Kirill Serebrennikov im Visier der Staatsmacht Chronik der Ereignisse
Szenenfoto «Der goldene Hahn»: © Damir Yusupov/Bolschoi-Theater
2O11 Kirill Serebrennikov inszeniert am Moskauer Bolschoi-Theater Rimskij-Korsakows Satire auf den niedergehenden Zarismus, «Der goldene Hahn», als virtuose Persiflage auf die pathetische Selbstinszenierung der Staatsgewalt im heutigen Russland. Den «goldenen Hahn» deutet er als burleske Verfremdung des russischen Doppeladlers, dessen mechanisches Gegacker den Automatismus einer ebenso mechanisch im Stechschritt paradierenden Garde auslöst. Die Papageien des Zaren sind die ihm nach dem Mund redenden Minister, die nach der aus dem Staatsfernsehen bekannten Choreografie der Abendnachrichten antanzen. Seine Söhne schickt der Zar in den Kaukasus in den Tod, nachdem er sie im Ornat des Patriarchen gesegnet hat. Publikum und Fachpresse zeigen sich positiv überrascht und begeistert, alle Vorstellun gen sind ausverkauft. Doch die Inszenierung ruft auch Erzpriester Wsewolod Tschaplin auf den Plan, bis 2015 Chef der kirchlichen Abteilung für die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft. Dieser mahnt eine sorgfältigere Prüfung staatlicher Subventionen an. Kennern der Szene zufolge wäre eine solche Aufführung am Bolschoi heute undenkbar. Tatsächlich wurde eine geplante Wiederaufnahme des Erfolgsstückes bis heute auf Eis gelegt.
Gogol-Zentrum in Moskau © Ira Polyarnaya
2O13 Ein neuer Moskauer Kulturbürgermeister wird berufen, der die staatliche Förderung des von Serebrennikov geleiteten Gogol-Zentrums auf das absolute Minimum drosselt: Der künstlerische Etat deckt nur noch eine einzige Neuproduktion pro Spielzeit. Für jede andere Schauspielbühne hätte dies das Aus bedeutet. Doch der Höhenflug des «Gogol», das unter Serebrennikovs Gesamtleitung zur innovativsten und national wie international erfolgreichsten Theaterbühne Russlands wird, kann dadurch nicht gestoppt werden. Ein immer zahlreicheres Publikum ist bereit, die zur Selbstfinanzierung notwendigen «Opern-Preise» zu zahlen und dem «Gogol» Abend für Abend ausverkaufte Säle zu bescheren. Als einzige russische Bühne erhält das «Gogol» eine zweimalige Einladung zum Theaterfestival in Aix-en-Provence. Normalerweise sehen die Heimatländer der geladenen Bühnen die finanzielle Unterstützung solcher Gastspiele als Ehrensache an. Nicht in diesem Fall: Die russischen Institutionen lehnen jede Beteiligung ab, für beide Gastspiele müssen private Sponsoren gefunden werden. Im September wird die bereits gewährte staatliche Förderung für Serebrennikovs Tschaikowski-Film zurückgezogen, da dieser sich nicht bereiterklärt, das homoerotische Liebesleben des Komponisten auszuklammern. Das Projekt muss abgebrochen werden. Der verantwortliche Kulturminister Wladimir Medinski scheut sich nicht, die selbstbewusst gelebte und in zahlreichen Briefen reflektierte gleichgeschlechtliche Sexualität des Kompo nisten zum «Gerücht» herabzuwürdigen: «Der Film muss vom Genie Tschaikowski handeln und nicht von irgendwelchen Gerüchten über seine Biografie. […] Es gibt keine Beweise, dass Tschaikowski homosexuell war.» Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass Medinski mit ideologisch und propagandistisch motivierten Geschichtsfälschungen Negativ schlagzeilen macht. 2017 empfiehlt eine Prüfungskommission, ihm den Doktortitel zu ent ziehen: Seine Promotionsschrift genüge keinen wissenschaftlichen Ansprüchen.
Das Banner «Brauchen wir diese Kultur?»
2O15 Der Fond «Kunst ohne Grenzen» organisiert eine Ausstellung unter dem Titel «На дне» («Ganz unten»): Fotos vorgeblich anstössiger Szenen aus aktuellen Theaterinszenierungen werden mit den Summen versehen, die das jeweilige Theater an öffentlichen Zuwendungen erhält. Die Ausstellungsmacher fordern explizit die Strafverfolgungsbehörden zum Eingreifen auf. Serebrennikov, der mit mehreren Arbeiten «vertreten» ist, gerät ins Visier der Staatsgewalt. Im April wird gegenüber dem Kultusministerium in Moskau ein Banner aufgehängt, das unter der Überschrift «Brauchen wir diese Kultur?» neben den Konterfeis zweier weite rer Regisseure und eines Galeristen dasjenige Serebrennikovs zeigt. Gestaltet hat es die Agen tur «Glavplakat», die sich vor allem mit Hetzkarikaturen auf «Stürmer»-Niveau profiliert: wie dort alle Gegner auf ihr vermeintlich «Jüdisches» reduziert wurden, so bei «Glavplakat» alle Kreml-Gegner auf ihr vermeintlich «Schwules». Mit der Aktion «Fremde unter uns», bei der regierungskritische Künstler und Politiker, unter ihnen der mittlerweile ermordete Boris Nemzov, als «Fünfte Kolonne» an den Pranger gestellt wurden, rief «Glavplakat» auch im Ausland Entsetzen hervor. Dass Organisationen wie «Kunst ohne Grenzen» oder «Glavplakat» im heutigen Russland gedeihen, hat nicht nur mit ihrer Protektion durch offizielle Akteure wie Medinski zu tun. Bei der Hexenjagd gegen Serebrennikov vermuten Kenner der Szene den «orthodoxen Oligarchen» Konstantin Malofejew als eine treibende Kraft hinter den Kulissen. Malofejew unterhält – trotz eines Einreiseverbots in die EU, mit dem er aufgrund seiner Verstrickung in den Krieg in der Ukraine sanktioniert wurde – beste Kontakte zur AfD und ist der Meinung, dass «die Auftritte Doktor Gaulands signalisieren, dass Deutschland wieder zu Deutsch land wird, so wie Russland unter Putin wieder Russland wird.»
Das Gogol-Zentrum am Tag der Hausdurchsuchung (23. Mai 2017) © Pjotr Kassin/Kommersant
2O17 Am 23. Mai wird unter Beteiligung des Inlandsgeheimdienstes FSB Serebrennikovs Privatwohnung durchsucht. Im Anschluss an die Hausdurchsuchung wird Serebrennikov von vermummten Vollzugsbeamten abgeführt und muss eine 9-stündige Wartezeit im Stehen verbringen, bevor er einer 2-stündigen «Zeugenvernehmung» unterzogen wird. Worin der juristische Handlungsbedarf besteht, wird von den Behörden nur unklar begründet. Es ist von unterschlagenen Geldern die Rede, die für eine Neuinszenierung des «Sommernachtstraums» bewilligt waren; angeblich habe diese nie stattgefunden. Die Verteidigung macht die Behörden darauf aufmerksam, dass diese Aufführung 2012 am Gogol-Zentrum herausgebracht und wiederholt im In- und Ausland gezeigt wurde, und legt zum Beleg zahlreiche Rezensionen vor. Die Behörden erachten dies als nicht beweiskräftig. Die für den 11. Juli angesetzte Uraufführung von Serebrennikovs Ballett «Nurejew» am Bolschoi-Theater wird während der Endproben unter der offiziellen Begründung abge sagt, die Arbeit sei künstlerisch unfertig. Alle involvierten KünstlerInnen widersprechen. Am 22. August lässt das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation Kirill Serebrennikov wegen des «Verdachts auf die Organisation von Unterschlagung» in Petersburg festnehmen und nach Moskau transportieren. Die fragliche Summe wird auf «nicht weniger als 68 Millionen Rubel» (nach heutigem Wechselkurs etwa eine Million Euro) beziffert, sie sei für das Projekt Platforma zur Popularisierung zeitgenössischer Kunst bestimmt gewesen. Allerdings ist auch die Platforma-Veranstaltungsreihe von Serebrennikov vollumfänglich realisiert worden. Nichtsdestotrotz drohen Serebrennikov bis zu 10 Jahre Haft. Serebren nikov wird dem Untersuchungsrichter vorgeführt, über ihn wird bis zum 19. Oktober Hausarrest und ein Kommunikationsverbot verhängt. Trotz Abschluss der Ermittlungsarbeiten wird der Hausarrest immer wieder verlängert, zuletzt bis zum 3. April 2019. Serebrennikov befindet sich heute also bereits seit über 14 Monaten in Haft.
«Nurejew», Uraufführung am Moskauer Bolschoi-Theater, 2017 © Michail Logwinow
2O18 Die Zeit der Sorge um Kirill Serebrennikov hält an. Trotz schwerer Auflagen (keine Teleund Internet-Kommunikation) gelingt es dem Regisseur, seinen Film «Лето» (Sommer) an einem Computer ohne Internetverbindung fertigzustellen. Der Regisseur bemüht sich, alle bestehenden Absprachen mit anderen Theatern einzuhalten: Der Oper Stuttgart genehmigt er die Verwendung eines von ihm in Afrika gedrehten Spielfilms zu «Hänsel und Gretel», der im Rahmen eines halbszenischen Arrangements, das das Schicksal des Regisseurs thematisiert, gezeigt wird. Die Inszenierungen von «Così fan tutte» für die Oper Zürich und von «Nabucco» für die Staatsoper Hamburg bereitet Serebrennikov so detailliert vor, dass sie im «worst case», der im Falle von «Così» eingetroffen ist, auch ohne seine persönliche Anwesenheit realisiert werden können. Während seiner Haft wird sein Schaffen mit dem Europäischen Theaterpreis 2017 aus gezeichnet; sein im Dezember 2017 doch noch uraufgeführtes Ballett «Nurejew» erhält den Prix Benois de la Danse sowie den Daniil Charms Preis für Literatur und Kunst, seine Uraufführungsinszenierung von «Tschaadski» (Helikon Oper Moskau) wird mit dem Na tionalen Russischen Theaterpreis «Die goldene Maske» geehrt, seinem Film «Sommer» wird die Goldene Palme von Cannes für die beste Filmmusik zuerkannt, ihm selbst 2018 vom französischen Kulturministerium der Kommandeurs-Orden der Literatur und Künste verliehen. Obwohl selbst bei strengster Prüfung der von den Ermittlern herangezogenen Dokumente kein gewichtigeres Vergehen als eine bürokratische Ordnungswidrigkeit angenommen werden kann, durch die niemand – weder der Staat noch Mitarbeiter des Platforma- Projekts – geschädigt wurde, wird am 7. November 2018 offiziell Anklage gegen Kirill Serebrennikov erhoben.
Kirill Serebrennikov © Anton Belitsky/Polaris /laif
Auszüge aus der Rede, die Kirill Serebren nikov am 11.09.2018 vor dem Moskauer Stadtgericht gehalten hat «Herr Richter, man darf nicht unter Hausarrest gestellt werden, wenn man kein Ver brechen begangen hat. Ich glaube, das ist of fensichtlich. Und doch stehe ich nun bereits seit über einem Jahr unter Hausarrest. Wozu? Das weiss ich nicht. Es werden schon lange keine Ermittlungen mehr durchgeführt, alle haben sich die Akten bereits an gesehen, alles ist unterschrieben. Der Grund für meinen Hausarrest besteht meiner Ansicht nach darin, dass Untersuchungsführer Lawrow und diejenigen, die diesen Prozess angestrengt haben, genau wissen, dass Arbeit für mich das Wichtigste ist. Man bestraft mich damit, dass mir die Möglichkeit zum Arbeiten genommen wird. Und man bittet Sie, Rache an mir zu üben und meinen Hausarrest ein weiteres Mal zu verlängern. Wir haben den Ermittlungsbehörden die Liste von allen Veranstaltungen und die Liste der-
jenigen, die an diesen Veranstaltungen teil nahmen, vorgelegt. Wir haben ihre Kontaktdaten angegeben, damit man diese Menschen vorladen und befragen kann. Aber die Er mittlung weigert sich, sich mit ihnen zu treffen, weil diese Menschen bestätigen würden, dass kein Verbrechen begangen worden ist und dass es keine Tätergruppe gibt, sondern ein Theater. Doch wie soll man ein Theater richten? Die Strategien des Ermittlungsausschusses sind die Folgenden: Man denke sich einen Diebstahl, eine rechtswidrige Aneignung, eine verbrecherische Absicht aus und sage: «Nein, es ist nicht deswegen, weil sie und ihre moderne Kunst uns nicht gefallen, sondern es ist wegen der Finanzen.» Es gibt immer einen geschickten Untersuchungs führer, der eine passende Klausel findet, alles Mög liche dieser Klausel anpasst, und alle sind damit zufrieden. Ich glaube, es ist klar, dass es keine Argumente mehr gibt. Und ich bitte Sie, Herr Richter, die richtige Entscheidung zu treffen.»
Diese Ausstellung wurde von Sergio Morabito und Dmitry Kunyaev in Zusammenarbeit mit der Dramaturgie des Opernhauses Zürich erstellt.