Bis Heinz Spoerli dem Zürcher Ballett mit stilvollen Inszenierungen zu internationalem Ansehen verholfen hatte, wollte er nicht ruhen. Und ebenso wenig sein Ensemble.
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CHOREOGRAFIE JEROME ROBBINS
MUSIK FRÉDÉRIC CHOPIN
IN THE NIGHT
Spielzeit 2010/11
8:20 Uhr
In the Night / Das Lied von der Erde
30.3.2011
opernhaus zürich
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DAS LIED VON DER ERDE CHOREOGRAFIE HEINZ SPOERLI
MUSIK GUSTAV MAHLER
opernhaus zürich
In the Night Jerome Robbins Das Leben von Jerome Robbins entspricht fast jenem berühmten Poster von Saul Steinberg, das Manhattan im Vordergrund als Nabel der Welt zeigt – und den Rest der Welt hinter dem Hudson River klein am Horizont. Praktisch das gesamte Leben des Choreografen hat sich in New York abgespielt, von seiner Karriere gar nicht zu sprechen. Am 11. Oktober 1918 in New York geboren, begann Robbins schon in jungen Jahren mit einem umfassenden Studium der Künste: nicht nur Ballett und Modern Dance sowie spanischen und orientalischen Tanz, sondern auch Rezitation, Klavier und Violine, zum Teil bei berühmten Lehrern, und natürlich auch Ballett, zum Beispiel bei Antony Tudor, sowie Schauspiel bei Elia Kazan. 1937 debütierte Robbins als 18-Jähriger als Schauspieler beim Yiddish Art Theatre; fast gleichzeitig trat er auch als Tänzer auf. Nach zwei, drei Jahren als MusicaldarsteIler schloss sich Robbins 1940 dem eben gegründeten (American) Ballet Theatre an, wo er schon ein Jahr später zum Solisten avancierte. Als Choreograf errang er gleich mit seinem ersten Stück, dem heiteren «Fancy Free», das zu Leonard Bernsteins Musik vom Landurlaub dreier Matrosen erzählt,1944 einen Sensationserfolg. Noch im selben Jahr bauten Komponist und Choreograf den Hit zu einem Musical aus: «On the Town». Ein Dutzend Jahre später, 1957, sollten Bernstein und Robbins gemeinsam ein noch erfolgreicheres Projekt durchführen: die Verpflanzung von Shakespeares «Romeo und Julia» ins New York der Gegenwart und die Umwandlung des Schauspiels in ein weitgehend vom Tanz lebendesMusical: «West Side Story». Fünf Jahre später wurde daraus, wiederum mit der Choreografie von Robbins, ein Film. Geraume Zeit pendelte Robbins zwischen Broadway, Film und Ballet Theatre hin und her. Die Abstecher in populärere Künste erhielt dem Choreografen den Spass am elitären klassischen Ballett, das er in dieser Zeit mit den Choreografien «Interplay» (1945, Musik von Morton Gould) und «Facsimile» (1946, Musik von Bernstein) bediente. Am Broadway choreografierte er die Tanzmusicals «Billion Dollar Baby» (1946) und «High Button Shoes» (1947). George Balanchine holte ihn 1949 als Associate Director und Choreograf ans junge New York City Ballet, eine Position, die er zunächst zehn Jahre lang bekleidete. Gemessen an der gewaltigen Produktivität Balanchines ist Robbins’ choreografischer Output in dieser Zeit quantitativ bescheiden: nicht einmal ein Stück pro Jahr. 1950 schuf er «Age of Anxiety» (Musik Bernstein), 1951 «The Cage» (Strawinsky) und «The Pied Piper» (Aaron Copland), 1953 «Afternoon of a Faun» (Debussy), 1956 «The Concert» (Chopin). Die Mehrzahl dieser Stücke befindet sich auch zu Beginn des neuen Jahrtausends noch im Repertoire des New York City Ballet.
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Beinahe produktiver als beim New York City Ballet war Robbins in dieser Zeit am Broadway, wo er die Musicals «The King am I» (Musik Oscar Hammerstein), «Peter Pan», «Bells Are Ringing» und «Gypsy» choreografierte. 1958, noch als Vizedirektor des New York City Ballet, gründete Robbins sein eigenes Ensemble, das er «Ballets: U.S.A.» nannte. Die Kompanie, für die er 1958 das musiklose «Moves» und «New York Export Op. Jazz» choreografierte, feierte auf Europatourneen Triumphe, kam aber in Amerika auf keinen grünen Zweig, so dass Robbins sie 1961 auflöste. Nach erneuten Zwischenspielen am Broadway, als MusicalChoreograf («Funny Girl», «Fiddler on the Roof») wie als Schauspielregisseur choreografierte er 1965 fürs American Ballet Theatre eine neue Version von Strawinskys «Les Noces». 1969 kehrte er als Ballettmeister ans New York City Ballet zurück und machte gleich mit einem künstlerischen Paukenschlag auf sich aufmerksam: dem Chopin-Ballett «Dances at a Gathering», das den Zauber der Romantik noch einmal zu einemgrossen Abschied versammelt. Oberflächlich betrachtet gibt sich das Stück wie ein besonders virtuos gearbeitetes Kompendium des alten Balletts: «Grands Jetes»und «Double Tours en l’air», Mazurka-Seligkeit wie in Fokines «Les Sylphides» und Lifts à la Bolschoi,Walzer-Taumel wie in Balanchines «La Valse» und Pas de deux-Figuren wie von Cranko. Doch Robbins verwendet die alten Formen alles andere als naiv. Sie erscheinen bei ihm als historischesMaterial, fast als Zitate, und haben durchweg eine doppelte Funktion. Sie stehen einmal für sich seIbst und die ganze, auf die Spitze getriebene Schönheit der Danse d’ecole, stehen für Leichtigkeit, Anmut, Jugend, Liebe, Einsamkeit und manches andere mehr. Gleichzeitig aber verabschiedet Robbins das Genre von alledem. Seine Motionen und Enchainements sind voll von dem Bewusstsein des Untergangs, wissen um ihren eigenen Anachronismus. Dazu bedürfte es nicht einmal des gelegentlichen Stockens und Verhaltens im choreografischen Wirbel, der Momente, in denen sich das zehnköpfige Ensemble formiert wie zu einem Gruppenbild auf einer alten Daguerrotypie: als gelte es, den Augenblick festzuhalten für die Ewigkeit. Dies und die Schlusssequenzen machen nur deutlich, was schon aus dem wehmütigen Taumel selbst abzulesen ist: dass «Dances at a Gathering» nicht nur ein, vielleicht der Höhepunkt des klassisch- romantischen Tanzes ist, sondern auch der Schlussstrich darunter: ein Abschied. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod im Juli 1998 choreografierte Robbins, fast ausnahmslos fürs New York City Ballet, eine ganze Reihe von Stücken, die zum Besten gehören, was das klassische Ballett zustande gebracht hat. Auf ein weiteres Chopin-Ballett, «ln the Night», und die «Goldberg Variations» mit der Musik des bachschen Klavier-Zyklus, die er unmittelbar nach «Dances at a Gathering» choreografierte, folgte eine ganze Hand voll von Arbeiten für das Strawinsky-Festival des City Hallet im Jahre 1972: «Scherzo fantastique», «Circus polka», «Dumbarton Oaks» und «RequiemCanticles». Zusammen mit Balanchine choreografierte er «Pulcinella», in dem die beiden alten Herren auch gemeinsam auftraten.
Der grosse Chopin-Pas-de-deux «Other Dances», für Mikhail Barischnikow geschaffen, der in diesen Jahren die Direktion des American Ballet Theatre innehatte, nimmt noch einmal die Motive von «Dances at a Gathering» auf. In den «Dybbuk Variations» zur Musik von Leonard Bernstein entsinnt sich der Choreograf seiner Anfänge. Es sind Robbins’ bei weitem produktivste Jahre, was das Ballett angeht. Das Ravel-Festival des New York City Ballet im Mai 1975 enthält gleich fünf Robbins-Choreografien, darunter eine Interpretation des Klavierkonzerts in G sowie «Ma Mère l’oye» und «Chansons Madegasses». Für das TschaikowskyFestival im Juni 1981 lässt er sich «Piano pieces», «Pas de deux» und «Allegro con grazia» einfallen, für das zweite Strawinsky-Festival ein Jahr später «Four ChamberWorks». Er choreografiert «The Four Seasons» mit der Musik von Verdi (1979), ein «Gershwin Concerto» (1982), «GIass pieces» (1983) und, im selben Jahr, ein grandioses Werk mit dem Titel «I’m Oldfashioned», bei dem das komplette Ensemble des New York City Ballet in Fräcken und Abendkleidern schliesslich zuschaut, wie auf der grossen Leinwand über der Szene Fred Astaire mit Rita Hayworth walzt. In seinen letzten Lebensjahren hat sich Robbins als Choreograf nur noch für die Musik von Johann Sebastian Bach interessiert. 1993 choreografierte er «A Suite of Dances» für Mikhail Barischnikow, 1995 «2 & 3 part inventions», für die jungen Tänzer der School 01 American Ballet 1997 schliesslich «Brandenburg». Es war seine letzte choreografische Arbeit. Sein Lehen lang war Robbins – übrigens kein sehr mutiger Mensch: bei seinen Aussagen vor dem Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe des Kommunistenjägers McCarthy hat er, gelinde gesagt, keine sehr gute Figur gemacht und, um seine eigene Haut zu retten, hemmungslos Kollegen angeschwärzt – nicht auf einen Stil festgelegt: ein Alleskönner des Tanzes und des Theaters, ein Virtuose auf vielen Instrumenten. Er schuf romantische Choreografien und Jazzballette, klassische Stücke genauso wie avantgardistisch-moderne, komische und bitterernste. Er hat durchgehend auf ausserordentlich hohem Niveau gearbeitet und der Ballettgeschichte mehrfach neueWendungen gegeben: mit den imposanten, musiklosen «Moves» von 1958 zum Beispiel oder, ein gutes Jahrzehnt später, mit den «Dances at a Gathering», die eine neoromantische Welle über mehrere Kontinente hinweg auslösten. Dennoch hat er, ähnlich wie Frederick Ashton, international nie den ästhetischen Einfluss gewonnen, der ihm aufgrund der überragenden Qualität seiner Arbeiten zugestanden hätte. Einer der Gründe dafür ist, dass er sich ausserhalb von New York immer rar gemacht und auch seine Stücke nur höchst selten für andere Kompanien freigegeben hat; da ihn seine Arbeit am Broadway finanziell unabhängig, wenn nicht gar reich gemacht hatte, konnte er auf Tantiemen für seine Ballette gut verzichten. Jerome Robbins hätte vielleicht noch vor George Balanchine der wichtigste und einflussreichste Choreograf des 20. Jahrhunderts werden können, wenn ihm an diesem Ruhm wirklich gelegen hätte. Er hat es jedoch vorgezogen, immer nur das zu tun, was ihm Spass machte – und das war nicht immer Ballett.
Christine Redpath im Gespräch über Jerome Robbins’ «In the Night» - «Ein kleines Juwel» Christine Redpath, Sie sind Ballettmeisterin am New York City Ballet und waren dort auch als Tänzerin engagiert; nun studieren Sie die Choreografien von Jerome Robbins mit Ballettkompanien auf der ganzen Welt ein. Ja, Robbins hat mich und noch drei andere Ballettmeister beauftragt, seineWerke auch nach seinem Tod zu pflegen. Aber auch wir werden nicht ewig hier sein, und deshalb studieren neben uns auch andere ehemalige Tänzer, die mit Jerry gearbeitet haben, seine Ballette ein.
Sie haben «In the Night» mit einigen anderen Kompanien einstudiert; wie empfinden Sie die Arbeit mit dem Zürcher Ballett? Ich liebe diese Tänzer! Sie haben unglaublich hart gearbeitet. «In the Night» ist ein kleines, kompaktes Juwel, und es ist nicht einfach zu besetzen; man braucht ganz eigenständige Persönlichkeiten. Das Zürcher Ballett bietet einen unglaublichen Reichtum an Talenten; aber dennoch muss man die Tänzerinnen und Tänzer finden, zu denen die Choreografie wirklich passt. Die Choreografie ist sehr schwierig zu tanzen, deshalb wird «In the Night» nicht an sehr viele Kompanien vergeben. Die Zürcher Kompanie tanzt auf dem höchsten Niveau, deshalb hat sie es verdient, diese Choreografie zu tanzen.
Sie haben selbst einmal in Zürich getanzt... Ja, es ist wie nach Hause zu kommen, dass ich jetzt hier arbeite! Drei Jahre lang habe ich hier unter Patricia Neary getanzt, und ich tanzte auch Myrtha, die Königin der Willis, in Heinz Spoerlis «Giselle», zusammen mit Rudolf Nurejew. Ich habe sehr gern hier gelebt. Und im Opernhaus arbeiten immer noch Menschen, die ich von damals kenne.
Nun studieren Sie hier «In the Night» ein; wie würden Sie die Choreografie beschreiben? Es geht um drei unterschiedliche Beziehungen – und natürlich um die Liebe: Es sind drei grosse Pas de deux, und es beginnt mit einem Paar, das ganz frisch verliebt ist, alles ist perfekt, romantisch, sie fühlen sich wie im siebten Himmel. Im zweiten Pas de deux sind die beiden Liebenden schon länger zusammen, die Liebe ist gereift, das Feuer schon etwas abgekühlt. Das dritte Pas de deux zeigt eine stürmische Liebe, in der auch viel gestritten wird. Durch die Choreografie hindurch sieht man die Menschen, ihre Beziehungen zueinander. Dennoch bleibt die Choreografie abstrakt. Sie hat den Titel «In the Night», aber es gibt keinen konkreten Ort, an dem sie stattfindet; das überlässt der Choreograf der Imagination der Zuschauer. Man kann sich mit den Figuren identifizieren.
Sie kannten Jerome Robbins sehr gut, Sie haben viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet; was war das Besondere an seiner Arbeitsweise? Er machte uns alle verrückt! Er bereitete zum Beispiel eine Choreografie zu den Goldbergvariationen vor. Es dauerte ewig, bis die Choreografie fertig war! Und es gab immer viele verschiedene Versionen, von denen dann Teile miteinander kombiniert werden sollten. Meistens war der erste Instinkt aber doch richtig, und er kehrte dann am Ende zur ersten Version zurück. Er konnte leider auch gemein sein zu Menschen; das hatte mit seiner eigenen Unsicherheit, mit seinen Selbstzweifeln und seiner Suche nach Perfektion zu tun.
Wie war das Verhältnis von Jerome Robbins und George Balanchine, dem damaligen Artistic Director des New York City Ballet? Sie arbeiteten sehr eng zusammen. Balanchine war wie der Mentor und auch ein bisschen wie der Vater von Jerome Robbins. Er hat Mr. B. sehr bewundert, und es war Mr. B., der Jerry dazu angeregt hat, «In the Night» zu choreografieren. Nach «Dances at a Gathering», an dem Jerry zwei Jahre gearbeitet und schliesslich einen grossen Erfolg gehabt hatte, war er immer noch sehr fasziniert von Chopin und konnte gar nicht aufhören, seine Klaviermusik zu choreografieren; er zeigte Mr. B. einige dieser Teile, und Mr. B. ermutigte ihn, weiter zu machen und ein neues Stück zu kreieren.
Robbins ist nicht zuletzt alsMusical-Regisseur berühmt geworden, man denke an «West Side Story», «On the Town» und andere; «In the Night» ist dagegen sehr klassisch; es ist unglaublich, welche Stilvielfalt dieser Choreograf zur Verfügung hatte. Ja, «In the Night» ist romantisch und sehr klassisch, es hat gar nichts zu tun mit «West Side Story». Die Musik diktiert den Stil der Choreografie.
Jerome Robbins ist sehr wichtig für die Ballettgeschichte; was denken Sie, was ist das Wichtigste, was er dem Tanz gegeben hat? Jerry wollte immer, dass die Tänzer nicht nur physische Körper sind, die Schritte machen und Formen kreieren, sondern er wollte, dass sie zeigen, wer sie sind; er wollte Persönlichkeiten, die sie selbst bleiben sollten, auch auf der Bühne. Er wollte, dass die Tänzer aufeinander eingehen, miteinander tanzen, und dass dadurch ein Sog für die Zuschauer entsteht, der sie in das Stück hineinzieht. Er wollte, dass die Persönlichkeiten der Tänzer in jeder Bewegung, in jeder Geste, in jedem Blick präsent sind. Und die Zuschauer sollten durch das Vokabular des Tanzes einen Teil von sich selbst erkennen.
Das Lied von der Erde Heinz Spoerli im Gespräch - «Der Kreislauf des Lebens» Herr Spoerli, Ihr letztes Mahler-Ballett «allem nah, allem fern» zur Fünften Sinfonie Gustav Mahlers wurde als «handlungsloses Handlungsballett» bezeichnet; trifft dieser Ausdruck Ihrer Meinung nach auch auf Ihre jüngste Choreografie, «Das Lied von der Erde», zu? Bei der Fünften Sinfonie von Mahler gibt es ja keine Geschichte. Beim «Lied von der Erde» hingegen bin ich konfrontiert mit Gedichten und mit Strukturen, die ganz klar etwas beschreiben. Das kann man nicht ignorieren. Aber es ist, wenn Sie so wollen, auch eine handlungslose Geschichte. Man greift Worte auf, die die Atmosphäre bestimmen – wie Vögel, Einsamkeit, ein Affe, der plötzlich erscheint und wieder weggeht –, das sind Anhaltspunkte für mich gewesen, einen Weg darzustellen hin zum Elysium.
Elysium meint ja in der griechischen Mythologie die «Insel der Seligen», die den unsterblich gewordenen Helden eine letzte Heimat bietet; was bedeutet Elysium für Sie in diesem Zusammenhang? Im letzten Lied, «Abschied» überschrieben, hat Gustav Mahler zwei Gedichte zusammengefasst und am Schluss selbst noch einige Zeilen hinzugedichtet; mit den Worten «ewig... ewig...» endet der Zyklus. Das ist für mich das Elysium – die Ewigkeit. Man weiss nicht, was dort eigentlich passiert.
Also hat dieser streckenweise sehr düstere Liedzyklus, in dem so viel von Tod und Einsamkeit die Rede ist, für Sie am Schluss eine positive Dimension? Der Kreislauf des Lebens geht ewig weiter, als Metamorphose, auch wenn man stirbt. Jeder Mensch geht durch diese Ewigkeit und weiss nicht, wie es weitergeht..
Mahler selbst durchlebte kurz vor der Entstehung des «Lieds von der Erde» eine schwere Lebenskrise; seine kleine Tochter war gestorben, und er selbst hatte von seiner Herzkrankheit erfahren. Haben solche autobiografischen Anknüpfungspunkte für Ihre Choreografie eine Rolle gespielt? Nein. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, aber dann bin ich davon wieder abgekommen. Das wird leicht klischeehaft. Ich glaube einfach, dass Mahler gespürt hat, dass er am Ende seines Lebens angekommen ist; einige der schönsten Melodien in seinem ganzen Schaffen finden sich im «Lied von der Erde». Das Problem ist, wenn man das choreografiert, hört man einen Monat lang sechs Stunden am Tag nur Mahler – das zehrt unglaublich. Man kämpft immer gegen Banalitäten an, man rutscht so leicht in Klischees. Vor allem der Schluss, das letzte Lied dauert ja 31 Minuten, wie erzählt man das? Nun proben wir ab morgen im originalen Bühnenbild, da ergeben sich dann immer noch Veränderungen, weil die Wege weiter sind und überhaupt alles auf der grossen Bühne ganz anders wirkt. Die Arbeit geht für mich bis zur Premiere weiter! – Ich erzähle eigentlich ein Leben von der Jugend, der Freude des Lebens bis hin zur Vorbereitung auf den Tod.
Wobei die Lieder eigentlich keine lineare Geschichte darstellen, vielmehr ist ja jedes Lied in sich zerrissen zwischen Lebenslust, Lebensfreude einerseits und Todesnähe und Verzweiflung andererseits. Ja, genau, auch am Schluss ist ja das Berührende, dass Jugend und Schönheit zwar noch einmal auftauchen, aber nicht mehr fassbar sind – dem Protagonisten entgleitet alles. Bei mir gibt es eine Figur, die diesen Protagonisten beschützt, durch sein ganzes Leben hindurch; sie ist für mich wie seine Seele.
Sie haben davon gesprochen, dass es an Ihnen zehrt, wenn Sie sich über eine lange Zeit mit Gustav Mahlers Musik arbeiten; immerhin ist das nun schon Ihre zweite Beschäftigung mit diesem Komponisten, was macht also für Sie als Choreograf die Faszination seiner Musik aus? Das ist vor allem die Fülle und Vielschichtigkeit dieser Musik. Mahler ist ein grosser Komponist; mit dieser grossen Musik umzugehen, auch mit einer kleinen Personenzahl ein Gleichgewicht zu schaffen zu dem, was die Musik ausdrücken soll, ohne banal zu werden – das ist nicht einfach. Vor allem beim letzten Lied, wo man dauernd innehält und sich fragt, ist das jetzt richtig, oder ist es schon zu viel? Man geht ja auch mit den Strukturen der Musik um – wenn eine Melodie wiederholt wird, zitiere ich auch die Choreografie dazu.
Zu Beginn der Spielzeit haben Sie Franz Schuberts «Der Tod und das Mädchen» choreografiert, nun folgt mit Mahlers «Lied von der Erde» eigentlich ein ganz ähnliches Thema – wieder stehen Tod und Abschied im Zentrum... Das hat sich eigentlich mehr zufällig ergeben, eher aus musikalischen Gründen. «Der Tod und das Mädchen» wollte ich schon ganz lange machen. Hier habe ich aber einen ganz anderen Zugang gewählt als in «Das Lied von der Erde» – das ist eine wirkliche Herausforderung. «Das Lied von der Erde» wurde 1965 von Kenneth Mac Millan gemacht, das war ein Meisterwerk, das ich selbst übrigens nie gesehen habe; deshalb ist es eine doppelte Herausforderung.
Die Texte, die Mahler für das «Lied von der Erde» gewählt hat, stammen ursprünglich von chinesischen Dichtern aus dem 7. bis 9. Jahrhundert; Hans Bethge hat sie ins Deutsche übertragen und 1907 herausgegeben. Spielte diese exotische Herkunft der Texte eine Rolle für die Choreografie und das Bühnenbild? Das Bühnenbild ist für mich ein Durchgehen durch die verschiedenen Jahreszeiten; der Raum ist am Anfang sehr eng, wird dann tiefer, und am Schluss, wenn nur noch drei Personen auf der Bühne sind, benutzen wir die ganze Bühnentiefe. Die Kostüme sind sehr schlicht und unterscheiden sich in ihren Farben. Chinesische Elemente gibt es keine.
Bei Mahler sind die einzelnen Lieder nicht aufeinander bezogen, sondern stehen für sich; Sie haben in Ihrer Choreografie einen dramaturgischen Bogen über alle sechs Lieder gespannt. Ja, das habe ich ganz bewusst getan, weil ja ein Weg erzählt wird hin zum Abschied im letzten Lied; ich wollte einen Protagonisten exponieren, eine zentrale Figur, die dann am Schluss des Abends Abschied nimmt.
Mit den Liedtexten sind Sie ganz assoziativ umgegangen? Ich habe nach Parallelen gesucht und Strukturen herausgearbeitet. Auch Farben spielten eine wichtige Rolle für mich. Zu Beginn meiner Arbeit hatte ich vor, das Stück mit einem Sarkophag zu beschliessen, in dem der Protagonist begraben wird; davon bin ich wieder abgekommen – ich denke, es muss offen bleiben, was mit den Worten «ewig... ewig...» genau gemeint ist.
Für den ersten Teil des Abends haben Sie «In the Night» von Jerome Robbins ausgewählt, eine Choreografie aus den 70er Jahren; damit ist zum ersten Mal eine Choreografie von Jerome Robbins beim Zürcher Ballett zu sehen. Welche Rolle spielt der Choreograf Jerome Robbins für Sie? Jerome Robbins habe ich in New York kennen gelernt, seine stilistische Bandbreite war enorm, denken Sie nur an so grossartige Choreografien wie «West Side Story» und «Fiddler on the Roof», eine hervorragende Satire auf das jüdische Leben! Robbins ist eine Koryphäe – der amerikanische Choreograf, der die gleiche Kraft hatte wie George Balanchine. Eigentlich hätte ich das Ballett gern schon für den ersten Ballettabend dieser Spielzeit gehabt, aber das hat aus organisatorischen Gründen nicht geklappt. Und nun scheint mir «In the Night» ein sehr guter Einstieg in das Mahler-Ballett. «In the Night» ist sehr schön choreografiert, enorm musikalisch und sehr anrührend, hervorragend in der Langsamkeit und den Überraschungen der Choreografie. Ich bin ganz stolz, dass ich mit dieser Choreografie nun erstmals ein Ballett von Jerome Robbins hier in Zürich präsentieren kann, denn damit schliesst sich für mich ein Kreis – so habe ich von allen hervorragenden Choreografen unserer Zeit ein Ballett in Zürich gezeigt.
Theodor W. Adorno - Der lange Blick An der Utopie hält Mahlers Musik fest in den Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte. Aber nicht weniger authentisch ist ihm das Bewusstsein, dass dies Glück verloren ist und erst als verlorenes zum Glück wird, das es so nie war. Umschlagend werden dem die letztenWerke gerecht. (...) Das Lied von der Erde rebelliert gegen die reinen Fomen. Es ist ein Zwischentyp. Ihm hat später Alexander Zemlinsky in einem eigenen Werk den Namen «Lyrische Symphonie» gegeben; er wirkte bis in Bergs ebenfalls sechssätzige Lyrische Suite hinein weiter. Schon die Kindertotenlieder waren architektonisch disponiert, das letzte ein rudimentäres Finale. Die Konzeption der Liedersymphonie ist der Mahlerschen Idee ungemein adäquat: ein Ganzes, das ohne Rücksicht auf a priori übergeordnete Schemata aus sinnvoll aufeinander folgenden Einzelereignissen zusammenwächst. Als latentes Kraftzentrum senden die Kindertotenlieder von der Vierten Symphonie an ihre Strahlen über das gesamte Werk Mahlers, Selbst in der Achten Symphonie, deren Landschaft sie trotz der Stimmen der früh verstorbenen Knaben am fernsten liegen, ist ein Zitat daraus versteckt. Ihre spezifische Beziehung zum Lied von der Erde aber ist wohl in der Erfahrung zu suchen, dass in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, dass in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind. Die versäumte und verlorene Möglichkeit errettet der letzte Mahler, indem er durchs umgekehrte Opernglas die Kindheit betrachtet, in der es noch möglich gewesen wäre. Jene Augenblicke meint die Wahl der Gedichte des dritten, vierten und fünften Gesangs. Die Farbe des «Einsamen im Herbst», Apotheose des Orchesters der Kindertotenlieder, ist die des Wortes Altgold. Wie in den Herbstgedichten aus Georges «Jahr der Seele», schimmert Verwesend-Organisches metallen. Das Lied vom Pavillon, das wie eine durchsichtige Fata morgana endet, mahnt an die chinesische Erzählung von jenem Maler, der in seinem Bild verschwindet, nichtiges und unauslöschliches Unterpfand. Verkleinerung, das Verschwinden ist die Erscheinung des Todes, in der Musik das Untergehende gleichwohl bewahrt. «Freunde, schön gekleidet, trinken, plaudern» nie wirklich so, wie in der Miniatur der Erinnerung, die es den Ungeborenen verheisst. In solcher Verjüngung sind die Toten unsere Kinder. Die literarische Pointe des Gedichts vom Pavillion, das Spiegelbild, war zur Entstehungszeit des Lieds von der Erde musikalisch nicht zu bewältigen. Mahler reagiert darauf mit seinem angestammten MitteI, dem Minore, einer melancholischen Episode. Wie sehr aber jene Pointe die seiner eigenen Konzeption ist, wird offenbar in dem ungeheuerlichen Stück vom Trunkenen im Frühling. Seine Situation ist bereits die expressionistische hinter der Maske objektiven Balladentons. Der Innenraum ist isoliert, ohne Brücke zu dem Leben, an dem doch Mahlers Musik mit jeder Faser hängt.
Mit paradoxem Realismus denkt das Werk die Situation unverschleiert zu Ende: die Affinität zu Proust ist eine des monologue interieur. Die Trauer des Teichs als Spiegel ist, dass dem Weltschmerz, der schliesslich die Fäden durchschneidet, das lockende wirkliche Leben als der Traum erscheint, den die erste Gedichtzeile anredet, während objektlose Innerlichkeit in die Realität sich verkehrt. Hört der Trunkene an einer über alle Worte rührenden Stelle die Stimme des Vogels, die Natur als Zuspruch der Erde, so ist ihm «wie im Traum». Vergebens möchte er noch einmal zurück. Seine Einsamkeit überschlägt sich im Rausch zwischen Verzweiflung und der Lust absoluter Freiheit, schon in der Zone des Todes. Der Geist dieser Musik konvergiert mit Nietzsche, dem Mahler in seiner Jugend anhing. Aber wo der Dionysos des objektlosen Innen ohnmächtig-herrisch seine Tafeln aufrichtet, entgeht, Mahlers Musik der Hybris, indem sie den eigenen Schrei noch reflektiert, Lachen über ihr Unwahres mitkomponiert. Der Rausch der Selbstzerstörung; das Herz, das sich nicht halten kann, verschenkt sich an das, wovon es abgeschieden ist. Sein Untergang will die Versöhnung. Das Adagio-Finale der Neunten Symphonie, etwa die letzte Periode der ersten Des-Dur-Strophe, hat denselben Ton des Überschwangs von Selbstpreisgabe. Das Taumeln des Trunkenen aber, das die Musik nachahmt, lässt durch die Lücken zwischen Tönen und Akkorden den Tod ein. Musik holt in Mahler den Schauer von Poe und Baudelaire, den goût de neant, nach, als wäre er zur Entfremdung vom eigenen Körper geworden: das Lied von der Erde ist aus der Region jenesWahnsinns eingebracht, vor dem die Interjektionen im Autograf der Zehnten Symphonie erzittern. Im «Abschied» dann verflüchtigt sich der Schein des Glücks, bis dahin das Lebenselement aller Musik. Weil Glück heilig ist, täuscht die Musik nicht mehr vor, dass es schon sei. Nichts davon ist übrig als das wohlige Erschlaffen dessen, der nichts mehr zu verlieren hat; den Affirmativen heisst das Mangel an Ethos. Der Ton des Satzes ist auch nicht der von Verzweiflung. Vom Schluchzen durchschüttelte Prosa inmitten der Tonalität, weint er ohne Grund wie ein von Erinnerung übermannter; mehr Grund hätte kein Weinen. Die kompositorischen Felder darin sind Blätter eines Tagebuchs; jedes gespannt in sich, manche in die Höhe fahrend, keines aber verspannt mit dem anderen, wie Seiten sich umblätternd in der blossen Zeit, deren Trauer die Musik nachbildet. Kaum sonstwo dissoziiert Mahlers Musik sich so vorbehaltlos; die Naturlaute mischen sich in anarchischen Gruppen, potenzieren Mahlers altes «Ohne Rücksicht auf das Tempo». Häufig wird die Musik ihrer selbst müde und klafft auseinander: dann trägt der innere Fluss über das Versiegen des äusseren hinweg, das Leere wird selber Musik. So hat erst sehr spät wieder die neue Musik Schweigen komponiert. Dissoziiert wird auch vertikal: die Akkorde zersetzen sich in Stimmen. Das Kontrastmittel des Rezitativs steckt das durchweg karg gewobene Ganze an; die Instrumente laufen auseinander, als wollte ein jegliches ungehört vor sich hinreden.
Das stammelnde Ewig des Endes aber, wiederholt, als hätte die Komposition den Stab von Herrschaft niedergelegt, ist nicht Pantheismus, der den Blick in selige Weiten aufschlüge. Kein Ein und Alles wird als Trost vorgegaukelt. Der Titel «Lied von der Erde» könnte der Komplizität mit solchen aus der neudeutschen Sphäre, wie «Natursymphonie» oder gar «Das hohe Lied vom Leben und Sterben», sich verdächtig machen, wenn nicht der Gehalt des Werkes ebenso den ausserordentlichen Anspruch rechtfertigte, wie durch seine trauernde Wahrheit das Pompöse wegwischte. Dazu befähigt ihn nicht zuletzt die Atmosphäre, welche die Musik dem Wort Erde selber verleiht. Von ihr heisst es im ersten Gesang, dass sie lange – nicht ewig – fest stehe, und der Abschied Nehmende nennt sie gar die liebe Erde, als die im Verschwinden umfasste. Sie ist dem Werk nicht das All, sondern was fünfzig Jahre später die Erfahrung des in grossen Höhen Fliegenden einholen durfte, ein Stern. Dem Blick der Musik, der sie verlässt, rundet sie sich zur überschaubaren Kugel, wie man sie mittlerweile aus dem Weltraum bereits fotografiert hat, nicht das Zentrum der Schöpfung sondern ein Winziges und Ephemeres. Solcher Erfahrung gesellt sich die schwermütige Hoffnung auf andere Gestirne, die von Glücklicheren bewohnt wären als denMenschen. Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhiessen. Sie geht unter in leeren Galaxen. Auf ihr liegt Schönheit als Widerschein vergangener Hoffnung, die das sterbende Auge füllt, bis es erfriert unter den Flocken des entgrenzten Raumes. Der Augenblick der Entzückung vor solcher Schönheit vermisst sich, dem Verfallensein an die entzauberte Natur standzuhalten. Dass keine Metaphysik möglich sei, wird zur letzten.
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