Synopsis Raymonda

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opernhaus zürich

Nocturnes Solo Der Tod und das Mädchen

Choreografie Heinz Spoerli

Choreografie Hans van Manen

Ballett von Heinz Spoerli · Musik von Alexander Glasunow

Choreografie Heinz Spoerli


opernhaus zürich

Eine junge Frau zwischen zwei Männern - Heinz Spoerli im Gespräch über «Raymonda» «Raymonda» ist unter den Ballettklassikern von Marius Petipa so etwas wie ein Stiefkind. Das Werk wird bei weitem nicht so oft gegeben wie z.B. die drei Tschaikowski-Ballette. Woran mag das liegen? Ganz sicher nicht an der Musik. Die Vielfalt von Glasunows Musik ist enorm. Vielleicht ist das gerade das Problem, denn die Geschichte ist eher dünn gesponnen. In der Entstehungszeit war der Bezug zum Orient ein anderer als für uns heute im Zeitalter der Globalisierung. Was mich daran interessiert, ist die Situation einer Dreierbeziehung. Es geht um die Unsicherheit einer jungen Frau vor der Heirat; sie muss sich entscheiden, ob sie das Abenteuer heiratet, ihre Emotionen und ihre Verrücktheit auslebt, oder ob sie sozusagen den «sicheren Hafen» ansteuert. Diesen Grundkonflikt im Stück kann man leicht aus dem Blick verlieren, da es so viele Charaktertänze und Variationen gibt. Das macht die Idee schwach. Für die Figur des Abderachman und sein Gefolge gibt es zum Beispiel im Original noch eine ganze Folge von Charaktertänzen, die gern gemacht werden und vom Publikum früher auch erwartet wurden: ein spanischer und ein maurischer Tanz, eine arabische Nummer, Jongleure ... das soll alles die Exotik und Wildheit des Sarazenen unterstreichen, gibt aber dramaturgisch nach meinem Empfinden nicht soviel her. Deshalb habe ich mir erlaubt, diese Tänze wegzulassen. Ich glaube, der Charakter des Abderachman lässt sich in den grossen Pas besser zeichnen. Deshalb habe ich ihn in der Traumszene im ersten Akt viel prominenter eingebaut und aus dem Pas de deux mit Jean de Brienne einen Pas de trois gemacht. Abderachman ist der Eindringling, der verstört, aber auch fasziniert. Am Ende weiss Raymonda nicht mehr, wem sie sich zuwenden soll. Das ist für mich der Kern des Stückes. Und das ist als Geschichte, wie viele Menschen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung wissen, absolut modern.


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Wie wür den Sie die Musik von Glasunow charakterisieren? Da gibt es einerseits die Charaktertänze zwischen orientalischem Kolorit und ungarischer Folklore, die im zweiten Teil zum Zuge kommt (im Original ist es der dritte Akt, den Sie in Ihrer Fassung unmittelbar an den zweiten Akt anschliessen lassen), andererseits hat die Partitur auch einen grossen sinfonischen Atem. Den spü r t man in Glasunows Konzertwalzer op. 47, den Sie anstelle der originalen «Valse fantastique» für Ihre Fassung gewählt haben, besonders deutlich. Es gibt eine ganze Reihe von Walzern! Es sind zum Teil sehr lange, grosse Stücke. Ich habe versucht, diese Walzer abwechslungsreich zu choreografieren, was mich einigermassen gefordert hat. Es war spannend für mich als Choreograf und hat auch Spass gemacht, fünf verschiedene Stücke im Walzertakt unterschiedlich zu machen. Ich hoffe, es ist gelungen, diesen Nummern jeweils einen eigenen Charakter zu geben. Glasunows Musik lädt einfach ein zum Choreografieren.

Angesichts der dramaturgischen Schwächen des Originals drängen sich Kür zungen und auch Umstellungen auf, um Zuspitzungen zu erreichen. Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie sich der Partitur in dieser Hinsicht genähert? Wie wollen Sie die Geschichte der Raymonda erzählen? Es beginnt bereits mit der Introduktion. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man, wie sich Jean de Brienne von seiner Braut Raymonda, von ihrer Mutter und Sybille verabschiedet, um in den Krieg zu ziehen. In dieser Szene überreicht er ihr, sozusagen als Pfand seiner Liebe, einen Schal, der später eine wichtige Rolle spielen wird. Gleichzeitig ist hier schon die Figur der Weissen Dame präsent, die als Skulptur im Hintergrund zu sehen ist. Erst nach dieser Szene, die wie ein Prolog ist, beginnt die eigentliche Story: das Geburtstagsfest, bei dem die jungen Leute tanzen. Sie werden von Sybille unterbrochen. Sie deutet auf die Weisse Dame, die über die Geschicke des Hauses wacht. Dann lasse ich bereits Abderachman auftreten, der laut Partitur erst viel später als Figur exponiert wird. Er macht Raymonda Geschenke (die von Kindern überreicht werden). Eine Kette, die zunächst zu Boden fällt, wird später bedeutsam als Pendant zum Schal, den Jean de Brienne ihr geschenkt hat. Raymonda fühlt sich von Abderachman, der ein Draufgänger ist,einerseits zurückgestossen, andererseits von seiner Männlichkeit angezogen – eine ambivalente Haltung, die sich im Pas de deux des zweiten Aktes ausdrückt. Jean de Brienne muss seine Männlichkeit sozusagen erst noch im Krieg beweisen. Im Zweikampf ist es dann die Weisse Dame, die an Raymondas Stelle entscheidet und Jean de Brienne zum Sieg über Abderachman verhilft. Vielleicht gelingt es, am Ende, wenn die Hochzeitsfeierlichkeiten mit allem Pomp stattfinden, einen Moment lang auch Raymondas Melancholie zu zeigen, die aus dem Verzicht auf den Mann entsteht, der sie eigentlich tiefer berührt hat als der, den sie jetzt heiratet.


Es gibt nicht wenige Nummern, die als «scène mimique», also als pantomimische Szenen angelegt sind. Manches davon kann man streichen, anderes ist vom Handlungsablauf her notwendig und von der Musik her durchaus substanzreich. Ich versuche immer, auch diese Szenen tänzerisch zu deuten. Pantomime ist heute einfach nicht mehr zeitgemäss. Bei Abderachman baue ich beispielsweise durch das Zusammenspiel mit seiner Entourage Spannung auf. Ich gebe ihm eine Begleiterin mit, die nach seiner Niederlage im Kampf gegen Jean de Brienne wieder auftaucht und zu ihm hält. Wenn Abderachman um Raymonda wirbt, bringe ich die beiden mit ihr befreundeten Paare – die Troubadoure Bertrand de Ventadour und Béranger sowie deren Verlobte Henriette und Clémence – ins Spiel. Sie versuchen, den Eindringling abzuwehren und Raymonda vor ihm zu warnen.

Ich möchte noch ein anderes Thema ansprechen. Die Büh ne des Opernhauses Zür ich ist um einiges kleiner als z.B. die des Moskauer Bolschoi, also des «Grossen» Theaters, oder auch die des St. Petersburger Mariinskij-Theaters, an dem «Raymonda» 1898 uraufgefüh rt wurde. Einerseits ist der Fokus für die Solonummern dadurch wahrscheinlich leichter herzustellen; welche Auswirkungen hat das andererseits auf die Gruppentänze? Das hat eindeutig Konsequenzen, auch für die Fassung. Das gilt übrigens auch für Werke wie den «Nussknacker». Wir können hier mit 36 Tänzern einfach nicht solche Aufmärsche machen, wie das in Russland üblich ist. Die Musik ist natürlich da; aber ich bemühe mich, solche Auftritte so zu formulieren, dass es nicht banal wird. Bei «Raymonda» lasse ich die «Apotheose», die eigentlich das Schlussbild wäre, aus diesem Grund weg und schliesse mit dem Galopp. Eine solche Nummer ist einfach nicht mehr zeitgemäss.

Wie verhalten Sie sich zum überlieferten Material der Originalchoreografie von Marius Petipa, soweit sie für uns noch nachvollziehbar ist? Ich habe mich mit dieser Tradition auseinandergesetzt und dem nachgeforscht. So behalte ich einige Variationen in der überlieferten Gestalt bei – z.B. die ungarische Variation von Raymonda, bei der sie in die Hände klatscht, auch den Pas de dix (ebenfalls ein ungarischer Tanz) im Schlussbild. Diese Nummer habe ich selbst noch unter Balanchine getanzt. Die Pas de deux dagegen habe ich alle neu gemacht. Hier ist nicht mehr viel überliefert, da schon kurze Zeit nach der Uraufführung neue Versionen entstanden, die Petipas Original stark veränderten. Stilistisch gesehen haben sich die Zeiten geändert. Heute spielt der virtuose Männertanz eine viel wichtigere Rolle als damals. Wenn man so gute Tänzer hat wie Vahé Martirosyan, Arsen Mehrabyan und Arman Grigoryan,mussman das nutzen. Ich bin auch sehr froh, eine grossartige Tänzerin wie Aliya Tanykpayeva im Ensemble zu haben für die Partie der Raymonda, die sicher zu den schwierigsten des Repertoires gehört.


Wie lassen sich nach Ihrer Erfahrung heutiges Lebensgefüh l und die individuelle Ausstrahlung der Tänzer zusammenbringen mit dem Vokabular des klassischen akademischen Tanzes, wie es von Petipa massgeblich geprägt worden ist? Das ist die ungekünstelte Sprache meiner Tänzer. Diese Technik trainieren sie jeden Morgen im Ballettsaal. Ich will ihnen einfach die Möglichkeit geben, einmal zu zeigen, was sie auf diesem Gebiet können – und das ist mit «Raymonda» gegeben. Da können die Tänzer aus dem Vollen schöpfen. Man kann sich natürlich fragen, ob diese Art von Tanz noch zeitgemäss ist. Aber wenn das Repertoire ausgewogen ist – und ich glaube, das kann man von meinem Ballettspielplan, inklusive der Gastspiele, sehr wohl sagen –, dann ist es durchaus angebracht, auch solche Werke zu pflegen. Die Bandbreite ist ja sehr gross: von Twyla Tharp und William Forsythe bis zu Hans van Manen; da schafft ein Ballett wie «Raymonda» ein Gegengewicht für das Ensemble, das abwechslungsreiche Herausforderungen braucht. Viele Gegenwartschoreografen entdecken die Vergangenheit nicht für eine Rückkehr, sondern viel mehr als eine Grundlage des Kontinuums der Tanzgeschichte. Aber wenn man dieses Repertoire nicht pflegt – und das heisst, dass es getanzt werden muss –, geht das als Kunstform verloren. Die Fragen stellte Konrad Kuhn


Prolog Jean de Brienne, ein provenzalischer Kreuzritter, muss in den Krieg ziehen. Er schenkt seiner Braut Raymonda einen Schal als Liebespfand. Raymonda und ihre Mutter, die Gräfin de Doris, sowie ihre Tante Sybille nehmen Abschied von ihm.

1. Akt 1. Bild Raymondas Geburtstag wird von ihren Freunden gefeiert. Sybille, Raymondas sittenstrenge Tante, unterbricht das Fest undmahnt: Vergesst nicht dieWeisse Dame! Diese geheimnisvolle Gestalt, deren Standbild imHintergrund zu sehen ist, hat stets die Geschicke des Hauses Doris begleitet und in kritischen Augenblicken als Geistererscheinung warnend eingegriffen. Doch die jungen Leute machen sich lustig über Sybille und lassen sich nicht davon abhalten, weiter zu tanzen. Ein Bote meldet, Jean de Brienne werde bald zurückkehren und Hochzeit mit Raymonda halten. Als Raymonda zur Festgesellschaft stösst, wird ihr die Nachricht überbracht. Sie teilt ihre Freude über die nahende Hochzeit mit den Gästen. Ein Überraschungsgast erscheint: der Sarazene Abderachman mit seinem Gefolge, darunter die Haremsdame Galiana. Er hat von Raymondas Schönheit gehört und macht ihr seine Aufwartung. Sofort verliebt er sich in Raymonda. Aus der Hand eines Kindes bietet er ihr Geschenke an, die sie ablehnt. Eine Kette mit einem kostbaren Edelstein fällt zu Boden. Raymondas Freunde, die beiden Troubadoure Bertrand de Ventadour und Béranger, sind dem aufdringlichen Fremden gegenüber misstrauisch; ebenso ihre beiden Verlobten, Raymondas Freundinnen Henriette und Clémence. Sybille mahnt, dass es schon spät ist, und die Festgesellschaft zieht sich zurück. Nur die vier Freunde bleiben in vertrauter Runde bei Raymonda. Der Schal lässt die Erinnerung an ihren Bräutigam aufsteigen. Schliesslich ist es Zeit für die beiden Freundespaare, ebenfalls zu gehen. Da erscheint dieWeisse Dame und entführt Raymonda in das Reich der nächtlichen Visionen.


2. Bild Raymonda überlässt sich ihren Träumen. Die Weisse Dame lässt Jean de Brienne vor ihr erscheinen. Doch ohne dass sich Raymonda dessen bewusst wird, nimmt Abderachman, zu dem sie sich instinktiv hingezogen fühlt, im Traum die Stelle ihres Bräutigams ein. DieWeisse Dame erscheint. Sie hat die Kette mit dem kostbaren Edelstein von Abderachman in der Hand und macht Raymonda klar, was sie da eben geträumt hat. Raymonda erschrickt und besinnt sich auf Jean, dessen Schal sie noch immer bei sich hat. Der Morgen dämmert. Als sie von Sybille, ihrer Mutter und den Freunden aufgeweckt wird, ist sie zutiefst verwirrt. Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

2. Akt 1. Bild Raymonda und ihre Mutter haben zu einer Cour d’amour geladen. Zahlreiche Gäste sind versammelt, als wiederum Abderachman mit nun noch grösserem Gefolge erscheint und heftig um Raymonda wirbt. Bernard und Béranger versuchen, ihn in die Schranken zu weisen. Auch Henriette und Clémence wollen Raymonda schützen. Auf dem Höhepunkt des Festes versucht Abderachman, Raymonda mit Hilfe seiner Männer zu entführen. Das wird vereitelt durch das Erscheinen Jean de Briennes, der eben eintrifft. Er ist in Begleitung von Andreas II., König von Ungarn, mit dem er in den Krieg gezogen war. Der König will allgemeines Blutvergiessen vermeiden. Er entschärft die Situation, indem er die beiden Rivalen auffordert, ihren Streit im Zweikampf auszutragen. Raymonda legt Jean den Schal um den Hals, zum Zeichen ihrer Treue zu ihm. Abderachman ist der Überlegene, doch die Weisse Dame entscheidet den Kampf im letzten Augenblick zugunsten von Jean de Brienne. Abderachman muss sich geschlagen geben und wird abgeführt. Jean erklärt Raymonda seine Liebe zu ihr.

2. Bild Die Hochzeit wird gefeiert. Zu Ehren von König Andreas II. wird ein Volkstanz und ein höfischer Tanz aus seiner ungarischen Heimat vorgeführt. Das Kind aus Abderachmans Gefolge überreicht Raymonda die Kette mit dem Edelstein als Hochzeitsgeschenk. Sie kann sich eines Anflugs von Melancholie nicht erwehren; ihrerWehmut lässt ahnen, dass die Heirat mit Jean de Brienne nicht alle ihre Sehnsüchte erfüllen kann.


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