an Katastrophen hervorgebracht hat, wissen wir, dass übersteigerter Nationalismus in Verbindung mit wirtschaftlichen Krisen, Orientierungslosigkeit, Arbeitslosigkeit etc. zu Extremismus und Diktatur führen kann; in Bezug auf Italien denke ich da natürlich vor allem an die faschistische Diktatur Mussolinis. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Nationalismus daher lange Zeit ausschliesslich negativ besetzt. Heute würde ich sagen, es gibt verschiedene Arten von Nationalismus, in

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manchen Ländern mag er für den Zusammenhalt, den Schutz der Identität notwendig sein. Ein schwieriges Thema, bei dem es keine einfachen Antworten, kein eindeutiges Schwarz oder Weiss gibt. Und ich werde auch nicht versuchen, mit meiner Inszenierung irgendwelche Statements dazu abzugeben. Ich selbst fühle eigentlich keine nationale Identität, ich bin nirgends wirklich zuhause, ausser vielleicht im Humanismus.

Deine Inszenierung von I vespri siciliani ist nirgends konkret verortet; das Bühnenbild zeigt eine abstrakte, halb zerstörte Containerlandschaft, die auch als Silhouette einer durch einen Krieg versehrten Stadt gelesen werden kann…

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Nein, das Bühnenbild zeigt auch keinen konkreten Ort. Aber natürlich gibt es Dinge, die meine Bühnenbildnerin und mich inspiriert haben. Vor ein paar Monaten zum Beispiel war ich für ein paar Wochen in Neapel und habe dort Gioachino Rossinis Maometto II. inszeniert. Die Atmosphäre dieser labyrinthischen Stadt mit ihren engen, dunklen Strassen und Gassen, der von spanischen Einflüssen geprägten barocken Architektur und dem grossen Hafen hat mich sehr fasziniert. Andere Inspirationen bekomme ich aus dem Kino. Als ich jung war, habe ich sehr viele italienische Filme gesehen, das italienische Kino war zu jener Zeit mit Pasolini, Fellini und Bertolucci das wichtigste Europas, und nach dem Ende der spanischen Diktatur wurden all diese Filme im Fernsehen gezeigt. Ich erinnere mich besonders an Roma, città aperta von Roberto Rossellini; darin geht es um Italien zur Zeit der deutschen Besatzung. Die Bilder, die mir von diesem und anderen Filmen geblieben sind, mögen sich über die Jahre in meiner Erinnerung verändert haben, aber ich möchte das gar nicht überprüfen, indem ich die Filme jetzt noch einmal schaue, sondern ich greife lieber auf meine Erinnerungen, auf meine subjektive Wahrheit zurück.

Du hast den italienischen Neorealismus von Roberto Rossellini erwähnt; in deiner Inszenierung suchst du aber oft auch nach eher surrealen Bildern.

Ja, das ist vermutlich die spanische und katalanische Kultur, die mich natürlich

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auch geprägt hat; ich denke da zum Beispiel an Salvador Dalí, aber auch an den hierzulande wenig bekannten und kaum übersetzten Schriftsteller Ramòn del Valle­Inclán, für mich einer der besten spanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, und natürlich an den fantastischen Filmregisseur Luis Buñuel, mit dem mich sehr viel verbindet. Sehr wichtig als Inspirationsquelle war für mich natürlich auch Francisco Goya. Das Wort «vespri» hat ja verschiedene Bedeutungen. Es meint natürlich zunächst den abendlichen Gottesdienst; darauf bezieht sich auch der Titel des Stückes: Die Glocken läuten zur Abendvesper und geben zugleich das vereinbarte Zeichen für den Aufstand gegen die Besatzer, der in einem furchtbaren Massaker endet. «Vesper» bedeutet aber auch Sonnenuntergang, Dämmerung, einen Zustand zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Träumen, in dem in unseren Köpfen sehr surreale Bilder entstehen können.

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I vespri siciliani stand ja schon einmal auf unserem Spielplan – 2020, doch dann kam die Corona-Pandemie, und wir mussten die Inszenierung verschieben. Vorübergehend dachten wir darüber nach, das Stück in einer reduzierten, eher experimentellen Corona-Fassung auf die Bühne zu bringen, haben die Idee dann aber wieder verworfen. Hat die Arbeit an einer solchen Fassung deine Sicht auf das Stück verändert? Das Wort experimentell mag ich nicht. Ich würde eher sagen, dass das Nachdenken über das Stück während der Corona­Pandemie eine sehr gute Übung für mich war, mir zu überlegen, was für mich wirklich die Essenz dieses Stückes ist. Diese gedankliche Arbeit hat zu der sehr reduzierten, konzentrierten Konzeption geführt, die wir jetzt versuchen umzusetzen. Ich habe dabei eine katholische Totenmesse im Hinterkopf, ein liturgisches Ritual. Es geht mir nicht darum, den Kampf der Sizilianer gegen die Franzosen pseudorealistisch darzustellen, sondern eher um innere Auseinandersetzungen, um die Emotionen und Ängste jedes Einzelnen, ausgedrückt durch die Musik.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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Viva la guerra! Viva l’amor!

KOLLEKTIVE KRIEGSGEWALT GEGEN FRAUEN

Über Jahrhunderte wurde wenig über die kollektive Kriegsgewalt gesprochen, die genau jene trifft, die nicht zu den Waffen gegriffen haben. Sie wurde nicht als Verbrechen an sich diskutiert. Meist ging sie stillschweigend im Rahmen des sogenannten «Rechts» durch, das ein Kommandant seiner siegreichen Truppe als Belohnung zugestehen konnte. Francisco Goya zeigt, was sich den Worten entzieht

Die erste gewaltige Stimme, die diese Art von Verbrechen verurteilt, ist nicht die eines Autors, sondern jene eines Malers. In rund 80 Radierungen, die als Los desastres de la guerra (1810­1815) bekannt sind, illustriert Francisco de Goya y Lucientes das, was während der napoleonischen Eroberung Spaniens verübt wurde und wir heute «Kriegsverbrechen» nennen würden. Fünf der berühmtesten Bilder zeigen ohne Krankhaftigkeit, Nacktheit oder Sexualität, und dennoch hochdramatisch mit extremer Klarheit die napoleonischen Helden in Attacke auf weibliche Körper. Einerseits fixiert das Auge Goyas erstmals den zeitlosen Kollektivwahn, von dem die napoleonischen Truppen ebenso besessen waren wie die Zentauren im Mythos. Andererseits ist auf seinen Bildern die Vergewaltigung nicht einfach eine allgemeine Erscheinung wie die zusammengebrochenen Brücken, brennenden Häuser oder geraubten Pferde, von denen gleichermassen durch Bilder wie Worte erzählt werden kann, sondern Leiden, das nach visueller Darstellung verlangt, gerade weil es sich Worten entzieht.

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Seit dem Brudermord durch Kain oder dem Krieg zwischen Griechen und Trojanern zerstört die Gewalt die Menschen; gleichzeitig aber schafft sie Worte, Reden, Erzählungen vom vergossenen Blut. Das tiefste Kennzeichen der sexuellen Gewalt hingegen ist genau das Gegenteil: Radikaler noch als andere Traumata schafft sie Schweigen. Sie löscht die Worte, lähmt den Geist, sie entmenschlicht das Opfer, aber auch den Täter, indem sie ihnen das Mal der Scham aufdrückt, denn in beiden zerstört sie eine der menschlichsten Fähigkeiten: die, sich zu erzählen. Wenn sexuelle Gewalt den Körper trifft, trifft sie zugleich den immateriellsten Teil der Person.

Damit der kollektive Aspekt in Betracht gezogen wurde, musste wahrscheinlich abgewartet werden, bis sich – grösstenteils auf Betreiben des Feminismus –die Rechtslage hinsichtlich sexueller Gewalt änderte. Viele Gesetze (und die archaischen Aspekte der öffentlichen Meinung, die sie begleiteten) sahen darin weniger ein Verbrechen gegen die Person des Opfers als gegen die öffentliche Moral.

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Die Pervertierung des Eros

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Im 20. Jahrhundert wird das Problem der kriegerischen Vergewaltigungen evident und explosiv. Nicht zufällig handelt es sich um das Jahrhundert, in dem sich das Gesicht des Krieges radikal ändert: nicht so sehr durch den «Fortschritt» monströser destruktiver Technologien, sondern weil noch zu Beginn des Jahrhunderts über 90 Prozent der Kriegsopfer Soldaten sind, während an seinem Ende 90 Prozent der Konflikttoten der Zivilgesellschaft angehören. Kriegsberichterstatter und Debatten der Vereinten Nationen beginnen sich mit einem Fakt zu beschäftigen, der vielleicht schon immer aufgetreten war, jetzt aber systematisch wird, beabsichtigt and zentral: Die Massenvergewaltigung ist nicht nur eine Konsequenz des Krieges, die der Kontrolle entkommt. Man trachtet umgekehrt danach, sie in einen Faktor der Kriegsentwicklung zu verwandeln. Sie wird als Verhalten mit der Absicht eingeplant, die militärische Eroberung, Jagd auf ganze Bevölkerungen zu beschleunigen – unter Umständen gar einen Genozid herbeizufuhren.

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Sexuelle Gewalt als Massenphänomen erzeugt eine immense, abnorme Welle, die Geografie and Geschichte auf den Kopf stellen kann. Sie beginnt als unsichtbares Beben, scheint jeder Kontrolle zu entgleiten und von alleine zu erlöschen oder ins Gigantische zu wachsen. Aber wenn sie auftritt, ist nicht mehr der einzelne Mann erkrankt, sondern die ganze Welt des Mannes und sein Verhältnis zum Trieb.

Einmal in Bewegung wird diese Lawine der zivilen Psyche unkontrollierbar wie ein Pogrom. Zunächst durch irgendein spezielles Kalkül angestossen, entgleitet sie in Richtung eines undifferenzierten Gemetzels. Die Wut, ursprünglich gegen eine bestimmte Rasse, Volksgruppe oder feindliche Nation gerichtet, endet damit, im Volk der Männer gegen das Volk der Frauen zu lodern: Sie verstreut Hass, der trennt, und pervertiert damit genau jenen Impuls, der vereint und den wir «Eros» nennen.

Massenvergewaltigung als Teil der psychologischen Kriegsführung

Massenvergewaltigung infolge eines Krieges ist in den allermeisten Epochen vorgekommen. Doch war sie nicht ausgearbeiteten Strategie, sondern Folge der vorübergehenden «Illegalität» (gemäss modernen Massstäben) im Anschluss an einen Sieg: Der Truppe wurde ein «Recht» zugestanden (gemäss Rechtsvorstellungen, die dem Völkerrecht vorangingen), sich einen Teil der Beute als Belohnung für ihre Anstrengungen zu nehmen. Sie raubte Gegenstände, aber auch sexuelle Intimität.

In den Konflikten, die dem entsprechen, was in der Moderne «totaler Krieg» genannt wurde, nahm die Vergewaltigung einen radikalen and definitiven Charakter an. Aus den klassischen Texten, speziell den Trojanern des Euripides, wissen wir, dass die Städte eingeebnet, die Männer ausgerottet, die Frauen zu Sklavinnen gemacht wurden, die man für Arbeit und Sexualität benutzen konnte. Im 20. Jahrhundert hingegen ist die massenhafte Gewalt gegen die weibliche Bevölkerung, indem sie bereits als Teil der politisch­militärischen Strategie eingeplant wurde, nicht mehr ein Exzess, der auf den Moment der Eroberung

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eines Territoriums beschränkt bleibt. Sie wird permanent und dient dazu, die gesamte gegnerische Bevölkerung zu terrorisieren, in die Flucht zu treiben, zur Unterwerfung zu nötigen. Als Teil der psychologischen Kriegsführung dient sie dazu, die innere Front des Feindes zu unterminieren. Dieser Ausdruck bezieht sich normalerweise auf die Zivilbevölkerung jenseits der Kriegsfront; uns scheint aber, dass das Wort, ohne dass man sich dessen recht bewusst wäre, auch auf das Innenleben – die Seele, die psychische Konstitution – der nichtmilitärischen Bevölkerung verweist, somit vor allem der Frauen.

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DER RAUB

DER SABINERINNEN

Schon hatte der Römische Staat eine solche Stärke, dass er jedem seiner Nachbarn im Kriege gewachsen war. Aber aus Armut an Frauen konnte diese Grösse nur ein Menschenalter dauern. Zu Hause sahen sie sich ohne Hoffnung einer Nachkommenschaft; und noch berechtigten keine nachbarlichen Verträge sie zu Ehen im Auslande. Also beschickte Romulus die nächsten Städte und liess für sein neues Volk um Bündnisse und Vergünstigung der Ehen anhalten.

Nirgends fanden die Gesandten günstiges Gehör: So sehr verachteten Rom seine Nachbarn, und so gefährlich zugleich schien ihnen für sie und ihre Nachkommen das in ihrer Mitte sich erhebende Riesengebäude der Römischen Macht Fast durchgängig wurden sie mit der Frage entlassen: Ob sie nicht auch für Frauenzimmer eine Freistatt errichtet hätten? Nur dann erst würden die Ehepaare zueinander passen. Dies verdross die jungen Römer; und Gewalt war von ihrer Seite so gut als beschlossen. Um ihnen dazu in Absicht der Zeit und des Orts behilflich zu sein, machte Romulus, ohne seinen Unwillen sich merken zu lassen, angelegentliche Vorkehrungen zu einem Ritterspiele. Er liess den benachbarten Städten dies Schauspiel ankündigen. Es zog eine gewaltige Menge Menschen hin. Da kam eine ganze Schar von Sabinern mit Weib und Kind. In allen Häusern fanden sie gastfreie Aufnahme, und wie sie die Lage und Befestigung Roms und die ansehnliche Häuserzahl sahen, wunderten sie sich über diesen schnellen Anwachs. Als der Zeitpunkt des Kampfspieles herankam und Herz und Auge hiermit beschäftigt war, brach die Gewalttätigkeit aus. Auf ein Zeichen sprengten die Römischen Krieger nach allen Seiten zum Raube der Mädchen auseinander. Die meisten wurden ohne Wahl weggenommen, wie sie jedem in die Hände fielen; hie und da hatten sich die vornehmsten Adligen eine Schöne ausersehen, welche ihnen durch ihre Beauftragten im Volke in die Häuser geliefert wurde.

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TARANTELLA: TANZ UND HYSTERIE

Mit Tarantella ist eine Reihe von besonders in Süditalien beheimateten Tänzen gemeint, deren Musik sich durch einen schnellen Rhythmus im 3/6­ oder 6/8Takt und durch die Begleitung von Tamburinen auszeichnet. Der Name «Tarantella» wurde wahrscheinlich von der Stadt Taranto (Tarent) in Apulien abgeleitet; im Volksmund heisst es aber, dass der Name von «taranta» stamme, einem Dialektwort für die «Lycosa Tarentula», eine in Italien und im Mittelmeerraum anzutreffende giftige Spinne. Demnach bedeutete «Tarantella» «kleine Tarantel».

Nach dem Aberglauben der Apulier konnte ein Biss der «Taranta» böse Folgen haben, von denen hauptsächlich Frauen betroffen waren. Der Überlieferung nach führte das Gift dieser Spinne zu übermässiger Erregung, Krämpfen, physischen Schmerzen, aber auch zu Schwermut und psychischem Leid, bis hin zu hysterischen Anfällen, die nur durch einen reinigenden Tanz, die «Taranta», auch «Pizzica Taranta» genannt, geheilt werden konnten.

Der wilde Tanz galt als Therapie: Während die Musiker im Haus der «Tarantata» oder auf dem Marktplatz spielten, tanzte die Gebissene bis zur völligen Erschöpfung, um das Gift aus dem Körper zu treiben. Dabei wurde die «Tarantata» von den Anwesenden mit bestimmten Gegenständen konfrontiert wie Schwertern, farbigen Bändern oder Spiegeln, die irgendwie an Eigenschaften der Tarantel erinnerten. Dieses Tarantismus genannte Phänomen existierte bis in die 1960er Jahre.

Encyklopädie der Musik-Wissenschaft 1840, Riemann Musik-Lexikon 1882, Handlexikon Tonkunst 1882, Wikipedia

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MÄNNER UND FRAUEN SIND MITEINANDER IM KRIEG

Ein Gespräch mit der Frauenrechtlerin und Ärztin Monika Hauser

Warum wird sexualisierte Gewalt so häufig im Krieg eingesetzt?

Dies ist nicht neu, aber wir haben heute mehr Bewusstsein für die Problematik Sexualisierte Gewalt im Krieg kann angeordnet werden. In diesem Kontext wird häufig von sexualisierter Kriegsgewalt als «Waffe» gesprochen. Wir sagen dann, sexualisierte Gewalt wird funktionalisiert zur Erreichung bestimmter politischer oder militärischer Ziele, zum Beispiel zur Terrorisierung oder Vertreibung einer Bevölkerung bis hin zur Auslöschung, wie wir das beispielsweise in Bosnien­Herzegowina, in Ruanda oder auch im Nordirak gesehen haben. Wenn bekannt wird, dass gegnerische Soldaten Frauen vergewaltigen, kann dies ganze Dorfgemeinschaften zur Flucht bewegen. Sexualisierte Gewalt aber ausschliesslich als Kriegstaktik und strategisch angeordnet zu sehen, greift zu kurz. Sexualisierte Gewalt existiert im Kontinuum, das heisst, es gibt sie vor, während und nach dem Krieg. Ihre Ursachen sind die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaften, die Frauen diskriminieren, abwerten und verletzen. Sexualisierte Gewalt ist daher nicht nur im Krieg, sondern auch in sogenannten Friedenszeiten allgegenwärtig. Das heisst, es gibt diese Funktionalisierung im Krieg zur Erreichung bestimmter Ziele, da sexualisierte Gewalt tief in patriarchalen Strukturen verankert ist. Oft wird durch die militärische Führung zusätzlich eine Atmosphäre erzeugt, die zu dieser Gewalt ermutigt. Hinzu kommt, dass im Krieg staatliche Strukturen und Kontrollmechanismen ausser Kraft gesetzt sind und die Täter:innen keine Bestrafung fürchten müssen.

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Welche Auswirkungen hat sexualisierte Gewalt auf Gesellschaften? Sexualisierte Gewalt ist auf grausame Weise effizient, weil sie eine so zerstörerische Wirkung hat auf die einzelne Frau, aber auch auf ihr ganzes soziales Umfeld. Denn der patriarchalen Logik folgend richtet sich sexualisierte Gewalt nicht nur gegen die Frau selbst, sondern auch gegen ihre Familie, ihren Mann und die ganze Gemeinschaft. Wenn die Ehre der Frau entlang dieser Logik an ihre körperliche Unversehrtheit geknüpft ist, «entehrt» das, was sie erlebt hat, auch ihre Familie, den Ehemann oder den Vater. Das ist die Botschaft des Täters, und aufgrund dieser patriarchalen Logik ist sie so erfolgreich. Würden die Menschen aus dieser falschen Logik aussteigen, würden sie sich vielmehr darum kümmern, wie es der Überlebenden geht, wie man sie unterstützen und wieder in die Mitte der Gesellschaft aufnehmen kann, wie sie psychisch und körperlich gesunden kann, wie man durch gesellschaftliche Akzeptanz dafür sorgen kann, dass sie sich wieder im Leben zurechtfindet –und dann wäre sexualisierte Gewalt auch nicht in dieser Weise effizient. Wenn aber Frauen nach ihrer Gewalterfahrung noch zusätzlich von ihren eigenen Gesellschaften stigmatisiert und ausgegrenzt werden und ihnen häufig sogar noch eine Mitschuld an der Vergewaltigung zugesprochen wird, ist sexualisierte Gewalt so unglaublich wirksam und zerstörerisch.

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Zeigt sich die Stigmatisierung von Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, auch heute, in Westeuropa?

Ja, in allen Gesellschaften weltweit, auch in Deutschland, auch in der Schweiz. Wenn hierzulande über Femizide berichtet wird, werden immer noch Begriffe wie «Ehrenmord» oder «Beziehungstat» verwendet. Noch immer sind Frauen, die sich von ihren Partnern trennen, in einer besonderen Gefährdungslage. Alle zwei bis drei Tage wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex­Partner getötet. Diese Gewalt sehen wir also weltweit, unabhängig von Herkunft, Religion oder Kultur. Obwohl es mittlerweile ein umfassendes internationales Regelwerk gibt, das sexualisierte Kriegsgewalt als Kriegsverbrechen anerkennt und die UN­Mitgliedsstaaten dazu auffordert, diese Verbrechen zu verfolgen, mangelt es noch immer an politischem Willen und praktischer Umsetzung und fehlen in fast allen Staaten personelle und

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finanzielle Ressourcen, um sexualisierte Kriegsgewalt zu verfolgen. Hinzu kommen Verfahren der Dokumentation und Strafverfolgung, die retraumatisierend wirken können. Und noch immer gibt es viel zu wenig stress­ und traumasensible medizinische, psychosoziale und juristische Angebote, um den Bedarfen der Überlebenden gerecht zu werden. Und auch in Deutschland und der Schweiz gibt es immer noch sehr viel zu tun, weil diese Gesetze unzureichend umgesetzt werden. Wir haben also keinen Grund zur Überheblichkeit. Im Grunde könnten wir sogar fragen, ob Frauen wirklich in einem Zustand des Friedens leben, wenn jede zweite bis dritte Frau im Laufe ihres Lebens sexualisierter Gewalt ausgesetzt ist, wenn jeden dritten Tag eine Frau ermordet wird, weil sie eine Frau ist.

Was kann man tun, um sexuelle Gewalt gegen Frauen zu verhindern?

Muss sich die Gesellschaft dafür grundlegend ändern?

Ja. Geringer geht es nicht. Denn nur wenn die frauenfeindlichen patriar chalen Strukturen als Ursachen der Gewalt erkannt werden, können wirksame Gegenmassnahmen entwickelt werden, die dem Bedarf der Überlebenden entsprechen und weitere Gewalt verhindern. Zu all dem, was wir an gynäkologischer und psychosozialer Unterstützung anbieten, gehört daher immer auch politische und gesellschaftliche Frauenrechtsarbeit. Überall, wo wir arbeiten, klären wir auch gesellschaftlich auf. Wir müssen strukturell etwas verändern, wir müssen das Mindset der Menschen verändern, in Kriegs­ und Krisengebieten weltweit, genauso wie in Europa, Deutschland und der Schweiz. Die beste Gesetzgebung reicht nicht aus, wenn es am politischen Willen mangelt, sie auch umzusetzen. Dazu gehören auch sexistische Stereotype und Klischees und sogenannte «Vergewaltigungsmythen», wie «der Rock war zu kurz», oder «warum ist sie auch mitgegangen». Vergewaltigungsmythen dienen dazu, sexualisierte Gewalt zu leugnen oder zu verharmlosen, die meist männlichen Täter zu entschuldigen oder zu rechtfertigen und sollen eine Täter­Opfer­Umkehr bewirken. Letztlich begünstigen und bagatellisieren sie die Gewaltverbrechen und schützen das patriarchale System. Dieses Verhalten ist nicht nur in der Bevölkerung und den Medien weit verbreitet, sondern auch unter Fachkräften in Beratung, Justiz und Polizei. Es gilt also,

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immer wieder gegen diese Stereotypen anzugehen, immer wieder die Machtverhältnisse aufzuzeigen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Training und Qualifizierung von juristischem Personal sind eine Voraussetzung dafür, dass wir eine veränderte Rechtsprechung bekommen. Grundsätzlich muss die Unterstützung der Überlebenden und die Bekämpfung sexualisierter Gewalt aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. Justiz und Politik, Institutionen, Zivilgesellschaft und die breite Öffentlichkeit – sie alle müssen hier Verantwortung übernehmen und zu Dokumentation und Wahrheitsfindung, zu Erinnerungskultur und Wiedergutmachung beitragen.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach

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Monika Hauser ist Gründerin der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, mit der sie bis heute gegen sexualisierte Kriegsgewalt kämpft. 2008 bekam sie für ihre Arbeit mit traumatisierten Frauen in Krisenregionen den Right Livelihood Award, auch als alternativer Nobelpreis bezeichnet. Seit 2008 gibt es die Medica Mondiale Foundation Switzerland, die Medica Mondiale e.V. durch Fundraising unterstützt und sensibilisierende Trainings für Fachpersonal und Interessierte durchführt.

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O padre! O figlio!

PASSION UND POLITIK

Giuseppe Verdis «I vespri siciliani»

Giuseppe Verdis I vespri siciliani war ursprünglich eine französische Oper, die am 13. Juni 1855 unter dem Titel Les Vêpres siciliennes in Paris zur Uraufführung kam. Wie alle italienischen Opernkomponisten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde auch Verdi von Paris, der damaligen Metropole des Musiktheaters, angezogen. Auf der Bühne der «Opéra» in der Salle de la rue Le Peletier zu reüssieren war das Ziel jedes Musikers, auch das Verdis, der damit Giacomo Meyerbeer, den erfolgreichsten Opernkomponisten seiner Zeit, auf seinem eigenen Terrain herausforderte. Verdis erste Begegnung mit Paris fand 1847 statt, als er I Lombardi alla prima crociata unter dem Titel Jérusalem für die Opéra einrichtete. Damals musste er sich mit zwei subalternen Mitarbeitern als Librettisten zufriedengeben. So war eine seiner Hauptbedingungen, als er im Februar 1852 den Vertrag mit Paris abschloss, ein Textbuch von Eugène Scribe, dem Mitschöpfer der Grand opéra und damals angesehensten Librettisten in ganz Europa, zu erhalten. Nur mit seiner Hilfe glaubte er, Meyerbeers Erfolgsopern Les Huguenots (1836) und Le Prophète (1849) ausstechen zu können – ein Ehrgeiz, der ihn die Komposition beginnen und sie schliesslich unter widrigsten Umständen zu Ende führen liess. «Eine Oper in der Opéra ist eine Anstrengung, die einen Stier umbringt», stöhnt er während der Arbeit einmal gegenüber seinem neapolitanischen Vertrauten Cesare De Sanctis.

Was Verdi sich von Scribe wünschte, war «ein grandioses, leidenschaftliches, originelles Sujet für eine imposante, blendende Inszenierung» – «ein Wunder», wie es der «Zauberer», so der dem Librettisten schmeichelnde Komponist, regelmässig erfinde, zuletzt mit der Krönungsszene des Prophète. Verdi wollte es Meyerbeer gleichtun – eine Fixierung, die ihn die Problematik des Librettos viel zu spät erkennen liess. Der in die Jahre gekommene Textfabrikant Scribe machte es sich einfach und griff – das muss uns hier ein wenig beschäftigen, weil

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es das Schicksal der geplanten Oper entscheidend beeinflusste – auf ein altes Textbuch zurück, das er ursprünglich einmal für Jacques Halévy, den Komponisten von La Juive, geschrieben, dann aber Gaetano Donizetti überlassen hatte, der die Vertonung dieses Duc d’Albe 1840 unvollendet beiseitelegte. «Über die Abenteuer des Verstorbenen» liess Scribe Verdi «nicht im Unklaren», wie er seinem Mitarbeiter Charles Duveyrier schrieb. Als Matteo Salvi allerdings Jahrzehnte später Donizettis Fragment vervollständigte und 1882 auf die Bühne brachte, behauptete Verdi, Scribe habe ihm einen «Ladenhüter» untergeschoben – eine der vielen beschönigenden Korrekturen, die der Maestro an seiner Biografie vornahm, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen.

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Spektakuläre Tableaus und zerrissene Figuren

Verdis Änderungswünsche bewogen Scribe, den Ort der ursprünglich im 16. Jahrhundert spielenden Handlung aus den von den Spaniern unterdrückten Niederlanden nach Sizilien zu verlegen. Er verknüpfte dabei den Vater­SohnKonflikt zwischen dem französischen Gouverneur Guido de Monforte und seinem illegitimen Sohn Arrigo sowie die Liebeshandlung zwischen Elena und Arrigo, Verdis Wunsch gemäss und wie es einer Grand opéra Meyerbeerscher Prägung entsprach, mit dem dramatischen Tableau des sizilianischen Volksaufstands gegen die französische Fremdherrschaft im Jahre 1282. Dabei wusste Scribe geschickt an die beiden von Verdi bewunderten Erfolgsopern Meyerbeers anzuknüpfen: mit dem Hass der beiden Volksgruppen, der sich im abschliessenden Massaker entlädt, an die Hugenotten; mit der emotionalen Konfrontation zwischen Monforte und Arrigo an die Krönungsszene im Propheten.

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Scribes nicht sonderlich originelles Libretto entsprach durchaus Verdis Vorstellungen. Die Handlung enthielt mit dem halbstündigen Ballett (das in der Zürcher Aufführung gestrichen ist) im dritten Akt und dem Zusammenstoss von Franzosen und Sizilianern an allen Aktschlüssen genügend spektakuläre Tableaus, um den Bühnenapparat der Opéra in Bewegung zu setzen und die Zuschauer durch szenische Effekte zu überwältigen. Sie enthielt aber auch,

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worauf Verdi grössten Wert legte, von inneren Konflikten zerrissene Figuren, die sich ganz von ihren emotionalen Leidenschaften tragen lassen. Genau dieser Widerspruch, der sich auch durch Verdis Musik nicht schliessen liess und ein Werk aus einem Guss verhinderte, ist der Oper zum Verhängnis geworden. Von Anfang an überlagern in I vespri siciliani die intimen Gefühlsäusserungen des Vater­Sohn­Konfliktes und der Liebeshandlung den ohnehin recht beliebigen historischen Rahmen. Die gattungsspezifische Überblendung privater Konflikte zu geschichtlichen Ereignissen, wie Meyerbeer sie anhand der Auseinandersetzungen von Katholiken und Protestanten in Les Huguenots und Le prophète exemplarisch vorführt, fehlt. Verdis primäres Interesse galt der Wahrheit menschlicher Leidenschaften, nicht dem historischen Ideendrama, wie Meyerbeer es exemplarisch entfaltet. Nicht die Gross­, sondern die Kleinszenen mit der Darstellung intimer Emotionen stehen darum im Zentrum seiner musikalischen Dramaturgie. Die historische und geografische Lokalfarbe, auf die Meyerbeer so grossen Wert legte, besass für Verdi nur untergeordnete Bedeutung. Sein Ziel war ein anderes: den französischen mit dem italienischen Opernstil, die Grand opéra mit dem Melodramma zu verbinden – mit dem schmerzlichen Resultat, dass er, ungeachtet vieler Schönheiten im Einzelnen und der in seinem weiteren Schaffen nachwirkenden Neuerungen, weder der einen noch der anderen Form wirklich gerecht wurde. Sieg der Gefühle?

Dieser Riss betrifft vor allem Monforte und Procida, die beiden Widersacher des politischen Dramas. Verdis Musik zeichnet den französischen Gouverneur Monforte nicht als gewissenlosen Verbrecher, sondern als einsamen Machthaber, dessen Entschlüsse weniger von politischen Absichten als von familiären, ja geradezu sentimentalen Empfindungen geleitet sind. Verdis Musik chiffriert in Monfortes Romanze im dritten Akt sowohl in der weichen Kontur der Melodie als auch im zunehmend dichteren Instrumentalsatz die innere Leere des Herrschers, der sich die Liebe seines illegitimen Sohnes Arrigo erträumt. Monfortes Melancholie weist bereits auf den Genueser Dogen Simon Boccanegra und den

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spanischen König Philipp in Don Carlos voraus. Höhepunkt der Handlung der Vespri siciliani ist denn auch nicht der fünfte Akt mit dem sizilischen Aufstand, sondern die erst auf Verdis Wunsch ins Libretto gekommene Konfrontation Monfortes mit Arrigo im vierten Akt. Scribe gab sich alle Mühe, in der «sadistischen Machtprobe» (Anselm Gerhard), vor die Monforte Arrigo stellt, die szenische Konstellation des von Verdi bewunderten Prophète nachzuahmen.

Während dort Jean de Leyde bei seiner Krönung zum König von Münster seine Mutter Fidès vor versammeltem Volk verleugnet, zwingt hier Montfort seinen Sohn, ihn öffentlich als Vater anzuerkennen. Erst dann ist er bereit, die zum Tode verurteilten Verschwörer, an ihrer Spitze Procida und Arrigos Verlobte Elena, zu begnadigen. Während im Vordergrund die vier Protagonisten aufeinandertreffen, werden – im Hintergrund sichtbar – die Vorbereitungen zur Hinrichtung getroffen. Verdi hat das Tableau mit den von der Melodram­Ästhetik übernommenen pantomimischen Elementen zu einem finsteren Ritual ausgeweitet: Die Verschwörer werden zum Gesang des von Mönchen intonierten «De profundis clamavi» zum Schafott geschleppt; als Elena die letzten Stufen erreicht, bricht Henri in den Ruf «O padre! O padre!» aus – ein coup de théâtre von grosser Wirkung! «Diesen Sieg der Gefühle über politische Loyalitäten» erreicht Monforte, so Anselm Gerhard, «aber wiederum nur in Ausübung seiner politischen Macht, an deren Leere er so sehr leidet.»

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Noch weiter fasst Verdi das emotionale Spektrum von Elena, der eigentlichen Gegenspielerin Monfortes im Kampf um Arrigo. Gleich in der Introduktion tritt sie uns als kämpferische Heroine entgegen. Meisterhaft entwickelt Verdi hier mit wenigen charakteristischen Strichen musikalisch den Gegensatz zwischen den überheblichen Besatzern und der sizilischen Bevölkerung. Als Elena, in Trauer um ihren vor Jahresfrist von den Franzosen hingerichteten Bruder, aus der Kirche kommt, wird sie von dem betrunkenen Roberto mit roher Brutalität gezwungen, ein Lied zu singen. Zuerst fast unmerklich, dann umso wirkungsvoller lenkt sie dabei das allegorische Bild vom Schiff, das in Seenot gerät, ins politische Fahrwasser und ruft ihre Landsleute zum Aufruhr auf. Dass der Funke nicht hier schon Feuer fängt, ist nur dem plötzlichen Auftreten Monfortes zu verdanken. Scribe und Verdi haben sich bei dieser politischen Apotheose ganz offensichtlich von Eugène Delacroix’ berühmtem Ge­

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mälde Die Freiheit führt das Volk inspirieren lassen, auf dem sich eine junge Frau mit der Trikolore in der rechten und einem Gewehr in der linken Hand an die Spitze der Pariser Revolution vom Februar 1830 stellt. Das musikalisierte Bild mit seinen emotionalen Untertönen lässt das Pathos von Verdis Risorgimento­Opern wiederauferstehen. Die energische Cabaletta («Coraggio, su coraggio») zeigt uns eine Frau von stolzem, leicht entflammbarem Charakter, während der weitere Verlauf der Handlung die Ansicht, die wir von Elena aufgrund dieser Szene gewinnen, nicht bekräftigt. Im Gegenteil: Aus der kriegerischen Heroine wird zu Beginn des fünften Aktes die Braut, deren schwungvoller, vor Lebensfreude knisternder Bolero eigentlich eine ganz andere Stimme, die des soprano leggiero, erfordert.

Procida kennt keine Milde

Arrigo dagegen steht als Sohn eines Besatzers und einer Sizilianerin – wohl ein Vergewaltigungsopfer, das Libretto spricht von einer «geschändeten Frau» – zwischen den Fronten und trägt schwer an seiner Herkunft. Kaum zufällig ist er, gleichsam im «Tête­à­tête» (A. Gerhard) einer konsequenten Duett­Dramaturgie, an allen vier Duetten (je zwei mit Monforte und Elena) beteiligt und hat wenig Chancen, sich als eine eigenständige Figur zu profilieren. Verdi allerdings sah dies anders. Für ihn war Arrigos Romanze im vierten Akt, mit ihrem auch musikalisch im Schwanken zwischen den Tonarten e­Moll und E­Dur notierten Zwiespalt der Gefühle, die einzige von Leidenschaft erfüllte Nummer der ganzen Oper. Das führt auf eine weitere Leerstelle der Vespri: Es ist wohl die einzige Verdi­Oper, in der das erotische, das körperliche Begehren keine Rolle spielt. Liebesduette will man die beiden Begegnungen zwischen Elena und Arrigo kaum nennen. Jeder ist monologisch mehr mit sich selbst als mit dem Gegenüber beschäftigt. Das politische Feuer dämpft die sexuelle Leidenschaft. Das gilt erst recht für Procida, bei Scribe und Verdi der Hauptanstifter des Aufstands gegen die Franzosen, der am Ostermontag 1282 zur Vesperzeit in Palermo ausbrach und als Sizilianische Vesper in die Geschichte eingegangen ist. Seine formal konventionelle, wenn auch musikalisch eindrucksvolle Auftrittsarie zu Beginn

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des zweiten Aktes zeigt ihn als heimatliebenden Freiheitskämpfer. Anders als Elena, die ihren hingerichteten Bruder rächen will, treibt ihn kein persönliches Motiv an – eine Tatsache, die Verdi später bitter beklagte. Als ausschliesslich politische motivierte Figur steht Procida abseits inmitten eines von privaten Emotionen beherrschten Dramas: «Neben drei von inneren Konflikten zerrissenen Figuren kann ein Charakter nur irritieren, der eins mit seiner politischen Aufgabe ist und nicht die Brüche zwischen privater Neigung und offizieller Pflicht kennt.» (A. Gerhard) So ist er bei Verdi der unerbittliche Mahner, der mit des Basses Grundgewalt – am packendsten im Terzett, das der Katastrophe unmittelbar vorausgeht – keine Milde kennt und ungerührt das Massaker herbeiführt. Dass Scribe und Verdi Procida nicht in die Familienkonflikte eingebunden haben – bezeichnenderweise ist er als einziger der vier Protagonisten auch an keinem Duett beteiligt – weist auf eine entscheidende Schwäche der szenischen Dramaturgie hin. Verdi beschwerte sich in seinem Brief vom 3. Januar 1855 an Louis Crosnier, den Nachfolger Roqueplans als Direktor der Opéra, «dass Monsieur Scribe sich nicht die Mühe macht, diesen fünften Akt zu verbessern, den alle Welt einmütig für uninteressant hält». Am Ende des vierten Aktes sind mit der von Monforte angeordneten Hochzeit von Elena und Arrigo die privaten Verwicklungen gelöst, die politische Lösung musste der fünfte Akt bringen, der allerdings in der Vorlage des Duc d’Albe nicht existierte. Ungerechtfertigt war freilich der Vorwurf, Scribe sei nicht auf seine Wünsche eingegangen: Scribe hatte den Schlussakt genau nach den Vorstellungen und Vorschlägen des Komponisten entworfen. Gerechtfertigt allerdings war Verdis Unzufriedenheit mit dem Absacken der Spannung.

Die Handlung bleibt während der musikalischen Hochzeitsvorbereitungen stehen und kommt erst wieder in Bewegung, als Procida Elena mitteilt, dass die Hochzeitsglocken das Fanal für den Aufstand sind. Elena wagt nicht, Procidas Plan zu enthüllen, sucht aber nach einer Ausflucht, um Arrigos Leben zu retten, worauf sich dieser ebenso wie Procida verraten glaubt. Verdis Musik zieht aus den finsteren Momenten des sich anschliessenden Terzetts nochmals eine quälende Spannung – wenn das Ganze auch dramaturgisch eine matte Nachahmung der Einsegnungsszene aus Meyerbeers Hugenotten ist. Der lärmende, kaum eine halbe Minute dauernde Schlusschor allerdings vermag mit der Lösung, die

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Scribe und Meyerbeer dort gefunden haben, nicht zu konkurrieren. Die Solisten sind am Ende stimmlos und spielen überhaupt keine Rolle mehr. Auffällig ist immerhin, dass Verdi – der zuvor schon jeden Vers, der Italien verunglimpfte, aus Scribes ursprünglichen Textbuch entfernt hatte – Procidas letzte Worte unmittelbar zu Beginn des Massakers, die noch im gedruckten Libretto stehen, nicht komponiert hat. Elena stellt sich hier mit ihrer Bitte um «Gnade» schützend vor Monforte und Arrigo, aber Procida ruft, in der Manier eines Bravo, den gewaltbereiten Massen zu: «Frappez­les tous! que vous importe?/Français ou bien Siciliens,/Frappez toujours! Dieu choisira les siens!» (Bringt sie alle um! Was kümmert es euch? Franzosen oder Sizilianer, bringt sie alle um! Gott wird die Seinen auserwählen.) Verdi mag diesen letzten Wortaustausch zwischen Elena und Procida gestrichen haben, weil er immer den knappsten Ausdruck suchte und überflüssige Worte eliminierte. Hier allerdings könnte auch patriotische Rücksicht ihn geleitet haben: die Figur Procidas – und damit die Sache der sizilischen Freiheit – nicht durch Unmenschlichkeit zu diskreditieren.

Anders als bei Meyerbeer oder Halévy kommt es bei Verdi zu keiner dramaturgisch schlüssigen Widerspiegelung historischer Ereignisse in den emotionalen Konflikten der Figuren. Der historische Stoff war für Scribe in I vespri siciliani letzten Endes nur Manövriermasse: «derselbe Plot, dieselben Situationen, dieselben Charaktere», so seine laxe Begründung zum Ortswechsel des ursprünglich in den Niederlanden spielenden Duc d’Albe. Und weil eine Oper über die Sizilianische Vesper in Italien von der Zensur verboten worden wäre, musste der Duc d’Albe, um nochmals Scribe zu zitieren, «ein zweites Mal die Koffer packen und nach Lissabon weiterreisen», wo das Stück unter dem Titel Giovanna di Guzman im Jahr 1640 unter der spanischen Herrschaft spielt.

Couleur locale, eines der Markenzeichen einer Grand opéra – man denke an den Luther­Choral in Meyerbeers Hugenotten oder an die Gesänge der Wiedertäufer im Propheten –, sucht man unter diesen Umständen vergeblich in der Partitur der Vespri. Verdi gelingt es aber, wie bereits an der Introduktion demonstriert, Franzosen und Sizilianer musikalisch unterschiedlich zu charakterisieren. Besonders virtuos geschieht dies im Finale des zweiten Aktes. Anlässlich eines Tanzfestes sizilianischer Brautpaare stiftet Procida in provokativer Absicht französische Soldaten dazu an, die Bräute zu entführen. Beim Anblick einer

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Barke, die vornehm gekleidete Sizilianerinnen und Franzosen zum Ball Monfortes nach Palermo bringt, kochen die Sizilianer vor Wut. Mitten in den ausbrechenden Tumult hinein erklingt vom Schiff der unbegleitete BarkarolenGesang, dessen schwebende Eleganz Verdi dann zusammen mit dem Rachebegehren der Sizilianer unter einen einzigen musikalischen Satz fasst – ein in der französischen Oper seit den Hugenotten verbreiteter Kunstgriff, der hier erstmals von einem italienischen Komponisten benutzt wird. Bewundernswert ist dabei, wie Verdi – anders als in den eher unpersönlichen und ganz auf den Effekt setzenden Schlusssteigerungen am Ende des dritten und vierten Aktes – die dramatische Wirkung nicht durch Massierung der musikalischen Mittel, sondern durch eine extreme Ökonomie des Satzes erzwingt.

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Das Todesmotiv als unheimliches Vorausecho

Der Einfluss der französischen Musik bedeutet nicht nur gegenüber den Risorgimento­Opern der 1840er Jahre, sondern auch gegenüber der vorangegangenen trilogia popolare Rigoletto (1851), Il trovatore (1853) und La traviata (1853) einen stilistischen Fortschritt. Imposante Tableaus, grandiose spektakuläre Szenen wie die dramatische Zuspitzung der Handlung am Ende des vierten Aktes, die Beteiligung von Chor und Ballett, nicht zuletzt die farbenreichere Instrumentation bezeugen, wie intensiv, ja geradezu experimentierfreudig Verdi sich mit der französischen Oper auseinandergesetzt hat. Die Befreiung von den italienischen Standardformen durch die Wahl französischer Modelle kommt vor allem seiner Melodik zugute – ein Paradigmenwechsel, der sich allerdings schon in den französischen Stoffen von Rigoletto und Traviata andeutet. Der melodische Stil in den Vespri lebt von der Prosodie des französischen Verses, die weniger rigide normiert ist als die italienische. Ihre Vielfalt und Irregularität macht die Melodik lebendiger – eine Entwicklung, die Verdi zwölf Jahre später in dem ebenfalls für die Pariser Opéra entstandenen Don Carlos wiederaufgreift und die schliesslich in der Fusion von Melodramma und Grand opéra, von italienischer und französischer Opernform, in Aida kulminiert.

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Der Gefahr, dass die Partitur in ein musikalisches Patchwork, ein Mosaik zerfällt, begegnet Verdi, indem er auch für die Vespri eine einheitliche Klangfarbe, die «tinta musicale» sucht. Er findet sie (nicht nur, aber doch massgeblich) in der Chiffre des Todesmotivs, mit dem gleich die Ouvertüre anhebt: zwei auftaktige Zweiunddreissigstel, die einem Viertel (oder auch Achtel) vorausgehen. Allein in der Ouvertüre begegnet uns diese in Verdis Œuvre omnipräsente Klangchiffre für den Tod nicht weniger als 39­mal. Sie bestimmt auch im weiteren Verlauf das Klangbild der Oper – wie der einleitende Paukenwirbel im Trovatore oder die bis in die höchste Lage entrückten Streicher im Vorspiel zur Traviata ist sie ein unheimliches Vorausecho des Endes. In den Vespri nimmt die Chiffre aber auch politische Bedeutung an: Das Todesmotiv wird zum Motiv des Aufstands, ja bricht sogar in die Melodik ein, wenn sich Elena in ihrem Aufruf zum Widerstand gegen die Besatzer gleich im ersten Akt («Coraggio, su coraggio») genau dieser Formel bedient.

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Die Uraufführung des französischen Originals von Les Vêpres siciliennes am 13. Juni 1855 wurde enthusiastisch aufgenommen. Dennoch verschwand das Werk nach nur 62 Aufführungen im Lauf von zehn Jahren vom Spielplan der Pariser Opéra. Die italienische Premiere der aus Zensurgründen unter dem Titel Giovanna di Guzman ins portugiesische 17. Jahrhundert verlegten Handlung fand am 26. Dezember 1855 in Parma statt. Andernorts kam es als Giovanni di Sicilia und Batilde di Turenna zu weiteren Titel­Modifikationen. Erst nach der Einigung Italiens 1861 konnte die Oper dort unter dem heute geläufigen Titel I vespri siciliani aufgeführt werden. Ihr italienischer Text von Arnaldo Fusinato ist, wie auch im Falle aller Versionen des späteren Don Carlo, eine blosse Übersetzung, mit der Verdi sehr unzufrieden war und die mit seiner Komposition nicht das Geringste zu tun hat. Das heute eher selten gespielte und in der französischen Originalfassung so gut wie unbekannte Werk ist wichtig für die Entwicklung von Verdis Individualstil. Verdis Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Grand opéra, mag er auch am Ausgleich von Passion und Politik gescheitert sein, hat seine beiden nächsten Opern Simon Boccanegra und Un ballo in maschera entscheidend geprägt.

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Vendetta! A morte! Al terror!

Die ursprüngliche Idee des Nationalismus trug von Beginn an den Keim der Zerstörung in sich. Nationalismus bedarf heute keiner neuen Deutung, um ihn in die Zukunft zu retten, sondern eines ungeschönten Rückblicks auf die traumatischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Denn diese Ideologie war und ist vom Krieg nicht zu trennen. Nationalismus taugt nicht als Heilmittel, höchstens als Droge. Die nationalistische Ideologie radikalisierte sich im 20. Jahrhundert massiv, Nationalismus und Krieg gingen eine unzertrennliche Verbindung ein, die Forderungen nach gesellschaftlicher, religiöser und ethnischer Homogenität gipfelten in gigantischen Verbrechen. Mit Massenvertreibungen, Bevölkerungsaustausch und Völkermord wurde der Nationalismus zur tödlichsten Ideologie der Weltgeschichte.

I VESPRI SICILIANI

GIUSEPPE VERDI (1813-1901)

Drama in fünf Akten

Libretto von Eugène Scribe und Charles Duveyrier, italienische Übersetzung von Arnaldo Fusinato

Uraufführung: 13. Juni 1855, Opéra, Salle de la rue Le Peletier, Paris

Personen

Guido di Monforte Bariton

Il Sire di Bethune Bass

Il Conte Vaudemont Bass

Arrigo Tenor

Giovanni da Procida Bass

La Duchessa Elena Sopran

Ninetta Mezzosopran

Danieli Tenor

Manfredo Tenor

Tebaldo Tenor

Roberto Bass

Chor

Sizilianer und Sizilianerinnen, französische Soldaten

Palermo und Umgebung, Ostern 1282, zur Zeit der Besetzung Siziliens durch Frankreich

ATTO PRIMO

Il teatro rappresenta la gran Piazza di Palermo.

In fondo alcune strade ed i principali edifizi della città.

A destra dello spettatore il palazzo di Elena.

A sinistra l’ingresso ad una caserma con fasci d’armi.

Dallo stesso lato il palazzo del governatore, a cui si sale per una gradinata.

Tebaldo e Roberto con parecchi soldati francesi hanno recato una tavola dinanzi la porta della caserma, vi siedono intorno e bevono. Siciliani e Siciliane attraversano la piazza, formano de’ gruppi qua e là, guardano biecamente i soldati francesi.

INTRODUZIONE-CORO

ROBERTO, TEBALDO, CORO DI FRANCESI

A te, ciel natio,

Con dolce desio

Torni il mio pensier…

Tra i canti e i bicchier.

Con fronde d’alloro, col vino e coll’oro

Del pro’ vincitor

Premiate il valor.

SICILIANI

Con empio desio

Al suolo natio

Insultan gl’iniqui

Fra i canti e i bicchier.

Giorno di vendetta, Men lento t’affretta, Desta il valor

Ai vinti nel cor.

TEBALDO alzando il bicchiere Evviva, evviva il grande capitano!

ROBERTO

Di Francia orgoglio e primo per valor!

TEBALDO

E fulmine di guerra…

ROBERTO

Mai non fere invano, Ed è de’ suoi l’amor!

ERSTER AKT

Die grosse Piazza von Palermo. Im Hintergrund einige Strassen und die wichtigsten Bauten der Stadt. Zur rechten Seite des Zuschauers der Palast Elenas. Links der Eingang zu einer Kaserne, davor einige Waffenbündel. Auf derselben Seite der Gouverneurspalast, zu dem eine Freitreppe hinaufführt.

Tebaldo, Roberto und eine Schar französischer Soldaten sitzen um einen Tisch vor dem Kasernentor und trinken.

Sizilianische Männer und Frauen gehen über den Platz, bilden Gruppen und sehen die französischen Soldaten mit scheelen Blicken an.

EINLEITUNGSCHOR

ROBERTO, TEBALDO, CHOR DER FRANZOSEN

Zu dir, Heimathimmel, lass ich mit süsser Sehnsucht die Gedanken schweifen… bei Wein und Gesang. Mit Lorbeerzweigen, mit Wein und mit Gold sollt ihr den Mut des kühnen Siegers lohnen.

SIZILIANER

Mit ihrer frevlerischen Gier beleidigen die Schurken unser Vaterland bei Wein und Gesang. O Tag der Rache, komm endlich herbei, wecke den Mut in den Herzen der Besiegten.

TEBALDO sein Glas erhebend Ein Hoch auf unseren grossen Hauptmann!

ROBERTO

Frankreichs Stolz und sein mutigster Held!

TEBALDO

Wie ein Blitz ist er im Krieg…

ROBERTO

Nie verfehlt er den Gegner, und seine Soldaten lieben ihn!

Il Sire di Bethune e il conte di Vaudemont escono

dalla caserma.

barcollando alquanto e indirizzandosi a Bethune Così di queste mura

Che chiamano Palermo,

Lo disse il general!… mio duce, è ver? Noi siam signori!

BETHUNE ridendo

Ah!… ah!… il tuo piè vacilla. Amico, ebbro tu sei!

ROBERTO

Ebbro son io d’amore! Ah! mi piace ogni beltà.

BETHUNE sempre sorridendo

È il Siciliano Geloso, e fier delle sue donne il core!

ROBERTO sempre barcollando

Ah no… Non v’ha cor che non ceda D’un cimiero alla vista! a Tebaldo Vedrai!…

Sire Bethune und Graf von Vaudemont treten aus der Kaserne.

Roberto schwankend, zu Bethune

So sind wir also über diese Mauern, die Palermo gennant werden…

So sagte es der General – nicht wahr, Herr Offizier? – …die Herren!

BETHUNE lachend

Na, na!… Du taumelst ja!

Du bist betrunken, mein Freund!

ROBERTO

Ich bin betrunken vor Liebe!

Ach, ich liebe alle schönen Frauen.

BETHUNE immer noch lachend

Die Sizilianer sind eifersüchtig und stolz auf das Herz ihrer Frauen!

ROBERTO immer noch schwankend

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Nicht doch… Kein Herz vermag dem Anblick eines Helmes zu widerstehen! zu Tebaldo Du wirst schon sehen!…

TEBALDO

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Ma i lor consorti?

ROBERTO

Vincitor generoso M’avran donna gentile e facil sposo.

TEBALDO Und ihre Männer?

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CORO DI FRANCESI

Con fronde d’alloro, ecc.

CORO DI SICILIANI

O vendetta, giorno di vendetta, ecc.

SCENA E CAVATINA CON CORI

Elena

La Duchessa Elena vestita a lutto, appoggiandosi al braccio di Ninetta, e seguita da Danieli, attraversa la piazza venendo da sinistra e dirigendosi verso il proprio palazzo; ha un libro di preci tra le mani. È salutata con rispetto dai Siciliani, coi quali famigliarmente si trattiene in colloquio.

ROBERTO

Für schöne Frauen und gefügige Gatten will ich ein grossmütiger Sieger sein.

CHOR DER FRANZOSEN

Mit Lorbeerzweigen, etc.

CHOR DER SIZILIANER

O Rache, Tag der Rache, etc.

SZENE UND KAVATINE MIT CHOR

Elena

Herzogin Elena in Trauerkleidung von links. Sie überquert auf Ninettas Arm gestützt und gefolgt von Danieli den Platz und geht auf ihren Palast zu. Sie hält ein Gebetbuch in der Hand und unterhält sich vertraulich mit den Sizilianern, die sie ehrfurchtsvoll grüssen.

Programmheft

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I VESPRI SICILIANI

Drama in fünf Akten von Giuseppe Verdi (1813-1901)

Premiere am 9. Juni 2024, Spielzeit 2023/24

Herausgeber Opernhaus Zürich

Intendanz Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch

oder am Vorstellungsabend

Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG

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Textnachweise:

Die Handlung schrieb Beate Breidenbach. Das Interview mit Calixto Bieito ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. Luigi Zoja, Kollektive Kriegsgewalt gegen Frauen, in: ders., Männlichkeit und kollektive Gewalt vom Mythos bis zur Gegenwart, Giessen 2018. Titius Livius, Der Raub der Sabinerinnen, in: ders., Römische Geschichte, Stuttgart 1827-1835. Tarantella, Tanz und Hysterie, nach Encyklopädie der Musik-Wissenschaft 1840, Musik-Lexikon 1882 und Wikipedia. Männer und Frauen sind miteinander im Krieg, Auszug aus dem Interview mit Monika Hauser für das Magazin des Opernhauses Zürich, Mai 2024. Uwe Schweikert, Passion und Politik. Giuseppe Verdis «I vespri

siciliani», Erstdruck im Programmbuch der Nederlandse Opera Amsterdam zur Premiere von «Les Vêpres siciliennes» am 10. September 2010. Vom Autor durchgesehene und ergänzte deutsche Originalfassung. Michael Thumann, Der neue Nationalismus. Die Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie, Berlin 2020.

Bildnachweise: Herwig Prammer fotografierte die Klavierhauptprobe am 30. Mai 2024.

Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

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