HEFT 55 DEZEMBER 2012 www.perspektive21.de
BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK
SPORTPOLITIK IN BRANDENBURG
Sport frei! ARNE LIETZ:
Back to the roots
CHRISTIAN NEUSSER: OLIVER GÜNTHER:
Partnerwahl 2.0
Vier Cluster
MANFRED STOLPE ÜBER ALBRECHT SCHÖNHERR:
Ein Brandenburger
MAXIMILIAN LEVY:
Das Wir-Gefühl fehlt
MARTINA MÜNCH:
Lebensqualität, Teilhabe und Miteinander
TOBIAS SCHICK:
Rechtsextremismus und Sport
HOLGER RUPPRECHT: DAGMAR FREITAG:
„No Sports“ oder „Sport frei“?
Keine Leistung um jeden Preis
FRANK SCHÖNEMANN:
Kommunitarismus in der Kurve
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
vorwort
Sport frei! port in einer „Zeitschrift für Wissenschaft und Politik“ zu thematisieren, liegt vielleicht nicht für alle Leserinnen und Leser der Perspektive21 sofort auf der Hand. Ich bin aber überzeugt, dass dies nach der Lektüre dieses Heftes anders sein wird. Denn Sport hat natürlich eine gesellschaftspoltische Dimension. Die Förderung des Breitensports muss selbstverständlicher Bestandteil einer vorsorgenden Gesellschafts- und Gesundheitspolitik sein. Und Profi- und Leistungssport als Gemeinschaftserlebnis hat Vorbildcharakter, insbesondere für jungen Menschen. Sport schafft aber auch Identität in Kommunen, Regionen, sogar in Nationen. Sport kann völkerverständigend wirken, kann Werte wie Fairness, Toleranz und Demokratie vermitteln helfen. Gleichzeitig darf Sport aber nicht „überpolitisiert“ und instrumentalisiert werden. Denn Sport soll immer noch in erster Linie Freude, Spaß und Spannung bereiten. Diesem Ziel stehen in einer kapitalistischen Gesellschaft natürlich Kommerzialisierungsinteressen entgegen. Auswirkung, nicht nur Nebenerscheinung übertriebener Kommerzialisierung, ist ein pervertierter Leistungsdruck, der seinen Ausdruck in Dopingskandalen wie etwa bei der Tour de France findet. Mit den Beiträgen im Schwerpunkt dieses Heftes greifen wir einige dieser Themen auf. Besonders nahelegen möchte ich Ihnen das Interview, das Thomas Kralinski mit dem erfolgreichen Brandenburger Olympioniken Maximillian Levy geführt hat. Der Bahnradsportler Maximillian Levy, der in Cottbus und Frankfurt (Oder) trainiert, findet einige offene Worte zum Thema Sport und Medien, aber auch zum Verhältnis von Sportlern und Verbandsfunktionären. Sehr lesenswert!
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IHR KLAUS NESS
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inhalt
Sport frei! SPORTPOLITIK IN BRANDENBURG
MAGAZIN ARNE LIETZ: Back to the roots .............................................................................. Viele abgewanderte Ostdeutsche wollen zurück in ihre Heimat – nur wie?
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CHRISTIAN NEUSSER: Partnerwahl 2.0
................................................................ 11 Was der Wandel im Verhältnis von SPD und Gewerkschaften für die Interessenbeziehungen im Fünf-Parteiensystem bedeutet OLIVER GÜNTHER: Vier Cluster
.......................................................................... 19 Wie sich die deutschen Hochschulen ausdifferenzieren werden
DAS STRASSENSCHILD MANFRED STOLPE ÜBER ALBRECHT SCHÖNHERR: Ein Brandenburger
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THEMA MAXIMILIAN LEVY: Das Wir-Gefühl fehlt
............................................................ 33 Über die Planbarkeit von Goldmedaillen, die deutsche Sportförderung und den olympischen Geist sprach Thomas Kralinski mit Maximilian Levy MARTINA MÜNCH: Lebensqualität, Teilhabe und Miteinander
............................ 39
Warum der Sport eine enorme gesellschaftspolitische Rolle spielt TOBIAS SCHICK: Rechtsextremismus und Sport
.................................................. 47 Möglichkeiten und Grenzen des organisierten Sports HOLGER RUPPRECHT: „No Sports“ oder „Sport frei“?
.......................................... 53 Wer in Vereine und Schulsport investiert, wird bei Olympia ernten können DAGMAR FREITAG: Keine Leistung um jeden Preis
.............................................. 59 Eine effektive Dopingbekämpfung in Deutschland braucht effektivere Maßnahmen FRANK SCHÖNEMANN: Kommunitarismus in der Kurve
...................................... 65 Ein Versuch über Hybris und Heimat in ostdeutschen Fussballstadien perspektive21
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Back to the roots VIELE ABGEWANDERTE OSTDEUTSCHE WOLLEN ZURÜCK IN IHRE HEIMAT – NUR WIE? VON ARNE LIETZ
ie meisten meiner ehemaligen Klassenkameraden aus Mecklenburg-Vorpommern arbeiten mittlerweile in den alten Bundesländern oder im Ausland. Für meine „Generation Ost“ – ich bin Jahrgang 1976 – ist das Normalität. Dennoch wird der innerdeutschen Migration bisher nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei kann die Auswanderung junger Ostdeutscher in den Westen gestoppt oder zumindest abgemildert werden. Es fehlt nur bislang der politische Wille dazu. Die dramatische demografische Entwicklung in Ostdeutschland ist mittlerweile gut bekannt und führt seit Jahren zu administrativ-strukturellen Anpassungsprozessen. Schon seit der Wiedervereinigung ist der Gesamtwanderungssaldo für Ostdeutschland negativ. Von 1990 bis heute sind rund 1,1 Million Menschen aus Ostdeutschland in den Westen abgewandert. Zu den Hauptgründen für die Abwanderung zählen die fehlenden Karrieremöglichkeiten und die geringeren Einkommen – ein langfristig belastendes Politikum zwischen Ost und West.
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Das Rückkehrpotential ist groß Doch nun hat die erste Zwischenbilanz einer Studie des Leipziger Leibniz-Instituts für Länderkunde für Aufmerksamkeit gesorgt. Die Forscher befassen sich mit der Bereitschaft und den Beweggründen von Rückkehrwilligen nach Ostdeutschland. Demnach erwägen fast drei Viertel aller aus Ostdeutschland Abgewanderten, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl sie im Westen gute Erfahrungen gemacht haben. Jeder Zweite hat sogar schon erste Vorbereitungen für die Rückkehr getroffen. Sollten sich diese Zahlen bestätigen, wäre das Rückkehrpotenzial enorm. Unter den bereits Zurückgekehrten geben zwei Drittel an, für sie sei dieser Schritt einfach oder sogar „sehr einfach“ gewesen. Übrigens besitzen mehr als 71 Prozent von ihnen einen Hochschulabschluss, rund 12 Prozent haben sogar promoviert. Als zentrale Motive für die Rückkehr nennt der Herausgeber der Studie, Thilo Lang, die perspektive21
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Verbesserung der Lebensumstände im Allgemeinen sowie die Nähe zu Familie und Freunden. Weitere wichtige Motive sind die verbesserten Möglichkeiten der Kinderbetreuung durch die Familie sowie eine hohe Heimatverbundenheit. Die Politik muss endlich angemessener und entschiedener auf die erhöhte Rückkehrbereitschaft Ostdeutscher reagieren. Bestehende Barrieren müssen so schnell wie möglich aufgehoben werden, wobei die zentrale Hürde in den schlechten Bedingungen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt besteht (auch wenn viele Lohneinbußen hinnehmen würden). Die zentralen Ziele müssen die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns und die Lohngleichsetzung zwischen Ostund Westdeutschland sein. Gewiss, die Konkurrenz zwischen Ost und West würde steigen. Außerdem würden die Rückkehrer, die gut ausgebildet sind und integriert waren, in den westdeutschen Ländern merkbar fehlen. Schließlich hat auch im Westen der demografische Umbruch begonnen. Dennoch ist es im gesamtdeutschen Interesse, dass der Osten viele seiner motivierten und aktiven Bürger weiterhin nicht allein aufgrund des Lohngefälles verliert. Nur so kann der Osten wirtschaftlich, sozial und kulturell aus eigener Kraft erfolgreich sein – und den Zuzug aus Westdeutschland oder aus dem Ausland ermöglichen. Der Arbeitsmarkt hat sich verändert Wenn westdeutsche Bundesländer gut ausgebildete Menschen aus dem Osten abwerben und dann den Bundesfinanzausgleich nicht mehr mittragen wollen, weil andere Bundesländer angeblich ihre Hausaufgaben nicht machen, dann handeln sie höchst unsolidarisch. Sie verringern die Chancengleichheit zwischen den Bundesländern und beschleunigen die demografische Entleerung des Ostens – mit schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen, unter denen am Ende das gesamte Land leiden muss. Eine weitere politische Herausforderung stellen die Pendler dar, die im Osten wohnen, aber teilweise seit vielen Jahren zur Arbeit in den Westen pendeln. Allein in Sachsen-Anhalt gibt es 20.000 Fernpendler. Viele von ihnen wünschen sich nichts mehr als eine gleich entlohnte Stelle in der Heimat annehmen zu können. Derzeit wäre der Nettoverdienst infolge des Wegfalls möglicher Zweitwohnungsoder Pendlerkosten zwar gleich, aber die Betroffenen würden weniger Beiträge in die Rentenversicherung zahlen. Die Kehrseite der Medaille lautet, dass sich die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren stark verändert hat. Während Ausbildungsplätze noch vor wenigen Jahren knapp waren, können heute viele nicht 8
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arne lietz – back to the roots
besetzt werden. Der Fachkräftemangel hat auch in Ostdeutschland eingesetzt: So werden in Mecklenburg-Vorpommern Fachkräfte besonders im Gesundheits- und Sozialwesen, im Handel und im verarbeitenden Gewerbe gesucht. In SachsenAnhalt suchen viele Unternehmen derzeit dringend Ingenieure, um neue Aufträge annehmen zu können. Zudem gibt es für rückkehrende oder zuziehende junge Familien nach Ostdeutschland eine optimale Kinderbetreuungssituation, die aufrechterhalten werden muss. Dagegen muss das Betreuungsgeld mit allen Mitteln verhindert werden, weil es die gute Betreuungsinfrastruktur im Osten torpediert und den Ausbau der Kitaplätze in Westdeutschland behindert. Eine dritte Generation im Osten Für Fragen rund um das Thema Abwanderung, Rückkehrer und Rückholprogramme interessiert sich ein noch junges, aber bereits fest etabliertes offenes Netzwerk mit dem Namen „3te Generation Ostdeutschland“. Es existiert seit dem Jahr 2011 und setzt sich überwiegend aus Ostdeutschen der Jahrgänge 1975 bis 1985 zusammen, die in allen Teilen Deutschlands leben. Die Aktiven sind sich ihrer besonderen Erfahrung und der erworbenen Kompetenzen bewusst, die aus der miterlebten politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit resultieren. Sie reflektieren selbstbewusst Fragen zur deutsch-deutschen Vergangenheit und diskutieren darüber, wie zukunftsfähige gesellschaftliche Strukturen in Ostdeutschland und darüber hinaus entstehen können. Es geht ihnen darum, Ideen zu entwickeln und zu verbreiten, die lokal und national verwirklicht werden können. Auf Veranstaltungen und bei einer Tour des Netzwerkes durch Ostdeutschland im Sommer 2012 standen die Herausforderungen im Fokus, die sich aus der deutsch-deutschen Migration ergeben. Ferner ging es um die Arbeitsweisen und die Erfolgsaussichten der Rückholprogramme beziehungsweise die Fachkräfteportale der ostdeutschen Bundesländer. Im Verlauf der Tour ehrte die Brandenburger Staatskanzlei das Netzwerk als vorbildliche Initiative auf dem Gebiet der Demografie. Die betreffenden Programme für Rückkehrwillige heißen „PFIFF“ (SachsenAnhalt), „MV4you“ (Mecklenburg-Vorpommern), „ThAFF“ (Thüringen) oder – selbsterklärend – „Fachkräfteportal Brandenburg“. Diese sind gemeinsam mit weiteren lokalen Partnern im „Verbund Rück- und Zuwanderung“ organisiert. Aber gemessen an der Aufgabenbreite und den Möglichkeiten, die alleine das Internet bietet, haben alle diese Institutionen zu kleine Mitarbeiterstäbe und zu perspektive21
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wenig eigene Ressourcen, um adäquat wirksam zu werden. Einige von ihnen müssen sogar einen Teil ihres Budgets selbst erwirtschaften. Bei allen Institutionen ist die Onlinepräsenz von herausragender Bedeutung, wobei die Qualität, Angebote und Übersichten noch sehr unterschiedlich sind. Da es sich nicht nur um Rückholprogramme, sondern auch um Fachkräfteportale handelt, wäre es im Hinblick auf potenzielle Interessenten zum Beispiel aus Ost- und Südeuropa sinnvoll, die Internetseiten noch konsequenter auch ins Englische, Polnische oder Spanische zu übersetzen. Einige der Portale haben damit bereits begonnen. Aber häufig haben ausländische Fachkräfte in den alten Bundesländern mehr persönliche Netzwerke und nehmen die Chancen und Potenziale in Ostdeutschland nicht ausreichend wahr. Hinzu kommt: Trotz des Verbundes der ostdeutschen Institutionen kämpft jedes Bundesland letztlich für sich. Eine gemeinsame sichtbare ostdeutsche Initiative, besonders in den europäischen Raum hinein, ist bisher noch nicht entstanden. Es ist wichtig, die bestehenden Institutionen zu unterstützen und noch bekannter zu machen, die versuchen die demografische Situation in Ostdeutschland zu stabilisieren. Wahlen werden im Osten gewonnen Die Bundestagswahl im kommenden Jahr schafft die Möglichkeit, mit neuen Mehrheiten endlich auch in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen. Da ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung von einem Mindestlohn in besonderer Weise profitieren würde, sollte diese Forderung im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen. Durch die Einführung eines Mindestlohns und – damit einhergehend – bessere Aussichten auf eine auskömmliche Rente, würde eine ganze Generation und ihre Familien zusätzliche Anreize haben, in ihre alte Heimat zurückzukehren – oder dort zu bleiben. Gerade auch viele noch unentschlossene Wähler und Nichtwähler sind für das Thema „Rückkehr“ ansprechbar. Nicht selten wurden die Bundestagswahlen in Ostdeutschland entschieden. Dieses Thema könnte durchaus dazu beitragen. n
ARNE LIETZ
ist Mitglied des Netzwerkes „3. Generation Ost“ und Vorsitzender der SPD in der Lutherstadt Wittenberg. 10
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Partnerwahl 2.0 WAS DER WANDEL IM VERHÄLTNIS VON SPD UND GEWERKSCHAFTEN FÜR DIE INTERESSENBEZIEHUNGEN IM FÜNF-PARTEIENSYSTEM BEDEUTET VON CHRISTIAN NEUSSER
ie Beziehungen von Parteien und Gewerkschaften sind im Fünf-Parteiensystem unübersichtlicher geworden. Die traditionellen Partner SPD und Gewerkschaften haben sich erst über die Agenda 2010 verkracht, dann scheinbar wieder lieb gewonnen. Im Windschatten der Agenda hatte sich für Teile der Gewerkschaften mit der Linkspartei ein politischer Ansprechpartner jenseits der Sozialdemokratie etabliert. Auch in das Verhältnis von Union und DGB-Gewerkschaften scheint Bewegung gekommen zu sein, gehen doch nicht nur in Krisenzeiten Gewerkschaftsbosse bei der Christdemokratin Angela Merkel im Kanzleramt ein und aus. Und last but not least wird die zweitgrößte Einzelgewerkschaft Verdi mit Frank Bsirske von einem Grünen angeführt, was lange als undenkbar galt. Eines bleibt immerhin beim Alten: Gewerkschaften und FDP – das passt nicht recht zueinander. Arbeitnehmervertreter können mit der neoliberalen Politik der Freidemokraten nichts anfangen, und so bleiben die Funktionäre hüben wie drüben einander in inniger Zwietracht zugewandt.
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Die Welt steht nicht still Die Gesamtsituation in den Interessenbeziehungen von Parteien und Gewerkschaften ist komplizierter als noch in der alten „Bonner Republik“ mit ihren zwei großen, dominanten Volksparteien. Gewiss, die Welt steht nicht still. Die früheren Industriegesellschaften haben sich zu global vernetzten Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften gewandelt. Von dieser Entwicklung bleiben Gesellschaft, Wirtschaft, und Sozialstaat nicht unberührt – und ebenso wenig Parteien und Verbände als Vermittler gesellschaftlicher Interessen. Es spricht einiges dafür, die SPD als einen Schlüsselfaktor in dem komplexer gewordenen Geflecht der Parteien-Gewerkschafts-Beziehungen zu identifizieren, weshalb die Partei im Folgenden an den Ausgangspunkt der Argumentation gestellt wird. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit sich das Verhältnis zwischen beiden Organisationen gewandelt hat und welche Folgen sich hieraus für die Beziehungen zwischen Parteien perspektive21
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und Gewerkschaften ergeben. Folgt in der „Berliner Republik“ die Wahl der Bündnispartner neuen Gesetzmäßigkeiten? Von dieser Frage hängt nicht zuletzt ab, wie zentrale Kräfteverhältnisse im deutschen Sozialstaat bestellt sind. Alte Liebe rostet nicht (so leicht) Ein Herz und eine Seele waren SPD und Gewerkschaften in der langen Geschichte ihrer Beziehungen selten. Das muss auch nicht verwundern. Schließlich haben Parteien und Gewerkschaften generell unterschiedliche Aufgaben. Die einen ringen im politischen Wettbewerb um Macht, die anderen vertreten im ökonomischen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital die Interessen der Arbeitnehmer. In diesen unterschiedlichen Rollen waren Meinungsverschiedenheiten zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften immer schon an der Tagesordnung. Und das vor allem dann, wenn die SPD – wie in den siebziger Jahren unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und unter Rot-Grün – in ökonomisch schwierigen Zeiten in Regierungsverantwortung stand und in den Augen ihrer Stammklientel unpopuläre Entscheidungen beim Umbau des Sozialstaats umsetzte. Gleichwohl ist es zutreffend, von einer besonderen, durchaus innigen Beziehung zwischen beiden Akteuren zu sprechen, die ihresgleichen sucht. Der besondere Kitt in der Partnerschaft von SPD und Gewerkschaften beruht auf gemeinsamen Werten, einer großen Schnittmenge in der Mitglieder- bzw. Wählerschaft sowie vielfältigen personellen Kontakten zwischen den Eliten sowie an der Basis beider Organisationen. Getrennt marschieren, vereint schlagen – diese alte Losung weist auf viele Gemeinsamkeiten in den politischen Zielen hin, sie verdeutlicht aber auch den eigenständigen Charakter der beiden Organisationen. In jedem Fall ist Bewegung in das Verhältnis geraten, strittig ist die Tragweite der Folgen. Für manchen Beobachter kündete die wohl schwerste Vertrauenskrise zwischen 2003 und 2005 von einem vermeintlichen Niedergang der historischen Partnerschaft. Andere sahen darin lediglich die Episode einer zeitweiligen Beziehungskrise, die in den Jahren danach wieder verflogen ist. In dieser Partnerschaft sind Abnutzungseffekte gewiss nicht neu. Mit dem Wandel der SPD zur Volkspartei hat sich die Partei seit den sechziger Jahren stärker Wählerschichten jenseits der – anteilsmäßig immer geringer werdenden – Arbeiterschaft zugewandt. Das hat bereits in der alten „Bonner Republik“ die exklusive Rolle der Gewerkschaften für die SPD geschmälert. Insofern müssen die jüngeren Konflikte als Auswirkung einer längerfristigen Entwicklung eingeordnet werden. Denn die Zielgruppen beider Organisationen weisen nicht mehr 12
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christian neusser – partnerwahl 2.0
die gleiche Schnittmenge wie noch in den Anfängen der Bundesrepublik auf: Während für die SPD die zahlenmäßig gewachsene Mittelschicht aus Angestellten und Beamten an Bedeutung gewinnt, die Partei sich mithin der gesellschaftlichen Realität anpasste, vertreten die Gewerkschaften weiterhin schwerpunktmäßig die Interessen ihrer Mitglieder aus der industriellen Facharbeiterschaft. Gewerkschaften tun sich zudem schwer, Frauen, Jüngere und Angestellte aus kleineren, innovativen Betrieben aus dem Dienstleistungssektor als Mitglieder zu gewinnen. Wie unter einem Brennglas hat der Konflikt um die Agenda 2010 gezeigt, dass die Vorstellungen beider Organisationen über den Sozialstaat der Zukunft nicht deckungsgleich sind. Entscheidend ist, dass diese Erkenntnis jedoch nicht zu einer wechselseitigen inhaltlichen Entfremdung führt. Das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD von 2007 macht deutlich, wie eng der programmatische Bezug zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften nach wie vor ist. Nach dem für die Partei verheerenden Ergebnis bei der Bundestagswahl kündigte der darauf folgende Dresdener Parteitag unter dem neuen Vorsitzenden Sigmar Gabriel im November 2009 eine inhaltliche Kurskorrektur von der einstigen Regierungslinie an. Die historische Partnerschaft ist nicht selbstverständlich Seither beschreitet die Partei in der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik diese Linie. Neben der inhaltlichen Wiederannäherung hat sich seit 2005 auch die atmosphärische Zusammenarbeit zwischen den Spitzen von Sozialdemokratie und Gewerkschaftern mit der Zeit wieder weitgehend normalisiert. Beispielhaft konnte dies etwa am SPD-Gewerkschaftsrat, einem Unikum unter den Parteien, beobachtet werden. Zu Hochzeiten der Agenda-Krise unter dem Vorsitz Gerhard Schröders herrschte in diesem Austauschgremium zwischen SPD und Gewerkschaften noch Eiseskälte. In der Nach-Schröder-Ära entwickelte sich der Rat unter dem Vorsitzenden Kurt Beck zu einem Motor für gemeinsame Projekte, wurden doch hier mit den Gewerkschaften bereits frühzeitig Fragen zum Mindestlohn, zur Leiharbeit sowie das Leitbild „Gute Arbeit“ diskutiert und gemeinsame Positionen erarbeitet. Von einem Niedergang der historischen Partnerschaft kann gewiss keine Rede sein. Aber auch an dieser altehrwürdigen Beziehung nagt an mancher Stelle der Zahn der Zeit. Es ist heute keineswegs mehr normal, dass unter jüngeren Führungskräften beider Organisationen eine gemeinsame politische Sozialisation oder ähnliche berufliche Erfahrungen vorzufinden sind. Dies war unter früheren Eliten vielfach der Fall und hatte verbindende Wirkung. Ebenso ist es unter gewerkperspektive21
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schaftlichen Nachwuchskräften nicht mehr quasi selbstverständlich, Sozialdemokrat zu sein. Generell ist die jüngere Generation von Gewerkschaftsfunktionären parteioffener und parteiunabhängiger ausgerichtet als früher. Traditionsbewusste Vermittler zwischen beiden Organisationen sind damit zwar keine raren Gewächse, sie schießen aber auch nicht mehr wie Pilze aus dem Boden. Unter dem Strich haben sich die Beziehungen von SPD und Gewerkschaft über einen länger andauernden Zeitraum hinweg gewandelt. Das Verhältnis ist komplizierter, zuweilen distanzierter, auch ein stückweit rationaler geworden. Daher ist es zwischen beiden Seiten auch notwendig, sich regelmäßig über die Eckpfeiler im Modell deutscher Sozialstaatlichkeit zu vergewissern. Gleichwohl ist bei SPD und Gewerkschaften in der Mehrheit die Einsicht vorhanden, dass beide Akteure aufeinander angewiesen bleiben, wenn sie ihre politischen Ziele umsetzen wollen. Von zwei Volksparteien zu vier Sozialstaatsparteien Fragt man nun nach den Veränderungen, die sich insgesamt zwischen Parteien und Gewerkschaften im Fünf-Parteiensystem ergeben, so kann zuerst festgehalten werden, dass die beiden Volksparteien nicht mehr die alleinigen politischen Ansprechpartner für die Gewerkschaften sind, wie dies noch in der „Bonner Republik“ der Fall war. Mit der Pluralisierung des Parteienwettbewerbs seit den achtziger Jahren sind die vormals großen Volksparteien mittlerweile zu mittelgroßen Parteien geschrumpft. Zugleich haben sich zwei neue politische Kräfte etabliert, die ihrerseits bestimmte Arbeitnehmerinteressen repräsentieren. Die Sozialdemokratie nimmt auch in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle ein, weil die Partei im politischen Wettbewerb zweimal von links herausgefordert wurde: zunächst Anfang der achtziger Jahre durch die Grünen, seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt durch die Linkspartei. In beiden Fällen gelang es der SPD nicht, gesellschaftliche Interessen aus dem linken Spektrum zu absorbieren. Beide Fälle unterscheiden sich indes, was den Bezug zu den Gewerkschaften betrifft. GRÜNE: VOM GEWERKSCHAFTSSCHRECK ZUM DIALOGPARTNER. Den Grünen als Ökologie- und Bewegungspartei ging es in ihrer Gründerzeit weniger um die Gestalt des Sozialstaats. Sie forderten eine Transformation der Industriegesellschaft und waren in diesem Punkt sowohl den Gewerkschaften als auch der SPD ursprünglich spinnefeind. Denn in SPD und Gewerkschaften sahen die Grünen Verteidiger des althergebrachten Industriemodells. In der Sturm- und-DrangPhase der Grünen kam es nicht selten dazu, dass einzelne ihrer Aktivisten in den
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Betrieben gar aus Gewerkschaften ausgeschlossen wurden. Erst nach ihrer Metamorphose vom radikalen Systemkritiker hin zur pragmatischen Reformkraft hat sich das Verhältnis der Grünen zu den Gewerkschaften weitgehend normalisiert. Grüne und Gewerkschaften haben mithin eine gemeinsame Gesprächsgrundlage, wenn es um Chancen einer ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft geht, etwa im Hinblick auf Arbeitsplatzpotenziale in der Energie- oder Chemiebranche. Heute sprechen die Grünen Arbeitnehmer aus dem linksliberalen Spektrum sowie der bürgerlichen Mitte an, die vorwiegend im öffentlichen Dienst sowie in kreativen Dienstleistungsberufen tätig sind. Die Grünen haben sich mit ihrem bürgerlichen Profil längst als Dialogpartner der Gewerkschaften etabliert. Für die zweite Neuerung im Parteiensystem, die Linkspartei, war wiederum der Konflikt um den Sozialstaat zentral für ihren Aufstieg. Mit ihrem Protest gegen die sozialdemokratische Reformagenda sowie ihrem Bekenntnis zu einem starken, intervenierenden Staat fand die Linke seitdem in Teilen der Gewerkschaften Zuspruch. Ihre unveränderte Oppositionsrolle im Bund macht sie allerdings für die Gewerkschaften nur bedingt zu einem wichtigen Ansprechpartner. Denn Gewerkschafter denken pragmatisch und wollen in erster Linie Einfluss auf die Regierungspolitik ausüben. Im Fall der Linken wird deutlich, dass die Partei für die Gewerkschaften ein optionaler Kooperationspartner ist, dessen Bedeutung stark von der Stellung der SPD abhängt. Die Linke vermochte es, Druck auf die SPD als Regierungspartei auszuüben, indem sie gemeinsam mit den Gewerkschaften den Umbau des Sozialstaats kritisierte. Solange die Gewerkschaften ihren Einfluss über die SPD geltend machen können, bleibt die Linke für die Mehrheit der Gewerkschafter jedoch nur die zweite Wahl im linken Parteienspektrum. Diese Einschätzung hängt auch damit zusammen, dass die Partei zwar in Teilen der Basis von IG Metall und Verdi Unterstützung findet, ihr Einfluss auf die Spitzen der Gewerkschaften insgesamt jedoch gering bleibt. DIE LINKE ALS ZWEITE WAHL.
CDU: SITUATIVE KOOPERATION MÖGLICH. Seitdem im linken Parteienspektrum Grüne und Linkspartei mit ihren Profilen auf dem Wählermarkt spezifische Arbeitnehmerinteressen vertreten, musste vor allem die SPD dieser Konkurrenz Tribut zollen. Dennoch bleibt die Partei für das gewerkschaftsnahe Arbeitnehmerlager die zentrale Richtgröße. Denn trotz gewisser inhaltlicher Annäherungstendenzen sind für die Wähler die Markenkerne der Volksparteien relevant. Nach wie vor verorten die Wähler die primäre politische Kompetenz der SPD perspektive21
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in der Sozialpolitik, diejenige der CDU in der Wirtschaftspolitik. Die CDU spricht mit ihrem Arbeitnehmerflügel vor allem christlich-soziale Wähler aus der Arbeitnehmerschaft an. Die Enttäuschungen über die Agenda 2010 haben unter den Spitzen der Gewerkschaften eine größere Offenheit gegenüber anderen Parteien befördert. Zudem sind zwischen Gewerkschaftern und Christdemokraten manche ideologischen Scheuklappen abgebaut worden. Im Fall der CDU führt dies dazu, dass auf Elitenebene situative und pragmatische Formen der Kooperation an Bedeutung gewinnen. Das wurde vor allem im Krisenmanagement der Bundesregierung während der Weltwirtschaftskrise seit 2008 deutlich. Über Bundeskanzlerin Merkel sagte etwa der DGB-Vorsitzende Michael Sommer 2006, sie habe sich „sicherlich nicht zu einer bedingungslosen Gewerkschaftsfreundin gewandelt“, aber sie sei „fair, offen, souverän, und sie weiß, wo bei uns die Grenze der Belastbarkeit ist.“ Diese Art der Kommunikation mit der Bundeskanzlerin sei neu und habe sich früher auf die Sozialausschüsse der CDU beschränkt (zitiert nach Financial Times Deutschland). Von einer statischen Feindschaft zwischen Union und DGB zu sprechen, wäre sicherlich falsch. Gewerkschaftsfunktionäre sind politische Lobbyisten, sie erkennen und nutzen solche Gelegenheiten zur politischen Einflussnahme. Gewerkschaften sind offener und flexibler Insgesamt bestehen im Fünf-Parteiensystem mit den beiden Volksparteien sowie den Grünen und der Linken nunmehr vier Sozialstaatsparteien, die eine starke programmatische Affinität zum deutschen Sozialstaat haben, und in unterschiedlicher Art und Weise Arbeitnehmerinteressen repräsentieren. Der Langzeittrend zeigt, dass gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer nicht mehr nur die beiden Volksparteien wählen, sondern ihre Stimmen stärker auf nunmehr vier Parteien aufteilen (siehe Abbildung). Alle vier Sozialstaatsparteien pflegen über ihre Spitzen sowie über parteieigene Unterorganisationen Kontakte zu den Gewerkschaften. Der politische Austausch zwischen Parteien und Gewerkschaften hat sich damit ausdifferenziert. Auch die Gewerkschaften richten sich auf die Bedingungen im Fünf-Parteiensystem ein. Deren Einflusspolitik nimmt – in unterschiedlicher Weise – alle vier Sozialstaatsparteien in den Blick. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Neu ist jedoch, dass die Gewerkschaften das Prinzip der Einheitsgewerkschaft – weltanschaulich neutral und parteipolitisch unabhängig zu sein – anders interpretieren. Als Reaktion auf den Wandel der SPD justieren die Gewerkschaften das 16
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Wahlentscheidung von Gewerkschaftsmitgliedern bei Bundestagswahlen 1953 bis 2009 80%
SPD 70% 60% 50% 40% 30%
CDU/CSU
20% 10%
Linke Grüne
0% 1953 1957 1957 1965 1965 1969 1969 1972 1972 1976 1976 1980 1980 1983 1983 1987 1987 1990 1990 1994 1994 1998 1998 2002 2002 2005 2005 2009 2009 1953 Quelle: Schoen 2005, Forschungsgruppe Wahlen
Prinzip der Einheitsgewerkschaften neu: Sie sind parteipolitisch offener und bündnispolitisch flexibler als je zuvor. Sie legen größeren Wert darauf, den unterschiedlichen Parteien gegenüber aufgeschlossen zu sein, um gewerkschaftliche Interessen durchzusetzen. Dies geht damit einher, mit allen vier Sozialstaatsparteien unter inhaltlichen Gesichtspunkten Kooperationen einzugehen. Diese Auslegung befördert im Fünf-Parteiensystem einen situativen Lobbyismus der Gewerkschaften. Auf die Sozialdemokratie kommt es an Wie man es auch dreht und wendet: Die SPD ist und bleibt der Schlüsselfaktor in der Gesamtkonstellation der Parteien-Gewerkschafts-Beziehungen. Die SPD ist auch weiterhin der primäre politische Ansprechpartner der Gewerkschaften, diese sind umgekehrt eine zentrale Interessenorganisation, ohne die es keine politische Machtperspektive für die Partei gibt. Die traditionellen Rollenzuweisungen spiegeln die Realität aber nicht mehr hinreichend wider. Paradox ist dabei folgender Zusammenhang: Wie wohl noch nie zuvor zeichnet die Gewerkschaften heute eine offene und flexible Grundhaltung gegenüber den Parteien aus. Eine entscheidende Triebkraft hierfür liegt ausgerechnet in der Sozialdemokratie. Denn ihr langfristiger Wandel hat erst eine größere Distanz zu den Gewerkschaften perspektive21
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herbeigeführt. In der Gesamtkonstellation bleibt die SPD gleichwohl die entscheidende Variable, denn das Verhältnis der anderen Parteien zu den Gewerkschaften wird maßgeblich von der Stellung der SPD zur organisierten Arbeitnehmerschaft geprägt. Die zukünftige Gestalt dieser besonderen Partnerschaft hängt maßgeblich davon ab, ob SPD und Gewerkschaften ein gemeinsames Bild vom Sozialstaat der Zukunft entwerfen. n
CHRISTIAN NEUSSER
ist Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg. Der Text basiert auf seiner Dissertation, in der er die Beziehungen von Parteien und Gewerkschaften im deutschen Sozialstaat analysiert. 18
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Vier Cluster WIE SICH DIE DEUTSCHEN HOCHSCHULEN AUSDIFFERENZIEREN WERDEN VON OLIVER GÜNTHER
ie Diskussionen um die Abgrenzung zwischen Fachhochschulen und Universitäten halten an. In der Politik herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine klar definierte Dichotomie noch zweckmäßig ist. Neuerdings heißen die Fachhochschulen nicht mehr Fachhochschulen, sondern Hochschulen für Angewandte Wissenschaften – auf Englisch Universities of Applied Sciences. Die Finanzierungen der beiden Hochschultypen gleichen sich an – in Brandenburg gibt es, was den wichtigen Indikator Euro pro Studienplatz angeht, kaum noch Differenzen. Die Kolleginnen und Kollegen aus den (Fach-)Hochschulen wehren sich gegen die Einstufung als „Underdogs“ oder „2. Bundesliga“ (Die Zeit), während der in vielen Hochschulfragen progressiv denkende frühere Hochschulrektorenkonferenz-Vorsitzende George Turner an dem Zweiartensystem festhalten will. Jedenfalls sieht er keine Möglichkeit, die beiden Paradigmen unter einem Dach zu vereinen.
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Ein Blick in die Welt Ungeachtet der tagespolitischen Auseinandersetzungen stellt sich die Frage, ob ein strikt definiertes Zweiartensystem auf Dauer haltbar oder wünschenswert ist. In dem vom amtierenden Vorsitzenden der Hochschulrektorenkonferenz Horst Hippler gewählten Bundesliga-Analogien mag dies funktionieren. Aber Hochschulen sind keine Fußballvereine. Anstelle eines Blicks in die Bundesliga empfiehlt sich vielmehr der Blick in die Welt. Da gibt es schon lange den Unterschied zwischen promotionsfähigen (doctoral degree granting) und nicht-promotionsfähigen Hochschulen. Bei ersteren gibt es oft auch den internen Unterschied zwischen denjenigen Fakultäten oder Fachbereichen, die den begehrten Ritterschlag erhalten haben und denen, die dies noch vor sich haben. Meines Erachtens kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sich das deutsche Hochschulsystem in diese Richtung entwickeln wird. Im Endergebnis werden wir (hoffentlich, aber dazu gleich noch mehr) eine ungefähre Normalverteilung sehen, die sich in vier Cluster aggregieren lässt – zwei große in der Mitte und je einem kleinen oben und unten. perspektive21
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Ganz oben wird es einige wenige Spitzenuniversitäten geben, die in allen Fachbereichen internationale Sichtbarkeit aufweisen – die Exzellenzinitiative bietet einige Hinweise, wer sich in dieser Spitzengruppe wiederfinden mag. Diese Hochschulen zeichnen sich durch eine klare Forschungsorientierung aus, vergleichbar den oft als Vorbild dienenden nordamerikanischen Spitzenuniversitäten. Um dies zu ermöglichen, wird die Politik über eine nachhaltige Finanzierung derartiger Hochschulen nachdenken müssen – zum aktuellen Tarif sind sie schlichtweg nicht zu haben. Zusätzliche Finanzierung ist erforderlich, nicht nur für Labore und Geräte, sondern auch für international wettbewerbsfähige Gehälter, mehr wissenschaftliche Mitarbeiter sowie deutlich unter acht oder neun Semesterwochenstunden liegende Lehrdeputate für Spitzenforscher (wobei darauf geachtet werden muss, dass diese sich nicht vollständig aus der Lehre verabschieden, sondern auch weiterhin in Bachelor- und Masterprogrammen lehren). Nicht jedes Bundesland wird sicher derartige Spitzenuniversitäten leisten können. Ein zweiter, deutlich größerer Cluster von forschungsorientierten Hochschulen wird in einigen, wenn nicht allen, Fachbereichen international sichtbar sein und so eine klar überdurchschnittliche Mittelausstattung rechtfertigen. Viele – wenngleich nicht alle – der derzeitigen Universitäten werden sich in diesem zweiten Cluster wiederfinden, ebenso wie einige der bisherigen Fachhochschulen, die sich durch konsistente und exzellente Forschungsleistungen ausgezeichnet haben. Das Lehrdeputat in diesem Segment wird durchschnittlich höher liegen als bei den Hochschulen im ersten Cluster, und es ist zu wünschen, dass mehr Hochschulen die von Seiten des Gesetzgebers oft bereits gegebene Möglichkeit zur internen Flexibilisierung noch stärker nutzen als bisher. Mehr als acht Semesterwochenstunden werden es im Durchschnitt nicht sein können, da sonst die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeben ist. Der dritte – vielleicht größte – Cluster wird aus einer Vielzahl von Hochschulen bestehen, die sich vornehmlich der Lehre zuwenden. Forschung wird an diesen Hochschulen keine zentrale Rolle spielen, ein Promotionsrecht gibt es hier nicht. Das durchschnittliche Lehrdeputat wird sich etwas unterhalb dem der bisherigen Fachhochschulen einpendeln. Aspirierende Nachwuchswissenschaftler werden sich diesen Hochschulen nur zuwenden, wenn sie an den Hochschulen des ersten und zweiten Clusters keine Anstellung finden oder aus persönlichen Gründen einer bestimmten Region zuneigen. Das ist aber kein Schaden; die enorme gesellschaftliche Relevanz dieses dritten Clusters wird sich am Stellenmarkt erweisen und selbst perpetuieren. Diesen Hochschulen könnte und dezember 2012 – heft 55
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sollte quantitativ noch ein höherer Anteil am Dienstleistungssektor zuwachsen, da sie auch im Vergleich zu den forschungsorientierten Hochschulen sehr gute Lehre anbieten und ihre Absolventen für hochwertige Berufsbilder in der Praxis qualifizieren. Zudem sind sie – in Euro pro Studierendem gemessen – deutlich kostengünstiger als forschungsorientierte Hochschulen. Nicht etwa, weil sie schlechtere Arbeit leisten – daher auch keine zweite oder dritte Liga sind – sondern weil Forschung Geld kostet, hier aber kein, zumindest kein zentrales Thema ist. Durch Profilierung und Spezialisierung kann es Hochschulen allerdings gelingen, Forschungskompetenzen aufzubauen und so zumindest in einigen Fachbereichen das Promotionsrecht zu erwerben und zum zweiten Cluster aufzuschließen – so sie dies denn wollen. Für private Anbieter wird dieser dritte Cluster das attraktivste Segment darstellen, da Forschung in den wenigsten Fällen kurz- oder mittelfristig rentabel ist. Der vierte Cluster besteht aus Hochschulen, die sich ausschließlich der praxisorientierten und berufsnahen Lehre widmen. Diese Hochschulen werden sich insbesondere durch Offenheit gegenüber Bildungsaufsteigern auszeichnen und es so manchem ermöglichen, auch spät im Leben noch eine Hochschulbiographie anzugehen. In den Vereinigten Staaten sind derartige Lehreinrichtungen unter dem Begriff „Community College“ bekannt, viele junge Menschen erwerben hier ihre ersten akademischen Erfahrungen. Die Kosten pro Studienplatz liegen typischerweise noch einmal unter dem, was im dritten Cluster investiert wird. Um zu vermeiden, dass dies auf Kosten der Ausbildungsqualität geht, werden Regulierungsmaßnahmen der öffentlichen Hand geboten sein. Auch in diesem vierten Cluster wird es viel Raum für private Anbieter geben.
Die Grenzen zwischen diesen vier Hochschultypen werden fließend sein, und es ist alles andere als klar, ob die Aufteilung in Cluster im Gesetz festgeschrieben sein muss, so wie das jetzige Zweiartensystem im Gesetz definiert ist. Vielmehr könnte man darüber nachdenken, Hochschulen entlang des gesamten Spektrums regelmäßig anhand ihres Forschungsprofils zu evaluieren und die zu erbringende Lehrleistung, aber insbesondere auch die zuzuwendenden Haushaltsmittel entsprechend zu skalieren. Um ein Kaputtsparen des Hochschulsektors zu vermeiden, müssen vorab klare Regelungen getroffen werden, wie viele Mittel insgesamt in die Hochschulen des Landes fließen (gemessen zum Beispiel als Anteil am Bruttoinlandsprodukt). Die Aufteilung auf die einzelnen Hochschulen muss dann allerdings in dem genannten Sinne flexibel sein. perspektive21
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Wenn solche neuen Organisationsmodelle Fuß fassen sollen, muss des Weiteren über Transitionspfade zwischen den Clustern nachgedacht werden. Die Schließung und anschließende Neugründung von Hochschulen par ordre du mufti kann hier kein Vorbild sein. Vielmehr muss über Anreize nachgedacht werden, die die freiwillige Migration von Hochschulen und Hochschullehrern in die neuen Strukturen belohnen – verbunden mit Qualitätssicherungsmaßnahmen, die Trittbrettfahrer identifizieren und sanktionieren. Ich schrieb eingangs, dass die Entwicklung „hoffentlich“ in die obengenannte Richtung geht. Warum „hoffentlich“? Auch hier hilft der Blick über die Grenzen, um zu zeigen, welche Fehlentwicklungen eine solche Ausdifferenzierung – die im Grunde längst stattfindet und meines Erachtens auch langfristig unumkehrbar ist – zeitigen kann. Ganz wichtig ist: Eine Orientierung der zuständigen Souveräne – in Deutschland also vor allem der Landesregierungen – auf den Spitzencluster darf nicht dazu führen, dass gute Hochschulen im Mittelfeld finanziell ausgetrocknet und in eine Abwärtsspirale gedrängt werden. Im Endergebnis hätte man sonst eine stark linkslastige Verteilung mit einer kleinen Spitzengruppe von Flaggschiffen und einer großen Gruppe von Community-College-artigen lokalen Ausbildungseinrichtungen, an denen keine Wissenschaft mehr stattfindet und auch die Lehre leidet. Eine derartige Hochschullandschaft ist einem Hochtechnologieland nicht nur aus kulturell-ethischen Erwägungen heraus nicht angemessen. Sie würde auch nicht ausreichen, um die für das Land notwendigen Personalressourcen zu generieren; der Fachkräftemangel würde sich vertiefen und ließe sich auch durch mehr Einwanderung nicht mehr kompensieren. Mehr Durchlässigkeit nötig In einer derart ausdifferenzierten Hochschullandschaft sind Kommunikationsmaßnahmen wichtig, die die Charakteristika unterschiedlicher Hochschultypen deutlich machen, um so den jungen Menschen die Wahl der passenden Hochschule zu erleichtern. Wer eine Forschungsuniversität wählt, sollte intrinsisch daran interessiert sein, Wissenschaft zu betreiben und dafür auch den nötigen zeitlichen Einsatz zu betreiben. Wer hingegen zügig in die berufliche Praxis strebt, sollte von vornherein die Stärken der anwendungsorientierten Hochschulen nutzen – die engen Kontakte zu Unternehmen, die typischerweise intensivere Betreuung und die anwendungsorientierte Darbietung der Studieninhalte. Dies ist dann eben kein Studium in der „Zweiten Bundesliga“, sondern eine bewusste Entscheidung gegen eine wissenschaftliche Laufbahn. Dies heißt nicht, dass diese 22
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Studierenden nicht in den Genuss einer wissenschaftsorientierten Lehre à la Humboldt kommen sollten: „Bildung durch Wissenschaft“, wie die HumboldtUniversität es sich zum Motto erkoren hat, sollte durchweg das Ziel sein. Aber dies heißt nicht, dass 55 Prozent eines Altersjahrgangs – so viele studieren derzeit in Deutschland – an Hochschulen studieren müssen, deren Professorenschaft aktiv Spitzenforschung betreibt. Dies könnte kein Land dieser Welt finanzieren, und das resultierende Ausbildungsprofil wäre auch für viele spätere Arbeitgeber in Wirtschaft und Verwaltung wenig brauchbar. Wichtig ist des Weiteren eine hohe Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlich profilierten Hochschulen. Prioritäten in einem Leben können sich ändern, gerade in den ersten Lebensjahrzehnten. Der natürliche Meilenstein des abgeschlossenen Bachelors eignet sich für eine solche Kurskorrektur in besonderem Maße. Insbesondere ist dies der richtige Zeitpunkt für wissenschaftlich orientierte und interessierte Studierende, den Sprung an eine Forschungsuniversität vorzunehmen, so sie denn nicht schon ihren Bachelor an einer solchen abgelegt haben. Erfahrungsgemäß ist die Orientierung in Richtung Promotion wesentlich einfacher zu bewerkstelligen, wenn schon der Master an einer forschungsorientierten Hochschule abgelegt wurde. Auch Fachhochschulen können aufrücken Danach ist es oft zu spät, wie die leidvollen Erfahrungen vieler Fachhochschulstudierenden zeigen. Trotz guten Willens aller Beteiligten und kräftigem Rückenwind der Politik ist der Weg zur Promotion für begabte Masterabsolventen einer Fachhochschule schwierig: Zwar sind viele universitäre Promotionsordnungen inzwischen offen für die Promotion von FH-Absolventen. Dies löst aber nicht das Problem für Promotionsinteressierte, einen Betreuer oder eine Betreuerin an einer Universität zu finden. Fast jeder Universitätsprofessor und jede Universitätsprofessorin hat schon Interessenten für eine Promotion zurückgewiesen – wohlgemerkt Interessenten mit universitären Abschlüssen – weil die Qualifikationen zwar formal ausreichen, nicht aber in der Qualität, das heißt was die Noten und Schwerpunktsetzung angeht, oder auch weil die eigene Betreuungskapazität schlichtweg erschöpft ist. Das Recht, eine solche Auswahl zu treffen, gehört aus gutem Grund zu den ureigenen Privilegien, die mit einer Universitätsprofessur verbunden sind. Umgekehrt hat niemand das Recht darauf, promoviert zu werden – eine Zwangszuweisung von Doktoranden zu Professorinnen und Professoren gibt es perspektive21
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nicht, und auch dies aus gutem Grund. Der resultierende Wettbewerb um – im Regelfall knappe – Promotionsplätze ist für FH-Absolventen besonders hart, teils aus fachlichen, teils aber auch aus wissenschaftssoziologischen Gründen. Dieses Dilemma lässt sich meines Erachtens nur lösen, indem bereits während des Masterstudiums die Perspektive Promotion mitverfolgt und im Curriculum reflektiert wird. Freilich müssen solche forschungsorientierten Masterstudiengänge nicht nur an den bisherigen Universitäten angesiedelt sein. Auch bisherige Fachhochschulen, die ihre Forschungsstärke nachgewiesen haben, könnten in den oben beschriebenen zweiten Cluster aufrücken und wenigstens in einigen, wenn nicht in allen Bereichen, entsprechende Studiengänge anbieten. Auch das ist eine Form der Durchlässigkeit, die mittelfristig unbedingt geboten scheint. Die Promotion ist nicht alles Dies mag dazu führen, dass in derselben Hochschule Fachbereiche mit Promotionsrecht und Fachbereiche ohne Promotionsrecht koexistieren. Eine derartige Hybridstruktur mag für uns noch ungewohnt klingen, ist international aber durchaus üblich. Die bisherigen deutschen Experimente mit einem solchen Modell, insbesondere die in den siebziger Jahren gegründeten Gesamthochschulen, stimmen diesbezüglich allerdings nicht allzu optimistisch. Hier muss über neue Organisationsmodelle nachgedacht werden, die das Nebeneinander von unterschiedlichen professoralen Personalkategorien unter einem Dach, verbunden mit unterschiedlichen Kompetenzprofilen, Lehrdeputaten und Besoldungsgruppen konstruktiv gestalten. Der Titel „Professor“ hätte damit seine klassische Bedeutung und Prestigeträchtigkeit endgültig verloren. Bei näherem Lichte betrachtet bezeichnet er freilich aber schon heute nur noch die Lehrtätigkeit an irgendeiner Hochschule – eine effiziente Qualitätskontrolle, die auf international wettbewerbsfähige wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen abhebt, findet heute de facto in vielen Bundesländern nicht mehr statt. Auch hier haben wir uns an die internationalen Usancen angeglichen. Apropos Dissertation: Wenn die Profilierung einer Hochschule sich maßgeblich auch über ihr Promotionsrecht definiert, stellt sich natürlich die Frage, warum diesem Punkt, der nur 2,5 Prozent der Studierenden betrifft, eine derart entscheidende Bedeutung eingeräumt werden sollte. Gründe sind die enorme gesellschaftliche Relevanz von Forschung sowie der Sachverhalt, dass die Anfertigung von Promotionen und wissenschaftlichen Publikationen einer wissenschaftlichen Infrastruktur bedarf, die im wissenschaftlichen Personal und insbesondere auch der öffentlichen 24
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Finanzierung reflektiert sein muss. Forschung kostet Geld – für die Forschungsarbeiten per se, aber auch zur Ausfinanzierung eines klar forschungsorientierten Ausbildungsprofils. Deswegen sind Universitäten von jeher finanziell besser ausgestattet als Fachhochschulen – nicht etwa weil die Fachhochschulen weniger arbeiten, bezüglich des Lehrdeputats gilt ja gerade das Gegenteil – sondern weil dort im Regelfall wenig geforscht wird. Deshalb kostet ein Bachelorabschluss an einer Fachhochschule den Steuerzahler nur 12.900 Euro, während ein Uni-Bachelor mit 28.200 Euro zu Buche schlägt (Stand 2009). Andere Kennzahlen sehen ähnlich aus: Universitäten erhalten bundesweit pro Student 8.540 Euro pro Jahr, Fachhochschulen 3.890 Euro (Stand 2009). Eine Universitätsprofessur kostet 579.250 Euro pro Jahr, eine FH-Professur 172.740 Euro (Stand 2009). Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die höheren Mittelzuweisungen für forschungsorientierte Hochschulen sind auch fiskalisch gesehen außerordentlich gut angelegt: Forschung ist die Grundlage eines jeden nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolges – aus betrieblicher Sicht ebenso wie aus volkswirtschaftlicher Sicht. Öffentliche Investitionen in Forschung führen mittelfristig zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, zu mehr Zu- und Einwanderung qualifizierter junger Menschen aus anderen Regionen und Ländern und damit wiederum zu mehr Steuereinnahmen. Andererseits kann Forschung nicht jeder, und es ist, wie bereits ausgeführt, auch nicht sinnvoll, 55 Prozent eines Altersjahrgangs forschungsorientiert auszubilden. Forschungsbasiert ja, aber nicht forschungsorientiert. Die Kunst zukünftiger Politik wird darin bestehen, eine wohlfahrtsmaximierende Verteilung zwischen den genannten vier Clustern zu sichern und jungen Menschen dabei zu helfen, die für sie geeignetste Hochschule zu finden. Forschung kostet Geld Was nicht geht ist, forschungsorientierte Hochschulen anzulegen und sie dann nicht angemessen auszufinanzieren. Ich schreibe hier durchaus als Betroffener: Meine eigene Universität, die Universität Potsdam, erhält pro Studierendem ungefähr 5.000 Euro pro Jahr vom Land Brandenburg. Dies reicht schlichtweg nicht aus, um hochkarätige Forschung und qualitativ hochwertige Lehre auf Dauer zu sichern – so gerät dann entweder das eine oder das andere hehre Ziel unter die Räder. Forschung kostet Geld, und das muss sich auch in unterschiedlichen Kostensätzen für die oben genannten Cluster widerspiegeln. Bei den Hochschulen im ersten Cluster scheinen Kostensätze zwischen 15.000 und 30.000 Euro pro Studierendem im internationalen Vergleich keineswegs unangemessen. So perspektive21
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liegt die öffentliche University of California in Berkeley trotz extremer Haushaltsprobleme bei 18.000 Dollar pro Studierendem (Stand 2009), wovon allerdings knapp die Hälfte von Studiengebühren gedeckt wird. Im zweiten Cluster erscheinen wegen der internen Mischfinanzierung mittelfristig Sätze von 10-15.000 Euro pro Studierendem angemessen. Im vierten Cluster hingegen sind möglicherweise 2-3.000 Euro pro Studierendem ausreichend, um die Einhaltung von sinnvollen Mindeststandards in der Qualität der Lehre einfordern zu können. Eine vergleichsweise hohe Varianz innerhalb der Cluster darf nicht überraschen; vor allem die Gewichtung von naturgemäß kostenaufwändigen Fächern wie der Medizin und den Ingenieurwissenschaften einerseits und naturgemäß kostengünstigen Fächern wie den Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften andererseits rechtfertigt hier unterschiedliche Ausstattungen von Hochschulen, die bezüglich ihrer Forschungsintensität und -qualität durchaus vergleichbar erscheinen. Dies ändert aber nichts an den grundsätzlich höheren Mittelbedarfen forschungsorientierter Hochschulen. Wie das Land profitiert Ein letztes Wort zu den in diesem Kontext des Öfteren angesprochenen „Praxispromotionen“ und „Berufsdoktoraten“. Gemeint ist damit, den Doktorgrad für besondere Leistungen bei der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Praxis zu verleihen. Dies kann man gerne tun, aber von dem ursprünglichen Sinn des Doktorgrads ist dies weit entfernt. Ich zitiere aus meinem eigenen Artikel „Warum promovieren wir?“ aus dem Jahre 2009 (Forschung und Lehre 7/09): „Ziel einer jeden Dissertation sollte sein, der Menschheit etwas grundlegend Neues mitzuteilen.“ Dieser Vorsatz gilt für jede forschungsorientierte Promotion, während er bei Praxispromotionen und Berufsdoktoraten von vornherein keine Zielsetzung darstellen mag. Insofern bietet es sich an, bei dem zu verleihenden Titel zwischen den unterschiedlichen Zielsetzungen klar zu unterscheiden. Man sollte einem Grad ansehen, ob es sich bei der Arbeit um eine Forschungsarbeit mit neuen Erkenntnissen handelt (bzw. handeln sollte), ob eine interessante Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgezeichnet wird (Praxispromotion), ob die Arbeit lediglich eine Zusammenfassung von vorliegenden Erkenntnissen oder eine empirische Unterlegung laufender Forschungsarbeiten darstellt (Berufsdoktorat). Letztere Fälle gelten für viele medizinische Promotionen und auch für so manche Arbeit aus den Rechtswissenschaften und anderen Bereichen. Für diese sollten dann 26
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auch andere Titel gelten – die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen haben es uns mit dem D. Eng. (Doctor of Engineering), dem M. D. (Medicinae Doctor) und dem J. D. (Juris Doctor) im Gegensatz zu dem klar forschungsorientierten Ph. D. (Philosophiae Doctor, der aber längst nicht nur in der Philosophie verliehen wird) seit langem vorgemacht. Diese Frage ist aber letztlich unabhängig von der Frage der Ausfinanzierung von Forschung. Der politische Souverän ist aufgerufen, die Rollen von Hochschulen und Forschung zu erkennen und zu bewerten. Ausgehend von der konkreten Haushaltslage, der aktuellen und zukünftigen demografischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Situation sind Landesregierungen aufgerufen, den für sie richtigen „Mix“ von Hochschulen unterschiedlichen Typs zu definieren. Forschungsorientierte Hochschulen sind dabei angemessen zu berücksichtigen und den internationalen Maßstäben entsprechend auszufinanzieren – sonst blutet das (Bundes-)Land sich selber aus. Dass es den außeruniversitären Forschungseinrichtungen (Helmholtz, Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft) gelang, diesen Gedanken in die Politik hineinzutragen, ist schön für die Kolleginnen und Kollegen an diesen Einrichtungen und auch gut für das Land. Dass es bisher nicht gelang, auch für die forschungsorientierten Hochschulen entsprechende Finanzierungszusagen zu erwirken, ist ausgesprochen bedauerlich. Eine Fortführung der aktuellen systematischen Unterfinanzierung forschungsorientierter Universitäten wäre katastrophal für unser Land. Landesregierungen müssen insbesondere hier gegensteuern – sei es über höhere direkte Zuwendungen oder sei es über eine stärkere Beteiligung des Bundes, die allerdings auch verfassungsmäßig abgesichert werden müsste. n
PROF. OLIVER GÜNTHER, PH. D.
ist Präsident der Universität Potsdam. perspektive21
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das straßenschild
Albrecht Schönherr 1911-2009
Ein Brandenburger VON MANFRED STOLPE
lbrecht Schönherr hat fast 100 Jahre in Brandenburg gelebt als Pfarrer, Bischof und Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Aufgewachsen in Neuruppin, tätig in Brüssow, Eberswalde, Berlin und Brandenburg an der Havel kannte und liebte er unser Land. Seine Heimat der Seen und Wälder war ihm vertraut. Er war in dieser eigenartigen Mischung aus Weltstadt und Bauerngemeinden verwurzelt. Das war das Feld, auf dem er sich bewähren sollte. Das war seine persönliche Glaubensüberzeugung. Besonders verbunden fühlte er sich mit dem Dom zu Brandenburg, der Mutterkirche unseres Landes. Anlässlich der Tausendjahrfeier des Bistums Brandenburg 1948 wurde er als Dompfarrer eingeführt und blieb dem Dom als Superintendent, später Dechant und Ehrendechant bis zu seinem Lebensende 2009 verbunden. Hier erlebte er die Wirklichkeit christlicher Existenz vor Ort mit all ihren Benachteiligungen und Hoffnungen direkt mit.
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Unerschrocken, frei und offen Albrecht Schönherr liebte die Menschen. Mit Theodor Fontane war er der Meinung, dass sie das Beste an Brandenburg sind. Er konnte zuhören, lernte selbst viel aus den Begegnungen und Gesprächen. Seine Aufmerksamkeit für den einzelnen Menschen war ein Markenzeichen seiner Arbeit. Albrecht Schönherr strahlte Ruhe aus und schuf Vertrauen. Er war ein unerschrockener, freier und offener Gesprächspartner der politischen Mächte. Von Statur und Auftreten war er eine Respektsperson mit der Gabe, unbefangen auf Menschen zugehen zu können, sie freundlich aber unbeugsam zu beeindrucken und zu gewinnen. Vicco von Bülow war beeindruckt von „dem Zauber überraschender Verständigung“ mit Albrecht Schönherr. Albrecht Schönherr hat in seinem Leben fünf politische Systeme und darunter zwei Diktaturen erlebt. Die Auseinandersetzung mit dem mörderischen NaziSystem war für ihn eine tiefgreifende Erfahrung. Er widersprach jeder Verharmlosung dieser blutigen Diktatur und hielt die Gleichsetzung der Diktaturen von Nazis und SED für unzulässig. Schönherrs Einstellung zur nationalsozialistischen Diktatur wurde durch den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer geprägt, den die Nazihenker noch im April 1945 ermordeten. Von Bonperspektive21
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hoeffer lernte er auch, dass Christen selbst in schwierigsten Situationen Hoffnung haben dürfen. Auch wenn der Weg steiler werde, gelte es, kräftig draufloszuschreiten im Blick auf neue weite Horizonte. Aus der Unzufriedenheit wuchs der Umbruch Das gab ihm die Kraft und die Hoffnung, im kirchenfeindlichen DDR-System nicht das Ende aller Wege Gottes mit seinem Volk zu sehen. Sehr früh erlebte Schönherr, welche Vorstellungen die herrschende kommunistische SED und der Staat DDR von Religion und Kirche hatte. Danach galten Religion und Kirche als Relikte der Vergangenheit, die zum Absterben verurteilt seien. Religion sei unwissenschaftlich und falsch. Opium für das Volk und zu dessen Unterdrückung von den früheren Ausbeutern genutzt. Die Kirche sei ein Instrument der früher herrschenden Klasse, der Kapitalisten und Großgrundbesitzer und in der DDR demzufolge die Fünfte Kolonne des westdeutschen Klassenfeindes. Kirche und Christen waren so in doppelter Hinsicht Feinde. Sowohl im Kampf der atheistischen Weltanschauung gegen die Religion als auch im Klassenkampf als Verbündete des westlichen Gegners. Dem erwarteten gesetzmäßigen Untergang von Religion und Kirche sollte nachgeholfen werden. Ihr Einfluss auf die Jugend bekämpft, kirchliche Aktivitäten in sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Bereich sollten eingeschränkt und ausgeschaltet werden. Kontakte zu den Kirchen in der Bundesrepublik wurden möglichst verhindert. Eine massive Kirchenaustrittskampagne führte zu einem erheblichen Rückgang ihrer Mitgliederzahl. Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt und christliche Eltern wurden aus den Elternbeiräten verdrängt. Christen wurden benachteiligt und in ihrem beruflichen Fortkommen behindert. Viele Christen fürchteten der kommunistischen Übermacht ausgeliefert zu sein und nicht wenige flohen in den Westen. Damit wollte sich Albrecht Schönherr nicht abfinden. Denn er war überzeugt, dass es falsch ist, nur über böse Entwicklungen zu klagen und sich in eine „WeltÄngstlichkeit“ zu bewegen. Während für viele christliche Amtsträger der atheistische Charakter der SED Grund war, möglichst wenig mit Staat und Gesellschaft der DDR zu tun zu haben, sah Schönherr in der DDR keinen „weißen Fleck in der Landkarte Gottes“. Deshalb sollte man den politisch Verantwortlichen nicht aus dem Wege gehen, sondern sie vielmehr fragen, wo der Platz der Christen in der sozialistischen DDR sei. Kirche und Christen sollen sich vor Resignation hüten. Schönherr warnte vor Berührungsängsten. Im Verhältnis zum Staat DDR wollte Schönherr aus der politischen Verdächtigung als Klassenfeind, Handlanger 30
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Albrecht Schönherr 1911-2009
des Westens heraus kommen und so die Angriffsfläche gegen Kirche und Christen mindern. Er sah die Gefahren einer totalen Anpassung einerseits und der ständigen Verweigerung andererseits. Er wollte kein „Partisan des Westens“ sein, sondern mit beiden Beinen in der DDR als Christ leben. Die Staats- und Parteifunktionäre sollten zur Kenntnis nehmen, dass zum Christ sein aber nicht nur das Beten, sondern das Tun des Gerechten unter den Menschen gehört. Die Kirche sollte nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein. Sie sollte bei den Menschen sein, die in dieser sozialistischen Gesellschaft leben mussten. Kirche im Sozialismus bedeutete den Anspruch zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Das sah die atheistische Ideologie nicht vor. Duldung der Kirche als gesellschaftliche Realität sei denkbar, aber nicht deren Ausbreitung und Zukunftsmitgestaltung sowie die Inanspruchnahme des Begriffes Sozialismus durch die Kirche. Die SED hat äußerst aggressiv reagiert als von Seiten der Kirche vom verbesserlichen Sozialismus gesprochen wurde und sah darin eine Unterwanderung der sozialistischen DDR. Tatsächlich gelang es Albrecht Schönherr, das politische Feindbild der SED gegenüber der Kirche zu mindern und eine größere Eigenständigkeit mit Freiräumen auch für gesellschaftskritische Debatten in den Kirchen zu ermöglichen. So konnten in den achtziger Jahren in den evangelischen Kirchen weit über eintausend Gruppen entstehen, die sich mit Fragen der Gerechtigkeit, der Umwelt und des Friedens befassten. Aus ihnen wuchs dann bei wachsender Unzufriedenheit mit der Reformunfähigkeit der DDR-Führung der Druck zu einem Umbruch der Verhältnisse einer friedlichen Revolution. Eine Brücke zwischen Ost und West Auch die Ostpolitik Willy Brandts trug erheblich dazu bei, dass die Haltung des DDR-Staates gegenüber der Kirche flexibler wurde. Albrecht Schönherr hat Willy Brandt mehrfach getroffen. Für beide war die Zusammengehörigkeit der Deutschen eine Selbstverständlichkeit. Nach Kontakten mit Helmut Schmidt ergab sich zum Beispiel 1980, dass Schönherr jede Möglichkeit nutzte, um die DDR-Führung vor einem Einmarsch in Polen zur Unterdrückung der SolidarnoscBewegung zu warnen. Schönherr tat dies auch auf dem Hintergrund seiner vielfältigen Kontakte nach Polen und seiner Wertschätzung für unsere Nachbarn. Schönherr unterstützte die kontinuierlichen Gespräche der Evangelischen Kirchen der DDR und der BRD, ihrer Leitungen, ihrer Fachgremien und vieler Tausend Ost-West-Gemeindetreffen. Die evangelische Kirche war eine Brücke zwischen Ost und West. perspektive21
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Erhard Eppler erlebte Albrecht Schönherr als den Bischof, der seine Kirche führen, zusammenhalten und verteidigen musste in einem Staat, nach dessen Doktrin es gar keine Kirche mehr geben sollte. Ein Bischof, der, wenn er etwas sagte, ganz dahinter stand, der verbindlich oder gar nicht redete. Albrecht Schönherr empfand die DDR-Zeit im Sinne Bonhoeffers nicht als verlorene Zeit, denn verloren wäre die Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten. Verlorene Zeit ist unausgefüllte leere Zeit. Das sind die vergangenen Jahre gewiss nicht gewesen. Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung forderte Schönherr, die DDR-Vergangenheit umfassend und historisch gerecht zu beurteilen sowie Pauschalierungen zu unterlassen. Stasi-Aufzeichnungen und Aktennotizen von Funktionären reichten zur wirklichen Aufarbeitung nicht aus und würden nur die Kluft zwischen Ost und West vertiefen. Schönherr wollte, dass die, die in der DDR gelebt haben, nicht an den Pranger gestellt werden. Schönherrs historisches Verdienst besteht in seinem Eintreten dafür, dass Christen sich in der DDR nicht ängstlich hinter Kirchenmauern zurückzogen, sondern in die Gesellschaft hinein wirkten und sie schließlich veränderten. In der Zeit der deutschen Teilung half er entscheidend mit, dass die Evangelische Kirche eine Brücke zwischen den deutschen Staaten blieb. Sie hat Gemeinschaft bewahrt und konnte nach 1990 Mitgestalterin des Zusammenwachsens von Ost und West werden. Wir können stolz auf den Brandenburger Albrecht Schönherr sein. n
MANFRED STOLPE
war Konsistorialpräsident der Ostregion der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und Ministerpräsident des Landes Brandenburg. Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen. 32
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thema – sport frei!
Das Wir-Gefühl fehlt ÜBER DIE PLANBARKEIT VON GOLDMEDAILLEN, DIE DEUTSCHE SPORTFÖRDERUNG UND DEN OLYMPISCHEN GEIST SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT MAXIMILIAN LEVY
PERSPEKTIVE 21: Wie sind Sie eigentlich
zum Radfahren gekommen? War das Zufall oder Absicht? MAXIMILIAN LEVY: Schon ein Stück Zufall. Ich habe damals noch in Berlin gewohnt und da war es halt spannend mit dem Fahrrad durch die Gegend zu fahren und die Welt zu erkunden. Zum Vereinsradsport bin ich dann gekommen, weil mir das Fahrrad geklaut wurde und meine Eltern mir kein Neues kaufen wollten. Ich wollte aber unbedingt weiter Rad fahren. Dann bin ich halt zum Berliner TSC gegangen und hab dort angefangen Radsport zu betreiben. Keine Feiertage Hat man dort Ihr Talent schnell erkannt oder war auch das eher Zufall? LEVY: Was heißt schon Zufall? Sind im Alter von zehn Jahren Talente anatomisch? Ich glaube, am Anfang war das noch nicht zu erkennen, wenngleich man sicherlich gesehen hat, dass aus dem Jungen was werden könnte. Entscheidend in dem Alter ist aber, dass man Spaß hat und dabei ist.
Wie wurde denn Ihr sportliches Talent erkannt? LEVY: Ich bin im Alter von 13 auf die Sportschule nach Cottbus gewechselt, weil ich dort bessere Möglichkeiten vorgefunden habe zu trainieren. Davor, auf dem Gymnasium, ging das nicht, auch mit der sportlichen Betreuung hat es nicht funktioniert. Hier in Cottbus wurde ich vielseitig ausgebildet und getestet. Und dabei ist dann herausgekommen, dass ich wie gemacht bin fürs Bahnradfahren. So bin ich auf die Bahn gekommen und dann relativ schnell deutscher Meister und Juniorenmeister geworden. Wie sieht so ein Training bei Ihnen aus? Trainieren Sie das ganze Jahr? LEVY: Ja, der Körper erkennt keine Feiertage und keine Geburtstage. Nach einer Weltmeisterschaft kann man schon mal zwei bis drei Wochen Urlaub machen, aber ansonsten wird hart durchtrainiert. Zum Training gehörten aber auch Physiotherapie, Regeneration und natürlich der Weg zu den Trainingsstätten. Da hat man von früh bis spät zu tun. perspektive21
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Wodurch zeichnen sich denn die Trainingsbedingungen in Cottbus und Frankfurt aus? LEVY: Zunächst einmal: Die Bedingungen sind hier wirklich gut. Internat, Schule, Mensa und Radrennbahn sind innerhalb von zehn Minuten erreichbar. Das ist ein riesiger Vorteil. Da kann man sich besser auf das Training an sich konzentrieren, als wenn man den ganzen Tag noch irgendwohin gurken muss. Welche Rolle spielt denn Geld, damit man seinen Sport betreiben kann? LEVY: Klar ist das wichtig, denn man muss ja auch seinen Lebensunterhalt finanzieren. Es ist schon ein Problem, wenn man sieht, wie viel Geld andere Leute damit verdienen, dass sportliche Erfolge errungen werden, die Sportler selbst aber die letzten in der Kette sind. Nur Fußball im Fernsehen? Wer sind denn die ersten in der Kette? Die Herren Funktionäre, die ganz oben sitzen – bis hin zum Radsport-Weltverband. Die sichern ihre Arbeitsplätze mit Erfolgen und erzählen gleichzeitig, man wolle ja nicht vergangene Erfolge honorieren sondern in die Zukunft investieren. Da frage ich mich schon, wie das gehen soll. Ich habe jetzt das Glück, dass ich eine halbe Stelle bei Vattenfall habe. Andere gehen zur Polizei oder zur LEVY:
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Bundeswehr. Als Sportler studieren geht kaum, da man ja ein Auslandssemester machen muss – und das ist schlicht nicht drin. Sie gehen also „nebenbei“ noch bei Vattenfall ins Büro? LEVY: Das ist sehr großzügig gestaltet, so dass ich das je nach Trainingsumfang gestalten kann. Zuvor habe ich dort eine Lehre als Industriekaufmann gemacht. Dafür habe ich ein Jahr länger gebraucht, weil das sonst mit den Olympischen Spielen 2008 in Peking kollidiert wäre. Für mich war das hier am Olympiastützpunkt mit Vattenfall eine Supersache. Es gibt wenige Partner in Deutschland, die das so großzügig mitgestalten. Eine Alternative wäre natürlich auch bei der Polizei gewesen, aber das ist nicht so meine Welt… Erwartet denn ein solcher Sponsor von Ihnen auch sportliche Erfolge oder gucken die nur interessiert zu, wenn sie Radfahren? LEVY: Sowohl als auch. Natürlich gibt es vor allem sportliche Erwartungen an mich, weil ich nun mal einen Sonderstatus habe, um sportlich erfolgreich zu sein. Aber mit dem sportlichen Erfolg ist ja auch ein Werbeeffekt für die Region und die Partner verbunden. Im Unternehmen selbst habe ich Projektaufgaben, wo ich auch meine Rolle spielen muss.
maximilian levy – das wir-gefühl fehlt
Bei den Olympischen Spielen 1992 errang Deutschland noch 33 Goldmedaillen. In London, 20 Jahre später, waren es nur noch elf. Woran liegt das? LEVY: Der Leistungssport in Deutschland, der ja eine gewisse Tradition hat, hat nicht mehr den gleichen Stellenwert. Sport ist ganz generell nicht mehr attraktiv genug, jedenfalls nicht so, dass man sagt: Mein Kind macht jetzt Sport. Es gibt halt andere Möglichkeiten sich die Zeit zu vertreiben und sei es vorm Computer zu sitzen. Hinzu kommt: Die Bedingungen sind schlechter geworden. Es gibt nur noch wenige Standorte für Sportschulen und Trainingsgruppen. Und das hat am Ende auch Auswirkungen auf den Leistungssport. Was müsste sich ändern? Wir brauchen eine grundsätzlich andere gesellschaftliche Herangehensweise. Und die Medienlandschaft müsste breitflächiger über den Sport berichten. LEVY:
Das heißt, nicht nur über Fußball? LEVY: Ich will gar nicht auf dem Fußball rumhacken. Die können ja auch nichts dafür. Aber wenn man am Sonntagabend den „Sportplatz“ auf RBB guckt, frage ich mich schon, wie der Sender seiner Aufgabe gerecht wird, breit zu informieren und zu berichten. Die stürzen sich dort nur auf die großen Dinge. Wir brauchen in der Gesellschaft wieder ein „Wir-Gefühl“. Zu Olympia funktioniert das natürlich
immer, da schalten die Leute ein und wollen am liebsten GoldmedaillenGewinner sehen. Aber so einfach funktioniert das nicht. Die Begeisterung für den Sport ist nicht mehr da. Wenn früher jemand Weltmeister geworden ist, wurde die halbe Stadt gesperrt und ein Autokorso gemacht. Wenn es drauf ankommt Das findet heute nur noch bei Fußballmeisterschaften statt. LEVY: Ja, denn es kann es auch keiner wissen, dass ich Weltmeister geworden bin, wenn es nirgendwo zu sehen ist. Im November haben die Deutschen beim Jahresweltcup in Glasgow sechs Siege eingefahren. Ein absolutes Top-Ergebnis – das gab es seit Ewigkeiten nicht. Aber nichts davon war hier zu sehen. Man sollte aus dem „Aktuellen Sportstudio“ eine Fußball-Schau machen und dann noch eine extra Sport-Schau. Mit Sport aber hat das Sportstudio wenig am Hut. Und beim Radsport geht es immer nur um Doping – was ich ja ein Stück weit verstehen kann. Aber dabei geht unter, dass es auch andere Facetten in dieser Sportart gibt. Aber da werden immer nur Berichte über die bösen Radsportler gemacht. Kann man denn sportlichen Erfolg planen? LEVY: Schwierig. Ganz individuell betrachtet, kann man natürlich nicht perspektive21
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sagen: Ich hole hier oder dort jetzt eine Goldmedaille – dafür gibt es zu viele Andere, die das auch versuchen. Aber man kann so trainieren, dass man seine Leistung am Tag X abrufen kann. Die Kunst ist immer, nicht Trainingsweltmeister zu sein, sondern zu siegen, wenn es wirklich drauf ankommt. Das IOC hält die Hand auf Großbritannien und China haben sich vor 10-15 Jahren dazu entschlossen, im Leistungssport besser zu werden und haben dafür viel Geld investiert. Der Medaillenspiegel in London scheint ihnen Recht zu geben. LEVY: Natürlich spielt Geld auch eine Rolle. Ein Vorteil, den wir früher hatten, war, dass wir bei den Sportwissenschaften ganz vorne waren. Diesen Vorteil haben wir schon lange nicht mehr. Die anderen haben viel Geld investiert, um wissenschaftlich und technisch voranzukommen. Das fehlt uns. Und insofern lässt sich Erfolg auch planen. Aber auch die Konkurrenz ist breiter geworden. LEVY: Ja. Und die Leistungsdichte sehr eng. Das liegt auch daran, dass mittlerweile viele Nationen dabei sind, die man früher gar nicht auf dem Schirm hatte. Deutschland ist einfach nicht mehr vorne mit dabei. Das beziehe ich gar nicht nur auf den Radsport, sondern auf den deutschen Sport allgemein. 36
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Der Deutsche Olympische Sportbund hat nach Olympia gefordert, die Wirtschaft müsse mehr tun. Tut sie das? LEVY: Anscheinend nicht genug. Ich bin froh, dass ich einen Partner wie Vattenfall habe. Aber es ist schon sehr schwer, die Wirtschaft zu begeistern, wenn man von dem eigentlichen Sport nichts sieht. Wie soll ich einem großen Sponsor erklären, dass es ganz toll ist, dass er mich unterstützt. Irgendwann sagt der auch, dass er jetzt aber mal den Werbewert berechnen muss – und wenn ich nirgendwo zu sehen bin, ist der relativ gering. Hat denn nach dem bescheidenen deutschen Abschneiden bei Olympia in London ein Umdenken eingesetzt? LEVY: Ich bin mir nicht sicher. Für mich geht das auch alles viel zu langsam. In den nächsten Monaten verhandeln der DOSB und die Sportverbände über die Mittelverteilung. Ich finde, das müsste man schneller lösen. Da ist auch die Politik gefragt. Wir haben genug Geld, um den Euro zu retten. Im Sport investieren wir im Jahr 300 Millionen Euro. Wenn man auf Top-Niveau sein will, ist das nicht viel. Sehen Sie keinen Widerspruch zwischen der Förderung des Breiten- oder des Spitzensportes? LEVY: Das muss kein Widerspruch sein, das eine baut auch auf das andere auf, zumal sich auch viele ehemalige Spitzen-
maximilian levy – das wir-gefühl fehlt
sportler häufig in Richtung Breitensport entwickeln. Aber auch dafür bräuchte es ein strategisches Konzept. Gleichzeitig frage ich mich schon, wie man bei Ganztagsschule und Abitur in zwölf Jahren eigentlich noch Sport machen will. Da bleibt einfach keine Zeit mehr. Sie haben zweimal an Olympischen Spielen teilgenommen, in Peking und in London. Haben Sie den olympischen Geist getroffen? LEVY: Gerade für einen Sportler in einer Amateur-Sportart wie dem Bahnradsport ist Olympia einfach das Größte, wo man sich am besten in Szene setzen kann und worauf man einfach hinarbeitet. Wenn ich jetzt unsere Straßenradfahrer sehe – das sind richtige Profis. Die verdienen damit kein Geld. Während wir Bahnradfahrer ein Stück weit darauf angewiesen sind. Aber mittlerweile sind die Olympischen Spiele ganz schön kommerzialisiert, das IOC hält ganz schön die Hand auf.
Das ist eine Geldmaschine geworden? LEVY: Ja, aber nicht für die Hauptakteure. Und das ist der Punkt. Alle möglichen Leute verdienen damit Geld und die Sportler müssen darüber diskutieren, ob sie für eine Silbermedaille 10.000 Euro Prämie bekommen. Ich habe das „Silberne Lorbeerblatt“ bekommen, die höchste deutsche Sportauszeichnung. Die Leute fragen mich – Mensch, was kriegste denn dafür? Nüscht, sage ich dann. – Das ist O.K., aber es bringt mich auch nicht sehr viel weiter. Kann man denn als Bahnradfahrer auch auf der Straße fahren? LEVY: Oh, das ist wirklich ganz anders. Früher hat man das gemacht fürs Krafttraining, aber um auf Zeit zu trainieren geht das nicht. Aber ich fahre immerhin zum Training mit dem Rad auf der Straße. Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!
MAXIMILIAN LEVY
gewann eine Silber- und Bronzemedaille im Bahnradsport bei den Olympischen Spielen 2012 und trainiert in Cottbus und Frankfurt (Oder). perspektive21
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Lebensqualität, Teilhabe und Miteinander WARUM DER SPORT EINE ENORME GESELLSCHAFTSPOLITISCHE ROLLE SPIELT VON MARTINA MÜNCH
Sport ist ein wichtiger Identitätsanker für das Land Brandenburg. Sportvereine sind „Orte der Begegnung“, und bringen Menschen aller Generationen, unterschiedlicher Herkunft und Lebensverhältnisse, Menschen mit und ohne Behinderung miteinander in Kontakt. Sport bietet allen die Möglichkeit, Gemeinschaft zu erleben und Teamgeist zu entwickeln.
I.
Sport ist Vorsorge Sport verbindet in den Städten und Gemeinden Jüngere und Ältere, Alteingesessene und Zugewanderte, sozial Benachteiligte und Normalverdiener, Menschen mit und ohne Behinderungen. Sportvereine fördern die Integration von Migranten, schaffen mehr Miteinander und stärken die Bindekräfte in unserer Gesellschaft. Gerade in ländlichen Regionen, in denen der demografische Wandel schon deutlich zu spüren ist, halten Sportvereine das Gemeinwesen lebendig und tragen so entscheidend zur Lebensqualität bei.
Sportvereine entwickeln Angebote, die allen die Teilhabe ermöglichen. Menschen mit Behinderungen gehören von Anfang an dazu. Im Sport können alle Menschen erfahren, wie man gemeinsam Hürden überwindet und wie man sich gegenseitig unterstützen kann, um Herausforderungen zu meistern. Die Wertschätzung vor den Stärken der Anderen, von Vielfalt und Heterogenität können beim gemeinsamen Sporttreiben vorgelebt werden und strahlen in andere Bereiche der Gesellschaft aus. Sport leistet so einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Sportliche Betätigung fördert nicht nur körperliche Fitness, sondern bietet auch hervorragende Möglichkeiten, soziale Kompetenzen zu erweitern und ein Klima der Verständigung und Toleranz zu schaffen. Damit bietet der Sport ein wichtiges Handlungsfeld für mehr Toleranz und gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.
II.
perspektive21
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thema – sport frei!
Mehr als 317.000 Brandenburgerinnen und Brandenburger, sind in unseren Sportvereinen organisiert. So viele waren es noch nie. Die Basis für die Arbeit unserer Vereine ist das bürgerschaftliche Engagement von ca. 46.000 ehrenamtlichen Mitarbeitern in unseren über 3.000 Sportvereinen. Sie bereichern das Leben an Orten, an denen sie gemeinsam mit den Freiwilligen Feuerwehren oft die einzigen Anlaufpunkte für gemeinschaftliches, selbstorganisiertes Handeln der Bürgerinnen und Bürger sind. Neben dem Schwerpunkt der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erweitern Vereine ihre Angebote für Seniorinnen und Senioren und tragen damit der demografischen Entwicklung im Land Rechnung. Gerade dieser generationsübergreifende Ansatz stärkt den Zusammenhalt in den Gemeinden. Zusammenhalt stärken Mit zahlreichen Projekten im ganzen Land engagieren sich Sportvereine für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund. Mit dem Landesprogramm „Integration im Sport“ erreichen wir in jedem Jahr 50.000 Jugendliche, die noch nicht im Verein Sport treiben. Unter den institutionalisierten Freizeitaktivitäten stehen Sportvereine bei Jugendlichen an erster Stelle. Sportangebote haben den größten Anteil an Angeboten von außerschulischer Bil40
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dung und Freizeit für Kinder und Jugendliche. Sportvereine stärken Kompetenzen wie Lernmotivation, Kreativität und Selbstständigkeit. In Sportvereinen knüpfen Kinder und Jugendliche Kontakte zu Gleichaltrigen und machen soziale Erfahrungen außerhalb von Schule, Elternhaus und sozialem Milieu. Hier begegnen sich Kinder und Jugendlichen aus unterschiedlichen Schulformen, unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen sozialen Milieus und lernen den Umgang mit Vielfalt und Heterogenität. So tragen Sportvereine konkret dazu bei, den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Sport bedeutet aber auch Lebensqualität, denn regelmäßiges Sporttreiben stärkt die körperliche und geistige Fitness, hilft Krankheiten zu vermeiden und erhält die Lebensfreude. Viele Zivilisationskrankheiten haben ihre Ursache in Bewegungsmangel und belasten nicht nur den Einzelnen, sondern auch unser ganzes Gesundheitsund Sozialsystem. Von lebenslangem Sporttreiben profitiert jeder Einzelne und auch unsere Gesellschaft als Ganzes. Mehr Sport tut allen gut. Unser Ziel ist, dafür zu werben, dass möglichst viele Menschen regelmäßig Sport treiben und sich in den Sportvereinen engagieren. Um dieses Ziel langfristig zu erreichen, brauchen wir mehr und besseren Sport in der Bil-
III.
martina münch – lebensqualität, teilhabe und miteinander
dung und mehr Bildung im Sport. Wir brauchen Strukturen und Angebote der Bewegungsförderung und körperlichen Bildung von den Kindertageseinrichtungen über die Schulen, Berufsschulen, Universitäten bis hin zu möglichst vielfältigen und umfangreichen Fort- und Weiterbildungsangeboten im Sport. Bewegungsförderung von klein auf ist ein unverzichtbarer Bestandteil der frühkindlichen Entwicklungsförderung. Eine möglichst optimale motorische Entwicklung ist auch eine wichtige Grundlage für die intellektuelle, sprachliche und soziale Entwicklung unserer Kinder. Benachteiligung von Kindern aus bildungsund bewegungsfernen Milieus können wir nicht hinnehmen. Zu gleichberechtigten Bildungschancen für alle Kinder gehört der Sport unbedingt dazu. Sport in der Schule Deshalb hat der Schulsport im Land Brandenburg einen hohen politischen Stellenwert. In unserem Land gibt es nach der Stundentafel der allgemeinbildenden Schulen in den Jahrgangsstufen 1 bis 13 je drei Wochenstunden Sportunterricht. Dies ist bundesweit einmalig. Der Sportunterricht basiert auf zeitgemäßen und zukunftsfähigen pädagogischen Grundlagen. Die Schulträger leisten einen wichtigen Beitrag und stellen zunehmend bessere Infrastrukturbedingungen für einen qualita-
tiv anspruchsvollen Schulsport zur Verfügung. Der außerunterrichtliche Schulsport ist in Brandenburg gut entwickelt. Ein großer Schwerpunkt wird auf die Zusammenarbeit von Schulen und Sportvereinen gelegt. Der Landessportbund Brandenburg wird im Jahr 2013 seinen Anteil zur Förderung von Kooperationsmaßnahmen von Sportvereinen und Schulen deutlich erhöhen. Die Schulen im Land Brandenburg bemühen sich gemeinsam mit den Sportvereinen die Bundeswettbewerbe „Jugend trainiert für Olympia“ und „Jugend trainiert für Paralympics“ auf allen Ebenen auf hohem Niveau zu organisieren. Bezogen auf die Beteiligung der Schüler am schulsportlichen Wettbewerb gehört Brandenburg zu den erfolgreichsten Bundesländern. Von Beginn an haben wir aktiv am Aufbau des Wettbewerbs „Jugend trainiert für Paralympics“ mitgearbeitet. Gerade für behinderte Schüler bieten Sport und schulsportliche Wettkampfsportangebote eine Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen und durch den Einsatz von Schülerhelfern ohne Behinderung die Gemeinschaft von Behinderten und nicht Behinderten zu erleben. Gemeinsam mit dem Behinderten-Sportverband Brandenburg werden Möglichkeiten der Erweiterung der sportlichen Angebote für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung entwickelt. perspektive21
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thema – sport frei!
In den letzten 20 Jahren haben wir viel erreicht, an das wir anknüpfen können, um die Qualität des Schulsports weiter zu entwickeln. Ein Schwerpunkt an allen Schulen ist die individuelle Förderung. Im Jahr 2009 haben wir mit der Evaluierung des Schulsports in der Sekundarstufe I begonnen. Im Herbst 2013 wird von der Universität Potsdam ein entsprechender Abschlussbericht vorgelegt, verbunden mit Handlungsempfehlungen zur qualitativen Weiterentwicklung. Bereits 2010 ist in Kooperation mit der Universität Potsdam ein landesweit einheitliches Testverfahren in der Jahrgangsstufe 3 eingeführt worden. Mit ihm soll ermittelt werden, inwieweit ein sportlicher Förderbedarf für Schüler mit erkennbaren sportmotorischen Defiziten oder für sportlich besonders begabte Schüler vorhanden ist. Durch all diese Maßnahmen soll, verbunden mit der Ausweitung der Kooperation von Sportvereinen und Schulen, die Vielfalt und Attraktivität der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Schulsportangebote verbessert werden. Eine wichtige Rahmenbedingung für die Entwicklung des Sports in Brandenburg ist eine ausreichende Anzahl von Sportstätten. Dank der Anstrengungen der Kommunen und des Landes, aber auch dank der Unterstützung des Bundes konnte die Sportstätteninfrastruktur in den letzten
IV.
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20 Jahren erheblich verbessert werden. Im Jahr 1993 gab es bei 34 Prozent der Sporthallen schwerwiegende Schäden. Im Jahr 2010 bestand nur noch bei elf Prozent der Sporthallen ein grundlegender Sanierungsbedarf. Mit Mitteln der Konjunkturpakete I und II wurden in den vergangenen Jahren weitere 109 Millionen Euro für 348 Maßnahmen im Sportstättenbau eingesetzt. Neben dem deutlich verbesserten Zustand der Sporthallen ist insbesondere die Zunahme der Vereinsträgerschaft für Sportanlagen hervorzuheben. Ein Goldener Plan 1993 wurden nur zwei Prozent der Sportplätze und vier Prozent der Sportplatzgebäude von Vereinen betrieben. Im Jahr 2010 waren es bereits 31 Prozent der Sportplätze und 46 Prozent der Sportplatzgebäude. Die Förderpolitik des Landes hat Wirkung gezeigt - insbesondere das Sonderprogramm „Goldener Plan Ost“ (GPO) seit 1999. Im Rahmen dieses Programms wurden im Land Brandenburg im Unterschied zu den anderen neuen Bundesländern vorrangig Neubauten für vereinseigene oder gepachtete Sportstätten gefördert. Bei einer Gesamtinvestitionssumme von 57 Millionen Euro konnten 213 Maßnahmen realisiert werden. Von Anfang an haben wir Anstrengungen unternommen, um die Sportvereine zu motivieren, für eigene Anlagen die
martina münch – lebensqualität, teilhabe und miteinander
Verantwortung zu übernehmen. Mit 30,3 Millionen Euro haben die Vereine auch erheblich zur Gesamtfinanzierung dieser Vorhaben beigetragen. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem „Goldenen Plan Ost“, der 2010 ausgelaufen ist, wurde bereits 2008 im Rahmen der integrierten ländlichen Entwicklung die Förderung des Sportstättenbaus im ländlichen Raum verstärkt. Insgesamt konnten 14,6 Millionen Euro Förderung für 75 Projekte eingesetzt werden. Für Sportvereine, deren Sportstätten außerhalb der Förderkulisse liegen, wurde der „Goldene Plan Brandenburg – Städte“ (GPB-S) mit 2,4 Millionen Euro aus Mitteln des Vermögens der ehemaligen Parteien und Massenorganisationen der DDR (PMO-Vermögen) finanziert. Mit der Konzentration der Förderung auf vereinseigene Sportanlagen haben wir die Übernahme ehemals kommunaler Sportstätten durch Vereine unterstützt. So wurden Sportanlagen erhalten, die Kommunen wurden finanziell entlastet und das bürgerschaftliche Engagement in den Vereinen wurde gestärkt. Beispielhafte Förderung Neben den Sporthallen und Sportplätzen gehören die Bäder zur Sportstätteninfrastruktur. Ausgehend von der Bäderplanung des Landes Brandenburg wurden seit 1998 mehr als 275 Millio-
nen Euro in die Bäderinfrastruktur investiert. Wir haben in Brandenburg für die kommunale Daseinsvorsorge und für den Tourismus ein ausgewogenes Angebot, das auch die demografische Entwicklung berücksichtigt. Die Grundsubstanz der bestehenden Hallenbäder ist, mit Ausnahme des Bades am Brauhausberg in Potsdam, in einem guten Zustand. Insgesamt können wir einschätzen, dass wir in den letzten 20 Jahren eine erhebliche Verbesserung der Sportstätteninfrastruktur erreicht haben. Sport leistet im Sportland Brandenburg einen wichtigen Beitrag zur Identifikation der Brandenburgerinnen und Brandenburger mit ihrem Land. Die Bürger sind stolz auf die Leistungen ihrer Spitzensportler. Mit dem Olympiastützpunkt Brandenburg und dem Bundesleistungszentrum Kienbaum verfügt Brandenburg über einen bedeutenden Anteil an der deutschen Spitzensportstruktur. Die Ergebnisse der Brandenburger Sportler bei den Olympischen Spielen und bei der Paralympics in London 2012 haben die Leistungsfähigkeit der Spitzensportstrukturen in unserem Bundesland erneut eindrucksvoll bestätigt. Grundlage für die Erfolge ist eine bundesweit beispielhafte Nachwuchsförderung in Zusammenarbeit mit den Spezialschulen Sport in Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam. An
V.
perspektive21
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thema – sport frei!
diesen Schulen werden sportlich begabte Schülerinnen und Schüler aus dem gesamten Land Brandenburg in ihrer individuellen Entwicklung gefördert. Absolventen der Spezialschulen Sport errangen bei den Olympischen Sommerspielen in London 2012 drei Goldmedaillen, zwei Silbermedaillen und eine Bronzemedaille. Insgesamt nahmen 25 Brandenburger Sportler in zehn Sportarten an den Olympischen Wettbewerben teil. An den Paralympischen Spielen nahmen sechs Sportlerinnen und Sportler teil, sie gewannen zwei Silber- und eine Bronzemedaille. Die Erweiterung der Angebote des paralympischen Leistungssports an den Spezialschulen Sport ist ein Vorhaben im behindertenpolitischen Maßnahmenpaket der Landesregierung. Die Demografie schlägt zu Mit Blick auf die Zukunft des Landes Brandenburg steht auch der Sport vor großen Herausforderungen. Unser Ziel sind gute Lebenschancen für alle in allen Landesteilen. Auch der Sport ist gefordert, Antworten zu geben auf die Fragen der demografischen Entwicklung. Gerade im ländlichen Raum bieten die Sportvereine gute Voraussetzungen dafür, die zivilgesellschaftlichen mit den staatlichen Strukturen zu verbinden. Ein Schwerpunkt ist die weitere Entwicklung der Kooperation von Sportverein und Schule, unter den Be44
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dingungen der zurückgehenden Schülerzahlen, veränderter Schulstrukturen und der Einrichtung weiterer Ganztagsschulen. Aber auch die Sportvereine und Verbände müssen bei der Organisation des Kinder- und Jugendsports mit neuen Lösungen auf die veränderten Bedingungen reagieren. In den nächsten Jahrzehnten wird sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung deutlich verändern. Es wird weniger junge und mehr ältere Brandenburger geben. Auf diese Entwicklung müssen auch die Sportvereine reagieren. Unverzichtbarer Beitrag Für die älteren Brandenburgerinnen und Brandenburger kann Sport erheblich zur Gesundheit und Lebensqualität beitragen. Sportvereine wirken sozialer Vereinsamung entgegen. Das Ehrenamt im Sport kann Älteren das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Lebenslanges Sporttreiben hält lebensältere Menschen fit und schenkt Lebensfreude. Im Rahmen von Sportentwicklungsplanungen wird in den Kommunen die demografische Entwicklung, der Bedarf an Sportangeboten und die erforderliche Sportstätteninfrastruktur miteinander abgeglichen. Dabei ist zu beachten, dass sich die Regionen des Landes unterschiedlich entwickeln, das bedeutet auch, dass die bestehende Sportstätteninfrastruktur grundsätzlich ausreichend sein wird.
martina münch – lebensqualität, teilhabe und miteinander
Im Einzelfall allerdings, insbesondere im berlinnahen Raum, ergibt sich Erweiterungsbedarf. Ich bin zuversichtlich: Der Sport im Land Brandenburg wird all diese Herausforderungen meistern. Sportvereine, Kommunen, Landesregierung und Landessportbund werden sich gemeinsam den erforderlichen Aufgaben stellen, damit der Sport auch in den
nächsten Jahrzehnten seinen unverzichtbaren Beitrag für die gesellschaftliche Entwicklung des Landes und das Glück der Brandenburgerinnen und Brandenburger leisten kann. Wir haben einen breiten Konsens im Land: Sport in Brandenburg bedeutet Lebensqualität, mehr Teilhabe und mehr Miteinander für alle Bürgerinnen und Bürger. n
DR. MARTINA MÜNCH
ist Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg sowie stellvertretende SPD-Landesvorsitzende. perspektive21
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Rechtsextremismus und Sport MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DES ORGANISIERTEN SPORTS VON TOBIAS SCHICK
port ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Und genau deshalb muss auch er sich mit den Problemen unserer Gesellschaft auseinandersetzen, insbesondere mit Problemlagen wie dem Rechtsextremismus, der allgemein zunehmenden Gewaltbereitschaft, dem Problem von Kindeswohlgefährdung, dem demografischen Wandel und vielem mehr. Klar ist aber auch: Der Sport steht nicht allein vor diesen Problemen, sondern unsere Gesellschaft ist in Gänze betroffen und kann daher auch nur gemeinsam zu Lösungen kommen. Daher lassen mich Formulierungen wie „Ihr müsst jetzt reagieren“, „Der Sport muss das Problem in den Griff bekommen“ oder „Der Sport muss sich erklären!“ immer sehr nachdenklich werden. Der organisierte Sport tut gut daran, sich stets und unmissverständlich zu bekennen, dass er sich gegen extremistische, rassistische, fremdenfeindliche oder diskriminierende Tendenzen engagiert. Alle unsere Sportler und Mitglieder sollten ehrlich unsere demokratischen Grundwerte leben und vermitteln, so wie dies alle Bürger tun sollten. Sport-
S
lern oder Vereinsmitgliedern, die eine andere Sichtweise zu diesem demokratischen Verständnis haben, sollten mit gezielten Hilfen Werte vermittelt werden, die Extremismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung ausschließen. Klares Bekenntnis Konsens in der gesamten Sportfamilie ist, dass Toleranz, Fair Play, gegenseitige Achtung und Regelakzeptanz immer an erster Stelle stehen. Persönliche oder feindliche Auseinandersetzungen wegen unterschiedlicher Interessen, Gedanken oder Einstellungen dürfen keinen Platz im Sport haben. Unsere aktiven Sportler, Trainer und Funktionäre müssen dabei Ihre Vorbildfunktion erkennbar ausfüllen. Die Verantwortlichen der Vereine und Eigentümer dürfen die Anwesenheit von Sportlern und Mitgliedern auf und in ihren Sportstätten nicht dulden, wenn von ihnen insbesondere aktive Gewalt, Rassismus, Extremismus in jeder Form, Diskriminierung im Allgeperspektive21
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thema – sport frei!
meinen und Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sowie Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Besonderen ausgeübt wird. Das Hausrecht muss dann engagiert und konsequent ausgeübt werden. Grenzen des Handelns In Cottbus haben wir dies durch eine gemeinsame Erklärung für Vielfalt, Toleranz und Demokratie im Sport verabredet, wobei die Cottbuser Sportvereine sich bereiterklärt haben, diese Erklärung alle zwei Jahre durch erneute Ratifizierung zu bestätigen, um dadurch ein kontinuierliches Signal an die Cottbuser Bevölkerung zu senden. Schon hier zeigen sich jedoch erste Grenzen für das Wirken und Handeln des organisierten Sports und der überwiegenden Mehrheit von ehrenamtlichen Akteuren. Was machen wir mit Menschen, die nicht unseren Vereinen angehören, die Gäste oder Zuschauer sind und sich nicht an unsere demokratischen Grundwerte halten? Und wie setzen wir unser Hausrecht gegen gewalttätige Bürger um? Wir sind in Zusammenarbeit mit den beteiligten Sportvereinen in Cottbus übereingekommen, bei Bedarf Probleme und Aktionen gemeinsam zu besprechen sowie mögliche Aktivitäten gemeinsam zu planen und umzusetzen. Von 140 Cottbuser Sportvereinen 48
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haben gerade einmal acht Vereine einen hauptamtlichen Mitarbeiter in der Geschäftsstelle, der sich um die Organisation des Vereins bemüht und sich Aufgaben wie dem Kampf um Hallenzeiten, dem Durchführen von Wettkämpfen, dem Bewerkstelligen von Wettkampffahrten, der Aus-, Fortund Weiterbildung von Trainern und Übungsleitern, dem Einwerben von Sponsoren, der Abrechnung von Fördermitteln, der Öffentlichkeitsarbeit usw. widmet. Der überwiegende Teil unserer Vereine arbeitet ehrenamtlich und hat damit nur ein sehr begrenztes Zeit- und Leistungsbudget für seine Vereinstätigkeit zur Verfügung. Bildung und Vernetzung Unsere Vereine werden daher ohne Beratung, gezielte Schulungen, aktive Unterstützung und eine gute Vernetzung zu ihren Kreis- und Stadtsportbünden, Landesverbänden, dem Landessportbund und vielen Institutionen nicht wirksam gegen Rechtsextremismus handeln können. Beispielsweise kennen unsere Funktionäre, Übungsleiter oder Schiedsrichter – wie die meisten Bundesbürger – keine Zifferncodes, keine beliebten Marken oder Musikbands der rechtsextremistischen Szene – der Verfassungsschutzbericht gehört nun mal nicht zur Alltagslektüre unserer Bürger. Um rechtsextremistische Vereinsmitglieder
tobias schick – rechtsextremismus und sport
oder Sportler beispielsweise des Vereinsgeländes zu verweisen, muss man sie aber zuerst als solche erkennen. Hier hilft nur die frühe und wiederholte Vermittlung von Wissen, bei der Übungsleiterausbildung oder bei Fortbildungen für Übungsleiter und Funktionäre. Nicht nur Bomberjacken Aber auch hier stoßen wir an Grenzen. Meist geben selbst Verfassungsschützer und Spezialisten zu, dass es sich wie beim Hasen und dem Igel verhält. Die rechte Szene ist nicht mehr einfach an Bomberjacke und Springerstiefeln zu erkennen. Die Nazis machen es der Zivilgesellschaft nicht so leicht, sie wechseln ihre bevorzugten Marken, ändern Ihre Codes und drücken sich durch verschiedene Musikrichtungen aus. Allein in Cottbus wollen wir fast 1.000 Übungsleiter schulen. Innerhalb eines Jahr werden wir sowohl aus organisatorischen als auch finanziellen Gründen allerdings gerade mal drei im besten Fall vier Fortbildungen mit durchschnittlich je 25 Teilnehmern durchführen können. Der gemeinsame „Fortbildungsauftrag“ für unsere Akteure im Sport, muss daher auf Dauer aber auch auf Freiwilligkeit angelegt sein. Ich selbst muss an dieser Stelle eingestehen, dass ich als hauptamtlicher
Mitarbeiter im Sport oft mit vielen verschiedenen Dingen beschäftigt bin, die Zeit meist nie reicht und ich nur wenig Leidenschaft entwickelte, mich selbstständig zum Thema Rechtsextremismus zu informieren oder ausreichend den Kontakt zu Ansprechpartnern aufzubauen. Wie bei vielen Dingen im Leben ändert sich die Meinung und viel wichtiger, die Bereitschaft, sich intensiver mit der Problematik auseinanderzusetzen erst, wenn man selbst betroffen ist. Man mag an dieser Stelle den Kopf schütteln, aber ich bin ehrlich und weiß, dass es den meisten Menschen – ob im Sport oder in anderen Bereichen unserer Gesellschaft – oftmals so geht. Mehr Zeit Wir brauchen daher vor Ort bei den Kreis- und Stadtsportbünden ausgebildete Ansprechpartner mit ausreichend Zeit. Die Hemmschwelle, sich im Bedarfsfall bei seinem zuständigen Kreisoder Stadtsportbund zu melden, ist aus meiner Sicht geringer, als den Erstkontakt zu einem mobilen Beratungsteam aufzunehmen. Aber auch hier sind die Grenzen erkennbar. Die Kommunen und das Land müssen endlich gemeinsam die Finanzierung der hauptamtlichen Mitarbeiter in den Kreis- und Stadtsportbünden und ihren Jugendorganisationen verlässlich regeln. In vielen Kreisen in Brandenburg gibt es nicht mal mehr einen hauptamtlichen perspektive21
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Mitarbeiter bei der Sportjugend. Andere Kreis- und Stadtsportbünde müssen sich von Jahr zu Jahr eine Finanzierung ihrer Mitarbeiter in der Auseinandersetzung mit anderen freien Trägern erkämpfen und warten oft noch Monate auf einen Zuwendungsbescheid. Mitarbeiter, die sich qualifiziert und engagiert insbesondere bei Themen wie der Jugendarbeit und dem Rechtsextremismus einbringen wollen, brauchen jedoch Planungssicherheit und das Gefühl, dass die Gesellschaft ihre Arbeit wertschätzt. Tun wir dies? Internationaler Austausch Die wenigen hauptamtlichen Mitarbeiter im Sport erleben leider oft, dass sie sich selber und/oder ihren Arbeitsplatz ständig im Verteilungskampf der weniger werdenden kommunalen Mittel neu erfinden und deren Berechtigung abermals unter Beweis stellen müssen. Ich kenne die Haushaltslage vieler Kommunen und will an dieser Stelle nicht auf die angespannte Situation meiner Heimatstadt Cottbus eingehen. Ich bin umso mehr froh, dass wir in Cottbus stabile Verhältnisse in der Beschäftigung bei der Cottbuser Sportjugend haben. Stabile Strukturen und damit engagierte und verlässliche Partner vor Ort sind wichtig. Vor allem sind sie auch effektiver als ständig wechselnde Landes- und Bundesprogramme zur Bekämpfung des Rechts50
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extremismus oder für Toleranz und gegen Gewalt. Wichtig sind Verlässlichkeit und Kompetenz – und zwar dort, wo sie direkt gebraucht werden – und nicht die Weiterentwicklung zentraler Strukturen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Internationalisierung des Sports. In Brandenburg haben nicht einmal fünf Prozent unserer Mitbürger einen Migrationshintergrund. Wenn man die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber hinzurechnet, sprechen wir von ca. zehn Prozent der Brandenburger Bevölkerung. Aber viele Bürger mit Migrationshintergrund haben es eindrucksvoll in die Fußball-Nationalmannschaft geschafft, Ausländer spielen in vielen Bundesligamannschaften im Fußball, Handball, Basketball oder Volleyball und genießen ein hohes Ansehen. Migranten gewinnen Dennoch sind die Vorurteile und Ängste gegenüber „Fremden“ nach wie vor in unserer Gesellschaft vorhanden. Zum einen muss es uns stärker gelingen, Migranten für Übungsleitertätigkeiten und Funktionen im Vorstand der Sportvereine zu gewinnen. Integration bedeutet für mich nicht nur dabei zu sein, sondern ein Teil zu sein, sich aktiv einzubringen. Viele Jahre haben die Migranten zwar Sport im Verein gemacht, sind aber oftmals unter sich geblieben. Dabei scheinen
tobias schick – rechtsextremismus und sport
beide Seiten zu wenig aufeinander zugegangen zu sein. Viele Pilotprojekte der brandenburgischen Sportjugend machen mich jedoch optimistisch, dass wir hier auf einem richtigen Weg sind. Am Ball bleiben Zum anderen bemüht sich der organisierte Sport verstärkt, junge Sportler mit internationalen Sportlern zusammenzubringen. Dies geschieht ganz klassisch auf der Ebene von internationalen Wettkämpfen im In- und Ausland, aber zunehmend auch durch das Organisieren von internationalen Jugendaustauschen oder durch das Europäische Freiwilligenjahr. Es ist unumstritten, dass man durch gemeinsame Erlebnisse nicht nur Vorurteile abbaut, sondern den Menschen und die vielen Gemeinsamkeiten erkennt. Hier müssen wir weiterhin als Sport am Ball bleiben und die Rahmenbedingungen verbessern und die Fördermöglichkeiten bekannter machen. Aber auch hier gilt, dass wir eine langfristige Finanzierungsunterstützung und verlässliche Ansprechpartner vor Ort zur Realisierung des Jugendaustauschs mit und im Sport benötigen. Die zumeist ehrenamtlich geführten Sportvereine können nur mit hauptamtlicher Unterstützung internationale Projekte umsetzen und damit einen wichtigen Anteil beim Abbau von Vorurteilen leisten. Meist sind verfes-
tigte Vorurteile der Nährboden für fremdenfeindliche Einstellungen. Satzungen anpassen „Die Cottbuser Sportvereine heißen jeden, unabhängig seiner ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit, seiner Religion, seiner politischen Meinung oder seiner gesellschaftlichen Stellung herzlich willkommen“ – so oder so ähnlich steht es in vielen Vereinssatzungen Brandenburger Sportvereine. Politische Meinungsfreiheit war besonders nach der Wiedervereinigung ein wichtiges Thema für die Brandenburger und so auch für den organisierten Sport und seine Vereine. Dennoch glaube ich, müssen wir hier Grenzen ziehen: Unbelehrbare Mitglieder, die sich extremistisch, rassistisch, fremdenfeindlich oder diskriminierend äußern oder in einer solchen Weise handeln, sollten von den Vereinen ausgeschlossen werden. Aber wie? Wir haben unsere Mitgliedsvereine aufgerufen, in ihrer Satzung die folgende Formulierung aufzunehmen: „Der Verein tritt rassistischen, extremistischen, fremdenfeindlichen und diskriminierenden Bestrebungen entschieden entgegen. Er fördert die soziale Integration und gleichberechtigte Teilhabe unter Wahrung der kulturellen Vielfalt.“ Mit dieser Formulierung geben wir uns selbst die perspektive21
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thema – sport frei!
Möglichkeit, unsere Sportler und Vereinsmitglieder zu konfrontieren. Die Satzungsänderung muss durch die Mitgliederversammlung diskutiert und beschlossen werden. Die Vorstände müssen diese Mitgliederversammlung gut vorbereiten und sich mit dem Thema ebenfalls auseinandersetzen. Nun muss man kein Jurist sein, um zu wissen, dass jeder Vereinsauschluss oder jede andere Entscheidung möglicherweise vor Gericht anfechtbar ist. Kann man aber trotzdem die Unbelehrbaren ausschließen? Ist das wirklich noch die Aufgabe des organisierten Sports, des ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedes oder des Übungsleiters? Bürger auszuschließen, entsprechende Gerichtsverfahren zu verfolgen und die mögliche Niederlage einzukalkulieren? Ich weiß es nicht. So ergeben sich viele Fragen: n Was machen wir mit Menschen, die nicht unserem Verein angehören, die Gäste oder Zuschauer sind und sich nicht an unsere demokratischen Grundwerte halten? n Wie setzen wir unser Hausrecht gegen gewalttätige Bürger um?
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Mitarbeiter, die sich qualifiziert und engagiert insbesondere bei Themen wie der Jugendarbeit und dem Rechtsextremismus einbringen und sensible Prozesse führen wollen, brauchen Planungssicherheit und das Gefühl, dass die Gesellschaft ihre Arbeit wertschätzt. Tun wir dies? Kann ich die Unbelehrbaren ausschließen?
Diese Fragen lassen sich nicht abschließend beantworten. Ich weiß, dass es den Verfassungsschutz, das Innenministerium, das Justizministerium und die Polizei in den Ländern und im Bund gibt. Ich erwarte, dass wir alle im Dialog und mit der gemeinsamen Absicht, Lösungen zu finden, dann auch Antworten auf die Fragen geben können. Dabei hoffe ich sehr, dass die staatlichen Institutionen aus tiefster Überzeugung den Weg zum Sport und damit zum Ehrenamt finden. Denn ehrenamtliches Engagement darf nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Die erste wäre zu glauben, dass Ehrenamtliche im Sport auf den Verfassungsschutz, das Innenministerium oder das Justizministerium zugehen. n
TOBIAS SCHICK
ist Geschäftsführer des Stadtsportbundes Cottbus e. V. 52
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„No Sports“ oder „Sport frei“? WER IN VEREINE UND SCHULSPORT INVESTIERT, WIRD BEI OLYMPIA ERNTEN KÖNNEN VON HOLGER RUPPRECHT
pätestens wenn, wie in den letzten Monaten, nach Olympischen Spielen das Abschneiden der deutschen Athletinnen und Athleten diskutiert wird, landet man bei der Frage: Wie war es möglich, dass die DDR- Mannschaften mit den USA oder der Sowjetunion konkurrieren konnten? Auch die erste gemeinsame deutsche Mannschaft nach der Wiedervereinigung belegte 1992 in Barcelona in der Medaillenwertung mit 33 Goldmedaillen nur knapp hinter den GUS- Staaten und den Amerikanern Platz 3, während das deutsche Team in London mit elf Goldmedaillen und großem Abstand zu den inzwischen großen Vier USA, China, Gastgeber Großbritannien und Russland noch hinter Südkorea nur auf Platz 6 landete. Neben vielen anderen durchaus nachvollziehbaren Gründen hört man häufig die Meinung, dass es heute ungleich schwerer geworden ist, Kinder für eine sportliche Betätigung zu begeistern und noch schwerer, junge Menschen für eine leistungssportliche Karriere mit all ihren Strapazen und
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Risiken zu motivieren. Verbunden mit der demografischen Entwicklung, speziell in ländlichen Regionen führt das dazu, dass das Reservoir an talentierten und motivierten jungen Sportlerinnen und Sportlern damit extrem eingeschränkt ist. Viele Alternativen Natürlich fehlt in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft der Anreiz, durch sportlichen Erfolg dem sozialen Elend zu entkommen oder – wie in der DDR – sich die ersehnte Reisefreiheit zu erkämpfen. Natürlich gibt es für unsere Kinder und Jugendlichen neben dem Sport eine Vielzahl von Alternativen für eine interessante und auch sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Natürlich sind die kommerziellen Sportanbieter als Konkurrenten für die Sportvereine primär am Geldverdienen und nicht an einer gezielten Talentförderung interessiert. Natürlich haben es viele der traditionellen Sportarten schwer, sich neben den von Medien perspektive21
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und Bekleidungsindustrie hofierten Trendsportarten zu behaupten. Und trotzdem ist es zu einfach und nach meiner Meinung auch falsch, sich mit diesen zweifellos vorhandenen Problemen abzufinden und damit nicht nur die künftige Olympiabilanz zu gefährden, sondern auch die unbestrittenen Vorzüge einer lebenslangen sportlichen Betätigung nicht ausreichend zu würdigen. Was also ist zu tun? Zunächst ist hier die Politik gefordert, dem organisierten Sport durch kluge Entscheidungen die Bedingungen zu schaffen, um attraktive Angebote für Sportinteressierte vorzuhalten. Dazu gehört die Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur ebenso wie die Unterstützung der ehrenamtlich oder hauptamtlich im Sport tätigen Übungsleiter, Trainer und Funktionäre. Diese aktive Unterstützung beginnt in der Kommune und endet bei der Landesbzw. Bundespolitik. Die Veränderung des Sportfördergesetzes in Brandenburg ist dafür ebenso ein positives Beispiel, wie die kostenlose Bereitstellung von Sportanlagen für den Vereinssport in vielen Gemeinden und Städten. Die Vereine sind gefragt Weitere wichtige Stellschrauben für notwendige Veränderungen findet man in den Sportvereinen und den Schulen unseres Landes. Sie bilden gemeinsam die Basis für ein erfolgreiches Sport54
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system. Auch wenn wir uns in Brandenburg über einen der demografischen Entwicklung widersprechenden Zuwachs von organisiert Sporttreibenden freuen, liegen wir im Vergleich mit den alten Bundesländern noch weit zurück. Der sogenannte Organisationsgrad beträgt in Brandenburg aktuell 13 Prozent, im Bundesschnitt jedoch 29 Prozent und ist in unserem Bundesland auch bei Kindern und Jugendlichen deutlich geringer als in anderen Ländern. Hier sind unsere Vereine gefragt! Starke Sponsoren fehlen Als seit über 16 Jahren amtierender Vorsitzender eines Sportvereins bin ich mir der Schwierigkeiten bewusst, bei einer überwiegend ehrenamtlichen Vereinsstruktur dieser Herausforderung gerecht zu werden. Wie überall entscheidet über Erfolg oder Misserfolg auch hier primär die finanzielle Ausstattung. Nur wenn es gelingt, neben den beitragszahlenden Vereinsmitgliedern auch starke Verbündete in der Kommune und der Wirtschaft zu finden, die bereit sind, sich zu engagieren, wird es möglich sein, einen Verein so zu entwickeln, dass er als Anziehungspunkt speziell für sportinteressierte Kinder und Jugendliche wirkt. Das positive Image eines Vereins wird geprägt durch engagierte und qualifizierte Übungsleiter und Trainer, mög-
holger rupprecht – „no sports“ oder „sport frei“?
lichst attraktive Sportstätten und ein ausgeprägtes Vereinsleben als entscheidender Vorteil gegenüber der kommerziellen Konkurrenz. Nur wer in seinem Verein ein ausgeprägtes Wir-Gefühl entwickelt, kann sicher sein, dass der Zusammenhalt auch in schwierigen Zeiten bestehen bleibt. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die Eltern der Kinder und Jugendlichen. Sie dürfen nicht nur Konsumenten einer Dienstleistung durch den Verein sein, sondern sollten sich aktiv und unterstützend einbringen, um die Verantwortlichen zu entlasten. Typisch für ostdeutsche Sportvereine ist die vergleichsweise geringe Zahl von fördernden Mitgliedern, die ihren Beitrag entrichten, ohne eine direkte Gegenleistung zu erhalten und damit das finanzielle Fundament des Vereins stützen. Das spiegelt zweifellos die wirtschaftliche Gesamtsituation der neuen Länder wider, die immer noch deutlich hinter den alten Ländern zurückhinken. Hier liegt auch die Ursache für die Probleme vieler Vereine in Brandenburg, finanzstarke Sponsoren zu finden, die in der Lage sind, den Sport tatkräftig zu unterstützen. Wie man am Beispiel der Mannschaftssportarten ganz deutlich sehen kann, haben wir hier einen klaren Wettbewerbsnachteil im gesamtdeutschen Vergleich. Besonders schwierig ist die Situation für viele Sportvereine in den dünnbesiedelten Regionen unseres Landes.
Bedingt durch die demografische Entwicklung ist die Zahl der Kinder, die als potenzielle Vereinsmitglieder zur Verfügung stehen inzwischen sehr überschaubar geworden. Dadurch fällt es den Vereinen zunehmend schwerer zum Beispiel in den Spielsportarten wie Hand- oder Fußball wettkampffähige Mannschaften zu bilden. Hier sind kreative Lösungen gefragt, denn die Möglichkeit, sich im sportlichen Vergleich zu messen, ist für viele junge Sportler unverzichtbar, der Wettkampf ist sozusagen das Salz in der sportlichen Suppe. Spielgemeinschaften und auf die schwierigen Bedingungen abgestimmte Spielpläne können hier hilfreich sein. Schulsport motiviert Ganz entscheidend für die Erfolge der Vereinsarbeit im Nachwuchsbereich ist die notwendige Kooperation zwischen Sportvereinen und Schulen. Damit komme ich zur zweiten Säule des Systems. Die meisten Kinder werden, wenn sie nicht das Glück hatten, eine bewegungsorientierte Kita zu besuchen oder durch ein sportliches Elternhaus vorbelastet sind, erstmals in der Grundschule mit regelmäßiger sportlicher Betätigung konfrontiert. Hier entscheidet sich daher für viele Kinder, welchen Stellenwert das Sporttreiben in ihrem künftigen Leben haben wird. Daraus perspektive21
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erwächst eine große Verantwortung für alle Pädagogen einer Schule, nicht nur für die im Sportbereich Tätigen. Als ehemaliger Sportlehrer und Schulleiter weiß ich sehr wohl, wie wichtig ein sportfreundliches Schulklima für die Bereitschaft der Schüler, aktiv Sport zu treiben ist. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Grund- sondern auch für alle weiterführenden Schulen. Die Beachtung der sportlichen Leistungen und die Würdigung sportlicher Erfolge durch die Schulleitung und das Kollegium motivieren nicht nur Mädchen und Jungen, sondern auch deren Sportlehrer. Als es noch Spartakiade hieß Denn nur wenn die Sportlehrer bereit sind, sich neben einem guten Unterricht auch außerschulisch zu engagieren, zum Beispiel Arbeitsgemeinschaften zu leiten, oder die Schüler zu Wettkämpfen wie Jugend trainiert für Olympia zu begleiten, wird der sportliche Funke überspringen. Wenn es dann auch noch die Bereitschaft gibt, mit benachbarten Sportvereinen zu kooperieren, kann es gelingen, dass manches sonst unerkannt gebliebene Talent entdeckt und gefördert wird. Ohne pauschal und undifferenziert kritisieren zu wollen, scheint mir dieses Engagement heute leider weniger ausgeprägt zu sein, als zu den Zeiten, als Jugend trainiert für Olympia noch Spartakiade hieß. 56
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Wer die, zugegebenermaßen mit dem Alter leider abnehmende, Begeisterung beobachtet hat, mit der Grundschüler an einer gut vorbereiteten und durchgeführten Sportstunde teilnehmen, oder die Ernsthaftigkeit und Leistungsbereitschaft einer Trainingsgruppe, die sich im Verein auf einen Wettkampf vorbereitet, kann ermessen, wie hoch die Arbeit der Verantwortlichen in Schulen und Vereinen einzuschätzen ist. Diese engagierten Sportenthusiasten zu unterstützen sollte ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein. Was hat das nun mit Olympia und dem Hochleistungssport zu tun? Die Olympischen Spiele in London haben ganz deutlich gezeigt, dass sich an der weltweiten Aufmerksamkeit für dieses größte Sportereignis ebenso wenig geändert hat, wie an der gesellschaftspolitischen Bedeutung für die teilnehmenden Staaten. Das gilt ohne Zweifel auch für Deutschland und führt zwangsläufig zu der Frage: Was sind uns sportliche Erfolge wert? Oder anders formuliert: Müssen wir denn bei Olympia vorn mitmischen? Stolz und Vorbild Ich will bei der Beantwortung mit der zweiten Frage beginnen: Ja! Wir müssen bei Olympischen Spielen und anderen sportlichen Großereignissen unser Leistungsvermögen unter Beweis stellen. Nicht, damit die Kanzlerin
holger rupprecht – „no sports“ oder „sport frei“?
unseren Sportlern zujubeln kann und der Bundespräsident Silberne Lorbeerblätter verteilen kann, sondern weil der größte Teil unserer Bevölkerung mit unseren Athleten mitfiebert und ihnen den Erfolg wünscht. Der Stolz auf unsere Spitzensportler und deren Vorbildwirkung für unsere Kinder und Jugendlichen ist für mich unverzichtbar. Wenn die Erfolge unserer Athleten viele Menschen in unserem Land nicht nur begeistern, sondern auch zu eigenem Sporttreiben animieren, hat sich der Aufwand gelohnt. Damit bin ich bei der ersten Frage: Wie immer wird nach einem sportlichen Großereignis auch nach dem Vergleich
von Aufwand und Nutzen gefragt. Ich glaube nicht, dass wir in einen finanziellen Wettstreit mit den Nationen treten sollten, die trotz wirtschaftlicher Probleme aus Prestigegründen Unsummen in den Sport investieren. Wir sollten stattdessen unser Fördersystem überdenken und nach der Devise: Weniger ist manchmal mehr, darüber nachdenken, ob eine Konzentration auf weniger Sportarten, oder Disziplinen mit maximaler Förderung nicht sinnvoller wäre. Dabei habe ich auch das zu erwartende demografische Echo im Hinterkopf, das die schon beschriebenen Probleme bei der Nachwuchsgewinnung nochmals verschärfen wird. n
HOLGER RUPPRECHT
ist sportpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg sowie Präsident des Handballvereins 1. VfL Potsdam. perspektive21
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Keine Leistung um jeden Preis EINE EFFEKTIVE DOPINGBEKÄMPFUNG IN DEUTSCHLAND BRAUCHT EFFEKTIVERE MASSNAHMEN VON DAGMAR FREITAG
icht erst seit der Aufdeckung des Dopingsystems um Lance Armstrong und der Entmystifizierung des anscheinend bestorganisierten Sportbetrügers ist die Diskussion um den erfolgversprechendsten Weg hin zu einer effizienten Bekämpfung des Dopings neu entfacht. Der tiefe Fall des einstigen Publikums- und Medienhelden Armstrong hat international und national großes Aufsehen erregt. In Deutschland stellen wir uns die Frage, wie es der US-amerikanischen Anti Doping Agentur USADA gelungen ist, das dunkle Doping-Netzwerk von Lance Armstrong und seinem U.S. Postal-Team zu enttarnen – und welche Instrumente die USADA offensichtlich hat, um solch umfassende Ermittlungsergebnisse vorlegen zu können. Es scheint, als sei es der USADA auch dank enger Kooperation mit staatlichen Behörden gelungen, einen mehr als nur plakativen Erfolg in der Dopingbekämpfung zu erringen. Die Dopingbekämpfung in Deutschland steckt hingegen momentan in einer strukturellen und finanziellen
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Krise. Das 2007 im Deutschen Bundestag verabschiedete „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport (DBVG)“ hat aufgrund des Widerstandes der CDU nur bedingt zu einer Verbesserung des Kampfes gegen Doping beigetragen. Kleinster gemeinsamer Nenner Das Gesetz umfasste beispielsweise eine Kennzeichnungspflicht für dopingrelevante Arzneimittel, eine Zuständigkeit des Bundeskriminalamtes für die Fälle des organisierten Handels mit zu Dopingzwecken geeigneten Arzneimitteln wie Anabolika, Hormonpräparate oder das von Lance Armstrong unter anderem ausgiebig genutzte Epo sowie Strafverschärfungen für bandenoder gewerbsmäßige Dopingstraftaten. Wichtigster – aber leider auch strittigster – Punkt der damaligen Gesetzesinitiative hingegen war die Diskussion um eine „Besitzstrafbarkeit“. Die SPDBundestagsfraktion war überzeugt, dass nur eine generelle Besitzstrafbarkeit ein perspektive21
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ausreichend scharfes Schwert ist, um Dopingsünder abzuschrecken. Große Teile des deutschen Sports, insbesondere der Deutsche Olympische Sportbund, hatten sich gegen diese Forderung ebenso vehement gewehrt wie der damalige Koalitionspartner CDU/CSU. Am Ende wurde nur die Strafbarkeit des Besitzes nicht geringer Mengen bestimmter Dopingsubstanzen eingeführt. In der Großen Koalition war dieses Gesetz zu jenem Zeitpunkt also der kleinste gemeinsame Nenner. Von der Forderung nach einer Bestrafung des Besitzes jeder Menge von Dopingsubstanzen ist die SPD-Bundestagsfraktion jedoch nie abgerückt. Ein Aktenzeichen reicht nicht Dieses Gesetz befindet sich aktuell in der Evaluierung, ein entsprechender Evaluierungsbericht ist durch Prof. Matthias Jahn (Universität ErlangenNürnberg) erstellt worden. Als Verbesserungen vorgeschlagen werden unter anderem die Einführung einer weiteren Tathandlung des „Erwerbs“ von Dopingmitteln im Arzneimittelgesetz (AMG), diverse Maßnahmen zu einer Verbesserung und Vereinheitlichung der Sachbehandlung von Dopingstraftaten und die Einführung eines eigenen „Aktenzeichens“ für Dopingermittlungsverfahren. Das wird aber nicht ausreichen, um die Dopingbekämpfung entscheidend 60
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zu verbessern. Es ist nicht verwunderlich, dass auch in dieser Evaluation von einer generellen Besitzstrafbarkeit abgeraten wird. Prof. Jahn hatte sich bereits 2007 in einer schriftlichen Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport ausdrücklich gegen eine generelle Besitzstrafbarkeit ausgesprochen. Die im Evaluierungsbericht ebenfalls artikulierte Forderung nach Einrichtung weiterer Schwerpunktstaatsanwaltschaften hilft wenig, wenn bestehende gesetzliche Lücken nicht geschlossen werden. Zwar gibt es eine beachtliche Zahl von Ermittlungsverfahren, allerdings beziehen sich diese vor allem auf den Handel von Arzneimitteln im Kraft- und Fitnesssport. Betrüger im Spitzensport hat man mit diesen Instrumenten bisher nicht überführen können. Bayern will mehr Bemerkenswerterweise schlägt die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) – leider ohne ausreichende Unterstützung ihrer CSU-Landesgruppe in Berlin – seit Jahren in dieselbe Kerbe und stellt sich damit offen gegen die von der Unionsfraktion propagierte Haltung. Ihre Kernforderung ist nicht nur die Abkoppelung der Strafbarkeit des unerlaubten Besitzes von Dopingmitteln vom Vorliegen einer nicht geringen Menge – sie plädiert beispiels-
dagmar freitag – keine leistung um jeden preis
weise auch für einen erhöhten Strafrahmen. Merk hat diesen Forderungen Taten folgen lassen und in Bayern bereits im Jahr 2009 die erste Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet – ihre Erfahrung ist jedoch eher ernüchternd. Im November 2012 hat Frau Merk in einem Interview im dradio ausgeführt, dass ihre Staatsanwaltschaft nur dann ermitteln dürfe, wenn ein konkreter Verdacht auf den Besitz einer nicht-geringen Menge bestehe. Der Fall Armstrong zeigt es Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat ebenfalls im November 2012 ein umfassendes Eckpunktepapier vorgestellt, um Sportler vor Betrügern zu schützen und einen fairen Wettbewerb im Sport zu gewährleisten. SPD-Justizminister Rainer Stickelberger will mit seinen darin enthaltenen Forderungen, unter anderem nach einer Einführung eines neuen Straftatbestands Sportbetrug, einer Strafbarkeit des Handels mit und des Erwerbs von Dopingmitteln in nicht geringer Menge und einer Einführung einer Kronzeugenregelung, ein deutliches Zeichen in der anstehenden Diskussion um gesetzliche Verschärfungen durch den Bund setzen. Dass die Bundesregierung allerdings auf diese gleichermaßen konstruktiven wie weitreichenden Vorschläge eingehen wird, dürfte leider illusorisch sein.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion wird sich in den parlamentarischen Beratungen mit Kritik an dem Evaluationsbericht nicht zurückhalten und weiter auf schärfere Gesetze inklusive der Einführung einer generellen Besitzstrafbarkeit drängen. Auch über eine funktionierende Kronzeugenregelung muss nachgedacht werden. Es muss möglich sein, Sportlern, Trainern, Betreuern oder Ärzten Strafminderungen zu gewähren, wenn sie ihr Wissen über Dopingpraktiken preisgeben, um dem Dopingsystem und seinen Akteuren das Handwerk zu legen. Wie effektiv ein solches Kronzeugenprogramm sein kann, haben die Ermittlungen der USADA gegen Lance Armstrong gezeigt. Die Zusammenarbeit zwischen Sport und Staat scheint hier ziemlich gut funktioniert zu haben. Grundsätzlich müssen zur effektiven Dopingbekämpfung auch in unserem Land alle beteiligten Institutionen kooperieren und Informationen austauschen können. Keiner fühlt sich zuständig Ein effektiver Kampf gegen das Doping erfordert neben verbesserten gesetzlichen Regelungen auch die Optimierung von Organisationen und Strukturen. Die wichtigste nationale Organisation in der Dopingbekämpfung ist die Nationale Anti Doping Agentur (NADA). Sie wurde im Jahr 2002 als Stiftung des bürgerlichen perspektive21
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Rechts mit Sitz in Bonn mit dem Ziel gegründet, den Kampf gegen Doping im Sport auf nationaler Ebene zu fördern und zu koordinieren. Die Kernaufgabe der NADA ist zuallererst die Umsetzung eines einheitlichen Dopingkontrollsystems für Deutschland. Bei der Gründung war angedacht, die Finanzierung der operativen Arbeit der NADA allein durch die Erträge aus einem ausreichend hohen Stiftungskapital zu bestreiten. Financiers – auch Stakeholder genannt – sollten neben der öffentlichen Hand (Bund und Länder) der Sport und die Wirtschaft sein. Dieses Modell stellte sich bald als wenig tragfähig heraus, denn einzig der Bund beteiligte sich in nennenswertem Umfang am Aufbau des Stiftungskapitals. In der Folge führte dies dazu, dass die Finanzierung der alltäglichen Aufgaben der NADA einzig durch jährliche Zuschüsse gesichert werden konnte; auch hier hielten sich bis auf den Bund alle Stakeholder aus den unterschiedlichsten Gründen zurück. Auch der von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich im Februar 2012 einberufene „Runde Tisch“ zur Finanzierung der NADA hat keine Akquirierung von Finanzmitteln bewirken können, im Gegenteil: Die Länder, Sponsoren aus der Wirtschaft und der Sport fühlten sich für eine funktionierende Nationale Anti-Doping-Agentur erkennbar nicht zuständig – die geringen finanziellen Beiträge lassen nichts 62
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anderes als diese ernüchternde Schlussfolgerung zu. Einmal mehr musste die Arbeit der NADA auch für das kommende Jahr 2013 in letzter Minute durch Mittel des Bundes gesichert werden. Es fehlt Geld und Personal Die Nationale Anti-Doping-Agentur steht finanziell daher auch weiterhin auf tönernen Füßen. Interesse an der Arbeit der NADA scheinen die Stakeholder dennoch zu haben – jedenfalls bestehen insbesondere der Sport und die Bundesländer auf Mitsprache bzw. Kontrolle durch Sitz und Stimme im Aufsichtsrat der NADA. Keine finanzielle Verantwortung übernehmen, aber Einfluss einfordern, auch an dieser Stelle hinkt das Stiftungsmodell. Daher wird dieses Stiftungsmodell sich einer genauen Prüfung unterziehen müssen. Die NADA muss dauerhaft organisatorisch, finanziell und personell abgesichert sein, um strategisch, langfristig, effizient und effektiv die Rolle des Dopingjägers Nummer 1 übernehmen zu können. Nur eine starke, möglichst unabhängige NADA mit ausreichenden, verlässlichen Ressourcen und weitgehenden Kompetenzen kann ein funktionierendes Element in der Bekämpfung des Dopings sein. Eine weitere wichtige Säule im Maßnahmenpaket gegen Doping muss die Prävention sein. Der Missbrauch von
dagmar freitag – keine leistung um jeden preis
Arzneimitteln und die Anwendung verbotener Methoden wie Blut- oder Gendoping stellen eine gravierende Gefahr für die Gesundheit der Sportler dar. Doping ist somit auch unter gesundheitlichen Aspekten kein Kavaliersdelikt, massive Schäden bis hin zu Todesfällen drohen. Die Nebenwirkungen des Dopings unterscheiden nicht zwischen Spitzen- und Breitensportlern, darum müssen sich Präventionsinitiativen allen Bereichen zuwenden. Einem Artikel der Ärzte-Zeitung zufolge, der eine Studie von Prof. Brune und Dr. Küster zitiert, hat eine Befragung von 4.000 Teilnehmern des Bonn-Marathons ergeben, dass die Hälfte aller Läufer bereits vor dem Start „legale“ Schmerzmittel einnahm. Mit scharfen Gesetzen kann und soll hier nicht gesteuert werden, vielmehr muss Aufklärung das Maß aller Dinge sein. Gefordert sind hier die Veranstalter und Sponsoren von Laufevents ebenso wie Lauftrainer, Übungsleiter, Coaches in den Fitnessstudios und Ärzte. Auch Ärzte sind gefragt Den Ärzten kommt eine besondere Verantwortung bei der Betreuung und Begleitung von Sportlern im Breitenund im Spitzensport zu. Dem hippokratischen Eid verpflichtet, ist die Gesundheit der Patienten ihr höchstes Gut. Wer sich als Arzt an Doping-
praktiken beteiligt und damit die Gesundheit eines Menschen riskiert, sollte mit dem Entzug der Approbation bedroht sein. Egal ob der Mediziner aktiv ist und beispielweise Blutmanipulation betreibt oder „nur“ passiv entsprechende Medikamente ohne medizinische Indikation verschreibt – die Beteiligung an unerlaubter Leistungssteigerung muss auch hier empfindliche Strafen nach sich ziehen (können). Nur die Spitze des Eisberges Gefordert sind auch die Pharmakonzerne. Wären diese grundsätzlich bereit, zur Leistungssteigerung geeignete Substanzen bereits in der Entwicklung durch von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) anerkannte Dopingkontrolllabore begleiten zu lassen, könnten entsprechende Nachweisverfahren weitaus früher bei Dopingkontrollen eingesetzt und Dopingsünder verlässlicher überführt werden. Erste Schritte hierzu bahnen sich auf internationaler Ebene erfreulicherweise an. Die Vielfalt der aufgezeigten Akteure und Maßnahmen macht deutlich, dass die Bekämpfung des Dopings eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Dazu gehört auch, dass unsere Gesellschaft ihre Definition und ihre Bewertung von Leistungen überdenken muss. In immer mehr Bereichen des Alltags strebt unsere Gesellschaft danach, Grenzen zu überwinden – Grenzen zu perspektive21
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akzeptieren, fällt anscheinend zunehmend schwer. „The winner takes it all…“ – in der öffentlichen Wahrnehmung ist eine Platzierung außerhalb der Medaillenränge bei einem Sportevent häufig schon ein Misserfolg. Persönliche Bestleistungen werden nur selten gewürdigt, es zählt nur der objektive Vergleich im olympischen Streben nach dem Schneller, Höher, Weiter. Auch außerhalb des Sports glaubt man, Grenzen beliebig verschieben zu müssen oder zu können. Schon Kinder und Jugendliche nehmen Mittel zur Konzentrationssteigerung. Der Wunsch nach möglichst unbeschränkter Leistung am Arbeitsplatz führt zu Psycho- und Neuro-Enhancement durch verschreibungspflichtige Arzneimittel, die
beruflichen Stress mindern und Leistungspotenziale erhöhen sollen. Das Dopingproblem im Sport ist deshalb nur die Spitze des Eisberges beim Streben nach Leistungssteigerung in unserer Gesellschaft. Doping im Sport ist aber insbesondere deshalb besonders verwerflich, da die Spitzensportler häufig Vorbilder für den Nachwuchs sein könn(t)en und soll(t)en. Der Sport beruht auf dem Fair-Play-Gedanken und dem fairen Mit- bzw. Gegeneinander im Wettkampf. Doping tritt diese Grundwerte mit Füßen und muss mit allen Mitteln bekämpft werden, nur dann wird der Sport seine grundlegend wichtige Bedeutung für das Wertesystem, für soziales Lernen und faires Miteinander in unserer Gesellschaft bewahren können. n
DAGMAR FREITAG
ist Bundestagsabgeordnete der SPD und Vorsitzende des Sportausschusses des Deutschen Bundestages. 64
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Kommunitarismus in der Kurve EIN VERSUCH ÜBER HYBRIS UND HEIMAT IN OSTDEUTSCHEN FUSSBALLSTADIEN VON FRANK SCHÖNEMANN
as vom DDR-Serienmeister BFC Dynamo heute noch existiert, macht Sinn: im Gegensatz zum ehemaligen „Trägerbetrieb“. Wenn und soweit der Fußball in Berlin-Hohenschönhausen lokaler Fixpunkt sozialer Integration ist, der mit 30 Mannschaften regelmäßig am Spielbetrieb teilnimmt, dann ist das zunächst so begrüßenswert wie irgendwo sonst auf der Welt. Ebenso zu goutieren sind jene gemeinwohlfördernden Effekte von größeren Vereinen, die in der Stabilisierung und Aktivierung ehrenamtlicher Netzwerke, im generationenübergreifenden Miteinander und natürlich in der pädagogisch kaum zu unterschätzenden Nachwuchsarbeit augenscheinlich werden. Und außerdem: Sport ist gesund. Selbstverständlich treffen all diese Aspekte auch auf jeden anderen Fußballverein zu, der mit dem BFC derzeit in der fünften Spielklasse um sportliche Erfolge konkurriert. Ja, sie können grundsätzlich jedem Sportverein zugeschrieben werden, sofern er eine gewisse lokale Strahlkraft besitzt. Fußball ist
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in Deutschland-Ost und DeutschlandWest gleichermaßen unangefochtener Volkssport Nummer eins. Und wenn ein Fußballverein bereits in der dritten oder vierten Generation in der Regelmäßigkeit des Punktspielbetriebes Kollektiverlebnisse generiert, dann wird er unweigerlich mehr – nämlich Sinnträger und Heimat. Was ist Heimat? Wobei „Heimat“ ein durchaus vieldeutiger Begriff ist. Seine hässlichsten Konnotationen traten in den ostdeutschen Fußballstadien zweifelsohne in den frühen und mittleren neunziger Jahren zutage. Wer erinnert sich nicht mit erheblichem Schauder an jene bürgerkriegsähnlichen Bilder aus Berlin, Leipzig, Dresden, Cottbus, Chemnitz, Erfurt, Magdeburg oder Rostock? Schwerverletzte, demolierte Sitztribünen, geplünderte Innenstädte und ramponierte Züge waren die wochenendlichen Faustrecht-Melodien des jugendlichen Abgesangs auf die alte „Heimat“. perspektive21
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Ohnmächtig standen verunsicherte Volkspolizisten, überforderte Eltern und Lehrer einer Generation Heranwachsender gegenüber, für die die Suche nach dem alterstypischen Provokationsinstrumentarium nicht zwangsläufig, aber doch mit einer gewissen Vorhersehbarkeit im Bruch des letzten verbliebenen gesamtdeutschen politischen Tabus mündete. Jenes auf Filmdokumenten noch heute so erschütternde euphorische Schwenken von Reichskriegsflaggen und das ungenierte Herausstrecken des rechten Armes dienten gleichermaßen als willkommene Kriegserklärung an die alten und neuen Machteliten. Die hemmungslose Koketterie mit nationalistischer Selbstüberhebung, offenem Rassismus und Antisemitismus, ja mit Nazisymbolik in Reinform forderte den längst in operativer Routine erstarrten offiziell verordneten Antifaschismus der entsorgten DDR-Funktionäre ebenso heraus wie die neuen Demokratieerzieher aus dem Westen. Neue Subkultur im Osten Es war ganz sicher auch dieses zweidimensionale Provokationspotential, das jenes verharmlosend so genannte „Rechtssein“ zur am schnellsten wachsenden ostdeutschen Jugendsubkultur nach der Wende werden ließ. Nicht nur, aber doch in besonders verdichteter und radikaler Form unter den 66
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Fußballanhängern. Dass alte NaziNetzwerke in Westdeutschland weder Kosten noch Mühen scheuten, um jene menschenverachtenden und geschichtsblinden Erzählungen in den Köpfen junger Ostdeutscher ideologisch zu verfestigen, gehört allerdings auch zur bitteren Realität jener Nachwendejahre. Rechtsfreie Räume Nein, mit der Sehnsucht nach „Heimat“ hatte dieses ins Groteske übersteigerte Konglomerat aus Gewalt, Brutalität und xenophobischer Hassideologie, dass die ostdeutschen Stadien und Bahnhöfe Wochenende für Wochenende in rechts- und moralfreie Räume verwandelte, nichts mehr zu tun. Mit dem Tod des erst 18-jährigen Berliners Mike Polley durch Polizeischüsse im Rahmen von Ausschreitungen beim Spiel zwischen Sachsen Leipzig (vorher BSG Chemie) und dem FC Berlin (vorher BFC Dynamo) fanden die anarchischen Gewaltexzesse ihren traurigen Höhepunkt am 3. November 1990 auf dem Bahnhofsgelände in LeipzigLeutzsch. Heute, im zweiundzwanzigsten Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung, hat sich nicht nur die ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft, sondern ebenso die Fußballkultur transformiert. In den Kurven, in denen ihre großen Brüder und Väter (Fußballgewalt ist ein nahe-
frank schönemann – kommunitarismus in der kurve
zu ausschließlich männliches Phänomen) vor gut 20 Jahren vergeblich versuchten, die richtungslose Sinnsuche und die manifesten biographischen Brüche mit provozierender Hass-Symbolik und entgrenzter Gewalt zu kompensieren, choreographieren die „Ultras“ nun am Wochenende 30-Meter-Banner, komponieren teilweise erstaunliche Chorstücke und erheben einen selbstbewussten kollektiven Gestaltungsanspruch in und gegenüber ihren Vereinen. Natürlich ist die „Ultra“-Bewegung keine ostdeutsche Besonderheit und schon gar nicht hat sie hier ihren Ursprung. Was sind Ostderbys? Aber dennoch: Die ostdeutsche Fanszene ist anders und sie selbst legt durchaus Wert darauf! Es gibt kein Duell alter DDR-Oberliga-Konkurrenten, das nicht, egal in welcher Liga, von den berichtenden öffentlich-rechtlichen Regionalsendern mit dem Attribut „Ostderby“ versehen zum Gegenstand überdurchschnittlicher öffentlicher Aufmerksamkeit überhöht wird. Was aber ist im Jahr 2012 das Spezifische an einem Fußballspiel zwischen – nun gut, sagen wir: Energie Cottbus und Dynamo Dresden? Oder besser: Was unterscheidet das Dortmund-Schalke-Derby und das Münchener Stadtderby zwischen Bayern und 1860 vom Berliner Ostderby zwischen Union und dem BFC und
dem Thüringenderby zwischen RotWeiß Erfurt und Carl-Zeiss Jena? Es geht bestimmt in allen genannten Konstellationen um gruppensoziologische Prozesse, um lokale Semantikkämpfe in einem thematischen Raum, um anthropologisch erklärbare männliche Kampfrituale und um – kein Essay ohne Luhmann-Referenz – System-Umwelt-Differenzierungen. Zentrale Planung, lokaler Vollzug Trotz alledem: Im kollektiven Bewusstsein ostdeutscher Fußballfans ist jene geteilte Erinnerung lebendig, in deren Rahmen sich Heim- und Gästeblock unhörbar und doch unüberhörbar zuflüstern: „Früher! Früher war alles besser...“. Aber was war denn früher? Die sportpolitische Infrastruktur der DDR folgte den gleichen Imperativen wie die Industrie: Zentrale Planung und lokaler Vollzug. Wie viel Rivalität und Feindschaft zwischen regionalen oder lokalen Fanszenen hätte vermieden werden können, wenn nicht jedes vielversprechende Talent des DDR-Fußballs auf höheres Geheiß hin von seinem Heimatclub „delegiert“ worden wäre, hin zu einem jener zentral am Reißbrett nach Bezirksgeometrie entworfenen „Leistungszentren“? Indessen: Dieses System war so effektiv, dass sich zu guter Letzt die besten Fußballer der DDR tatsächlich ausnahmslos in der höchsten Spielklasperspektive21
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se tummelten. Und das tun und taten sie auch im Westen. Nur die Entscheidungsparameter waren selbstredend andere. Im Meer der Ungewissheit Während der Westen der Republik nach dem Mauerfall jeglicher spürbaren Zäsur entbehrte, die BVB-, FCB-, S04-, HSV- und VfB-Fans einfach unbenommen weiter ihren Hobbies in jenem althergebrachten und gewohnten konsumistischen Umfeld frönten und nach dem Millennium maximal ihre englischen 200 Euro-Parkas durch italienische 300 Euro-Sportjacken ersetzen mussten, um sich weiterhin stilsicher auf dem Stadion-Parcours bewegen zu können, für dessen Betreten sie, ohne grundsätzliche Fragen zu stellen, Woche für Woche 50 Euro und weit mehr bezahlten, kam den ostdeutschen Fußballanhängern mal eben der Staat abhanden. Und mit ihm das gesamte planwirtschaftliche Arsenal nicht nur ihres Fußballvereins, sondern ebenso ihres Arbeits- und Produktivitätsalltages, sämtliche Arrangements der Vereinbarkeit von beruflicher und privater Existenz. Kurzum: Für die Fußballfans der ostdeutschen Vereine war ihr Club das letzte Wrackstück zum Festhalten in einem Meer der Ungewissheit, nachdem Schiff und Kapitän verloren waren. Von den Werkshallen und Verwaltungsgebäuden ist heute vielerorts 68
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kaum noch etwas greifbar, genau wie von jenen Bungalowsiedlungen und Kinderferienlagern, die sich so tief eingeprägt haben in das kollektive Gedächtnis der einstigen Jung- und Thälmannpioniere. Im Zweifelsfall besingt heute irgendein betrogener westdeutscher Immobilienanleger die Idylle der Magdeburger Börde auf Ibiza. Aber der Verein ist geblieben! Und mit ihm die große Hypothek, die Treuhandanstalt, Helmut Kohl, schmierige „Spielerberater“, Anwälte und DFB jenen ostdeutschen Brigaden und Kombinatskollektiven als Unterpfand für die versprochene Freiheit gegeben haben. So frei wie nie zuvor Wenn heute Hunderttausende an jedem Wochenende in deutsche Stadien pilgern, um den Verein ihrer Kindheit mit Herz und Portemonnaie zu unterstützen, dann sind darunter auch Zehntausende Ostdeutsche, die in Gedanken sagen: „Früher hatten wir keine Macht und heute fehlt uns das Eigenkapital. Aber wir glauben fest an das Finale des Landespokals. Und es wird der Tag kommen, an dem 50.000 Fußballfans in einem baufälligen Stadion in Berlin-Hohenschönhausen ihre Hypothek einfordern: Wir sind so frei wie nie zuvor, doch dem Verein fehlt schlicht das Geld für Gerechtigkeit.“
frank schönemann – kommunitarismus in der kurve
Und der eine oder andere wird nach dem Spiel zuhause staubsaugen und dabei vielleicht den vergessenen dritten Band des „Prinzip(s) Hoffnung“ von Ernst Bloch finden, jenes Leipziger und Tübinger Apologeten der menschlichen Tagträume und auf der letzten Seite lesen: „Die Wurzel der Geschichte aber
ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ n
FRANK SCHÖNEMANN
ist Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten und Fan von FC Rot-Weiß Erfurt. perspektive21
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Eine neue Wirtschaftsordnung? 1989 - 2009 20 Jahre SDP Gemeinsinn und Erneuerung Neue Chancen Zwanzig Jahre Brandenburg It’s the economy, stupid? Wie wollen wir leben? Geschichte, die nicht vergeht Engagement wagen Die Zukunft der Kommunen Die Zukunft der Medien Welche Hochschulen braucht das Land? Quo vadis Brandenburg?