Woyzeck

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WOYZECK

CHR ISTIAN SPUCK


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WOYZECK BALLETT VON CHRISTIAN SPUCK Nach dem Dramenfragment von Georg Büchner (1813–1837) Musik von Martin Donner, Philip Glass, György Kurtág und Alfred Schnittke Uraufführung: 24. September 2011, Den Norske Opera & Ballett, Oslo Schweizerische Erstaufführung: 12. Oktober 2013, Ballett Zürich

Choreografie Christian Spuck

Michael Zlabinger Emma Ryott Lichtgestaltung Reinhard Traub Dramaturgie Bibbi Moslet, Michael Küster

Musikalische Leitung

Bühnenbild und Kostüme

Exklusiver Partner Ballett Zürich

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Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allem und keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Grösse ein blosser Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz... Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Georg Büchner, Brief an Wilhelmine Jaeglé, Januar 1834







DIE HANDLUNG Woyzeck ist ein einfacher Soldat. Er liebt Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat. Sein karger Sold reicht für die drei kaum zum Überleben. Um sich etwas hinzuzuverdienen, übernimmt Woyzeck verschiedene Gelegenheitsarbeiten. Allmorgendlich rasiert er den Hauptmann der Garnison. Einem Doktor stellt er sich für dubiose medizinische Experimente zur Verfügung. Drei Monate lang darf Woyzeck nur Erbsen essen. Der Doktor unter­sucht regelmässig die physischen und psychischen Auswirkungen dieser absurden Diät. Ausserdem dient Woyzeck einem Professor als Studienobjekt. Von ihm und seinen Studenten muss er alle erdenklichen Demütigungen einstecken. Einen Vertrauten hat Woyzeck in seinem Kameraden Andres, doch Ruhe findet Woyzeck nur, wenn er mit Marie und seinem Sohn zusammen ist. Immer wieder wird er jedoch von unheilvollen Stimmen heimgesucht. Marie ist fasziniert vom stolzen Tambourmajor der Militärkapelle und lässt sich von seinen Geschenken und Umwerbungen verführen. Als er an Marie ein Paar neuer Ohrringe entdeckt, realisiert Woyzeck, dass sie ihn mit dem Tambourmajor betrügt. Doch diesem Nebenbuhler ist er nicht gewachsen. In seiner ausweglosen Verzweiflung ersticht er Marie.

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Woyzeck Wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend. Georg Büchner, Woyzeck



Marie Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel und doch hab ich ein so rote Mund als die grossen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Händ küssen; ich bin nur ein arm Weibsbild. Georg Büchner, Woyzeck



ZEITTAFEL 178O Johann Christian Woyzeck wird am 3. Januar als Sohn eines Perückenmachers in Leipzig geboren.

1813 Am 17. Oktober wird Georg Büchner in Goddelau (Hessen-Darmstadt) geboren.

1821 Der «Fall Woyzeck» in Leipzig: Woyzeck ersticht am 21. Juni seine Geliebte Johanna Christiane Woost. Er wird verhaftet und nach einem Hinweis seines früheren Zimmervermieters einer gerichtsärztlichen Untersuchung unterzogen; Woyzeck soll unter Wahnvorstellungen gelitten haben. Er wird am 11. Oktober aufgrund des Tatbestandes «Mord aus Eifersucht» zum Tode verurteilt. Am 3. Dezember wird der Fall erneut vor Gericht verhandelt.

1822 Die Todesstrafe wird am 29. Februar durch ein zweites Urteil bestätigt. Es folgen weitere Gutachten, die Auskunft über den Geisteszustand Woyzecks geben sollen. Woyzeck äussert gegenüber dem Gefängnisgeistlichen, er höre Stimmen und habe Geister­er­scheinungen. Auch Berichte von Zeugen lassen auf einen verwirrten Geisteszustand schliessen.

1824 Am 17. April wird das letzte Gutachten vorgelegt, welches die bisherigen Ergebnisse bestätigt. Die Urteilsvollstreckung wird am 12. Juli angeordnet und Woyzeck am 27. August auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichtet.

1834 Im Herbst liest Georg Büchner die medizinischen Gutachten des Woyzeck-Falls, die in der «Zeitschrift für Staatsarzneikunde» veröffentlicht sind.

1836 Im Herbst beginnt Georg Büchner mit der Niederschrift von Szenen­fragmenten über den «Fall Woyzeck». Besonderes Interesse misst Büchner den gesellschafts­kritischen Motiven bei: Woyzeck als ein Opfer der Gesellschaft.

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1837 Am 19. Februar stirbt Georg Büchner in Zürich. Er hinter­lässt vom geplanten Drama «Woyzeck» einzelne Szenenfragmente in ungeordneter Reihenfolge.

185O Büchners Bruder Ludwig nimmt in seiner Edition der gesammelten Werke die Fragmente nicht mit auf; die Arbeit sei unleserlich und ergebe keinen Zu­sam­men­­hang.

1879 Karl Emil Franzos unterzieht das Manuskript einer chemischen Behandlung und macht es so wieder les­bar. Nach einer dramaturgischen Bearbeitung gibt er eine Art «Spielfassung» unter dem Titel «Wozzeck» heraus, in der die Szenen­abfolge nach rein persönlichen und ästhetischen Gesichtspunkten erfolgte. Der Titel ist auf einen Lesefehler Franzos’ zurückzuführen.

1913 Am Münchner Residenztheater werden die Fragmente Büchners unter dem Titel «Wozzeck» am 9. Februar uraufgeführt. Die Titelrolle übernimmt Albert Steinrück.

1925 Am 14. Dezember findet unter Leitung von Erich Kleiber die Uraufführung von Alban Bergs Oper «Wozzeck» an der Deutschen Staatsoper in Berlin statt.

1947 Erste Verfilmung des «Woyzeck» durch den Regisseur Georg Klaren bei der DEFA in Potsdam-Babelsberg. Die Titelrolle spielt Kurt Meisel.

1984 Am Royal Opera House Covent Garden in London findet die Uraufführung von Kenneth MacMillans «Woyzeck»-Ballett «Different Drummer» statt.

1995 Beim Bayerischen Staatsballett bringt Davide Bombana sein Ballett «WoyzeckFragmente» heraus.

1996 An der Komischen Oper Berlin wird Birgit Scherzers Tanzstück «Franz Woyzeck» uraufgeführt.

2O11 Uraufführung von Christian Spucks Ballett «Woyzeck» beim Norwegischen Nationalballett in Oslo.

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VON EINEM, DER ABIRRT Ein Gespräch mit Christian Spuck

Herr Spuck, waren Sie schon einmal am Grab von Georg Büchner hier in Zürich? Selbstverständlich war ich schon da. Es tritt einem dort sofort wieder vor Augen, wie jung Büchner war, als er starb. Was hätte er noch alles schreiben können, wenn er nicht mit 23 Jahren gestorben wäre. Die Grösse seines Werks ist ja auch so schon unfassbar. Allein die Formen, die er in seinen Dramen geprägt hat und die völlig unüblich waren für seine Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man sagen, Georg Büchner habe das moderne Theater vorweggenommen. Denken Sie an die enorme Szenenverdichtung und Sprachverknappung in Woyzeck. Oder Leonce und Lena – diese Komödie ist fast schon absurdes Theater. All das hat er geschaffen, ohne seine Stücke je gesehen zu haben. Wenn man Büchner auf die Bühne bringt, hat man immer das Gefühl, einfach nicht heranzureichen an das, was er mit seiner Sprache ausdrücken konnte. Man fühlt sich klein, weil sein Werk so gross ist. Nach Leonce und Lena haben Sie mit Woyzeck ein weiteres Büchner-Schau­spiel für das Ballett Zürich choreografiert. War es nicht eine ziemlich abwegige Idee, ausgerechnet Woyzeck in Tanz zu verwandeln? Das mag sein, aber es war eine sehr verlockende Heraus­forderung. Die Haupt­­figur Woyzeck hat eine Haltung, die dem Tanz eigentlich völlig widerspricht. Er bewegt sich geduckt, mit hängenden Schultern, eingezogenem Kopf und flüchtigen Blicken – während es im Tanz immer darum geht, möglichst aufrecht zu sein, den Raum auszufüllen. Der Schönheitsbegriff wird gross geschrieben, es geht um die Darstellung von Eleganz im Spiel der Körper. Im 19. Jahrhundert war die Sehnsucht nach Leichtigkeit und Überwindung der Schwerkraft etwas sehr Wichtiges. Und das alles passt gar nicht zu

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Woyzeck. Das macht die Figur spannend. Woyzeck ist unstet und rennt die ganze Zeit wie in einem Hamsterrad. Er ist ein Getriebener, will es allen recht machen, muss sein Geld verdienen, um zu überleben. Und wie lösen Sie diesen Widerspruch auf? Gar nicht. Wir spielen mit ihm. Wir haben den Tänzern schwere Schuhe angezogen und versuchen so etwas wie eine «Eleganz der klobigen Absätze» zu kreieren. Wir wollen das Kantige in Woyzeck zeigen, aber die Basis unserer Choreografie bleibt dennoch eine genau umgesetzte Musikalität. So entstehen Spannungsfelder, und die sind mir wichtig. Die Beziehung zwischen Marie und Woyzeck beispielsweise ist alles andere als harmonisch, es liegt etwas Widerstrebendes in den Momenten, in denen sie sich nahe kommen. Man spürt, dass sie eigentlich nicht miteinander zurechtkommen. Sie müssen zusammen leben, weil sie gemeinsam dieses uneheliche Kind haben. Und trotzdem haben wir organische, fliessende Bewegungen für ihre Pas de deux choreografiert. Denn würden sie sich nur voneinander weg bewegen, gerieten diese schnell plakativ und banal. Man muss Ambivalenzen stark machen und den Zwischentönen nachspüren. Im Tanz droht immer die Gefahr, dass der Ausdruck zu eindimensional wird, weil eine Bewegung zunächst einmal nur eine Bewegung ist.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Büchners Szenen sind reich an bildmächtigen Beschreibungen der Figuren und ihrer Physiognomie. Der Hauptmann sagt etwa zu Woyzeck: «Er läuft wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt, man schneidet sich an ihm.» Hilft das beim Choreografieren? Büchners Sprache bringt alles unglaublich präzise auf den Punkt, und aus den Sätzen spricht starke Konkretion. Das lässt sich natürlich gut durch den Körper erzählen. In dieser Hinsicht ist Woyzeck leichter auf die Bühne zu bringen als etwa Leonce und Lena, wo man den feinen Humor und die Ironie des Stücks zu fassen kriegen muss. Woyzeck ist griffiger. Denken Sie nur an den Tambourmajor, von dem es heisst, er schreite daher wie ein Löwe. Der besteht nur aus Eitelkeit und Sex, und den interessiert auch nur Sex.

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In welcher Atmosphäre spielt Woyzeck? Ich empfinde das Stück als sehr dunkel. Der Umgang der Menschen untereinander ist extrem bedrohlich. Der Schriftsteller Martin Walser hat, als ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde, von der grossen Leere gesprochen, die einem aus den Dramen des Dichters entgegengähne, vom «Büchner-­Horror». Empfinden Sie den auch? Über dem Stück liegt eine beklemmende Trostlosigkeit, das ist keine Frage. Trotzdem lebt es auch von einem bissigen Sarkasmus. Der Hauptmann hat in seiner Arroganz und Selbstverliebtheit doch auch etwas Überzeichnet-­ Lächerliches. Allen Figuren wohnt dieser Holzschnittcharakter inne. Der Hauptmann, der Doktor, der Tambour­major, der Professor – das sind Typen, die im Stück noch nicht mal einen Namen haben. Es sind Karikaturen. In ihnen kann man auch erkennen, wie Büchner die Sozialkritik angelegt hat. Sie sind Täter, die Woyzeck demütigen, aber sie sind auch Opfer ihrer eigenen Sozialisation. Sie können nicht anders. Sie sind lächerlich und ab­gründig zugleich. Büchner ist ein Meister solcher Doppelbödigkeiten. Und wie kann man die in einem Ballettabend auf die Bühne bringen? Wir müssen es mit den Möglichkeiten des Tanzes versuchen, etwas anderes bleibt uns ja nicht. Ich liebe zum Beispiel die Jahrmarktatmosphäre, die in dem Stück angelegt ist. Die Figuren erinnern mich an Schiessbudenfiguren, die plötzlich hochklappen und wieder verschwinden, ihre Physiognomie hat etwas Mechanisches und Blechernes. Damit kann man arbeiten. Oder die Professorszene, die ich um fünf Studenten ergänzt habe: Das Bewegungs­ material, das wir in dieser Szene verwenden, kommt wie aus einem schwarzen Musical. Die Studenten tragen Zylinder, mit denen sie spielen, und traktieren Woyzeck, als veranstalteten sie eine skurrile Show. Den Menschenexperimenten verleihen sie so den Charakter eines düsteren Cabarets. Mit solcherart Ideen versuchen wir, Sarkasmus und ironische Schwärze ins Spiel zu bringen. Die Szenen bekommen einen sinistren Unterhaltungscharakter. Umso grösser ist der Schock, wenn alles in der Katastrophe endet.

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Spielt Ihr Woyzeck in einer konkreten Gesellschaft? Wir haben die Szenen in eine gottverlassene Dorfsituation eingebettet, die ist aber nur mit sparsamen Zeichen angedeutet. Es tauchen Paare auf, die sich immer nur als Dorfpaare bewegen – Mann und Frau immer eingehakt. Sie verkörpern eine demonstrative Dorfharmonie, während Marie und Woyzeck fremd zwischen ihnen wirken. Sie sind eben kein perfektes Paar, sie sind Aussenseiter. Man sieht die Bemühungen der beiden, das gleiche Schritt­ material wie die Dorfgesellschaft zu verwenden. Nur klappt das nie, weil sich immer einer falschherum bewegt. Es ist ein ständiges Aneinandervorbei zwischen Aussenseitern und Gesellschaft. Woyzeck will unbedingt ein Teil dieser Gesellschaft sein, aber er schafft es nicht. Wir haben uns gefragt, was in diesem Stück Walzer und Polka bedeuten und dann versucht, mit den Mitteln des Tanzes provin­zielle Enge und das Aussenseitertum zu erzählen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Was muss ein Tänzer mitbringen, um Woyzeck tanzen zu können? Kraft! Es bedarf einer riesigen Energieleistung, denn Woyzeck ist in nahezu www.opernhaus.ch/shop jeder Szene präsent auf der Bühne. Unser neuer Woyzeck Tars Vandebeek ist eigentlich noch sehr jung für die Figur, aber er bringt die notwendige oder am Vorstellungsabend imfür ihn. Foyer Athletik und Ausstrahlung mit. Der Abend beginnt mit einem Solo Es dauert drei Minuten und ist irrsinnig schnell. In diesem Solo wird Woyzecks exponiert: Er spielt den folgsamen Soldaten, desBewegungsrepertoire Opernhauses erwerben den Gedemütigten, den Wahnsinnigen usw. Das gesamte Vokabular der Hauptfigur ist da hinein gepackt und wird extrem verdichtet vorgestellt. Alles spinnt sich ausgehend von diesem Solo fort. Wenn du das getanzt hast, bist du schon fix und fertig, obwohl der Abend gerade erst begonnen hat. Woyzeck offenbart sehr viele Facetten, neben dem geschundenen Charakter auch das Irrlichternde und «Hirnwütige». Von besonderer Bedeutung ist die Frage des Fokus bei Woyzeck. Was hört er? Wo guckt er hin? Wie reagiert er auf Menschen? Normalerweise ist der Fokus im Tanz streng definiert, zu einer anderen Figur, zum Publikum oder ganz grund­sätzlich diagonal. Woyzecks Fokus jedoch irrt immer ab. Er ist in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen und hat Visionen. Das muss zum Ausdruck kommen.

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Kann Woyzeck als Ballettabend genauso tiefgründig auf die Bühne kommen wie als Schauspiel? Wenn ich mich als Choreograf dafür entscheide, Literatur oder ein Schauspiel für den Tanz zu adaptieren, weiss ich von vornherein, dass ich bestimmte Ansprüche nicht einlösen kann. Das muss ich in Kauf nehmen. Es kann immer nur eine Version werden, die «nach einem Stück von Georg Büchner» konzipiert ist. Aber ein Tanzabend, wenn er gelingt, berührt den Zuschauer vielleicht auf andere, ungeahnte Weise. Bei einem Gastspiel von Leonce und Lena bin ich vor einiger Zeit mit Koryphäen der deutschen Georg-­ Büchner-Gesellschaft zusammengetroffen. Eine Expertin sagte zu mir nach der Vorstellung, sie habe zunächst grosse Probleme gehabt, sich auf den Abend einzustellen, weil sie das Stück so gut kenne. Aber irgendwann habe sie ihr ganzes Wissen abtrennen können von dem, was auf der Bühne zu sehen war – und von diesem Moment an habe sie den Abend sehr genossen. Ich habe das als Kompliment empfunden. Man muss sich von der Vorlage lösen, der du als Choreograf nie gerecht werden kannst. Das Gespräch führte Claus Spahn

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Schon in ihren ersten Sätzen stellen sich die Figuren ganz dar. Der Hauptmann so gut wie der Doktor und erst recht der Tambourmajor erscheinen als Ausrufer ihrer eigenen Person. Höhnisch oder prahlerisch oder neidisch ziehen sie ihre Grenzen und ziehen sie gegen das ein und dasselbe verachtete Geschöpf, das sie unter sich sehen und das dazu da ist, ihnen als ein Unteres zu dienen. Woyzeck ist das Opfer aller drei. Der angelernten Philosophie des Doktors, des Hauptmanns, hat er wahrhaftige Gedanken entgegenzusetzen. Seine Philosophie ist konkret, an Angst und Schmerz und Anschauung gebunden. Er fürchtet sich, wenn er denkt, und die Stimmen, von denen er gehetzt ist, sind wirklicher als die Rührung des Hauptmanns über seinen Rock, der dahängt, und die unsterblichen Erbsen-Experimente des Doktors. Im Gegensatz zu ihnen wird er nicht frontal präsentiert, von Anfang zu Ende besteht er aus lebendigen, oft unerwarteten Reaktionen. Da er immer ausgesetzt ist, ist er immer wach, und die Worte, die er in seiner Wachheit findet, sind noch Worte im Stande der Unschuld. Sie sind nicht zerrieben und missbraucht, sie sind nicht Münze, Waffe, Vorrat, es sind Worte, als wären sie eben entstanden. Elias Canetti in der Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, 1972


UNSTERBLICHE EXPERIMENTE Ein Essay von Hermann Kurzke

Das Proletarier-Elend des 19. Jahrhunderts in Büchners Woyzeck zu entdecken und sich darüber pflichtschuldig zu empören – das ist moralisch korrekt, aber zum Gähnen. Das Theater vom armen Mann, den unmenschliche Gesellschaftsmächte – der Hauptmann, der Doktor – zum Mord an seiner Geliebten treiben, ist heruntergekommen zur Phrasendreschmaschine für Schreibtischempörungen. Wir brauchen einen Woyzeck, der uns anders packt, und zwar unmittelbar körperlich, nicht auf dem Umweg über den Kopf. Ballett ist Körpertheater, hat Büchner etwas dafür zu bieten? Welche Körper begegnen uns in seinen Szenenentwürfen? Es ist ein groteskes Panoptikum. Es gibt Dünne und Dicke, Kurze und Lange, Krumme und Gerade, Babys und Greise, Schmiegsame und Steife, Rapide und Apathische, Taumelnde und Standsichere, Potente und Impotente, Menschliche und Viehische, Geistige und Fleischige. Es treten auf: ein Kind, ein Idiot, ein Narr, ein Soldat, ein Marktschreier, ein alter Mann, ein gelehrtes Pferd, betrunkene Handwerker, eine Grossmutter und mehr noch. «Ich bin ein lebendiges Skelett», so stellt sich ein ausgezehrter Barbier vor, «die ganze Menschheit studiert an mir». Für einen halben Gulden in der Woche zeigt er den Studenten seinen verkrümmten Rücken. Er hat sich so heruntergehungert, dass man alles prächtig sehen kann, die Knochen, die Muskeln, die Bänder, Sehnen und Gefässe. Er ist ein bezahltes Objekt. Die Medizinerwelt ist kalt, sie verzehrt Körper und legt sie in Spiritus. Eine Frau hat Gesichtskrebs, cancer aquaticus, sagt der Doktor, sie ist in vier Wochen tot, das Schöne daran ist: «sie gibt ein interessantes Präparat». Der Doktor ist kurzbeinig, dürr und zuckelig. Er kräht «Kikeriki», bewegt sich wie ein Blitz, hetzt «hinter dem Tod drein».

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Der Hauptmann nennt ihn «Sargnagel». Der Körper des Doktors hat wie ein Dämon kaum Materie. Er ist so schnell, dass er immer schon fort ist von dem Ort, an dem man ihn gerade noch gesehen hat – eine gespenstische Figur. Büchner selbst war Anatom, im Zerschneiden und Präparieren von toten Körpern geübt. Er kannte diese Welt, er satirisierte sich selbst in ihr und bannte so seine eigene Urangst, ein Unmensch zu sein. Marie, Woyzecks Geliebte, hat «einen so roten Mund als die grossen Madamen». Sie ist selbstbewusst und traut sich was. Sie ist ein scharfes Weib. «Zum Fortpflanzen von Kürassierregimentern und zur Zucht von Tambourmajors», trompetet der Tambourmajor. «Wie sie den Kopf trägt, man meint das schwarze Haar müsse ihn abwärts ziehen», sagt der Unteroffizier. «Als ob man in einen Ziehbrunnen oder zu einem Schornstein hinunter guckt», sekundiert der Tambourmajor. «Ein köstlich Weibsbild! die hat Schenkel und Alles so fest!» sagen sie zueinander. Woyzeck aber ist lang und dünn wie der Schatten von einem Spinnenbein, beinahe körperlos, das kann nicht gut gehen. Sie verweigert sich ihm, das Geisthafte ekelt sie. «Ich hätt lieber ein Messer in den Leib, als deine Hand auf meiner», sagt sie zu ihm. Er ist ein guter Mensch, aber reicht das? Marie begehrt etwas Elementareres, einen Mann, vital und brutal. Der Tambourmajor ist ein «Stier», ein «Löw», ein «Baum» – also ein echter Mann, wenn auch ein Tier. «Ich bin stolz vor allen Weibern», sagt Marie verblendet, als sie ihn ansieht. Es ist nur der Körper und nichts als der Körper, dessen Hitze alle anderen Gesichtspunkte verbrennt. Alle Personen in diesem Stück hängen an den Seilen des Triebs. Marie ist nicht die unschuldig Verführte, sondern eine Begehrende – «sie guckt siebe Paar lederne Hose durch». Ihre Lippen sind heiss, «die Wespen setzen sich gern drauf». In der frühesten Fassung ist Marie nur eine Soldatenhure. Erst in der letzten Fassung hat Büchner sie ein bisschen veredelt, so dass sie Fausts Gretchen zu ähneln beginnt. Der Tambourmajor ist zwar ein dummes Schwein, aber er hat Courage wie ein Hengst, deshalb bekommt er die heisse Marie. Sein Hauptmann hat keine Courage. «Hm, aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplectische Constitution», lautet die Diagnose des Doktors. Der Hauptmann ist massig und ungesund, sein Körper ist hässlich, er schnauft wie ein Ochse. Er ist kein schneidiger Offizier, sondern ein alter Sack. Er verdrängt seine Sexualität und schwadroniert

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von der Tugend. Er schaut von seinem Fenster aus den Mädchen unter die Röcke, wenn sie sie schürzen, um bei Regenwetter über die Pfützen zu springen. Wenn er Glück hat, sieht er ein Bein bis zum Knie. Er verzichtet, weil er feig ist und sich selbst nicht achtet – nicht weil er die Würde der Mädchen achtete. Auch er hat Marie gesehen, sah sogar auf ihren Lippen die des Tambourmajors, auch er begehrt sie – «Woyzeck, ich habe wieder die Liebe gefühlt» – schwermütig und chancenlos. Woyzecks Körper ist steif und verspannt. Er läuft gehetzt wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt, er stakst erst breitbeinig und wird dann immer schneller. «Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend, Haltung aufgerichtet gespannt.» Er «tastet mit seinen Füssen herum wie mit Spinnenfüssen», pisst an die Wand, «steht ganz grad», «kracht mit den Fingern». Er bekommt nur Erbsen zu essen, sein Haar ist ganz dünn geworden, sein Puls ist ungleich, die Studenten betasten ihm Schläfe, Puls und Busen. Er ist nicht ganz von dieser Welt, ein Seher, ein Prophet, ein Philosoph, «so vergeistert», ein Intellek­ tueller, auch wenn er nichts studiert hat ausser der Bibel. «Er schnappt noch über mit den Gedanken.» Von der Körperlichkeit her gesehen, bringt es gar nichts, das Personal soziologisch in Täter und Opfer aufzuspalten. Sklaven sind sie vielmehr alle – Sklaven ihrer Körper. Sie sind alle grotesk, im strengen Sinne von karikaturistisch überzeichneten Mischformen von Menschheit und Tierheit. Das meiste am Menschen ist noch Tier. Büchner hat schon die Evolution gesehen. «Der Aff’ ist schon ein Soldat, s’ ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht.» Alle verfolgen das Interesse ihres Geschlechts. Sie sind grotesk, wenn sie sich etwas Geistiges herausnehmen und so tun, als seien sie mehr als Tiere – der Doktor, wenn er faselt von der Revolution in der Wissenschaft, die er bewir­ken werde, der Barbier, wenn er den dogmatischen Atheismus verkündet, der Haupt­ mann, wenn er Moral predigt, der Tambourmajor, wenn er sich etwas auf seinen Federbusch einbildet, Marie, wenn sie stolz ist auf einen Mann, der doch nur ein Baum ist, Woyzeck, wenn er die Freimaurer unter dem Boden wühlen hört. Alle sind komisch und elend. Alle sind tragisch und lächerlich. Darin liegt die unverwüstliche Modernität.

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Büchner hatte nicht die Absicht, ein Theaterreformer zu sein. Das hat sich eher nebenbei ergeben. Er hatte auch nicht die Absicht, eine Pauperismusstudie vor­ zulegen. Das Thema Armut interessierte ihn zwar, aber es ist nur ein Teilaspekt, der im ersten Woyzeck-Entwurf noch gar nicht vorkommt. Die Armut gehört zu den Mächten, die Woyzeck in die Enge treiben, aber seine Marie fällt nicht für Geld, sie fällt, weil der Tambourmajor ein Stier ist. Die unbeherrschbare Triebhaftigkeit der Menschen ist das Herzstück, nicht die soziale Not. Auf seine biografischen Voraussetzungen befragt, erweist Woyzeck sich als Spiegel zahlreicher Konflikte, die Büchner mit sich herumtrug und in sein Drama hineintrug. Es spielt in den Tiefen und Abgründen seiner Seele. Es spielt nicht dort, wo es bürgerlich und aufgeräumt zugeht und das Verdrängte unter strenger Kontrolle steht, sondern dort, wo die Gefühle lagern, die nicht sein sollen und für die er keinen anderen Platz hat als die Dichtung. Die biografischen Beziehungen zu seinem Dramenpersonal sind eng. Das lebende Skelett hatte er als Strassburger Medizinstudent gesehen; ein Grausen war ihm davon übrig geblieben. Er kannte auch Ernährungsexperimente, Sektionen, Präparate und die wissenschaftliche Medizin, die Menschen aufspiesste wie Käfer und, damals wie heute, im Patienten hauptsächlich Material für Forschungen sah. «Wenn Gott will, dass Ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir die unsterblichsten Experimente.» Diesem Typus entsprach auch Büchners Vater, der eine selbstmordwillige Patientin markierte Stecknadeln verschiedener Länge schlucken liess, um herauszufinden, wie lange diese brauchen, um den Darm zu durchwan­ dern. Die Figur des Doktors ist insoweit eine höchst persönliche Angelegenheit des jungen Georg Büchner, der dem, was er kritisiert, gefährlich nahe war. Auch dem Hauptmann ist er nicht fern. Der Hauptmann ist ja kein zackiger Militär, sondern ein Melancholiker, hamletisch unfähig, seinem Begehren Handlungsgestalt zu geben. Büchner hatte sich allzufrüh verlobt, als Neunzehnjähriger, und fühlte sich nun gefesselt. Er träumte von vielen Frauen, wie seine Dichtungen zeigen, die voll von grossartigen Frauenfiguren sind, die meisten davon erotisch sehr anziehend. Bestimmt sah auch er den Mädchen unter die Röcke. Aber wie der Hauptmann war er gefesselt durch die Tugend. Er wäre zwar manchmal gern ein Tambourmajor gewesen, der sich die Frauen einfach nimmt, aber zugleich verachtete er diesen Typus, er war zu anständig

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und ein Intellektueller mit einem Kopf voller Bedenken. Seine Verlobte durfte ausserdem nicht wissen, dass er noch eine heimliche Geliebte hatte, die er zur Tugend führen wollte. Dem Tagebuch des Freundes Alexis Muston verdanken wir eine sensationelle Nachricht: Büchner habe sich «in einer Art mystischen Anbetung in ein gefallenes Mädchen verliebt, das er auf die Stufe von Engeln zu erheben träumte.» Ausser seiner Verlobten hatte der junge Büchner also noch diese «fille perdue», wie sie im französischen Original heisst, zu verkraften, und wollte sie «relever au niveau des anges». Vielleicht war sie eine Prostituierte, was Büchners erstaunlich gute Kenntnisse des Hurentons erklären würde. Vielleicht wollte Büchner sie auf den bürgerlichen Pfad zurückführen, vielleicht war er daran gescheitert, vielleicht war sie mit irgendeinem Tambourmajor von dannen gezogen, vielleicht rührte daher eine tiefe Kränkung, die er seinem Woyzeck mitgibt, dem es auch nicht gelingt, die heisse Marie zu zähmen. Büchner gehörte eher zu den Langen und Dünnen als zu den Breitbrüstigen und Standsicheren. Er treibt seinen Woyzeck so in die Enge, dass dieser im Mord den einzigen Ausweg sieht. Der Tod auf dem Schafott wird die Folge sein. Büchner kannte die Todesangst. Er hatte eine Grundangst vor Enge. Sein dichterisches Werk ist voll von klaustrophobischen Bildern. Er erlebte die Welt wie einen Sarg, der sich gerade schliesst. Die Grundangst, die vielleicht schon aus der Kindheit kam, hatte sich verschärft durch die sehr konkrete Angst, verhaftet zu werden. Er wurde ja in Deutschland wegen seiner aufrührerischen Flugschrift Der Hessische Landbote steckbrieflich gesucht. Die Anklage hätte auf Hochverrat gelautet. Freunde von ihm sassen im Knast; er wusste, wie schrecklich das war. Er konnte zwar noch rechtzeitig fliehen, aber die Angst blieb, auch Strassburg war ja nicht besonders sicher. Alle Figuren in Woyzeck sitzen in diesem klaustrophobieerzeugten Gefängnis, vor allem Woyzeck selbst, aber auch seine Marie. In ihrer Ausweglosigkeit beten sie. Aber nicht einmal im Himmel ist der Raum offen. «Ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen», sagt Woyzeck. Die Rückbindung an die Biografie soll das Werk nicht privatisieren, es nicht verkleinern und erniedrigen zum Resultat nur der Psychopathologie seines Au-

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tors, sondern es erweitern und reicher machen. Das ergreifende junge Leben, das im Februar 1837 in Zürich so jäh endete, soll immer präsent sein und dem Kunstwerk eine tiefe Saite hinzufügen, die im Theatererleben mitschwingt. Die Trauer um ihn darf sich mischen mit der Trauer um Woyzeck und Marie. Das Grosse an Büchner ist ja nicht allein, dass er uns die Trieb- und Interessengebundenheit allen Lebens zeigt. Das Grosse ist die Trauer, mit der er das tut. Er triumphiert ja nicht, als hätte er endlich Aufklärung gebracht, als hätte er den Geist und die Seele und die Menschlichkeit aus purer Wahrheitsliebe entlarvt. Er trauert um die Menschen, die er zeigt, weil sie sich nicht losmachen können aus ihren Ställen und Käfigen, weil sie keine Adler sind, sondern Stiere, Gockel, Ochsen und Schweine, Affen, Spinnen, Zuchtstuten und Ziehbrunnen. Oder bewusstlos vegetieren wie Kinder, Narren und Betrunkene. Er sähe gern Erlöste, findet aber nur Gefangene. Früher und genauer als andere sah er, was aus den vermeintlich aufgeklärten Bürgern des modernen Staates geworden war: Leute wie der Doktor, der Hauptmann, der Tambourmajor, die sich Menschen wie Woyzeck und Marie gefügig machen, anstatt sie als Freie und Gleiche zu behandeln. Im Woyzeck-Drama gibt es keine revolutionäre Perspektive, niemand tritt auf, der die Verhältnisse verbessern könnte. Gerade weil niemand wirklich etwas ändern kann, wirkt das Soziale in seiner Fatalität so empörend, so sehr als Gefängnis. Daran hat sich im Prinzip wenig geändert seitdem. Die Bürgerrechte gehören faktisch nur wenigen. Dem einzelnen Sozialfall wird oft nicht geholfen, oder man kann ihm nicht helfen. Das soziale Netz hätte den Mörder Woyzeck nicht gehalten. Der Fall Woyzeck ist aktuell wie eh und je. Büchner ist ein ausgezeichneter Seismograph, der Erschütterungen wahrnahm, von denen noch heute die Erde zittert.

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Hermann Kurzke ist Professor emeritus für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz. Seine vielbeachtete Biografie über Georg Büchner ist 2013 im H.C. Beck-Verlag erschienen.

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Ein Gott, der nicht hilft, ist keiner. Aber wenn dann keiner ist, schiesst eben aus allem, was Zeit und Raum reservieren, dieser Leere-Schrecken heraus. Und in einer Welt, aus der die Dimension Gott verschwunden ist, schnurrt dieses Ich, das gerade noch phantastisch aufgelegt schien, zu einem trockenen, einsamen, schmerzhaften Punkt zusammen. Darum ist jeder bei B체chner ein armer Hund. Danton und Robespierre, Woyzeck und der Hauptmann. Bei einem, dem das Leiden alles und dem alles zum Leiden wurde, kann es keine privilegierten Existenzen geben. Martin Walser in der Dankesrede anl채sslich der Verleihung des Georg-B체chner-Preises, 1981


MUSIK PROLOG Philip Glass: Music Box Martin Donner: Intro STADTSZENE Johann Sebastian Bach / György Kurtág: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, Sonatine, BWV 106 (aus «Játékok») Alfred Schnittke: The Glass Harmonica Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 1. The Musician and the Carillon WOYZECK UND ANDRES Martin Donner: Woyzeck + Andres György Kurtág: Hommage à Mihaly András – 12 Microludes für Streichquartett op. 13, daraus: 10. Molto agitato WOYZECK UND HAUPTMANN Alfred Schnittke: Rikki-Tikki-Tavi (Arr.: Frank Strobel), daraus: Nacht TAMBOURMAJOR UND SOLDATEN Martin Donner: Tambourmajor MARIE UND WOYZECK Alfred Schnittke: Die Kommissarin, daraus: Regen Philip Glass: Music Box WOYZECK UND DOKTOR Alfred Schnittke: The Glass Harmonica Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 4. The Musician – Awakening

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MARIE UND TAMBOURMAJOR Alfred Schnittke: Die Kommissarin, daraus: Einzug in die Stadt Martin Donner: Marie + Tambourmajor WOYZECK UND PROFESSOR Alfred Schnittke: Rikki-Tikki-Tavi (Arr.: Frank Strobel), daraus: Kampf MARIES OHRRINGE György Kurtág: Hommage à Mihaly András – 12 Microludes für Streichquartett op. 13, daraus: 2. Quasi allegretto György Kurtág: Aus der Ferne III für Streichquartett (1991) Alfred Schnittke: The Ascent Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 3. Remorse WIRTSHAUS Alfred Schnittke: Adventures of a Dentist-Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 3. Der Park. Tempo di valse Martin Donner: Tavern Interlude Alfred Schnittke: Adventures of a Dentist-Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 7. Walzer: Moderato WOYZECK Alfred Schnittke: The Glass Harmonica Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 3. The Faces  –  The Flights  –  Pyramids WOYZECK TÖTET MARIE Alfred Schnittke: The Ascent Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 2. On the Sleigh Alfred Schnittke: The Ascent Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 3. Remorse WIRTSHAUS II Alfred Schnittke: The Waltz Suite (Arr.: Frank Strobel), daraus: 3. Factory EPILOG Johann Sebastian Bach / György Kurtág: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, Sonatine, BWV 106 (aus «Játékok»)

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DIE KOMPONISTEN Alfred Schnittke Der deutsch-russische Komponist Alfred Schnittke zählt ohne Frage zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Man hat ihn als «Gratwanderer zwischen Ost und West» bezeichnet – und das spiegelt sich auch in seiner Musik wider. Schnittke hat ein reichhaltiges Werk hinterlassen. Geboren wurde er 1934 in Engels, der damaligen Hauptstadt der Autono­ men Wolgadeutschen Sowjetrepublik. Sein Vater war der Journalist und Übersetzer Harry Schnittke, ein in Frankfurt am Main geborener Jude lettischer Herkunft. Seine Mutter Maria war eine wolgadeutsche Katholikin. Von 1946 bis 1948 lebte die Familie in Wien, da der Vater für eine Zeitung dorthin versetzt wurde. Schnittke schrieb über die Zeit später: «Nun komme ich nach Wien – und da darf ich deutsch sein.» Sein Leben zwischen der deutschen und russischen Kultur bestimmte auch zeitlebens sein Wirken und findet sich in seinem kompositorischen Schaffen wieder. Erste Kompositionsversuche unternahm der zwölfjährige Schnittke in Wien, doch der Grundstein für sein reiches Wirken wurde 1948 in Moskau gelegt. Dort besuchte er zunächst fünf Jahre lang eine Musikfachschule und liess sich zum Chorleiter ausbilden. Zudem nahm er Privat­unterricht in Harmonielehre und Analyse. 1953 begann er am Moskauer Konservatorium sein Studium der Komposition und Kontrapunktik. Ab 1962 lehrte Schnittke dort selbst und arbeitete gleichzeitig als freischaffender Komponist. Berühmt machten ihn zunächst die vielen Kompositionen für den Film, unter anderem für Die letzten Tage von St. Petersburg oder Agonie, die er schrieb. Er arbeitete mit Regisseuren wie Andrej Tarkowski zusammen. Schnittke wid­ me­te sich aber längst nicht nur der Filmmusik, er nahm letztendlich in seinen Werken auf sämtliche musikalische Gattungen Bezug – so begründete er die mit seinem Namen eng verbundene sogenannte Polystilistik. Als beispielhaft dafür gilt seine Erste Sinfonie (1969-1972), die er mit Zitaten aus Barock-, Tanz- und Jahrmarktmusik durchsetzt hat. Seine Violinsonate Nr. 2 von 1968 war der Durch­bruch auf diesem Gebiet.

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Genauso wie er die verschiedenen musikalischen Genres aufnahm, zerlegte und neu zusammensetzte, zitierte er in seinem Schaffen auch häufig seine musikali­ schen Vorbilder, insbesondere Corelli, Bach, Mahler, Bruckner, Ives und Scho­ stakowitsch. Dass sich Schnittkes Musik schon früh im Westen durchsetzte, ver­ dankte er vor allem dem Geiger Gidon Kremer und dem Dirigenten Genna­di Rozhdestvensky. Sie führten bei Konzerten seine Werke auf, und so dauerte es nicht lange, bis Schnittke bei Musikfestivals in Graz, Paris, London, Berlin, Donaueschingen und Wien gespielt wurde. Den sowjetischen Kulturfunktionä­ ren war das ein Dorn im Auge: Sie hielten seine avantgardistische Musik für zu experimentell und westeuropäisch – auf jeden Fall nicht geeignet, die Kulturpolitik der UdSSR zu repräsentieren. Die eingangs erwähnten Kompositionen für den Film waren für Schnittke daher auch ein Mittel, um sich finanziell und politisch über Wasser zu halten. 1990, gesundheitlich bereits angeschlagen, siedelte Schnittke mit seiner Familie nach Hamburg über. Er nahm eine Professur für Komposition an der Musik­hochschule an. Schon vor seinem Umzug an die Elbe verband ihn vieles mit der Stadt: John Neumeier, Choreograf und Direktor des Balletts an der Ham­burgischen Staatsoper, hatte 1983 Tennessee Williams’ Endstation Sehn­ sucht nach der Musik von Schnittkes Erster Sinfonie inszeniert. 1989 führte Neumeier Schnittkes Ballett Peer Gynt in der Hamburger Oper auf. Mit der Oper setzte sich Schnittke erst spät in seinem Leben auseinander. Nur drei Jahre vor seinem Tod, 1995, vollendete er die Oper Historia von D. Johann Fausten. 1992 feierte Leben mit einem Idioten  in Amsterdam Premiere. Alfred Schnittke hatte seit 1985 bereits mehrere Schlaganfälle erlitten. Am 3. August 1998 starb er in Hamburg. Mit einem Staatsakt wurde er dann auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof beigesetzt. György Kurtág György Kurtág wurde 1926 in Lugoj im Bánát geboren, einer Region, die erst nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien fiel. Er gilt als der bedeutendste zeit­ ge­nössische ungarische Komponist – er nahm 1948 auch die ungarische Staatsbürgerschaft an – neben seinem Generationsgenossen und Freund György

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Ligeti. Bevor Kurtág 1946 nach Budapest kam, um Musik zu studieren, hatte er Klavier- und Kompositionsunterricht bei Magda Kardos bzw. Max Eisikovits erhalten. Leider starb Béla Bartók, bevor Kurtág ein Studium in dessen Klasse an der Budapester Franz Liszt-Akademie antreten konnte, wie er es gehofft hatte. Er graduierte zunächst in den Fächern Klavier und Kammermusik, um anschlies­ send (1955) sein Kompositionsstudium abzuschliessen. 1957 ging er für ein Jahr nach Paris, wo er in Kompositionskursen bei Darius Milhaud und Olivier Messiaen sowie bei der Begegnung mit der Psychologin Marianne Stein nachhal­ tige Eindrücke sammelte. 1971 verbrachte er als Stipendiat des DAAD ein Jahr in Berlin. Bis zu seinem Ruhestand 1986 war er Professor an der Budapester Musikakademie. Bis zu seinem 1993/95 entstanden Opus 33, dem Claudio Abbado und den Ber­liner Philharmonikern gewidmeten Orchesterwerk Stele, komponierte Kurtág – ausser a cappella Chorwerken – Kammermusik, von Solostücken bis zu Werken zunächst für kleinere, dann immer grössere Ensembles. Die Bot­schaf­ ­ten des verstorbenen Fräuleins R.V. Troussova, op. 17 (1981) für Sopran und Kammerensemble machten seinen Namen international bekannt. ...quasi una fantasia..., op. 27, Nr. 1 (1988) für Klavier und Instrumentengruppen war das erste Werk, in dem er seine seit langem gehegten Vorstellungen von einer den Hörer räumlich umfangenden Musik verwirklichen konnte. Es folgten meh­rere Kompositionen, die dem Raum gleichfalls eine wichtige Rolle zuweisen. Die Stimme, die lange Jahre eine zentrale Stelle in Kurtágs Schaffen einnahm, wurde in diesen Werken durch Instrumente ersetzt. Die Musik Kurtágs ist geprägt von einer ähnlichen Verdichtung musikalischer Texturen, wie es für die Musik von Anton Webern kennzeichnend ist. Aber anders als bei Webern ist Kurtágs Sprache dabei spielerischer und assoziativer. Dennoch ist sie in ihrer oftmals radikalen Beschränkung und Konzentration durchdrungen von Erkenntnis und Vergeistigung, die bei Kurtág mit einem hohen Grad an Selbstzweifel und einer überaus selbstkritischen Haltung einher gehen. Bemerkenswert sind diverse, mehr oder weniger versteckte und verschlüsselte Verweise in seinen Werken, so etwa mit den Opuszahlen oder Titeln, beispielsweise mit op. 27 …quasi una fantasia … an Beethoven oder mit op. 28

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Officium breve an Weberns Streichquartett mit gleicher Opuszahl. Zudem gibt es kompositorische Anspielungen in den zahllosen Widmungsstücken seines Work in progress, Játékok. Philip Glass Philip Glass gehört mit seinen Opern, Sinfonien, Kompositionen für sein eige­ nes Ensemble und seine genreübergreifenden Kooperationen mit Künstlern wie Twyla Tharp, Allen Ginsberg, Woody Allen und David Bowie zu den einflussreichsten Künstlern unserer Zeit. Seine Opern, u.a. Einstein on the Beach,  Satya­ graha, Echnaton und The Voyage, werden weltweit aufgeführt. Er schrieb Schauspielmusik und komponierte die Musik zu den preisgekrönten Spielfilmen The Hours, Kundun von Martin Scorsese sowie zu Godfrey Reggios Koyaanisqatsi. Philip Glass wurde 1937 in Baltimore (USA) geboren. Er absolvierte an der University of Chicago ein Mathematik- und Philosophie-Studium, bevor er an der Juilliard School of Music in New York und bei Darius Milhaud in Aspen Klavier studierte. In Paris verbrachte er zwei prägende Studienjahre bei Nadia Boulanger und arbeitete eng mit dem indischen Sitar-Virtuosen und Komponisten Ravi Shankar zusammen. Nach seiner Rückkehr nach New York gründete er das Philip Glass Ensemble. Philip Glass gilt als einer der Hauptvertreter des amerikanischen Minimalismus. In den vergangenen 25 Jahren komponierte er mehr als 20 Opern, neun Sinfonien, Konzerte für Klavier, Violine, Pauken und Saxophonquartett, Filmmusiken, Streichquartette und zahlreiche Werke für Klavier und Orgel. Er hat mit Robert Wilson, Paul Simon, Linda Ronstadt, Yo-Yo Ma und Doris Lessing zusammengearbeitet. Er hält Vorträge, leitet Work­ shops, gibt Klavierabende und tritt regelmässig mit dem Philip Glass Ensemble auf. Die Biografie von Martin Donner finden Sie im Besetzungsheft.

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Ich zeichne meine Charaktere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte, und lache über die Leute, welche mich für die Moralität und Immoralität derselben verantwortlich machen wollen. Ich habe darüber meine eigenen Gedanken. Georg Büchner, Neujahrsbrief 1836 an die Familie



Programmheft WOYZECK Ballett von Christian Spuck Nach dem Dramenfragment von Georg Büchner Musik von Martin Donner, Philip Glass, György Kurtág und Alfred Schnittke Premiere am 12. Oktober 2013, Spielzeit 2013/14 Wiederaufnahme am 12. März 2016, Spielzeit 2015/16

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Michael Küster Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Inhaltsangabe: Michael Küster. – Brief Georg Büchners an Wilhelmine Jaeglé. In: Georg Büchner: Wir alle sind Schurken und Engel. Hrsg. von Jan-Christoph Hauschild. Hamburg 2012. – Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Oldenburg 1967 – Zeittafel: Michael Küster. Nach: Pro­gramm­heft «Wozzeck» der Deutschen Staatsoper Berlin. Berlin 2011. – Das Gespräch mit Christian Spuck führte Claus Spahn für dieses Programmbuch. – Der Essay «Unsterbliche Experi­ men­te» von Hermann Kurzke ist ein Ori­ginal­bei­trag für die­ ses Programmbuch. – Ausschnitte aus den Büchner-Preis-

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch Studio Geissbühler Fineprint AG

Reden von Elias Canetti und Martin Wal­ser. In: Büch­nerPreis-Reden 1972-1983. Stuttgart 1991. Bildnachweise: Judith Schlosser fotografierte die Klavierhauptprobe im Ok­tober 2013, Moreno Esquibel das Gastspiel in Bilbao im Februar 2015 (S. 11, 13). – Die Compagnie wurde porträtiert von Sir Robin Photography. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Swiss Re Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Walter Haefner Stiftung PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich

Max Kohler Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Swiss Life Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

GÖNNER Abegg Holding AG Accenture AG Josef Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Allreal Ars Rhenia Stiftung ART MENTOR FOUNDATION LUCERNE Familie Thomas Bär Berenberg Schweiz

Ernst Göhner Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG Landis & Gyr Stiftung Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Stiftung Mercator Schweiz Fondation Les Mûrons Neue Zürcher Zeitung AG

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Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich

Else von Sick Stiftung Swiss Casinos Zürich AG

Fritz Gerber Stiftung FÖRDERER Confiserie Teuscher Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland Horego AG Istituto Italiano di Cultura Zurigo

Sir Peter Jonas Luzius R. Sprüngli Elisabeth Stüdli Stiftung Zürcher Theaterverein


Breguet, créateur. Classique 5177

B O U T I Q U E S B R E G U E T – B A H N H O F S T R A S S E 3 1 Z Ü R I C H – B A H N H O F S T R A S S E 1 G S TA A D 4 0 , R U E D U R H Ô N E G E N È V E – W W W. B R E G U E T. C O M


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