DIE WALKÜRE
RICHARD WAGNER (1813-1883)Erster Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» Dichtung vom Komponisten
Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich
HANDLUNG
Die Vorgeschichte
Wotan hat der Welt eine auf Verträgen basierende Ordnung gegeben und sich so zu ihrem obersten Herrscher gemacht. Von den Riesen Fasolt und Fafner liess er sich eine prachtvolle Burg bauen, die er mit einem dem Nibelungen Alberich entwendeten Goldschatz bezahlte. Aber er stahl Alberich nicht nur den Schatz, sondern auch den aus dem Rheingold geschmiedeten Ring, der seinem Besitzer masslose Macht verleiht. Von der Urmutter Erda eindringlich gewarnt, war er schliesslich bereit, den Ring den Riesen zu überlassen. Im Streit um das verhängnisvolle Kleinod erschlug Fafner seinen Bruder Fasolt.
Die Götter zogen in die neue Burg ein und alle Probleme schienen gelöst, aber Wotan weiss: Solange der Ring in der Welt ist, besteht die Gefahr, dass Alberich ihn wiedergewinnt und die Weltherrschaft antritt. Wotan muss also eine Möglichkeit finden, selbst in den Besitz des Ringes zu kommen.
Erster Aufzug
Auf der Flucht vor Verfolgern gelangt ein erschöpfter und verwundeter Mann in ein fremdes Haus und wird von der Frau des Hauses bewirtet. Ihr Gatte Hunding kommt zurück und wird sofort misstrauisch, als er eine seltsame Ähn lichkeit und Sympathie zwischen den beiden bemerkt.
Befragt nach seiner Herkunft erzählt der Fremde die Geschichte seines glücklosen Lebens als Geächteter und Gejagter. Früh habe er seine Mutter verloren und sei von seiner Zwillingsschwester getrennt worden. Zuletzt habe er eine junge Frau vor der Verheiratung an einen ungeliebten Mann retten wollen und deren Brüder im Kampf erschlagen. Durch seine Erzählung wird allen klar, dass es Hunding selbst ist, vor dessen Sippe sein Gast auf der Flucht ist.
Hunding fordert den Waffenlosen für den nächsten Morgen zum Zweikampf, sichert ihm jedoch Gastrecht für die Nacht zu, bevor er sich mit seiner Frau zurückzieht. Allein geblieben, beschwört der verzweifelte Fremde seinen ver schwundenen Vater, der ihm für eine solche Notlage einst ein besonderes Schwert verheissen hatte.
Die Frau, die ihrem Mann einen starken Schlaftrunk verabreicht hat, kehrt zurück und berichtet ihre Geschichte: Während der Feier, bei der sie gegen ihren Willen mit Hunding verheiratet wurde, erschien ein geheimnisvoller Un bekannter, der die Gäste in Schrecken versetzte. Er stiess ein Schwert in den gewaltigen Eschen Stamm in der Mitte des Hauses und erklärte, es solle dem gehören, der es herausziehen könne. Dies sei aber bislang noch niemandem gelungen.
Beide verstehen, dass der unbekannte Fremde niemand anderes sein kann als ihr gemeinsamer Vater und erkennen sich gegenseitig als das früh getrennte Zwillingspaar Sieglinde und Siegmund. Sie gestehen einander ihre Liebe, und es gelingt Siegmund, das Schwert aus dem Stamm zu ziehen. Das junge Liebespaar flieht aus Hundings Haus.
Zweiter Aufzug
Der Göttervater Wotan befiehlt seiner Lieblingstochter, der Walküre Brünnhilde, Siegmund im bevorstehenden Kampf mit Hunding zum Sieg zu verhelfen.
Doch seine Gattin Fricka, die Hüterin der Ehegesetze, fordert Siegmunds Tod als Sühne für die Verbrechen des Inzests und des Ehebruchs. Sie wirft ihm vor, das Zwillingspaar selbst ehebrecherisch mit einer Menschenfrau gezeugt und gegen jegliche Ordnung aufgewiegelt zu haben.
Wotan begründet sein Handeln mit der Notwendigkeit, in Siegmund einen Helden zu erschaffen, der als freier Mensch in der Lage ist, in Wotans Sinne Dinge zu tun, die ihm selbst als Gott, der an Verträge gebunden ist, verwehrt sind. Fricka entlarvt den Widerspruch in Wotans Plan: Als oberster Hüter der Welt würde er seine eigene Existenz untergraben, wenn er Siegmund in seinem Auftrag gegen seine göttlichen Gesetze handeln liesse.
Wotan sieht sich gezwungen, Brünnhildes Auftrag zu widerrufen und ihr Sieg munds Niederlage zu befehlen. Um ihr begreiflich zu machen, warum sie seinen Lieblingssohn töten muss, erzählt er ihr vom Bau Walhalls und von seinem gescheiterten Versuch, Alberichs Ring an sich zu bringen: Er selbst kann Fafner den Ring nicht wegnehmen, weil das ein Vertragsbruch wäre und den Bestand seines Herrschaftssystem gefährden würde. Also sollte Siegmund, den er gezeugt und zum Rebellen erzogen hat, Fafner töten und dem Gott den Ring aushändigen. Fricka hat ihrem Gatten aber klargemacht, dass dieser Plan auf einer Selbst täuschung beruhte.
Brünnhilde kündigt Siegmund den Tod an und verspricht ihm, ihn nach Walhall zu geleiten, wo er seinen Vater wiedersehen wird. Doch Siegmund verweigert ihr die Gefolgschaft, weil er Sieglinde zurücklassen müsste. Brünn hilde wird von diesem Beweis der menschlicher Liebe so stark erschüttert, dass sie beschliesst, Siegmund gegen Wotans Befehl im Kampf zu schützen.
Wotan greift in den Kampf ein und zerstört das Schwert, das er Siegmund selbst verschafft hat. Siegmund fällt, Brünnhilde rafft die Bruchstücke des Schwerts zusammen und flieht mit Sieglinde.
Dritter Aufzug
Die Walküren gehen ihrer gewöhnlichen Beschäftigung nach: Sie sammeln im Kampf gefallene Helden, um sie nach Walhall zu bringen, wo sie in das Heer eingereiht werden, das Wotan aufstellt, um sich gegen die Truppen Alberichs ver teidigen zu können. Als letzte der Walküren stürzt Brünnhilde auf der Flucht vor Wotan herbei und bittet ihre Schwestern um Schutz für Sieglinde. Da keine wagt, sich gegen den Vater zu erheben, beschliesst sie, sich allein Wotans Zorn zu stellen und so Sieglindes Flucht zu decken. Sie überreicht ihr die Trümmer des Schwerts und gibt dem Kind, das Sieglinde gebären wird, den Namen Siegfried.
Rasend vor Zorn kündigt Wotan seiner Tochter die Strafe für ihren Unge horsam an: Sie wird ihrer göttlichen Eigenschaften entkleidet und auf dem Walkürenfelsen in Schlaf versenkt, bis ein Mann sie zufällig findet und die Schutz lose zur Frau nimmt.
Obwohl Brünnhilde Wotan klarmachen kann, nichts anderes als dessen eigentlichen Willen ausgeführt zu haben, muss sie erkennen, dass Wotan als Hüter der Gesetze keine andere Wahl bleibt, als die Strafe zu vollstrecken, selbst wenn er als ihr Vater daran zerbricht.
Aber Brünnhilde findet eine Möglichkeit, die Strafe zu mildern, ohne dass Wotan den Gesetzen seiner Welt zuwiderzuhandeln muss: Er umgibt Brünnhildes Felsen mit einem Ring aus Feuer, den nur der furchtlos freieste Held durchschreiten kann. Beide wissen, was beide nicht aussprechen: Dieser Held wird Siegfried sein.
WOTANS
REBELLISCHE TOCHTER
Regisseur Andreas Homoki im Gespräch über seine Inszenierungskonzeption
Die Walküre ist die einzige Wagner-Oper, die allein den Namen einer Frauenfigur im Titel führt. Kann man daraus den Hinweis auf eine Besonderheit dieses Stücks entnehmen?
Eigentlich ist das nur folgerichtig, denn es ist üblich, ein Stück nach der zentralen Figur zu benennen. Und das ist in diesem Falle Brünnhilde, Wotans Tochter und erste der Walküren, deren Entwicklung und deren Handeln entscheidende Auswirkungen für den ganzen weiteren Verlauf der Tetralogie haben. Andererseits geht man aber nicht fehl, wenn man diesen Titel als Hinweis darauf nimmt, dass es sich um ein Werk handelt, bei dem Frauen eine besonders wichtige Rolle spielen.
Bevor wir weiter ins Detail gehen: Was ist eine Walküre? Die Walküren sind Töchter Wotans, die den Auftrag haben, im Kampf gefallene Helden, wenn er sie für würdig befindet, nach Walhall zu bringen. Ausser Brünnhilde gibt es noch acht weitere Walküren, so dass der Besetzungszettel des Stücks nicht weniger als elf namentlich genannte Frauenfiguren aufführt. Das ist bei Wagner der absolute Rekord. Aber auch wenn wir Brünnhildes Schwestern, die eine kaum individualisierte Gruppe bilden, beiseitelassen, bleiben immer noch drei grosse und sehr differenzierte Frauenfiguren, die dieses Stück prägen und zu etwas Besonderem in Wagners Werk machen. Freilich muss man auch sagen, dass Wagners Werk voll ist von grossen, selbstbewusst und selbstbestimmt handelnden Frauenfiguren. Es ist um so bemekenswerter, dass er immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt des Interesses rückt, als sich seine Stoffe fast durchgehend vor dem Hintergrund brutal patriarchalischer Verhältnisse entfalten.
Einer weit verbreiteten Auffassung nach propagieren Wagners Werke ein reaktionäres, dem 19. Jahrhundert verhaftetes Frauenbild… ja, so etwas hört man oft. Aber wenn ich mir seine Werke anschaue, kann ich nichts finden, was diese Meinung rechtfertigt. Selbstverständlich denkt Wagner wie und als ein Mensch das 19. Jahrhunderts. Es wäre ja auch absurd, etwas anderes zu erwarten. Aber auch in diesem Punkt ist er der Umstürzler geblieben, der seinerzeit in Dresden für eine bessere Welt buchstäblich auf die Barrikaden gegangen ist: Mit seinen Frauenfiguren geht er weit über das hinaus, was zu seiner Zeit der allgemeine Konsens war. Man muss nur irgendeine seiner Gestalten neben das Ideal der Weiblichkeit halten, wie es in der seinerzeit populären Trivialliteratur ausgedrückt ist, um das sofort zu sehen. Statt die Bescheidung mit einem Leben zwischen Kindern, Küche und Kirche zu feiern, erfindet Wagner Gestalten, die sich dem Zwang widersetzen…
… woran sie aber so gut wie immer tragisch scheitern…
… was aber ihre Position nicht entwertet. In allen grossen Tragödien seit der Antike scheitern zuletzt die Helden, aber das zeigt, dass die Verhältnisse un menschliche sind, dass also die Welt anders eingerichtet werden muss. Wagner will sich nicht mit diesen Verhältnissen abfinden. Und die Frauen in seinen Werken tun es auch nicht.
Gilt das für alle drei grossen Frauenrollen dieses Stücks? Auch für Fricka? Unbedingt. Wotans Gattin begegnet uns als eine kluge und selbstbewusste Frau, die sich von ihrem Mann nichts gefallen lässt. Zwar kann sie nicht verhindern, dass er sie fortwährend mit anderen Frauen betrügt, auch hat sie die Hoffnung, ihn wieder für sich zu gewinnen, die sie noch hegte, als Walhall geplant und errichtet wurde, inzwischen ganz aufgegeben. Aber sie nimmt die ihr damit zugewiesene untergeordnete Rolle nicht an und tut, was sie kann, um sich gegen den übermächtigen Hausvater zu behaupten. Das kann sie, weil sie Wotan, wie man in der grossen Auseinandersetzung im zweiten Akt sieht, intellektuell mehr als ebenbürtig ist.
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Worum dreht sich diese Auseinandersetzung? Wotan hat den Riesen, die ihm die Burg gebaut haben, den Ring, den er Alberich geraubt hat, zur Bezahlung überlassen müssen. Er weiss aber, dass dieses Schmuckstück, das dem Besitzer masslose Macht verleiht, sehr gefährlich werden kann. Von Fafner, der den Ring im Moment besitzt, geht keine Gefahr aus, denn dem genügt es, als Riesenwurm auf dem Goldschatz, zu dem der Ring gehört, zu liegen. Aber wenn Alberich den Ring zurückerhält, sind die Götter und die ganze Welt in grösster Gefahr. Nun kann Wotan den Ring nicht einfach stehlen, weil er durch einen Vertrag an Fafner gekommen ist, den Wotan nicht brechen kann, weil seine Weltordnung auf Verträgen beruht. Darum kommt er auf den Gedanken, Siegmund zu zeugen, den er zum Anarchisten und Verächter aller Regeln und Ordnungen erzieht, damit dieser aus eigenem Antrieb Fafner tötet und den Ring seinem Vater übergibt. Fricka, der er diesen Plan – übrigens auf unverschämt herab lassende Art – offengelegt hat, entdeckt sofort den wunden Punkt, den Wotan bis dahin erfolgreich verdrängt hat: Wenn er Siegmund schützt, ihn zum Kampf gegen Fafner reizt und ihm ausserdem noch die dazu nötige Waffe verschafft, ist es so gut, wie wenn er Fafner gleich selbst tötet und den Ring raubt. Wotan muss einsehen, dass sie recht hat, und seinen Plan aufgeben.
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Warum tut sie das? Was hat sie gegen Siegmund? Sie ist eine Politikerin, die tut, was ihre Aufgabe ist. Sie ist für die Einhaltung der Ehe Gesetze verantwortlich, die einen wesentlichen Bereich des menschlichen Zusammenlebens regeln. Wotan nimmt sich das Recht heraus, Sympathien für die Menschen zu haben, vor allem für die Rebellen, die gegen die unmenschliche und liebelose Ordnung aufbegehren. Fricka kennt nur ihre Gesetze. Und setzt sie mitleidlos aber übrigens nicht ungerecht durch. Nach diesen Gesetzen hat Siegmund zwei Verbrechen begangen, die nur durch den Tod gesühnt werden können: Ehebruch und Inzest. Wotan versucht ihr zu widersprechen, indem er auf die Macht der Liebe verweist: Eine Ehe, die ohne Liebe geschlossen wird, erachtet er nicht für bindend, und die Liebe, die zwei Menschen füreinander empfinden, hält er immer für schützenswert, egal, unter welchen Umständen. Für Fricka ist das ganz
inakzeptabel. Ihr einziges Interesse ist, die bestehende Ordnung zu erhalten, und dabei haben solche «Sentimentalitäten» keinen Platz. Wotan hingegen ist in einem Widerspruch gefangen. Einerseits ist auch er an der Erhaltung der Ordnung interessiert, andererseits will (und kann) er die Liebe nicht aufgeben, die sie fortwährend unterminiert. An diesem Punkt hakt Fricka ein und setzt sich schliesslich durch.
Warum hat Fricka eigentlich keine Kinder?
Im System des Stücks, das vom unauflösbaren Widerspruch von Liebe und Macht ausgeht, gehört die Ehe, die durch einen Schwur besiegelt und durch ein Gesetz gesichert wird, zur Seite der Macht. (In Hundings Haus sieht man, dass sie ein Gefängnis sein kann.) Die Macht aber ist unfruchtbar. Darum gehen aus der liebelosen Ehe Frickas und Wotans keine Kinder hervor, wohl aber aus der gesetzwidrigen, freien Liebe Siegmunds und Sieglindes.
Lässt sich Frickas Verhalten nicht auch aus dem Schmerz über ihre un glückliche Ehe, die ihr die Mutterschaft verwehrt, erklären? Für die psychologische Deutung der Figur spielt das eine wesentliche Rolle. Das sind zwei Erklärungen ihres Handelns, die sich keineswegs ausschliessen. Es sind zwei Ebenen der Figur, die zusammengehören und von Wagner, der sich gerade in solchen Punkten als genialer Dramatiker erweist, sehr fein aufeinander abgestimmt sind. Eine rein psychologische Erklärung würde darauf hinauslaufen, dass die Welt in Ordnung wäre, wenn Wotan freundlicher oder Fricka weniger anspruchsvoll wäre. Die rein politische würde Fricka zu einem herzlosen Monster machen. Erst beide gemeinsam erhellen die Figur so, dass sowohl ihre Grösse als auch ihre Tragik hervortreten.
Sieglinde verhält sich zu ihrem Ehemann ganz anders. Sie erduldet stumm das Leben neben Hunding und hofft auf den Helden, der sie von ihrem Schicksal erlöst. Das ist doch ziemlich nahe an dem Frauenbild, das wir in der biedermeierlichen Kitschliteratur finden, oder? Nur bei oberflächlicher Betrachtung. Schon der zweite Blick zeigt: Sie hat gar keine Wahl. In der Welt, die das Stück zeigt, kann sie schliesslich nicht einfach
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fliehen. Eine Frau, die ohne männlichen Beistand durch die Welt läuft, würde kaum lange überleben. Sie muss ihr Schicksal also dulden, aber sie akzeptiert das nicht als normal. Auch sie ist Wotans Kind und ist von ihm zur Aufrühre rin erzogen worden. Sowie sie in Siegmund den erkennt, mit dem sie dem unerträglichen Leben entkommen kann, handelt sie entschlossen, unterstützt ihn und kämpft mit ihm gemeinsam für ihre Liebe. Siegmund seinerseits kann ihr Befreier werden, weil er als geborener Rebell dieses Frauenschicksal nicht als normal akzeptiert und alle Regeln, die er als unmenschlich erkannt hat, über den Haufen wirft. Am Rande sei vermerkt, dass Hunding kein Bösewicht ist, der seinen Spass daran hat, Frauen zu demütigen. Er ist ein Ehrenmann, der sich genauso verhält, wie es in seiner Welt normal ist. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, das zu hinterfragen, und das trifft mit Sicherheit auch für alle anderen Männer und die meisten Frauen in seiner Umgebung zu. Der Gedanke, dass es zwischen Ehepartnern so etwas wie Liebe geben könnte, ist ihm sicherlich vollkommen fremd. Darum wendet er sich nach der Entdeckung des Ehebruchs an Fricka, die Hüterin des Gesetzes, statt dass er versucht, seine Frau durch ein liebevolleres Verhalten zurückzugewinnen.
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Siegmund scheint hingegen das Ideal von einem Mann zu sein. Das ist in Wagners Werk eine singuläre Figur: ein Mann, der ohne Einschränkung als Sympathieträger konzipiert ist, dessen Aufrichtigkeit, Liebes fähigkeit, Zärtlichkeit und Stärke durch keinen Widerspruch getrübt ist. Das ist möglich, weil er ausserhalb der Zivilisation, fern ihrer negativen Einflüsse aufgewachsen und von Wotan erzogen worden ist, der ihm seine besten Eigenschaften und Überzeugungen mitgegeben hat.
Aber er ist doch ein Killer … Das sind in dieser Welt alle Männer. Und wir erfahren auch, wer daran schuld ist: Wotan selbst, der die Männer zum allgemeinen Krieg aller gegen alle aufgehetzt hat, um sich die Soldaten für seinen Krieg gegen Alberich zu verschaffen. Nichtsdestoweniger hat sich Siegmund die Liebesfähigkeit, die er von Wotan geerbt hat, bewahrt. Er ist in dieser Welt, die wir uns wohl von lauter Hundingen bevölkert denken müssen, der einzige Mann, der in der Lage
ist, menschlich mit einer Frau umzugehen, und also eine utopische Gestalt. Und weil zwischen ihm und Sieglinde Liebe waltet, ist ihre Beziehung auch nicht unfruchtbar.
Im zeitlichen Mittelpunkt des Stücks steht die grosse Szene zwischen Wotan und Brünnhilde, in der er das bisherige Geschehen in einer langen Er zählung zusammenfasst und seine Situation beschreibt. Diese langen Passagen sind einigermassen berüchtigt. Eduard Hanslick bemerkte in seiner galligen Art, sobald auch nur die Spitze von Wotans Speer aus der Kulisse auftauche, sei eine halbe Stunde nachdrücklichster Lange weile garantiert. Damit dürfte er vielen Zuschauern aus dem Herzen gesprochen haben, die sich über die langen Passagen beklagen, die alles aufhalten und rekapitulieren, was man schon weiss, wenn man die bisherige Handlung verfolgt hat. Wie kann man die «edle Langeweile» vermeiden, die daraus so oft resultiert? Ich muss gestehen, dass ich das Problem gar nicht sehe. Zumindest in diesem Stück gibt es ja nur eine einzige lange Erzählung, und die bringt sehr viele Informationen, die dem Zuschauer neu sind. Noch wichtiger ist aber, dass es hier nicht einfach um eine Information für den Zuschauer geht, damit der auf den neuesten Stand gebracht wird. Es handelt sich vielmehr um einen Dialog zwischen Wotan und Brünnhilde, auch wenn sie verbal nur wenig bei trägt. Um so wichtiger ist es aber, auf der Bühne deutlich sichtbar zu machen, wie ihr Schweigen, ihr Zuhören, ihre Gesten Wotans Erzählen beeinflussen. Wenn man die Partitur genau studiert, sieht man, dass Wagner grosse Mühe darauf verwendet hat, in jedem Moment hör und sichtbar zu machen, wie sich die Interaktion der beiden Figuren entfaltet. Dadurch ist eine Szene entstanden, die sehr ergreifend ist, weil sie die gesamte Problematik des Stücks im Dialog der beiden Hauptgestalten zusammenfasst. Ich muss sagen, dass ich das früher auch nicht so wahrgenommen habe, aber in der Inszenierungs arbeit sehe ich immer mehr, wie viel theatralisches Potenzial in dieser Szene vorhanden ist, die allzu oft so statisch und praktisch ohne Beziehung zwischen den beiden Protagonisten abläuft.
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Ein anderer Dramatiker hätte Wotan vielleicht einen Monolog gegeben … Das wäre für Wagner undenkbar gewesen. Sein Theater basiert immer auf dem Dialog, auch dann, wenn die Szene von einer Figur so stark dominiert wird wie hier. Aber es ist für das ganze Stück von zentraler Bedeutung, dass Wotan sich seiner Tochter ganz anvertraut und also in gewisser Weise auch ausliefert. Erst so wird verständlich, dass sein scheinbar so liebeloses Verhalten seinen Kindern gegenüber erzwungen ist, und erst so wird sein gewaltiger Zorn auf Brünnhilde verständlich, wenn sie ihn scheinbar verraten hat. Und vor allem wird erst so verständlich, dass Brünnhilde ihn zwar verstanden hat, aber andere Konsequenzen zieht, als er gehofft hat: Wenn sie auf Wotans Befehl Siegmund den Tod ankündigt und staunend sieht, dass ihm Sieglinde wichtiger ist als alle Verheissungen eines seligen Lebens in Walhall, macht sie eine Wandlung durch und kommt für sich selbst überraschend zu der Überzeugung, dass im Konflikt von Liebe und Macht immer die Liebe den Sieg davontragen muss. Wie Antigone – die ohne Zweifel ein wichtiger Orientierungspunkt für die Konzeption dieser Figur war – rebelliert sie gegen die unmenschliche Kälte der Macht und setzt ihr die Wärme der Liebe entgegen. Anders als Antigone glaubt sie allerdings, damit zwar gegen das Interesse des Machthabers, aber im Interesse des Vaters zu handeln, weil sie das wahre Ausmass von Wotans Dilemma noch nicht erfasst hat. Erst in der letzten Auseinandersetzung mit ihrem Vater versteht sie, dass er nicht anders handeln kann, wie auch sie keine andere Wahl hatte, als sich seinem Gebot zu widersetzen. Damit wird es ihr möglich, die Strafe anzunehmen, das heisst, ihren göttlichen Status abzulegen und zum Menschen zu werden. Und als liebender Mensch ist sie schliesslich in der Lage, die Lösung aller Verstrickun gen herbeizuführen und den Weg in eine vielleicht bessere Zukunft zu öffnen.
AUCH EIN GOTT
IST NICHT ALLMÄCHTIG
Dirigent Gianandrea Noseda im Gespräch über die «Walküre»
Gianandrea Noseda, im April hat der neue Ring hier in Zürich mit Rheingold begonnen, nun wird er mit der Walküre fortgesetzt. Wie sind Ihre Erfahrungen bisher mit der Philharmonia Zürich und dem Opernhaus?
Wunderbar! Ich bin mit dem Resultat sehr glücklich, es hat meine Erwartungen übertroffen. Nicht in Bezug auf das Orchester oder die Sängerinnen und Sänger, bei denen ich keinerlei Zweifel hatte, sondern vor allem in Bezug auf mich selbst. Für mich schien der Ring immer ausserhalb meiner Reichweite. Hier in Zürich habe ich die Herausforderung erstmals akzeptiert – wegen des Opernhauses, wegen des Regisseurs und weil Zürich in der Schweiz liegt, in der neben Deutsch auch noch andere Sprachen gesprochen werden. Das gibt mir mehr Freiheit. Im Rheingold, so scheint mir, hat die Kombination von Musik und Szene sehr gut funktioniert. Also ein viel versprechender erster Schritt in diese für mich neue Welt.
Das Rheingold beginnt bekanntlich mit dem berühmten Vorspiel, in dem Klänge aus dem Nichts entstehen; nun, mit dem Vorspiel der Walküre, werden wir in eine ganz andere Welt hineingeworfen...
Im Rheingold haben wir die Entstehung der Welt in mythischer Vorzeit er lebt. Im Vorspiel zur Walküre sind wir bei den Menschen angekommen und sofort mitten in der Szene. Diese Musik ist ungeheuer dynamisch; sie be schreibt Siegmunds Flucht, er wird von Hundings Leuten gejagt. Siegmund sucht Hilfe, und diese Suche nach Hilfe führt ihn zu Sieglinde, seiner Zwillingsschwester. Die beiden waren gewaltsam getrennt worden, und
Sieglinde wurde gezwungen, Hunding zu heiraten. Siegmund und Sieglinde begreifen sofort, dass sie zusammengehören. Dafür reichen wenige Blicke. Sieglinde zögert nicht, Hunding einen Schlaftrunk zu mischen und bei erster Gelegenheit zu Siegmund zurückzukehren; sie ist unglaublich mutig. Die Art und Weise, wie Siegmund und Sieglinde über Blicke kommunizieren, er innert mich übrigens an Tristan und Isolde
Gibt es auch auf musikalischer Ebene Momente, die den Tristan, der ja kurze Zeit später und ebenfalls in Zürich entstanden ist, vorausahnen lassen? Immerhin geht es in beiden Stücken um eine verbotene Liebe, die noch dazu zum Tod führt...
Die Harmonik im Tristan ist viel avancierter. Aber was die Umstände dieser verbotenen Liebe angeht, werden in der Walküre sogar noch mehr Grenzen überschritten – Sieglinde und Siegmund begehen nicht nur Ehebruch, sondern auch Inzest, also einen doppelten Tabubruch. Auch wenn die Musik das nicht in so extremer Weise spiegelt wie im Tristan, so würde ich doch sagen, dass in der Walküre bereits Keime für den Tristan vorhanden sind.
Wie kommentiert denn Wagners wissendes Orchester die Beziehung zwi schen Siegmund und Sieglinde, ihr erstes Kennenlernen, die Entstehung ihrer Liebe?
Es gibt ein Motiv in der ersten Szene, das immer näher zu kommen scheint; man hat als Zuhörer den Eindruck: Diese Musik nimmt Besitz von mir, es gibt kein Entkommen, keine Möglichkeit, sich diesen aufkeimenden Gefühlen zu widersetzen. Beim Zuhören entsteht das Gefühl: Wenn ich Siegmund wäre und Sieglinde meine Schwester, würde ich – mit dieser Musik – genau das Gleiche tun. Die Musik sagt uns: Was die beiden tun, ist zweifellos richtig. Dass Musik in der Lage ist, eine solche Atmosphäre entstehen zu lassen, empfinde ich als magisch.
Im zweiten Akt steht neben der grossen Auseinandersetzung mit Fricka –eine andere Art von Liebe im Mittelpunkt: die Wotans zu seiner Lieb lingstochter Brünnhilde.
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Auch hier erweist sich Wagner als genialer Musikdramatiker. Die Tatsache, dass Wotan Brünnhilde die Vorgeschichte zur Walküre erzählt, geht nicht nur auf Wagners Wunsch zurück, die Vorgeschichte zu rekapitulieren und auch denjenigen im Publikum zugänglich zu machen, die Rheingold nicht gesehen haben. Denn dann könnte man sich fragen: Wozu schreibt er eine zweiein halbstündige Oper, wenn er dasselbe auch in zwanzig Minuten erzählen kann? Nein, es geht Wagner darum, uns die tieferen Schichten von Wotans Charakter zu offenbaren, damit wir uns besser mit ihm und den Problemen, mit denen er zu kämpfen hat, identifizieren können. Wagner zieht in Wotans Dialog mit Brünnhilde alle Register. Indem er Brünnhilde davon erzählt, durchlebt Wotan die Ereignisse noch einmal, und wir erfahren dadurch mehr über Wotan als im ganzen Rheingold. Seine Ausdruckspalette reicht vom Flüstern, fast wie ein Selbstgespräch, bis zur heftigen emotionalen Explosion. Durch sein Erzählen versucht Wotan zudem, Macht über Brünnhilde zu gewinnen, sie zu kontrollieren und schliesslich dazu zu bringen, seinen Willen auszuführen, damit er sein Gesicht wahren kann.
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Das scheint auch zunächst zu funktionieren; nach der Begegnung mit Siegmund entscheidet sich Brünnhilde aber dann doch, ihrem Vater nicht zu gehorchen und Siegmund zu retten, obwohl sie mit einer harten Strafe rechnen muss.
Siegmunds Liebe zu Sieglinde, seine Weigerung, Sieglinde allein zurückzulassen und als Held nach Walhall zu ziehen, beeindruckt Brünnhilde zu tiefst. Sie macht hier auch einen Prozess des Erwachsenwerdens, der Ablösung durch. Sie versteht, dass ihr Vater in seinen Entscheidungen nicht völlig frei ist – und dass er, obwohl oberster Gott, auch nicht allmächtig ist. Diese Erkenntnis ist äusserst schmerzhaft. Für mich ist Brünnhilde die zentrale Figur im Ring – in ihrer psychologischen Entwicklung noch deutlich beein druckender als Wotan. Und sie ist in ihren Entscheidungen freier als ihr Vater. Sie geht ihren ganz eigenen Weg.
Die Frage, inwieweit Wotan als oberster Gott – als Politiker – überhaupt frei sein kann in seinen Entscheidungen, ist ein zentrales Thema im Ring.
Wotan ist eine unglaublich komplexe Figur. Diese Figur nötigt mir höchsten Respekt ab – aber keine Liebe. Brünnhilde fühle ich mich viel näher; ihre Probleme lösen Mitgefühl und grösstes Verständnis bei mir aus. Wotan ist machtbesessen und nicht in der Lage, seine Fehler einzugestehen und um Entschuldigung zu bitten. Auch die Art und Weise, wie er Hunding um bringt – ganz nebenbei und völlig ohne Empathie – macht ihn nicht sympathischer. Erst am Schluss der Walküre, wenn er sich von seiner Tochter ver abschiedet und sich sehr bewusst darüber ist, das Liebste, was er hatte – erst Siegmund, nun Brünnhilde – für immer verloren zu haben, wird es leicht, Mitgefühl mit ihm zu haben. Dieser Abschied ist ungeheuer berührend, auch musikalisch: Hier hat Wagner zum ersten Mal lyrische Gesangslinien für Wotan geschrieben. Und es ist nicht nur Wotans Abschied von Brünnhilde, sondern im Grunde von der Welt.
Neben Wotans Abschied ist die Todesverkündigung – der Moment, in dem Brünnhilde Siegmund die Nachricht überbringt, dass er sterben wird – einer der berührendsten Momente im ganzen Ring. Wie ist dieser Moment komponiert?
Die häufig gehörte Aussage, die Geburt der Chromatik in der Musik gehe auf den Tristan zurück, ist meiner Meinung nach nicht ganz richtig. Ein Beispiel dafür ist genau diese Todesverkündigung: Wagner arbeitet hier mit absteigender Chromatik; ich empfinde das wie eine Abwärtsspirale, der man sich nicht entziehen kann, oder wie eine Schlange, die sich immer enger um ihr Opfer schlingt und es nicht entkommen lässt. Es ist aber auch aus musikdramaturgischer Sicht einer der wichtigsten und berührendsten Momente innerhalb der Walküre, denn er erzählt von Siegmund, dessen Liebe zu Sieglinde grösser ist als seine Angst vor dem Tod – solche extremen Emotionen fordern einen Musikdramatiker wie Wagner zu aussergewöhnlicher Musik heraus.
Die Musik zur Walküre enthält einige der populärsten Musikstücke aus Wagners Gesamtwerk; dazu gehört der Feuerzauber und Wotans Abschied am Schluss, aber natürlich auch der Walkürenritt zu Beginn des dritten
Aktes; dieser ist nicht nur sehr bekannt, sondern wurde auch miss braucht, nicht zuletzt zur musikalischen Untermalung des Propaganda films in der deutschen Sendung «Wochenschau», der den Angriff der Luftlandetruppen der Nazis auf Kreta zeigte. Ist Ihrer Meinung nach der Krieg dieser Musik eingeschrieben? Oder ist es eine Frage der musika lischen Interpretation, ob der Walkürenritt vor allem martialisch klingt? Könnte diese Musik auch Lebensfreude versprühen? Es ist dasselbe, wie wenn man sagt: Rachmaninow ist ein HollywoodKom ponist. Dabei hat er die Musik lange vor Hollywood geschrieben, und Hollywood hat sie später dann benutzt.
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Aber lag nicht im einen wie im anderen Fall der Grund dafür, dass die Musik für bestimmte Zwecke benutzt werden konnte, in der Musik selbst? Rachmaninow hat die Musik nicht geschrieben, damit sie in Hollywood verwendet werden konnte. Er hat spätromantische Musik komponiert, die dann zufällig zu bestimmten Stimmungen gut passte, weil sie bestimmten Bedürfnissen entsprach. Mit Wagners Walkürenritt ist es dasselbe. Wagner hat meiner Ansicht nach keine kriegerische Musik komponiert. Die Walküren sind Wotans Töchter, deren Aufgabe es ist, Männer, die heldenhaft im Kampf gestorben sind, für Wotans Armee nach Walhalla zu bringen. Sicher, diese Musik ist kraftvoll, dynamisch, jugendlich. Aber ich empfinde sie vor allem als spielerisch und ja, auch lebensfroh. Und natürlich ist es eine Frage der musikalischen Interpretation. Für mich ist wichtig, den Walkürenritt leicht und eher rasch zu nehmen; er hat – neben dem aufsteigenden, punktierten, vorwärtsstürmenden Motiv – auch leichte, flirrende, fliegende Elemente. Ich empfinde hier Stärke, aber keine Aggressivität. Übrigens denke ich, dass Frauen grundsätzlich stärker sind als Männer. Das sage ich jetzt nicht, um irgendjemandem zu schmeicheln. Der weibliche Teil der Welt scheint mir freier in seinen Entscheidungen, mutiger. Offener, toleranter und auch eher bereit, Fehler einzugestehen. Wir Männer – ich schliesse mich selbst ein –müssen noch dazulernen, wenn es darum geht, dass man die Welt aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten kann.
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Inwieweit beeinflussen die szenischen Vorgänge Ihre musikalische Inter pretation?
Natürlich habe ich meine eigenen Ideen, und natürlich muss ich den musika lischen Strukturen folgen. Aber innerhalb dieser Grenzen hat die Sicht der Regie durchaus einen Einfluss auf den Charakter der musikalischen Interpretation und des Tempos. Generell mag ich fliessendere Tempi lieber. In den schönen Momenten zu versinken, liegt mir nicht so. Die Geschichte, das Drama muss vorangehen. Das ist übrigens auch interessanter für die Musiker innen und Musiker – ein Stück wie die Walküre soll eine Herausforderung bleiben, auch wenn man es schon oft gespielt hat; es darf nicht zu bequem werden. Dem grossen Bogen opfere ich auch schon mal ein bisschen was von der Schönheit einer Melodie. Einen bestimmten Akkord lange auszukosten, empfinde ich als selbstverliebt. Wir Dirigenten sind Diener des Werkes –mehr, als wir manchmal akzeptieren wollen.
Ihr Klangideal für Wagner haben Sie in der Vergangenheit als eher leicht und transparent beschrieben; wie erreichen Sie Transparenz mit dem Orchester?
Indem ich in jedem Moment genau weiss, welche Linien in der Partitur ich hörbar machen will. Dafür muss ich sehr klare Entscheidungen treffen. Das ist übrigens nicht nur in der Musik so, sondern grundsätzlich im Leben. Es ist mir lieber, mal eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, die ich nachher korrigieren kann, als gar keine. Ich finde, man muss Verantwortung über nehmen. Manchmal gibt es in der Partitur mehrere wichtige Linien. Aber man kann nicht vier Gesprächen zugleich folgen. Transparenz erreicht man, indem man Entscheidungen trifft.
Auch die historische Aufführungspraxis zieht den transparenten Orchesterklang und fliessendere Tempi dem ausgedehnten Baden im Klang vor; hat Sie die Originalklang-Bewegung beeinflusst? Oder passt dieses Klangideal einfach besser in unsere Zeit, zu unserem Zeitgeist? Natürlich habe ich die Interpretationen von Dirigenten wie Harnoncourt, Gardiner, Hogwood und die Originalklangbewegung zur Kenntnis genommen
und war davon auch angezogen und zeitweise beeinflusst. Aber ich versuche doch, mit all der Erfahrung und all den Erkenntnissen, die ich bis heute gewonnen habe, meinen eigenen Weg zu gehen. Auch in den 50er und 60er Jahren wurde übrigens nicht immer nur dicke Klangsosse angerührt. Auch für Dirigenten wie Victor de Sabata, Ferenc Fricsay und Dimitri Mitropoulos, die ich zu meinen Vorbildern zähle, war Klarheit ein Ideal. Ich war eine Zeit lang geradezu besessen von Glenn Gould; er konnte die Musik wie mit einem Röntgenblick durchdringen. Seine Interpretationen waren unglaublich klar und objektiv, aber gleichzeitig auch sehr emotional.
Auch die Besetzung der Hauptrollen passt zu Ihrem Klangideal... Camilla Nylund ist vielleicht nicht die Brünnhilde, die man vor 20 oder 30 Jahren als ideal empfunden hätte. Aber ich bin überzeugt, nach ihrem Rollendebüt hier in Zürich wird sie eine der wichtigsten Brünnhilden unserer Zeit werden. Mir scheint, dass wir heutzutage grundsätzlich zu sehr in Klischees denken. Ich mag keine Klischees, ich schwimme lieber gegen den Strom.
DER MARODE KERN DER PATRIARCHALEN KULTUR
Elisabeth BronfenKreist der erste Teil der Ring-Tetralogie um eine Fehde zwischen machthungrigen Männern, weicht diese im zweiten Teil dem Ehestreit zwischen Wotan und Fricka. Grund dafür ist die verbotene Liebe zwischen den Zwillingen Siegmund und Sieglinde, die Wotan mit einer Menschenfrau gezeugt hat. Weil eine Jung frau, die mit einem ungeliebten Mann verheiratet werden sollte, Siegmund um Hilfe rief, hat er sich in den Kampf zwischen ihren Brüdern und der Sippe des Bräutigams eingemischt, musste aber, nachdem er seine Waffe verlor, fliehen. Die tote Braut hatte er auf den Leichen ihrer geschlachteten Brüder liegend zurückgelassen und war verwundet in der Hütte von Sieglinde aufgetaucht, nicht ahnend, dass sie seine Zwillingsschwester ist.
Für die dramaturgischen Wiederholungen, auf die die Oper setzt, ist die Entsprechung bezeichnend, welche diese blutige Szene in der Kindheit der beiden Zwillinge hat. Einst war der Knabe mit dem Vater, der sich Wolfe nann te, auf die Jagd gegangen. Als sie heimkehrten, fanden sie das Haus in Schutt und Asche, die Mutter ermordet, Sieglinde geraubt. Das Libretto arbeitet auch mit einer Parallele zwischen den beiden Mädchen. Noch bevor Sieglinde sich ihrem Bruder zu erkennen gibt, beschreibt sie, wie sie an Hunding ungefragt verschenkt worden war. Beim Hochzeitsfest sass sie dann traurig allein, während ihr Ehemann mit den Schächern trank. Wie die namenlose Jungfrau war auch Sieglinde das Tauschobjekt zwischen Männern, nur muss sie sich mit der trost losen Ehe abfinden, welche durch den Tod der anderen erspart blieb.
Was die Zwillinge über die Jahre hin miteinander verbindet, ist jedoch nicht nur ein Kindheitstrauma, sondern auch die daran geknüpfte Verheissung. Wäh rend des schmachvollen Hochzeitsfestes war ein Fremder gekommen, den Sieg linde insgeheim als ihren Vater erkannte. Dieser hatte ein Schwert in eine Esche
geschlagen, das bislang keiner herausziehen konnte. Siegmund hat seinerseits von seinem Vater, bevor ihn dieser verliess, von einem geheimnisvollen Schwert gehört. Somit verdichtet sich an der von Wotan eigens für seinen Sohn geschmiedeten Waffe für beide Geschwister ein Erlösungstraum. Weil Siegmund das Schwert aus der Esche herausziehen kann, entpuppt er sich als der heldenhafte Retter, den Sieglinde sich herbeigesehnt hat. Verkörpert der Bruder für Sieg linde eine Wiedergutmachung für die Schmach und die Entehrung, die sie seit ihrem Raub erfahren musste, verleiht sie seinem bislang von Leid und Geächtetsein gezeichneten Dasein einen Sinn. Die erotische Vereinigung der Zwillinge verspricht eine Überwindung aller vorgängigen Verluste. Ausgeblendet und zugleich mitgedacht werden in dieser Wiedervereinigung zwei weibliche Leichen: Die der Mutter und die der namenlosen Braut.
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Liebesdrang oder Ehegesetz
In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur entwirft Sigmund Freud ein dialektisches Verhältnis zwischen persönlichem Glück und den Machtansprüchen der Gemeinde. Um das Zusammenleben der Menschen zu regulieren, müssen kulturelle Gesetze das individuelle Begehren beschränken. Zwar dient die ero tische Verbindung der Zeugung von Nachkommen, welche das Überleben einer Familie sicherstellt, im Grunde aber widersetzt die Liebe sich den Interessen der Gemeinschaft. Im Gegenzug wird die Liebe durch die Kultur mit Einschrän kungen bedroht. Laut Freud gehört der Freiheitsdrang zu den seelischen Waffen, mit denen das Individuum sich gegen diese Kränkung zur Wehr setzt, und eben solch ein Aufbegehren kommt in der Wiedervereinigung der Zwillinge zum Ausdruck. Sie lehnen sich gegen die Ungerechtigkeit einer Sippenherrschaft auf, die auf Zwangsheirat basiert und somit subjektive Lust zugunsten kollektiver Bande einschränkt. Ihre Weigerung, auf ihre inzestuöse Liebe zu verzichten, verletzt nicht nur den partikularen Eigentumsanspruch des Gatten, sondern allgemein das Gesetz der Gemeinde, welches diesen Anspruch legitimiert.
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In Bezug auf das von Freud skizzierte Ringen zwischen persönlichem Be gehren und dessen kultureller Regulierung nimmt aber auch das streitende Ehe
paar keine eindeutige Position ein. Wotans Liebe für Siegmund entspringt einer Eigensucht, braucht er doch einen Helden, der für ihn den zum Drachen gewordenen Fafner besiegen und den Ring gewinnen kann. Hat er diesen Sohn ge zeugt, um das Fortleben der Götter sicherzustellen, liegt der Fall, was die Geburt seiner Tochter Brünnhilde betrifft, anders. Zu deren Mutter Erda, der weisen Wala, hat ihn seine erotische Lust geführt. Wotan schwankt also zwischen einem die Göttergemeinde stützenden Willen zur Macht und dem persönlichen Begehren, das ihn wiederholt in aussereheliche Liebesaffären verstrickt. Seine Gattin Fricka hingegen besetzt eine dritte Position. Weder eine Mutter, die mit Wotan eine erotische Liebe genossen hat, noch eine Mitspielerin im Kriegstreiben der Männer, setzt sie sich streng für das Ehegesetz ein. Hunding unterstützt sie in seinem Zwist mit Siegmund, weil sie den heiligen Eheeid gegen jeglichen Minne zauber verteidigen will. Auch sie handelt aus persönlichem Interesse. Wenn sie ihrem Gatten verbietet, das ehebrecherische Zwillingspaar zu schützen, dann spielt auch die Schmach und der Spott eine Rolle, welche die uneheliche Zeu gung der Zwillinge ihr zugefügt hat. Sie wurde zwar nicht verschachert, aber sie muss die Untreue ihres Gatten ertragen.
Indem sie auf dem Verbot von Ehebruch und Inzest insistiert, spricht Fricka zugleich als Gesetzeshüterin. Aus ihrer Sicht stellt der Freiheitsdrang der Zwillinge nicht nur einen Angriff auf die Sippe dar, zu der Hunding gehört. Würde Wotan diese Übertretung gutheissen, könnten auch andere sich weigern, ihren Freiheitsdrang zu Gunsten der Gemeinschaft zu beschränken. Fricka sieht in der Vereinigung des Zwillingspaars somit nicht nur eine kränkende Erinnerung an den Ehebruch ihres Gatten, sondern viel grundsätzlicher eine Schwächung der Götterordnung. Ihre Furcht, es könnte zu deren Untergang kommen, wird sich bewahrheiten, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Wotan hingegen er kennt, dass die Zwillinge seinen eigenen Zwiespalt zwischen Minnelust und Machtlust offenlegen. Er gibt Fricka seinen Eid, Siegmund nicht zu verteidigen, weil sie ihm erfolgreich ins Gewissen geredet hat. Würde er seine Vaterliebe ob siegen lassen, würde dies seine Position als Souverän schwächen.
Damit rückt das Libretto jenen Aggressionstrieb ins Blickfeld, den Freud in seinen Gedanken über das individuelle Unbehagen an der Kultur ebenfalls als Gegenstück zum Eros entwirft. Dabei handelt es sich um mehr als nur den
maroden Kern souveräner Macht, den Wotan dadurch sichtbar macht, dass er seiner Autorität zuliebe seinen Sohn zu opfern bereit ist. Sowohl das erotische Begehren, das sich dem Gesetz der Gemeinschaft widersetzt, hat etwas Destruktives, als auch die Kultur, die von ihren Mitgliedern einen ihre Persönlichkeit verletzenden Gehorsam fordert. Bei Wagner durchdringt ein zerstörerischer Drang alle Positionen. Die Zwillinge leben, indem sie bereit sind, alles für ihre Vereinigung zu opfern, eine radikale Erotik aus. Die Gemeinschaft der Götter, wie auch die ihnen untergeordneten Menschen, suchen wiederum ihr Fortbestehen in kriegerischen Handlungen sicherzustellen, in denen es ständig darum geht, die andere Seite zu überwältigen und sich als die Mächtigeren durchzu setzen.
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Der Sinneswandel der Tochter
In diesem steten Wechselspiel von Eros und Todestrieb nimmt die Walküre Brünnhilde eine besondere Position ein. Einerseits hilft sie Wotan dabei, sein gruseliges Heer aus gefallenen Helden aufzubauen. Den Todgeweihten er scheint sie auf dem Schlachtfeld, um sie nach Walhall fortzutragen. Indem sie die Kriegsmaschine ihres Vaters stützt, ist sie der Gemeinschaft der Götter ver pflichtet. Andererseits steht sie von Anfang an auch auf der Seite des persönlichen Glücks. Sie will nicht glauben, dass Wotan die eigene Autorität mehr wert ist als die Zuneigung zu seinen Kindern. Siegmunds Weigerung, mit ihr nach Walhall zu gehen, weil Sieglinde ihm dorthin nicht folgen kann, und deshalb ganz dem Heldenruhm zu entsagen, überzeugt sie mehr als Wotans Drohung und zwingt ihr eine radikale Entscheidung auf. Sie widersetzt sich der Souveränität ihres Vaters. War sie zuerst diejenige, die den kriegerischen Willen Wotans voll zieht, wird sie nun zur Hüterin des Eros. Sie trotzt dem Aggressionstrieb, der in Frickas Beharren auf dem Eherecht zum Ausdruck kommt, wie auch dem, der in Wotans Verrat an seinem Sohn steckt. Auch im zweiten Aufzug der Oper setzt das Libretto auf dramaturgische Wiederholung. Noch einmal kämpft Siegmund um eine Braut, dieses Mal jedoch ist er selbst der tödlich verletzte Bruder. Sieglinde überfällt ihrerseits einmal mehr die Erinnerung an ihr Kindheitstrauma. Mit der Stimme des kleinen Mädchens
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ruft sie nochmals nach dem Vater, der sie aus dem brennenden Haus retten soll. Dieses Mal erscheint er, doch statt seine Kinder zu schützen, produziert er am Ende zwei Leichen: Die ihres Bruders und die ihres Gatten. Fricka hat den Ehestreit gewonnen, die ihr unliebsame Vereinigung der Zwillinge erfolgreich zerstört. Über den beiden Sterbenden Siegmund und Hunding ragend verkündet Wotan, er habe mit seinem Speer den Spott, den er Fricka durch seine aussereheliche Vaterschaft schuf, selbst gerächt. Indem Brünnhilde die schwan gere Sieglinde rettet, kann sie zwar diesen Tod nicht rückgängig machen, ersetzt aber mit ihrer Verheissungsgeschichte die vorgängige ihres Vaters. Sie verkündet Sieglinde, sie trage den hehrsten Helden der Welt in sich, und stimmt mit die ser Botschaft die Todessüchtige um. Die erschütterte Mutter ist bereit, um der Liebe willen, die sie durch Siegmund erfahren hat, am Leben zu bleiben und dieses Kind zur Welt zu bringen.
Um ihretwillen stellt Brünnhilde sich dem Zorn des heranstürmenden Vaters. Sie akzeptiert, dass Wotan seine grausame Macht ausstellen muss, könn te doch sonst ein Aufstand der anderen Walküren folgen. Noch einmal rückt die Gefährdung, die der Machterhaltung durch die Liebe droht, in den Fokus. Wirft Wotan Brünnhilde vor, seine Autorität mit ihrem Ungehorsam unterminiert zu haben, macht sie ihn auf den Widerspruch aufmerksam, der diesem Anspruch innewohnt. Sie spricht aus, was er nicht sehen will. Nicht er, sondern Fricka hat den Tod Siegmunds gewollt. Er hat seinen Sohn geliebt und war dennoch bereit, ihn mit seinem Speer zu treffen, wie er auch sie für ihren Freiheitsdrang zu bestrafen bereit ist. Der Vorwurf, seine Macht zu erhalten sei ihm wertvoller als seine Nachkommen zu schützen, entlarvt den Destruktionstrieb im Herzen von Walhall. Noch einmal bekommen wir eine Beschreibung ihres radikalen Sinnes wandels. Sie gesteht Wotan, Siegmunds unnachgiebige Liebe für Sieglinde hätte sie im Herzen getroffen und dazu verleitet, aus eigenem Willen für Wotan zu handeln, wo er durch seinen Eid an Fricka nicht handeln konnte. Listig spielt sie darauf an, dass auch er anfangs davon überzeugt war, ein Eheeid, der Unlieben de eint, sei unheilig. Brünnhildes rhetorischer Trick besteht darin, jene ausser eheliche Liebe anzusprechen, die ihn einst zu ihrer Mutter Erda geführt hat. Doch auch in diesem Fall hat Fricka gewonnen. Obwohl sie es gar nicht von ihm gefordert hat, zerreisst Wotan das Band zwischen sich und jener Lieblings
tochter, die seiner Gattin immer ein Dorn im Auge war. Indem er Brünnhilde aus Walhall verstösst, befreit er sie aber auch davon, als Instrument seines Willens zu agieren. Diese Abtrennung fügt nicht nur der Tochter, sondern auch dem Vater eine Wunde zu. Er beschneidet sein eigenes Glück, kann nun nie mehr Rat bei ihr suchen, nie mehr mit ihr in die Schlacht reiten. Zugleich vollzieht sich in diesem Akt des Verwerfens eine dramaturgische Auflösung: Die Trennung des Vaters von seiner Tochter ersetzt die Trennung der Zwillinge am Anfang der Geschichte. Aus dem Schlaf, in den Wotan sie versetzt, wird ihr zukünftiger Ehemann sie erwecken. Brünnhilde akzeptiert die Strafe, verhandelt aber mit ihrem Vater, um die Weichen so zu stellen, dass jene Ehe, die sie nicht vermei den kann, ihren subjektiven Vorstellungen entsprechen wird. Es gilt, sowohl die Schmach von Sieglinde als auch die Verspottung von Fricka zu verhindern.
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Das bräutliche Feuer ist ihre Idee. Sie stellt damit sicher, dass nur ein furchtloser, freier Held zu ihr durchdringen kann. Was sie aushandelt, ist auch für Wotan tragisch. Der Kuss, mit dem er ihr die Gottheit nimmt, lässt ihn spüren, was er zu verlieren im Begriff ist: Seinen heiligsten Stolz, den er in ihren strahlenden Augen so oft gespiegelt fand. Wenn nur derjenige seinen Feuerkreis durch schreiten kann, der freier ist als er, gibt er die Beschränkung seiner eigenen Freiheit zu. Noch bleibt unausgesprochen, was die Musik des Orchesters freilich deutlich genug sagt, dass Brünnhilde, indem sie Sieglinde zur Flucht verholfen hat, sich ihren eigenen Heldengatten erschaffen hat. Deren Sohn Siegfried wird den Bann Wotans rückgängig machen. Auch weiss Brünnhilde noch nicht, dass sie die Warnung ihrer Mutter vollziehen wird, und, um der Herrschaft dieser Göttersippe ein Ende zu setzen, sich selbst einen Scheiterhaufen errichten wird. Am Ende der Walküre ergibt sich eine andere gedankliche Verknüpfung. Wir dürfen uns neben der mitten im Feuerkreis einschlafenden Brünnhilde zwei weitere Frauen vorstellen: Sieglinde an ihrem Hochzeitsfest schweigend in ihrer Entehrung versunken und die sterbende Jungfrau, die sich an die Leichen ihrer er mordeten Brüder klammert. Alle drei machen den maroden Kern einer Kul tur sichtbar, die auf Frauenopfern beruht. Sie lassen sich als Mahnung und als Anklage lesen.
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ANARCHISCHES
BEGEHREN
Melanie UnseldDas Begehren ist in Wagners Musikdramen omnipräsent. Darin unterscheiden sie sich in keiner Weise von anderen Opern, Romanen, Gemälden, Skulpturen, Filmen etc. Künstlerinnen und Künstler liessen und lassen sich von der umwer fend umstürzlerischen Kraft des Eros immer wieder inspirieren, zumal es hier um eine Kraft geht, aus der Dramatik, Verlust und Tod, aber auch Erneuerung und Erfüllung hervorgeht. Davon spricht bereits die antike Philosophie: Eros ist die treibende, willensstarke, sogar über dem Willen des Menschen stehende Macht des Begehrens, deren Triebfeder die Sehnsucht nach einer (verlorenen) Existenz in der Einheit ist. Dabei ist es gerade auch für die Zeitkunst der Musik nicht unwesentlich, dass Eros nicht das Ziel selbst meint, sondern den Weg, die Dynamik, die darauf hinführt.
Dieses von den Künsten so intensiv befragte Begehren ist umstürzlerisch und anarchisch. Es fragt nicht nach Regeln und Ordnungen, im Gegenteil: Es sprengt sie, wo immer sie sich ihm in den Weg stellen. Hier klingt schon die Nähe zum Gesellschaftlichen, Politischen an. Doch der Nukleus des Begehrens liegt zwischen zwei Individuen. Und aus dem Widerständigen gegen die Ord nung – moralischer, juridischer, familialer oder religiöser Art – entstehen jene Motive, die seit der griechischen Mythologie Gegenstand künstlerischer Gestaltung sind: Inzest als tabuisiertes Begehren, wie es seit dem Ödipus Mythos immer wieder bearbeitet wird, oder auch der Liebesverrat, den Peter von Matt als «Spielregel der Literatur» überhaupt bezeichnet. Beides, Inzest und Liebes verrat, sind zentrale Knotenpunkte auch in Wagners Musikdramen, etwa im Ring des Nibelungen und in Tristan und Isolde.
Die Verwandtschaftsverhältnisse der Götter wie Menschenwelt im Ring sind komplex, aber spätestens, wenn die Liebe des Zwillingspaars Siegmund und Sieglinde offenbar wird, ist klar, dass im Zentrum der Ring Erzählung das
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Tabu des Inzests steht. Der Inzest des Geschwisterpaars Sieglinde und Sieg mund weist dabei – darauf hat Nike Wagner aufmerksam gemacht – in zwei Richtungen: zurück in die archaische Welt und nach vorn in die Zukunft. Als Geschichte des Rückschritts, der Regression, lässt sich die Geschwisterliebe als Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit lesen, als Geschichte des Fortschritts ist sie der Beginn einer neuen Zeit, personifiziert im neuen Helden, Siegfried. So steht der Inzest, das ordnungszerstörende Begehren, für eine Dialektik von Rückschritt und Fortschritt. Dabei schlägt sich die Musik auf die Seite des tabubrechenden Paares: Während Hundings patriarchales Gebaren roh ausgestellt wird, erhält Siegmund eine klangliche Sonderausstattung als Held. Sein Leit motiv erklingt in den Celli, empfindsam, fast weich und anschmiegsam für eine Sieglinde, die der Brutalität ihres Ehemanns zu entkommen sucht. Die musi kalische Passung des Zwillingspaars ist derart ohrenfällig, dass die Zuhörenden auf diese Weise klanglich geradezu verführt werden, Partei für das inzestuöse Liebespaar zu ergreifen. Durch die Musik wird der Tabubruch nicht nur nach vollziehbar, sondern die Zuhörenden werden gewissermassen zu Komplizen des tabuisierten Begehrens. Im Text greift Siegmund zu einer Analogie, die letzte rationale Zweifel wegzuwischen intendiert: Er vergleicht die Geschwisterliebe mit der Naturkraft des Frühlings, und wie Letztere dem unzweifelbaren Natur kreislauf der Jahreszeiten folgt, folgt die Liebe der Geschwister dem «natürli chen» Begehren: «Winterstürme wichen dem Wonnemond, in mildem Lichte leuchtet der Lenz. [...] Die Liebe lockte den Lenz, in uns’rem Busen barg sie sich tief; nun lacht sie selig dem Licht. Die bräutliche Schwester befreite der Bruder; zertrümmert liegt was je sie getrennt; jauchzend grüsst sich das junge Paar: vereint sind Liebe und Lenz!»
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Dieses Überblenden von naturhafter Zwangsläufigkeit und Eros nimmt auch Thomas Mann in Wälsungenblut auf, spinnt es weiter und überträgt es dabei auf die Geschwister, die sinnigerweise Siegmund und Sieglind heissen und quasi zwangsläufig eine weitere Überblendung erleben – die auf das eigene Begehren. Zunächst aber sitzen sie gemeinsam in der Opernloge, sehen und hören, äusserlich distinguiert, den Tabubruch auf der Bühne: «... die Musik drehte sich in einem tosenden, brausenden, schäumenden Wirbel reissender Leidenschaft, drehte sich, drehte sich und stand mit gewaltigem Schlage still!» Doch so kühl sie sich geben, ihre körperlichen Reaktionen verraten ihre innere Bewegtheit: «Siegmund schob seinen Sessel zurück und stand auf. Es war ihm heiss; auf seinen Wangenknochen, unter den fahlen und mageren rasierten Wan gen, glomm eine Röte. [...] Sie zögerte noch einen Augenblick, sass noch aufgestützt und blickte zur Bühne hinüber. Er sah sie an, als sie aufstand und das Silbertuch nahm, um mit ihm zu gehen. Ihre voll und weich aufeinander ruhenden Lippen zuckten ...»
Am Ende der Erzählung werden Siegmund und Sieglind selbst den in der Walküre erlebten Tabubruch begehen, sich auf Wagner beziehend, «wie aus wirrem Traum».
Eros ist in der griechischen Mythologie jener Gott, der sich gegen Vernunft, gegen logische Argumentation und gegen göttliches Regelwerk durchsetzen kann. Daher trägt Eros das Moment des Anarchischen in sich. Und es lässt sich bereits in der griechischen Mythologie nachlesen, dass das Begehren – etwa des Göttervaters Zeus – insbesondere das Ordnungssystem des Familialen durch bricht. Ein Begehren dieser Art hatte für das bürgerliche 19. Jahrhundert Sprengkraft, sah man doch – auch als Gegenentwurf zur Libertinage der Aristokratie – in Ehe und Familie nicht nur aus religiösen und moralischen Gründen eine wichtige Basis des Zusammenlebens, sondern auch politisch den Kern eines funktionierenden Staatsgefüges. Das Gelingen des gesellschaftlichen Systems hing unmittelbar mit der Ordnung des Familialen zusammen. Gesellschaftspolitische, philosophische, juridische Diskurse werden im 19. Jahrhundert daher nicht müde, die bürgerliche Kleinfamilie als Hort von Zivilisation, Wohlstand, gesellschaftlicher Harmonie und Fortschritt zu beschreiben. Eros als anarchische Kraft hat hier keinen Platz, denn die «radikale Liebe [vollzieht] sich militant und
reissend gegen die Ehe» (Peter von Matt, Liebesverrat). Und doch ist die Kunst voll von Ehebruch, Liebesver rat und Treulosen – auch und gerade im 19. Jahr hundert.
So wird das regelsprengende Begehren bei Wagner nicht nur als Thema verhandelt, sondern es wird in eine Klanglichkeit gehüllt, die bei den Zuhören den unmittelbar wirkt: Wagner übersetzt das Erleben unerfüllbarer Sehnsucht in Musik. Damit ist «Eros» einer jener wesentlichen Knotenpunkte, die Wagners Denkwelt und Musikkonzepte bestimmen. Der Befund, dass ungesagt bleibt, was allenthalben sich hörbar körperlich verbreitet, mag letztlich auch als Eman zipation von der antiken Vorstellung eines Gottes (Eros) verstanden werden. Wagner vermutete im radikalen Begehren eben nicht mehr eine göttliche Macht, sondern einen Schmelzpunkt des Menschseins.
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HEILIGE ANTIGONE!
Richard WagnerKreon war Herrscher geworden: in ihm erkannte das Volk den richtigen Nach folger des Laios und Eteokles, und er bestätigte dies vor den Augen der Bürger, als er den Leichnam des unpatriotischen Polyneikes zur entsetzlichen Schmach der Unbeerdigung, seine Seele somit zu ewiger Ruhelosigkeit verurteilte. Dies war ein Gebot von höchster politischer Weisheit: Dadurch befestigte Kreon seine Macht, indem er den Eteokles, der durch seinen Eidbruch die Ruhe der Bürger gewährleistet hatte, rechtfertigte und somit deutlich zu verstehen gab, dass auch er gewillt sei, durch jedes auf sich allein zu nehmende Verbrechen gegen die wahrhafte menschliche Sittlichkeit das Bestehen des Staates in Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Durch sein Gebot gab er sogleich den bestimm testen und kräftigsten Beweis seiner staatsfreundlichen Gesinnung: er schlug der Menschlichkeit ins Angesicht und rief – es lebe der Staat!
In diesem Staate gab es nur ein einsam trauerndes Herz, in das sich die Menschlichkeit noch geflüchtet hatte: Das war das Herz einer süssen Jungfrau, aus dessen Grunde die Blume der Liebe zu allgewaltiger Schönheit erwuchs. Antigone verstand nichts von der Politik: Sie liebte. – Suchte sie den Polyneikes zu verteidigen? Forschte sie nach Rücksichten, Beziehungen, Rechtsstandpunk ten, die seine Handlungsweise erklären, entschuldigen oder rechtfertigen konn ten? – Nein; sie liebte ihn. – Liebte sie ihn, weil er ihr Bruder war? – War nicht Eteokles auch ihr Bruder, waren nicht Oidipus und Jokaste ihre Eltern? Konnte sie nach den furchtbaren Erlebnissen anders als mit Entsetzen an ihre Familienbande denken? Sollte sie aus ihnen, den grässlich zerrissenen Banden der nächs ten Natur, Kraft zur Liebe gewinnen können? – Nein, sie liebte Polyneikes, weil er unglücklich war, und nur die höchste Kraft der Liebe ihn von seinem Fluche befreien konnte. Was nun war diese Liebe, die nicht Geschlechtsliebe, nicht Eltern und Kindesliebe, nicht Geschwisterliebe war? Sie war die höchste Blüte von allen. Aus den Trümmern der Geschlechts , Eltern und Geschwisterliebe,
welche die Gesellschaft verleugnet und der Staat verneint hatte, wuchs, von den unvertilgbaren Keimen aller jener Liebe genährt, die reichste Blume reiner Menschenliebe hervor.
Antigones Liebe war eine vollbewusste. Sie wusste, was sie tat, sie wusste aber auch, dass sie es tun musste, dass sie keine Wahl hatte und nach der Not wendigkeit der Liebe handeln musste; sie wusste, dass sie dieser unbewussten zwingenden Notwendigkeit der Selbstvernichtung aus Sympathie zu gehorchen hatte; und in diesem Bewusstsein des Unbewussten war sie der vollendete Mensch, die Liebe in ihrer höchsten Fülle und Allmacht. – Antigone sagte den gottseligen Bürgern von Thebe: – ihr habt mir Vater und Mutter verdammt, weil sie unbewusst sich liebten; ihr habt den bewussten Sohnesmörder Laios aber nicht verdammt, und den Bruderfeind Eteokles beschützt: nun verdammt mich, die ich aus reiner Menschenliebe handle, so ist das Mass eurer Frevel voll! Und siehe! – der Liebesfluch Antigones vernichtete den Staat! – Keine Hand rührte sich für sie, als sie zum Tode geführt ward. Die Staatsbürger weinten und beteten zu den Göttern, dass sie die Pein des Mitleidens für die Unglückliche von ihnen nehmen möchten; sie geleiteten sie, und trösteten sie damit, dass es nun doch einmal nicht anders sein könnte: Die staatliche Ruhe und Ordnung forderten nun leider das Opfer der Menschlichkeit! – Aber da, wo alle Liebe geboren wird, ward auch der Rächer der Liebe geboren. Ein Jüngling entbrann te in Liebe für Antigone; er entdeckte sich seinem Vater und forderte von seiner Vaterliebe Gnade für die Verdammte: Hart ward er zurückgewiesen. Da erstürmte der Jüngling das Grab der Geliebten, das sie lebend empfangen hatte: er fand sie tot, und mit dem Schwerte durchbohrte er selbst sein liebendes Herz. Dies war aber der Sohn des Kreon, des personifizierten Staates: vor dem Anblicke der Leiche des Sohnes, der aus Liebe seinem Vater hatte fluchen müssen, ward der Herrscher wieder Vater. Das Liebesschwert des Sohnes drang furchtbar schnei dend in sein Herz: Tief im Innersten verwundet stürzte der Staat zusammen, um im Tode Mensch zu werden.
Heilige Antigone! Dich rufe ich nun an! Lass Deine Fahne wehen, dass wir unter ihr vernichten und erlösen!
DER BRAVE SPIESSBÜRGER DER VORZEIT
Vier Randbemerkungen zu Hunding
Torsten MeiwaldI. Der freundliche Wirt
Ein gastfreundlicher Mann, dieser Hunding; gelten doch seine ersten Worte gleich dem Wohl des Fremden am Herd: «Du labtest ihn?» fragt er die Gattin. Die kann ihn beruhigen: «Den Gaumen letzt’ ich ihm, gastlich sorgt’ ich sein.»
Auch der Gast selbst hat nichts zu bemängeln – er ist mit der Bewirtung zufrie den, und die Gattin hat dem Hausherrn keine Unehre gemacht: «Dach und Trank dank’ ich ihr: Willst du dein Weib drum schelten?» Hunding kann also ganz beruhigt sein, der Ruf seiner gastlichen Hütte ist unbeschädigt, Tacitus’ Lob der germanischen Gastlichkeit wird unter seinem Dach nicht Lügen gestraft. Oder missverstehen wir den Dialog, wenn wir ihn so deuten?
Allerdings, und zwar gründlich. Hunding spricht hier nicht als gutmütiger Hauswirt. Er befürchtet keineswegs, die Gattin könne die Pflichten als Gastgeberin vernachlässigt haben. Er hofft es vielmehr. Seine Frage bedeutet keineswegs: «Liebling, du hast dem Herrn doch hoffentlich etwas zu trinken angeboten?» sondern: «Hast du diesem Kerl etwa Gastrecht in unserem Haus gewährt?»
Denn darum geht es. Hunding ist nicht dumm. Er kommt von der erfolg losen Jagd auf einen Geächteten zurück und findet im eigenen Haus einen verwundeten, offensichtlich von langer Flucht erschöpften Mann – er müsste mit Blindheit geschlagen sein, wenn er den Fremden nicht sofort identifizierte. Mit seinem Spiess könnte er den Feind auf der Stelle niedermachen und damit den Tod seiner Sippengenossen rächen. Er hätte grundsätzlich auch keine Skru pel, bewaffnet den Unbewaffneten und Verwundeten anzugreifen, doch zwei erlei hindert ihn. Zum einen ist es schon dunkel, und eine Tötung bei Nacht
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hat immer einen üblen Beigeschmack von heimlichem Mord. Zum anderen, und gewichtiger, ist da das Gastrecht, dessen Heiligkeit unverletzlich ist. Ein Mitglied des Haushalts, Hundings eigene Frau, hat dem Fremden Unterkunft gewährt und dies durch den Trank besiegelt. Damit hat sie einen Vertrag ge schlossen, der alle Hausgenossen bindet, auch den Hausherrn. Und Hunding, dieser brave Spiessbürger der Vorzeit, fügt sich dem Gesetz, ohne mit der Wim per zu zucken. Obwohl er sich übertölpelt fühlen muss – denn seine Frau kann sich ebenso wie er selbst zusammenreimen, dass der Flüchtling am Herd der von ihrem Gatten verfolgte Geächtete ist, und ihre und Siegmunds Worte an Hunding haben, recht verstanden, durchaus etwas Höhnisches – bekräftigt er den Vertrag, indem er, der Hausherr, selbst mit dem Gast das Essen teilt: «Rüst’ uns Männern das Mahl.» Erst wenn dies geschehen und der letzte Zweifel an der Gültigkeit des Gastrechts ausgeräumt ist, wird er den Fremden auch nur nach seinem Namen fragen – dies vorher zu tun, wäre ein Bruch der Etikette. Diese Zurückhaltung mag Hunding hart ankommen, aber andererseits gilt der Schutz des Gastrechtes nur bis zum nächsten Morgen. Zum Kampfe kiest er den Tag. Dass der Gegner die Heiligkeit des Gastrechts so schmählich miss brauchen und die Gattin des Wirtes ver und entführen könnte, liegt wohl ausserhalb von Hundings Vorstellungsvermögen.
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II. Der kühne Rächer
Hunding mag ja ein gesetzestreuer Mann sein – aber doch nur so lange, wie auch der Gegner sich an die Regeln hält. Als er am Morgen aus der Betäubung erwacht und erkennen muss, dass der Gast, dem er, Hunding, so grossmütig Unterkunft gewährte, sich mit seiner untreuen Gattin davongemacht hat, platzt dem guten Mann denn doch der Kragen. Statt sich an ein Gericht oder an die Obrigkeit zu wenden, an seinen König oder Grafen, erschlägt er den Frevler eigenhändig. Aus dem gesetzestreuen Bürger wird ein kühner Rächer, der ohne Rücksicht auf irgendwelche Regeln zur Selbstjustiz greift.
So scheint es; doch auch hier geraten wir in die Irre, wenn wir die Gesetze und Konventionen unserer Zeit auf das Geschehen im Ring des Nibelungen
anwenden. In Wirklichkeit nämlich handelt Hunding von A bis Z, von seinem ersten Auftritt bis zu seinem Ableben (genauer: dem an ihm verübten Totschlag durch Wotan) in vollkommenem Einklang mit den Regeln seiner Gesellschaft. In unserer Zeit ist Selbstjustiz verpönt und strafbar; im Island der Sagazeit, dessen gesellschaftliche Strukturen den Hintergrund der unter Menschen spie lenden Handlung der Walküre bilden, war die Bestrafung des Täters durch den Geschädigten dagegen nicht nur erlaubt, sondern Pflicht. Diese archaisch wirkende Regelung ist keineswegs mit primitivem Faust recht oder gar der Abwesenheit von Gesetzen gleichzusetzen. Im Gegenteil: Der isländische Freistaat, diese ganz eigenartige Bauernrepublik des Mittelalters, besass nicht nur eine Gesetzgebung (das Allthing auf nationaler, die Bezirksthinge auf regionaler Ebene), sondern auch eine Justiz mit genau geregelten Zuständigkeiten und Verfahrensweisen. Tatsächlich hatten die alten Isländer eine ausgeprägte Vorliebe für die Feinheiten des Gerichtswesens, die in den Sagas grossen Raum einnehmen und bei diesem Volk fehdefreudiger Totschlä ger recht sonderbar wirken. Es gab berühmte Rechtskundige, sogar regelrech te Winkeladvokaten. Legislative und Judikative waren also vorhanden; was völ lig fehlte, war eine Exekutive. Hatte das Gericht ein Urteil gefällt, oblag die Vollstreckung dem Kläger: Er musste die ihm zugesprochene Geldbusse selbst einziehen oder, lautete das Urteil auf Ächtung des Beklagten, selbst für dessen Tötung sorgen. Unternahm er nichts, blieb der Verurteilte unbehelligt, dem Kläger zur Schmach. Allerdings musste dieser nicht allein zu Werke gehen: Es war üblich, die Hilfe mächtiger und kampferprobter Verwandter in Anspruch zu nehmen, und gelegentlich wurden sogar professionelle Kopfgeldjäger hin zugezogen.
Nun leitet Hunding kein Gerichtsverfahren gegen Siegmund ein. Dies ist nicht mehr nötig, denn dieser ist ohnehin schon geächtet, wie er selbst berichtet: «Geächtet floh der Alte mit mir.» «Immer doch war ich geächtet.» Die Ächtung war die härteste Strafe, die ein isländisches Gericht verhängen konnte. Sie ent zog dem Verurteilten den Schutz des Gesetzes; jedermann durfte ihn straflos töten. Hunding braucht also kein Gericht mehr zu bemühen, sondern be schränkt sich darauf, die Hilfe der zuständigen Göttin anzurufen. Fricka hört die Klage und verspricht, «streng zu strafen die Tat», was Hunding jedoch
keineswegs so auffassen darf, dass Fricka die Bestrafung tatsächlich übernimmt: Sie verheisst lediglich glücklichen Erfolg des Angriffs auf Siegmund, der, selbst verständlich, Hunding als dem Geschädigten obliegt. III. Der Einzelkämpfer
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In seiner Fehde mit den Verwandten der «Maid», die Siegmund vor der Vermählung mit einem ungeliebten Mann bewahren will, hat er es am Ende mit einer ganzen Gruppe von Verfolgern zu tun: «Der Feinde Meute hetzte mich müd’.» Auch Hunding wollte noch zu dieser Schar stossen, kam jedoch zu spät. Er hält es also keineswegs für unehrenhaft, mit Übermacht einen Einzelnen anzugreifen; vielmehr ist es selbstverständlicher Teil seines Denkens, dass Sippengenossen sich in solcher Lage beistehen und gegenseitig die Ehre «behüten». Dies ent spricht ganz dem Empfinden der Sagazeit: Der Gedanke des fair play gegenüber dem Feind spielt kaum eine Rolle, dagegen ist es sittliche Pflicht, geschädigten oder bedrohten Verwandten tatkräftig beizustehen. So nimmt Sieglinde auch als völlig selbstverständlich an, dass Hunding, nachdem er nun selbst der Haupt geschädigte und Fehdeführer ist, seinerseits die Hilfe der Gesippen in Anspruch nimmt: «Sippen und Hunde ruft er zusammen.» Dann tritt Hunding aber, zum Entscheidungskampf auf dem Bergjoch, doch allein gegen Siegmund an, und nur Wotans Eingreifen verhilft ihm zum Sieg. Ist das nicht merkwürdig?
Doch, das ist in der Tat merkwürdig, und um diesen Punkt dürfte Wagner durchaus gerungen haben. Denn es gab gewichtige Argumente dafür, Hunding mit einer ganzen Schar Sippengenossen auftreten zu lassen.
Für den Kollektivangriff spricht zum einen die psychologische Wahrschein lichkeit: Hunding weiss, dass Siegmund ein furchtbarer Gegner ist, der am Vortag eine ganze Truppe von Hundings Verwandten besiegt hat: «Der Drän ger Tross traf ich im Kampf, dem Sieger sank der Feind.» Selbst im Vertrauen auf Frickas günstigen Spruch wäre es tollkühn, einen solchen, nun nicht mehr waffenlosen Feind allein herauszufordern. Zum anderen, und wichtiger: Hier wäre die ideale Gelegenheit, dem Publikum ganz unmittelbar vor Augen zu führen, dass es nicht nur um eine private Fehde Siegmunds mit Hunding geht,
sondern um die Auseinandersetzung des Helden mit einer ganzen Gesellschaft, mit der durch Gesetze und Konventionen geordneten Menschenwelt über haupt. Hunding steht nicht für sich – und dies würde wunderbar deutlich, bliebe er auch ganz praktisch nicht auf sich gestellt.
Doch letztlich fiel Wagners Entscheidung für den Einzelkampf, und zwar im Interesse des grossen Ganzen, des Gesamtzusammenhangs der Tetralogie. Denn es ist zwar wichtig, dass hinter Hunding eine ganze Gesellschaftsordnung steht, noch wichtiger aber, dass hinter dieser Gesellschaftsordnung Wotan steht. Er ist ja der Stifter und Hüter aller Verträge und Gesetze, und deshalb muss er Siegmund, der kein Gesetz anerkennt, vernichten. Darum drehen sich alle Dis kussionen des zweiten Aufzugs, und was so lange diskutiert wird, muss endlich zur Tat werden. Wotans Speer muss den Kampf entscheiden, und das wäre nur schwer glaubhaft zu machen, wenn Siegmund sich gegen eine ganze Truppe wehren müsste. Es ist eine Sache, den Helden von seinem Sieg gegen eine grosse Übermacht berichten zu lassen, und eine andere, einen solchen Kampf überzeugend auf die Bühne zu bringen. Im Interesse von Klarheit und Eindeu tigkeit mussten Hundings Gesippen zu Hause bleiben.
Nun, nicht ganz zu Hause. Sie sind durchaus da, allerdings nur hörbar, nicht sichtbar. «Von allen Seiten lassen sich aus der Ferne Hornrufe vernehmen», sagt der Nebentext (sie erklingen vor «Hörst du den Ruf?»), und da Hunding schwerlich auf allen Seiten gleichzeitig ins Horn stossen kann, sind dies also seine Fehdegenossen, knapp hinter der Bühne zu denken. Der grosse Prosaent wurf zur Walküre erklärt den Vorgang: «hörnerschall dringt näher, rings naht der feind: allen voraus rast Hunding.» Hunding ist also nicht allein auf der Fahrt, sondern seinen Gehilfen, von Racheeifer getrieben, nur ein wenig vorausgeeilt.
IV. Hunding und Wölfing
In der Völsunga Saga, Wagners Hauptquelle für die Walküren Handlung, heisst der ungeliebte Gatte von Sigmunds Zwillingsschwester (die dort den Namen Signy trägt) Siggeir. Wagner dagegen nennt ihn Hunding. Auch dieser Name stammt aus der Völsunga Saga; sein Träger hat jedoch nur einen einzigen kur
zen Auftritt: In einer Schlacht wird er von Sigmunds Sohn Helgi getötet, was diesem den Beinamen Hundingsbana, Hundingstöter, einbringt. Mit den Ge schehnissen um Sigmunds Schwester hat dieser Hunding überhaupt nichts zu tun; er tritt erst auf, als Signy längst tot ist. Siggeir ähnelt er einzig darin, dass beide Feinde der Völsungen sind. Seine einzige Beziehung zu den von Wagner in der Walküre verarbeiteten Ereignissen besteht darin, dass zwar nicht er selbst, aber immerhin sein Sohn Lyngvi der Anführer eines Heeres ist, das Sigmund besiegt und tötet, nachdem dessen Schwert an Odins Speer zersprungen ist.
Wagner wich hier also von seiner Quelle ab. Dies zu tun, hatte er selten Skrupel, zumal wenn es gewichtige Gründe gab. Und die gab es in diesem Fall zweifellos:
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Zum einen war der Name Si[e]ggeir für Siegmunds Gegner denkbar un geeignet. Die Ähnlichkeit der Namen hätte Verwandtschaft, zumindest Wesens verwandtschaft suggeriert, während es Wagner doch gerade darauf ankam, die Gegensätzlichkeit der beiden so deutlich wie möglich herauszubringen. Da traf es sich gut, dass Wagner weder geradezu erfinden noch auch nur weit entfernt suchen musste, sondern direkt in der Völsunga Saga den Namen eines anderen Wälsungenfeindes antraf, den man nicht besser hätte erfinden können, um den Gegner geradezu als Anti Siegmund zu kennzeichnen. Allein schon der Klang, die vertauschten Vokale (i u bzw. u i): Weil bei beiden die erste Silbe betont wird, dominiert in «Siegmund» das strahlende I, in «Hunding» das dumpfe U – man höre einmal, wie Wagner diesen Gegensatz musikalisch unterstreicht, wenn die Namen zum ersten Mal fallen («... sind Hundings Eigen» – «Siegmund – so nenn’ ich dich»). Und dann bedurfte es nur noch eines ganz kleinen Drehs, um auch den Bedeutungsgehalt von «Hunding» zu beleuchten und sozusagen gegen Siegmund in Stellung zu bringen. Siegmund, der Wälsung, nennt sich zunächst Wehwalt, den Wölfing. (Der Sigmund der Völsunga Saga nennt sich niemals so, trotzdem schöpfte Wagner auch diesmal den entscheidenden Hin weis direkt aus seiner Hauptquelle: Während ihres Ächterlebens werden Sig mund und sein Sohn Sinfjötli zeitweise zu Werwölfen.) Damit ist der Antago nismus aufs Schönste herausgebracht: hier der domestizierte Hund, dem eigenen Instinkt entfremdet, den Geboten der – immerhin göttlichen – Herr chen und Frauchen sklavisch gehorchend; dort der ungezähmte Wolf, ewig im
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Krieg mit den Gebräuchen der Menschen und den Geboten der Götter. Wagner beutet die Möglichkeiten dieser Namen aufs Äusserste aus: Kaum ist der Name «Hunding» gefallen, bezeichnet Siegmund seine Verfolger auch schon als «Meu te», und in Sieglindes Angstvision im zweiten Akt verschmelzen Hundings «Sippen und Hunde» in eins, so dass mit «der Hunde Schwall» genauso die Hundinge wie wirkliche Hunde gemeint sein können. Auf der anderen Seite werden im Verlauf von Siegmunds grosser Erzählung unmerklich aus «Wolfe» und «Wölfing» wirkliche Wölfe, ein «Wolfspaar». Ob damit gesagt sein soll, dass sich Vater und Sohn, wie Sigmund und Sinfjötli, tatsächlich in Werwölfe ver wandelt haben, bleibt in der Schwebe, spielt aber auch keine grosse Rolle: Wolf und Hund, Wölfing und Hunding – die Bilder, die Rollen sind klar verteilt, und damit hat Wagner seine Absicht, die ihn bewog, Siegmunds Rivalen nicht Sig geir, sondern Hunding zu nennen, vollkommen erreicht.
DAS GRÖSSTE
THEATERGENIE ALLER ZEITEN
Egon FriedellDer Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain sagt in seinem dicken Wag nerbuch, einer beziehungslosen, unfruchtbaren Lobhudelei, die nur geeignet ist, von Wagner zu entfernen (dessen Kardinaldefekt ja überhaupt immer die Wagnerianer waren): «Er war niemals nur Opernkomponist, sondern er war von Hause aus Dichter, und die naive Verwunderung darüber, dass dieser Kompo nist ‹selber seine Texte geschrieben habe›, würde allerdings nicht minder naiv, aber logisch besser begründet sein, wenn sich die Menschen darüber verwunderten, dass dieser Dichter selber seine Musik geschrieben hat.» Die für jedermann ganz offenkundige, nur dem Wagnerianer Chamberlain verborgene Wahrheit ist, dass Wagner weder ein Musiker war, der Gedichte, noch ein Dichter, der Musik gemacht hat, sondern ein Theatraliker, der beides gemacht hat, so oft er es brauchte. Das Gesamtkunstwerk besteht ganz einfach darin, dass alle Künste dem Theater subordiniert werden, dem Willen zur zauberischen Illusion, die die Wirklichkeit bald steigert, bald auslöscht, aber immer überwältigt, zur ge malten, aber pittoresken Vedute und arrangierten, aber effektvollen Fioritur, zum Gazeschleier der Stimmung und Kolophoniumsblitz der Leidenschaft, der, gerade weil er nicht echt ist, suggestiver wirkt als der natürliche. Wagner ist immer zuerst und zutiefst Regisseur. Seine Prosa ist merkwürdig unmusikalisch; wenn er nicht Theater machen darf, bewegt er sich so plump und hilflos wie eine Schildkröte, die ihr glitzerndes flottierendes Element verlassen hat; ja sogar seine Operntexte entbehren, wenn man sie losgelöst betrachtet, was man freilich nicht darf, aber die Wagnerianer tun, in einem höheren Sinne der Musikalität, indem ihre Klangwirkungen ganz äusserlich durch Reim, Rhythmus und Alliteration erzeugt und nicht selten durch befremdende Kakophonien, gequälte
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Wortstellungen, holprige Satzbildungen geschädigt werden. Er hat damit selbst den Beweis für die Richtigkeit der schopenhauerischen Theorie geliefert, dass die Wortsprache eine Ausdrucksform darstellt, die gerade dem echten Musiker fremd, ja feindlich ist. Wagner scheint das, zumindest in seinen späteren Werken, dunkel gefühlt zu haben, indem er der Pantomime einen sehr breiten Platz einräumte: sein Musikdrama ist nicht bloss Gesang und Begleitung, sondern auch Bewegung und wird dadurch erst zum wahren Gesamtkunstwerk. Schritte, Gesten, Blicke sind bei ihm nicht dem Zufall oder der Willkür überlassen, son dern durch die Musik genau bestimmt. Dies erstreckt sich sogar auf die Bewe gungen der stummen Natur: Der Strom im Rheingold, der Wald im Siegfried sind beseelte Wesen, deren Lebensäusserungen das Orchester aufmerksam be gleitet. Hierin zeigt sich Wagner wiederum als grandioser Regisseur. Und es ist überhaupt mehr als wahrscheinlich, dass man in ihm das grösste Theatergenie aller Zeiten zu erblicken hat. Dramatische Momente wie das Erscheinen Lohengrins, die Landung Tristans in Cornwall, der zweite Aktschluss der Meistersinger und noch viele andere bezeichnen absolute Höhepunkte der Bühnenkunst. Weisen die Gegner darauf hin, dass der Effekt dieser Szenen hauptsächlich der Musik zu danken ist, so ist ihnen zu erwidern, dass zu jedem echten Drama die Musik als integrierender Bestandteil gehört, wie zu jeder wahren Skulptur die Farbe, und das reine Sprechstück ein modernes Entartungsprodukt darstellt. Wagner gibt in jedem seiner Werke theatralisch das Letzte: Unbestreitbar hat im Rienzi die spontinische Spektakeloper, im Holländer die Marschnersche Dämo nenoper, im Tristan die Liebesoper, in den Meistersingern das musikalische Lustspiel, in Lohengrin und Tannhäuser die gesamte Romantik ihre höchste Vollendung erreicht; zumal der letztere kann ohne Übertreibung als das gross artigste Bühnenwerk der Weltgeschichte angesprochen werden. Ja; Wagner hat das höchste Theater gemacht, das erdenklich ist; und es lässt sich bloss noch fragen, ob das Theater das Höchste ist.
Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstver nichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.
Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden «himmlischen Mächte», der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930)
DIE WALKÜRE
RICHARD WAGNER (1813-1883)
Erster Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» Dichtung von Richard Wagner
Siegmund Tenor Sieglinde Sopran Hunding Bass Brünnhilde Sopran Wotan hoher Bass Fricka Sopran Walküren Sopran und Alt Gerhilde Ortlinde Waltraute Schwertleite Helmwige Siegrune Grimgerde Rossweisse
Erster Aufzug: Das Innere der Wohnung Hundings Zweiter Aufzug: Wildes Felsengebirg Dritter Aufzug: Auf dem Gipfel eines Felsenberges (des «Brünnhildensteines»)
ERSTER AUFZUG
ERSTE SZENE
Das Innere eines Wohnraumes. In der Mitte steht der Stamm einer mächtigen Esche, dessen stark erhabene Wurzeln sich weithin in den Erdboden verlieren; von seinem Wipfel ist der Baum durch ein gezimmertes Dach geschieden, welches so durch schnitten ist, dass der Stamm und die nach allen Seiten hin sich ausstreckenden Äste durch genau entsprechende Öffnungen hindurchgehen; von dem belaubten Wipfel wird angenommen, dass er sich über dieses Dach ausbreite. Um den Eschenstamm, als Mittelpunkt, ist nun ein Saal gezimmert; die Wände sind aus roh behauenem Holzwerk, hier und da mit geflochtenen und gewebten Decken behangen. Rechts im Vordergrunde steht der Herd, dessen Rauchfang seitwärts zum Dache hinausführt: hinter dem Herde befindet sich ein innerer Raum, gleich einem Vorratsspeicher, zu dem man auf einigen hölzernen Stufen hinaufsteigt: davor hängt, halb zurückgeschlagen, eine geflochtene Decke. Im Hintergrunde eine Eingangstür mit schlichtem Holzriegel. Links die Tür zu einem inneren Gemache, zu dem gleichfalls Stufen hinaufführen; weiter vornen auf derselben Seite ein Tisch mit einer breiten, an der Wand angezimmerten Bank dahinter und hölzernen Schemeln davor.
Ein kurzes Orchestervorspiel von heftiger, stürmischer Bewegung leitet ein. Als der Vorhang aufgeht, öffnet Siegmund von aussen hastig die Eingangstür und tritt ein: es ist gegen Abend, starkes Gewitter, im Begriff, sich zu legen. Siegmund hält einen Augenblick den Riegel in der Hand und überblickt den Wohnraum: er scheint von übermässiger Anstrengung erschöpft; sein Gewand und Aussehen zeigen, dass er sich auf der Flucht befinde.
Da er niemand gewahrt, schliesst er die Tür hinter sich, schreitet auf den Herd zu und wirft sich dort ermattet auf eine Decke von Bärenfell.
SIEGMUND
Wess’ Herd dies auch sei, hier muss ich rasten.
Er sinkt zurück und bleibt einige Zeit regungslos ausge streckt. Sieglinde tritt aus der Tür des inneren Gemaches; sie glaubte ihren Mann heimgekehrt: ihre ernste Miene zeigt sich dann verwundert, als sie einen Fremden am Herde ausgestreckt sieht.
SIEGLINDE noch im Hintergrunde
Ein fremder Mann? Ihn muss ich fragen.
Sie tritt ruhig einige Schritte näher.
Wer kam ins Haus und liegt dort am Herd?
Da Siegmund sich nicht regt, tritt sie noch etwas näher und betrachtet ihn.
Müde liegt er, von Weges Müh’n.
Schwanden die Sinne ihm? Wäre er siech?
Sie neigt sich zu ihm herab und lauscht. Noch schwillt ihm der Atem; das Auge nur schloss er. Mutig dünkt mich der Mann, sank er müd’ auch hin.
SIEGMUND fährt jäh mit dem Haupt in die Höhe Ein Quell! Ein Quell!
SIEGLINDE
Erquickung schaff’ ich.
Sie nimmt schnell ein Trinkhorn und geht damit aus dem Hause. Sie kommt zurück und reicht das gefüllte Trinkhorn Siegmund. Labung biet’ ich dem lechzenden Gaumen: Wasser, wie du gewollt. Siegmund trinkt und reicht ihr das Horn zurück. Als er ihr mit dem Haupte Dank zuwinkt, haftet sein Blick mit steigender Teilnahme an ihren Mienen.
SIEGMUND
Kühlende Labung gab mir der Quell, des Müden Last machte er leicht: erfrischt ist der Mut, das Aug’ erfreut des Sehens selige Lust. Wer ist’s, der so mir es labt?
SIEGLINDE
Dies Haus und dies Weib sind Hundings Eigen; gastlich gönn’ er dir Rast: harre, bis heim er kehrt!
SIEGMUND
Waffenlos bin ich: dem wunden Gast wird dein Gatte nicht wehren.
SIEGLINDE mit besorgter Hast Die Wunden weise mir schnell!
SIEGMUND schüttelt sich und springt lebhaft vom Lager zum Sitz auf Gering sind sie, der Rede nicht wert; noch fügen des Leibes Glieder sich fest. Hätten halb so stark wie mein Arm Schild und Speer mir gehalten,
nimmer floh ich dem Feind, doch zerschellten mir Speer und Schild. Der Feinde Meute hetzte mich müd’, Gewitterbrunst brach meinen Leib; doch schneller, als ich der Meute, schwand die Müdigkeit mir: sank auf die Lider mir Nacht; die Sonne lacht mir nun neu.
SIEGLINDE geht nach dem Speicher, füllt ein Horn mit Met und reicht es Siegmund mit freundlicher Bewegtheit Des seimigen Metes süssen Trank mög’st du mir nicht verschmähn.
SIEGMUND
Schmecktest du mir ihn zu?
Sieglinde nippt am Horne und reicht es ihm wieder. Siegmund tut einen langen Zug, indem er den Blick mit wachsender Wärme auf sie heftet. Er setzt so das Horn ab und lässt es langsam sinken, während der Ausdruck seiner Miene in starke Ergriffenheit übergeht. Er seufzt tief auf und senkt den Blick düster zu Boden.
Siegmund bleibt tief erschüttert stehen; er forscht in Sieglindes Mienen; diese schlägt verschämt und traurig die Augen nieder. Langes Schweigen.
SIEGMUND kehrt zurück Wehwalt hiess ich mich selbst: Hunding will ich erwarten.
Er lehnt sich an den Herd; sein Blick haftet mit ruhiger und entschlossener Teilnahme an Sieglinde; diese hebt langsam das Auge wieder zu ihm auf. Beide blicken sich in langem Schweigen mit dem Ausdruck tiefster Ergriffenheit in die Augen.
ZWEITE SZENE
Sieglinde fährt plötzlich auf, lauscht und hört Hunding, der sein Ross aussen zum Stall führt. Sie geht hastig zur Tür und öffnet; Hunding, gewaffnet mit Schild und Speer, tritt ein und hält unter der Tür, als er Siegmund gewahrt. Hunding wendet sich mit einem ernst fragenden Blick an Sieglinde.
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SIEGMUND mit bebender Stimme Einen Unseligen labtest du: Unheil wende der Wunsch von dir!
Er bricht schnell auf, um fortzugehen. Gerastet hab’ ich und süss geruht. Weiter wend’ ich den Schritt. er geht nach hinten
SIEGLINDE dem Blicke Hundings entgegnend Müd am Herd fand ich den Mann: Not führt’ ihn ins Haus.
HUNDING Du labtest ihn?
SIEGLINDE
Den Gaumen letzt’ ich ihm, gastlich sorgt’ ich sein!
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SIEGLINDE lebhaft sich umwendend Wer verfolgt dich, dass du schon fliehst?
SIEGMUND von ihrem Rufe gefesselt, wendet sich wieder; langsam und düster Misswende folgt mir, wohin ich fliehe; Misswende naht mir, wo ich mich neige. –Dir, Frau, doch bleibe sie fern!
Fort wend’ ich Fuss und Blick. Er schreitet schnell bis zur Tür und hebt den Riegel.
SIEGLINDE in heftigem Selbstvergessen ihm nachrufend So bleibe hier!
Nicht bringst du Unheil dahin, wo Unheil im Hause wohnt!
SIEGMUND der ruhig und fest Hunding beobachtet Dach und Trank dank’ ich ihr: willst du dein Weib drum schelten?
HUNDING Heilig ist mein Herd: – heilig sei dir mein Haus! er legt seine Waffen ab und übergibt sie Sieglinde; zu Sieglinde Rüst’ uns Männern das Mahl!
Sieglinde hängt die Waffen an Ästen des Eschenstammes auf, dann holt sie Speise und Trank aus dem Speicher und rüstet auf dem Tische das Nachtmahl. Unwillkürlich heftet sie wieder den Blick auf Siegmund.
HUNDING misst scharf und verwundert Siegmunds Züge, die er mit denen seiner Frau vergleicht; für sich Wie gleicht er dem Weibe! Der gleissende Wurm glänzt auch ihm aus dem Auge.
Programmheft
DIE WALKÜRE
komplette
Richard Wagner (1813-1883)
Erster Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen»
Premiere am 18. September 2022, Spielzeit 2022 / 23
können
auf
Herausgeber Opernhaus Zürich Intendant Andreas Homoki Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach, Werner Hintze Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Titelseite Visual François Berthoud Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch
Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG
Textnachweise:
Die Handlung schrieb Werner Hintze. – Die Gespräche mit Andreas Homoki und Gianandrea Noseda sowie der Essay von Elisabeth Bronfen sind Originalbeiträge für dieses Programm heft. – Melanie Unseld, Anarchisches Begehren, Auszug aus dem Text «...so ausser Athem, so verrückt», in: Richard Wagner und das deutsche Gefühl, Katalog zur Ausstellung, Berlin 2022. Torsten Meiwald, Der brave Spiessbürger der Vorzeit, in: ders., Randbemerkungen zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Westerstede 2015. Egon Friedell, Das grösste Theatergenie aller Zeiten, in: ders., Kulturgeschichte der Neuzeit. London, George Allen & Unwin 1940. Richard Wagner, Heilige Antigone, in: ders.,
Oper und Drama. Zweite durchgesehene Auflage. Leipzig, Ver lagsbuchhandlung von J. J. Weber 1869. Sigmund Freud: Das Un behagen in der Kultur. Wien, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1930.
Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 6. und 7. September 2022.
Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach träglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz.
AMAG
Atto primo Clariant Foundation
PARTNER Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG
René und Susanne Braginsky-Stiftung Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Hans Imholz-Stiftung Max Kohler Stiftung Kühne-Stiftung Marion Mathys Stiftung
Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung Swiss Life Swiss Re Zürcher Kantonalbank
GÖNNERINNEN UND GÖNNER
Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Familie Thomas Bär Bergos Privatbank Margot Bodmer Maximilian Eisen, Baar Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG
Landis & Gyr Stiftung Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Fondation Les Mûrons Mutschler Ventures AG Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung
FÖRDERINNEN UND FÖRDERER
CORAL STUDIO SA
Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Dr. Samuel Ehrhardt Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG
Garmin Switzerland Richards Foundation Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar
PRODUKTIONSSPONSORENRING-ZIRKEL
Ein spezieller Dank gilt den Mitliedern des Ring-Zirkels, die den Entstehungsprozess der Neuproduktion «Die Walküre» begleitet haben und grosszügig unterstützen.
Marianne und Peter Angehrn Michael Blank
Prof. Dr. med. Mario Colombo-Benkmann Marcela Flores Heusler und Dr. Andreas Heusler Frédéric Gastaldo
Susanna und Dr. med. Rudolf Herold-Diener Dr. Petra Jantzer und Dr. Siegfried Borelli Agneta und Clemens Lansing Nina und Andreas Limburg Heidi Müller
Janina und Prof. Roger Nitsch Dr. Martin Petry Elisabeth Schaller
Christine Spörri Bühler und Peter Bühler Madlen und Thomas von Stockar
Vorhang auf für Genuss
Legen Sie auf dem Weg zum Konzert einen kulinarischen Stopover ein.
Baur’s
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