Heft 56 | April 2013 | www.perspektive21.de
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik
MAGAZIN 150 Jahre SPD Eine kleine Chronik Heinrich August Winkler Die Ehre der deutschen Republik Norbert Frei Die „Volksgemeinschaft“ als Terror und Traum DAS STRASSENSCHILD Christian Neusser über Otto Wels Ehre, wem Ehre gebührt SCHWERPUNKT
WO ES STINKT UND KRACHT
Ralf Holzschuher Zukunft gibt’s nicht von allein Ulrich Freese Zwei Seiten einer Medaille
Wo unser Wohlstand herkommt
Ulrich Berger Die industrielle Produktion von morgen Philipp Fink Ungeliebt, begehrt und doch nicht verstanden Andrea Wicklein Wohlstand muss erwirtschaftet werden!
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
VORWORT
ndustriepolitik? Ist das nicht ein Thema aus dem 19. und 20. Jahrhundert? Wenn viele Menschen diesen Begriff hören, denken sie an rauchende Schlote und erbarmungswürdige Arbeitsbedingungen, vielleicht noch an Umweltzerstörung und CO2-Austoß. Jedenfalls löst der Begriff Industriepolitik häufig – zu häufig! – Assoziationen aus, die eher mit Vergangenheit denn mit Gegenwart und Zukunft unseres Landes verbunden werden. Das ist ein großer, ja fast tragischer Irrtum: Die industrielle Produktion ist in Deutschland nach wie vor das Rückgrat unseres materiellen Wohlstandes. Der Gewerkschafter Ulrich Freese weist in diesem Heft zu Recht darauf hin, dass sich 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland direkt oder indirekt dem produzierenden Gewerbe und industrienahen Dienstleistern zuordnen. Welche Bedeutung Industriepolitik in Brandenburg hat, will ich an zwei Beispielen illustrieren: Die Städte Schwedt und Eisenhüttenstadt sind zu DDR-Zeiten als Industriestädte entstanden. Nur mit großen finanziellen Anstrengungen ist es der Landesregierung gelungen, nach 1989 die industriellen Kerne Petrolchemie (Schwedt) und Stahlindustrie (Eisenhüttenstadt) zu erhalten. Wäre dies nicht gelungen, gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass beide Städte einen dramatischen Verelendungsprozess durchlaufen hätten. Uns allen muss bewusst sein, dass wir in Brandenburg, ja in ganz Deutschland auch in Zukunft industrielle Produktion brauchen, wenn wir unser jetziges Wohlstandsniveau halten wollen. Das hat Voraussetzungen: eine ausreichende Anzahl gut qualifizierter Beschäftigter, eine sichere und bezahlbare Energieversorgung und eine gute Forschungslandschaft gehören dazu. In unserem Schwerpunkt diskutieren wir, wie Politik diese Voraussetzungen sichern helfen kann. Dieses Heft hat im Magazinteil noch einen zweiten Schwerpunkt. In diesem Jahr feiert die SPD am 23. Mai ihren 150.Geburtstag und es jährt sich zum 80. Mal der Beginn der Terrorherrschaft der Nazis. Beide Jahrestage sind uns Anlass genug, mit einigen Beiträgen daran zu erinnern. Wie die SPD, so gehen auch wir mit der Zeit. Zwar ist die Perspektive 21 sicherlich nicht 150 Jahre alt. Aber nach neun Jahren fanden wir, dass es an der Zeit war, unser Layout ein wenig zu modernisieren. Funktional, konzentriert und frisch – so wollen wir unsere Zeitschrift sehen. Und wir hoffen, dass Sie das als Leserinnen und Leser genauso empfinden.
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Ich wünsche eine erhellende Lektüre! Ihr Klaus Ness
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IMPRESSUM
Herausgeber – SPD-Landesverband Brandenburg – Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive 21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Herstellung Gestaltungskonzept, Layout & Satz: statement Designstudio, Berlin www.statementdesign.de Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH, Coswig (Anhalt) Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.
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INHALT
MAGAZIN 7
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150 Jahre SPD Eine kleine Chronik, zusammengestellt von Thomas Kralinski
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Die Ehre der deutschen Republik Vor achtzig Jahren hielten allein die Sozialdemokraten gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stand von Heinrich August Winkler
Die „Volksgemeinschaft“ als Terror und Traum Woher die durchaus vorhandene Zustimmung zum Nazi-Regime kam von Norbert Frei
DAS STRASSENSCHILD 37
Ehre, wem Ehre gebührt Christian Neusser über Otto Wels
SCHWERPUNKT WO ES STINKT UND KRACHT | WO UNSER WOHLSTAND HERKOMMT
41
Zukunft gibt’s nicht von allein Wie die vierte industrielle Revolution in Brandenburg gelingen kann von Ralf Holzschuher
65 Ungeliebt, begehrt und
doch nicht verstanden Die deutsche Industrie ist entscheidend für Wachstum und Beschäftigung von Philipp Fink
49 Zwei Seiten einer Medaille
Eckpunkte einer nachhaltigen Energie- und Rohstoffpolitik für den Industriestandort Deutschland von Ulrich Freese 55 Die industrielle
Produktion von morgen Wie eine Vision für die Hauptstadtregion aussehen kann von Ulrich Berger
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Wohlstand muss erwirtschaftet werden! Wie die kleinen und mittleren Unternehmen weiter für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen können von Andrea Wicklein
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MAGAZIN
150 Jahre SPD Eine kleine Chronik, zusammengestellt von Thomas Kralinski 19. Jahrhundert +++ Die rasante Industriealisierung Deutschlands führt zu Wohnungsnot, Hunger, Krankheiten, Kinderarmut und Bildungsarmut und somit zum Aufkommen der „sozialen Frage“ – die sich zunehmend politisch artikuliert. 1863 +++ Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle in Leipzig ist die Geburtsstunde der Sozialdemokratie. Ein wichtiges Ziel waren freie und geheime Wahlen sowie Bildung für alle. Ein Jahr später hat der Verein bereits fast 5.000 Mitglieder. 1864 +++ Lassalle gründet mit Unterstützung u. a. von Friedrich Engels und Karl Marx die Zeitschrift „Der Sozial-Demokrat“, die zum offiziellen Organ des ADAV wird. 1866 +++ „Der Sozial-Demokrat“ veröffentlicht ein „Programm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands“. Zentrale Ziele: ein geeintes Deutschland, freie Wahlen und die Lösung der sozialen Frage. 1869 +++ August Bebel und Wilhelm Liebknecht gründen in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP). 1875 +++ Der ADAV mit seinen 15.000 Mitgliedern und die SDAP (9.000 Mitglieder) vereinigen sich in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Die zentralen Ziele des „Gothaer Programms“ sind Bildung, gleiches Wahlrecht für alle, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Schutz der Arbeiter. 1876 +++ Die Sozialdemokraten gründen in Leipzig eine Parteizeitung: Der Vorwärts. 1877 +++ Erstmals hält August Bebel eine Rede über die „Stellung der Frau im heutigen Staat und im Sozialismus“. Er fordert die Frauen auf, sich an den nächsten Reichstagswahlen zu beteiligen.
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MAGAZIN
1878 +++ Mit den Sozialistengesetzen wird die SAP verboten. Gleichzeitig entwickeln sich die Parteistrukturen in der Verbotszeit besonders intensiv, so in Bildungs-, Sport- und Naturvereinen. Auch die Zahl der Wähler steigt trotz Verbot. 1883 +++ Reichskanzler Bismarck versucht mit seiner Sozialgesetzgebung die soziale Frage zu entschärfen. Er schafft die Krankenversicherung, später die Unfall- und Rentenversicherung. Die Arbeiterbewegung wird dadurch jedoch nicht gebremst. 1890 +++ Die Sozialistengesetze werden aufgehoben, das Verbot der SAP beendet. Die Partei gibt sich auf einem Parteitag in Halle einen neuen Namen: SPD. +++ Mit 19,8 Prozent wird die SPD bei den Reichstagswahlen die wählerstärkste Partei. Paul Singer bildet mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Folgejahren das „Dreigestirn“ der SPD. 1891 +++ Die SPD verabschiedet in Erfurt ihr neues Grundsatzprogramm. Darin wird erstmals das Wahlrecht für Frauen und die Gleichstellung von Männern und Frauen gefordert. 1899 +++ Eduard Bernstein und Karl Kautsky beginnen einen Programmstreit über die Frage, ob die SPD ihre Ziele durch „Revolution“ oder „Reformen“ anstrebt. Dieser Theoriestreit wird die SPD viele Jahre beschäftigen. 1900 +++ Unter Clara Zetkin und Ottilie Baader findet die erste Konferenz der sozialdemokratischen Frauen in Mainz statt. 1906 +++ Erstmals gibt es eine genaue Mitgliedszahl der SPD: 384.327. Der Parteivorstand hat 16 Parteisekretäre angestellt. Der „Vorwärts“ hat 112.000 Abonnenten. +++ Im „Mannheimer Abkommen“ mit den Gewerkschaften entscheidet sich die SPD gegen politische Massenstreiks, allein die Gewerkschaften sollen über Streiks entscheiden. +++ Die Parteischule der SPD wird gegründet. In ihr werden Sozialdemokraten ein halbes Jahr auf Kosten der Partei geschult und auf das Regieren vorbereitet. 1908 +++ In Preußen, Sachsen und anderen Teilen Deutschlands kommt es – wie auch in den Folgejahren – immer wieder zu von der SPD veranstalteten Massendemonstrationen gegen das geltende Wahlrecht.
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150 JAHRE SPD
Wahlergebnisse der SPD in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland in Prozent
45,8 42,7
42,6 42,9 40,9
39,3 37,9
36,2
38,2
38,5 37,0
36,4 34,2 33,5
29,8
29,2
26,0
31,8 28,8
24,5 21,7
20,5
21,6
23,0
21,9 20,4 18,3
1919 1920 1924 1924 1928 1930 1932 1932 1933 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1990 1994 1998 2002 2005 2009 I II I II (VK) (BT)
1911 +++ Zum ersten Mal wird der sozialdemokratische „Frauentag“ – damals noch am 19. März – durchgeführt. Sein Motto: Volles Bürgerrecht für die Frau. +++ Zum ersten Mal gibt es eine sozialdemokratische Mehrheit in einem deutschen Landtag, dem von Schwarzburg-Rudolstadt. Die SPD bekommt neun von 17 Sitzen. 1912 +++ Bei den Wahlen wird die SPD erstmals stärkste Fraktion im Reichstag. Die SPD hat erstmals über eine Million Mitglieder. 1913 +++ Nach dem Tode August Bebels werden Friedrich Ebert und Hugo Haase Parteivorsitzende. +++ Die SPD hat 983.000 Mitglieder, darunter 141.000 Frauen. Es erscheinen 90 Parteizeitungen täglich, deren Gesamtauflage 1,5 Millionen beträgt. Der „Vorwärts“ hat 157.000 Abonennten, „Der Wahre Jacob“ 371.000. 1914 +++ Die SPD-Reichstagsfraktion stimmt für die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg und begründet dies mit der „Verteidigung des Landes“. Die innerparteiliche Auseinandersetzung darüber führt letztlich zur Gründung der USPD 1917.
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1918 +++ Der erste Weltkrieg ist zu Ende, der Kaiser wird gestürzt. Der Sozialdemokrat Philip Scheidemann ruft am 9. November die Republik aus. +++ Die (Mehrheits-) SPD bildet mit der USPD einen „Rat der Volksbeauftragten“ als Übergangsregierung. 1919 +++ Die SPD führt das Frauenwahlrecht und den 8-Stunden-Tag ein. +++ Die SPD gewinnt die ersten Reichstagswahlen der Weimarer Republik. Mit Friedrich Ebert wird ein Sozialdemokrat erster Präsident. Er stirbt 1925 im Amt. +++ In einer Koalition aus SPD, Zentrum und Liberalen wird die neue Weimarer Reichsverfassung verabschiedet. +++ Otto Wels wird Vorsitzender der SPD und bleibt bis zum Verbot der SPD 1933 im Amt. +++ Mit Marie Juchacz redet zum ersten Mal eine Frau in einem deutschen Parlament. Im gleichen Jahr gründet sie die Arbeiterwohlfahrt, der sie bis 1933 vorsitzt. 1920 +++ Die SPD stellt bis 1932 mit Otto Braun den Ministerpräsidenten in Preußen, dem größten deutschen Teilstaat. Er entwickelt sich zum „Bollwerk der Demokratie“ in der Weimarer Republik. +++ Der Kapp-Putsch gegen die Republik wird von SPD, USPD und Gewerkschaften niedergeschlagen. +++ Die SPD hat 1,2 Millionen Mitglieder, davon über 200.000 Frauen. Sie unterhält 91 Parteizeitungen mit zusammen über 1,2 Millionen Abonnenten. 1921 +++ Die SPD verabschiedet ihr viertes Grundsatzprogramm in Görlitz. Darin bekennt sie sich zur Republik und spricht erstmals auch gesellschaftliche Gruppen jenseits der Arbeiter an. Der 1. Mai und 9. November sollen Feiertage werden. 1922 +++ Die Jugendverbände von SPD und USPD vereinigen sich zur „Sozialistischen Arbeiterjugend – Die Falken“. +++ Der größte Teil der USPD kehrt zur SPD zurück. 1925 +++ Nach dem Tod Friedrich Eberts wird die Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet. +++ Die SPD beschließt ihr neues Grundsatzprogramm in Heidelberg. Darin bekennt sie sich zu den „Vereinigten Staaten von Europa“. 1927 +++ Das erste Agrarprogramm der SPD wird veröffentlicht. Es beinhaltet u. a. eine Bodenreform, ein Kleingartengesetz, den Ausbau des ländlichen Volkschulwesens und Bildung für Agrararbeiter sowie Unterstützung bei der Verbreitung von moderner Technik.
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150 JAHRE SPD
Die Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratie SPD 1890-1911 1890-1892 1892-1913 1911-1916 1913-1919 1917-1919 1919-1939 1919-1928 1922-1933 1931-1945 1945-1952 1952-1963 1964-1987 1987-1991 1991-1993 1993-1995 1995-1999 1999-2004
Paul Singer Alwin Gerisch August Bebel Hugo Haase Friedrich Ebert Philipp Scheidemann Otto Wels Hermann Müller Arthur Crispien Hans Vogel Kurt Schumacher Erich Ollenhauer Willy Brandt Hans-Jochen Vogel Björn Engholm Rudolf Scharping Oskar Lafontaine Gerhard Schröder
2004-2005 2005-2006 2006-2008 2008-2009 seit 2009
Franz Müntefering Matthias Platzeck Kurt Beck Franz Müntefering Sigmar Gabriel
SPD in der sowjetischen Besatzungszone 1945-1946 Otto Grotewohl SDP/SPD in der DDR 1989-90 Stephan Hilsberg 1990 Ibrahim Böhme 1990 Markus Meckel 1990 Wolfgang Thierse Ehrenvorsitzender 1987-1992 Willy Brandt
1928 +++ Die SPD gewinnt die Reichstagswahlen und bildet eine breite Koalitionsregierung unter Reichskanzler Hermann Müller. Die Regierung scheitert 1930 an der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise. 1931 +++ Die „Eiserne Front“ aus SPD, Gewerkschaften, Reichsbanner SchwarzRot-Gold und Arbeitersportverbänden wird gegründet – ihr Ziel ist die Abwehr der Faschisten. Die SPD hat 1,0 Millionen Mitglieder. Die Gewerkschaften haben 4,1 Millionen, davon sind 43 Prozent arbeitslos, 22 Prozent arbeiten kurz. 1932 +++ Um Hitler zu schlagen unterstützt die SPD Paul von Hindenburg bei seiner Wiederwahl zum Reichspräsidenten. +++ In Ländern, in denen die NSDAP die Mehrheit hat, werden sozialdemokratische Zeitungen, wie der Vorwärts verboten. +++ Die preußische Regierung unter Otto Braun wird per Notverordnung abgesetzt („Preußenschlag“). Braun versucht dies – erfolglos – auf gerichtlichem
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Weg zu verhindern. Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg verzichtet die SPD auf den Aufruf zu einem Generalstreik. 1933 +++ Im Januar wird Hitler mit Unterstützung bürgerlicher Parteien Reichskanzler. +++ In der letzten freien Rede im Reichstag begründet SPD-Chef Otto Wels am 23. März die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD. Das Gesetz wird nur von den 94 SPD-Abgeordneten abgelehnt. 26 SPD-Abgeordnete sind zu diesem Zeitpunkt bereits verhaftet oder auf der Flucht. +++ Im Juni wird die SPD durch die Nazis verboten, worauf es zur Auflösung der Partei kommt. Im Juli werden sämtliche Parlamentsmandate im Reichstag, in den Ländern und Kommunen aufgehoben. Viele Sozialdemokraten werden in „Schutzhaft“ genommen oder in Konzentrationslager verschleppt. +++ Die Exilorganisation der SPD, die SOPADE, wird in Prag gegründet. Später verlagert sie ihren Sitz nach Paris und London. 1934 +++ Die Exil-SPD (SOPADE) ruft im „Prager Manifest“ zum Sturz Hitlers auf. 1944 +++ Einige Sozialdemokraten, wie Wilhelm Leuschner und Julius Leber, sind an den Vorbereitungen zum Putsch gegen Hitler am 20. Juli beteiligt und gehören dem Kreisauer Kreis an. 1945 +++ In Hannover erfolgt unter Kurt Schumacher die Wiedergründung der SPD für die Westzonen. +++ In der Ostzone beginnt der Wiederaufbau der SPD mit dem „Zentralausschuss“ unter Otto Grotewohl. 1946 +++ In der amerikanischen Besatzungszone wird die Verschmelzung von SPD und KPD abgelehnt. +++ In der Sowjetischen Besatzungszone hat die SPD 600.000 Mitglieder und wird zur Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED gedrängt. In OstBerlin existiert die SPD noch bis 1961. +++ Nach den ersten Landtagswahlen beteiligt sich die SPD an allen neuen Landesregierungen. Ihre Regierungschefs werden zu prägenden Figuren des Wiederaufbaus: so zum Beispiel Ernst Reuter (Berlin), Georg August Zinn (Hessen), Max Brauer (Hamburg), Wilhelm Kaisen (Bremen), Wilhelm Hoegner (Bayern). +++ Die SPD hat 630.000 Mitglieder in 7.500 Ortsvereinen. 1949 +++ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entsteht unter großem Einfluss der SPD. +++ Bei den ersten Bundestagswahlen unterliegt die SPD der CDU nur knapp und geht daraufhin in die Opposition. +++ Der Parteivorstand
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erlässt neue Richtlinien für die Arbeit der Jungsozialisten – ihre Altersgrenze wird bei 30 Jahren festgelegt. +++ Die SPD lehnt die von Bundeskanzler Adenauer vorgeschlagene Wiederbewaffnung Deutschlands kategorisch ab. 1951 +++ Der SPD-Parteivorstand verlegt seinen Sitz von Hannover nach Bonn. 1952 +++ Nach dem Tod von Kurt Schumacher wird Erich Ollenhauer Vorsitzender der SPD. 1953 +++ Nach der Niederlage bei der 2. Bundestagswahl beginnt mit Carlo Schmids „Erklärung zur Lage der Sozialdemokratie“ eine Debatte um die Zukunft der SPD als Volkspartei, die über die Arbeiterschaft hinaus attraktiv werden und sich von einer Weltanschauungspartei wegbewegen will. 1956 +++ Die SPD widersetzt sich der Einführung der Wehrpflicht, da diese die deutsche Spaltung vertiefe. 1957 +++ Die SPD unterstützt die Römischen Verträge zur Schaffung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1959 +++ Die SPD verabschiedet das „Godesberger Programm“ und entwickelt sich damit zur Volkspartei. Sie akzeptiert die Westbindung und die soziale Marktwirtschaft und wird so für breitere Wählerschichten wählbar. 1961 +++ „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ – mit diesem visionären Satz führt der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt ein neues Thema in die Bundespolitik ein: den Umweltschutz. +++ Nach dem Mauerbau schließt in Ost-Berlin das letzte verbliebene Büro der SPD. +++ Die CDU verliert bei der Bundestagswahl zwar ihre absolute Mehrheit, der SPD gelingt jedoch trotz großer Stimmengewinne auch beim vierten Anlauf der Machtwechsel nicht. 1962 +++ In Folge der Spiegel-Affäre kommt es erstmals zwischen CDU und SPD zu Gesprächen über die Bildung einer Großen Koalition, die aber nicht zum Erfolg führen. 1963 +++ Egon Bahr hält seine „Tutzinger Rede“, in der er erstmals die Konturen einer neuen Ostpolitik nach dem Prinzip „Wandel durch Annäherung“ umreißt.
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MAGAZIN
Staatsoberhäupter und Regierungschefs der SPD in Deutschland 1919-1925 1969-1974 1999-2004
Reichspräsident Friedrich Ebert Bundespräsident Gustav Heinemann Bundespräsident Johannes Rau
1918-1919 1919 1919-1929 1920 und 1928-1930 1969-1974 1974-1982 1998-2005
Reichskanzler Friedrich Ebert Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann Reichskanzler Gustav Bauer Reichskanzler Hermann Müller Bundeskanzler Willy Brandt Bundeskanzler Helmut Schmidt Bundeskanzler Gerhard Schröder
Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, gelingt der Abschluss eines ersten Passierscheinabkommens mit der DDR-Regierung. Damit sind erstmals seit dem Mauerbau für West-Berliner Familienbesuche in Ost-Berlin möglich. 1964 +++ Nach dem Tod von Erich Ollenhauer wird Willy Brandt Parteivorsitzender, er trat bereits 1961 für die SPD als Kanzlerkandidat an. 1966 +++ Die SPD bildet mit der CDU eine Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger. Sie ist damit erstmals nach dem Krieg an einer Bundesregierung beteiligt. Willy Brandt wird Außenminister und Vizekanzler. Der Großen Koalition gelingt es, die erste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik schnell zu lösen. 1969 +++ Mit Gustav Heinemann wird erstmals ein Sozialdemokrat Bundespräsident. Er bleibt bis 1974 im Amt. +++ Erstmals seit 1928 ist ein Sozialdemokrat wieder deutscher Regierungschef: Willy Brandt wird Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition, deren Motto „Mehr Demokratie wagen“ ist. 1970 +++ Der Bundestag beschließt, das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre zu senken. +++ Der „Warschauer Vertrag“ wird unterzeichnet, er sieht die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens vor. Vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniet Bundeskanzler Willy Brandt für eine Gedenkminute nieder.
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1971 +++ Willy Brandt wird mit dem Friedensnobelpreis für seine Ostpolitik ausgezeichnet. Sie trägt maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges bei. 1972 +++ Nach der Neuwahl des Bundestages ist die SPD erstmals stärkste Kraft und fährt mit knapp 46 Prozent den größten Wahlsieg ihrer Geschichte ein. Die neu gebildete Koalition mit der FDP setzt ihr Reformprogramm im Bereich der Familien-, Bildungs- und Rechtspolitik fort. +++ Die Sozialdemokratin Annemarie Renger ist die erste Frau weltweit, die Präsidentin eines Parlaments wird. 1974 +++ Nach dem Rücktritt Willy Brandts wird Helmut Schmidt Bundeskanzler. Er setzt die gesellschaftliche Liberalisierung fort. 1976 +++ Die SPD hat erstmals nach dem Krieg über eine Million Mitglieder. Allein 1976 wurden 68.000 neue Mitglieder aufgenommen, zwei Drittel von ihnen sind unter 35 Jahre alt. 1977 +++ In Deutschland finden erste Großkundgebungen gegen Kernkraftwerke, u. a. in Brokdorf und Grohnde, statt. +++ Die Attentate der RAF finden im „deutschen Herbst“ ihren Höhepunkt. Bundeskanzler Helmut Schmidt legt Wert auf eine rechtsstaatliche Bekämpfung der RAF. 1980 +++ Die SPD gewinnt zum vierten Mal in Folge die Bundestagswahl, Helmut Schmidt bleibt Bundeskanzler. 1982 +++ Helmut Schmidt wird nach dem Koalitionswechsel der FDP durch ein Misstrauensvotum als Bundeskanzler gestürzt. Damit endet die 16-jährige Regierungszeit der SPD. 1986 +++ Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl beschließt die SPD den Ausstieg aus der Atomkraft. 1987 +++ Nach über 23 Jahren legt Willy Brandt den Parteivorsitz nieder. Er wird Ehrenvorsitzender der SPD. Hans-Jochen Vogel wird SPD-Vorsitzender. 1989 +++ 30 mutige Frauen und Männer gründen am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) in Schwante bei Berlin. Damit wird der Machtan-
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spruch der SED offen in Frage gestellt. +++ Am 9. November fällt die Mauer. Einen Tag später sagt Willy Brandt den berühmten Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ +++ In Berlin beschließt die (West-)SPD ihr neues Grundsatzprogramm. Mit ihm will sie ökologische Modernisierung mit wirtschaftlichem Wachstum verbinden. 1990 +++ Auf einem Parteitag in Leipzig benennt sich die SDP in SPD um. +++ Nach den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR tritt die SPD in die Regierung de Maiziere ein. +++ Am 27. September findet der Vereinigungsparteitag von (Ost-) und (West-)SPD statt. Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen verliert die SPD deutlich. +++ Bei den ersten Landtagswahlen in Ostdeutschland gewinnt die SPD nur in Brandenburg. Manfred Stolpe wird dort Ministerpräsident. 1991 +++ Nach dem Rücktritt von Hans-Jochen Vogel wird Björn Engholm neuer Parteivorsitzender. 1993 +++ Zum ersten Mal findet ein Mitgliederentscheid über den neuen SPDVorsitzenden statt, den Rudolf Scharping gewinnt. +++ Mit der Sozialdemokratin Heide Simonis wird in Schleswig-Holstein erstmals eine Frau Ministerpräsidentin eines Bundeslandes. 1995 +++ Auf dem Mannheimer Parteitag wird Oskar Lafontaine in einer Kampfabstimmung zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt. 1998 +++ Die SPD gewinnt die Bundestagswahl und stellt nach 16 Jahren mit Gerhard Schröder wieder den Bundeskanzler in einer rot-grünen Koalition. Sie verfolgt eine Politik der gesellschaftlichen Modernisierung und setzt den Atomausstieg durch. 1999 +++ Nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine wird Gerhard Schröder Parteivorsitzender. +++ Die rot-grüne Bundesregierung entscheidet, dass erstmals nach dem Krieg die Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Ausland – im Kosovo – beteiligt wird. +++ Mit Johannes Rau wird der zweite Sozialdemokrat Bundespräsident. Er ist bis 2004 im Amt. 2003 +++ Nach seiner Wiederwahl stellt Gerhard Schröder die „Agenda 2010“ vor. Mit dem wirtschafts- und sozialpolitischen Reformprogramm wird die Basis für die
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Halbierung der Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland gelegt. Im Streit um die „Agenda 2010“ verliert die SPD viele Mitglieder. 2004 +++ Gerhard Schröder gibt den Parteivorsitz an Franz Müntefering ab. Müntefering wird das Amt 2008 ein zweites Mal übernehmen. 2005 +++ Nach der Bundestagswahl tritt die SPD in eine Große Koalition unter Angela Merkel ein. Franz Müntefering wird Vizekanzler, Matthias Platzeck SPDVorsitzender. Die Große Koalition führt das Elterngeld ein, beschließt den Ausbau der Kleinkinderbetreuung und die Rente mit 67. 2006 +++ Nachdem Matthias Platzeck aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten ist, wird Kurt Beck neuer SPD-Vorsitzender. 2007 +++ In Hamburg beschließt die SPD ihr achtes Grundsatzprogramm, in dessen Kern das Prinzip des „vorsorgenden Sozialstaates“ steht. 2009 +++ Die SPD verliert die Bundestagswahl und geht nach elf Jahren wieder in die Opposition. Sigmar Gabriel wird neuer Parteivorsitzender. 2011 +++ Mit einer umfassenden Parteireform werden die Strukturen der SPD gestrafft und Beteiligungsrechte ausgebaut. 2013 +++ Mit der gewonnenen Niedersachsen-Wahl erobert die SPD erstmals seit 1999 wieder die Mehrheit im Bundesrat. Sie stellt neun Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. |
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HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK
Die Ehre der deutschen Republik Vor achtzig Jahren hielten allein die Sozialdemokraten gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stand — Von Heinrich August Winkler reiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: Kein Satz aus der Rede, mit der Otto Wels am 23. März 1933 das Nein der Sozialdemokraten zu dem sogenannten Ermächtigungsgesetz begründete, hat sich der Nachwelt so eingeprägt wie dieser. Was Wels der deutschen Sozialdemokratie zur Ehre anrechnete, waren vor allem die Leistungen, die die SPD in der Weimarer Republik erbracht hatte. Der Parteivorsitzende nannte „unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete“; er verwies darauf, dass die Sozialdemokraten an einem Deutschland mitgewirkt hätten, „in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht“. Die Weimarer Verfassung sei keine sozialistische Verfassung, wohl aber eine Verfassung, die auf den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung und des sozialen Rechts beruhe – Grundsätzen, die einen unabdingbaren Teil des politischen Glaubensbekenntnisses der Sozialdemokraten ausmachten.
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Demokratie braucht Arbeiterschaft und Bürgertum Wels’ Rückblick auf die erste deutsche Republik war eine Antwort auf das Zerrbild, das Hitler von Weimar zeichnete. „Vierzehn Jahre Marxismus haben Deutschland ruiniert“ – so lautete die plakative Formel im Aufruf der Regierung Hitler an das deutsche Volk vom 1. Februar 1933. Natürlich war die Weimarer Republik nie eine marxistische gewesen, nicht einmal eine sozialdemokratische Republik. Aber ohne die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hätte es die erste deutsche Demokratie nicht gegeben.
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MAGAZIN
An ihrem Anfang stand der Entschluss der SPD, die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte fortzusetzen, zu der sich die Mehrheitssozialdemokraten während des Ersten Weltkriegs durchgerungen hatten. Es bedurfte dazu der Abkehr von jenem entschiedenen Nein zu Koalitionen mit bürgerlichen Parteien, auf das sich die SPD und unter ihrer Führung die Parteien der Zweiten Internationale im Jahr 1900 festgelegt hatten. Die Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich 1916/17 auf Grund ihrer Gegnerschaft zur Bewilligung von Kriegskrediten von der Mutterpartei abgespalten hatten, beharrten hingegen auf der Vorkriegsposition. Auf paradoxe Weise war die Spaltung der Sozialdemokraten also beides: eine Vorbelastung und eine Vorbedingung der ersten deutschen Demokratie. Eine Vorbelastung, weil Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung ihren Gegnern höchst gelegen kamen, eine Vorbedingung, weil eine parlamentarische Demokratie ohne die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum nicht möglich war.
Selbstmord aus Furcht vor dem Tod? Nach dem Untergang Weimars hielten sich viele führende Sozialdemokraten wirkliche oder vermeintliche Versäumnisse und Fehlentscheidungen der ersten Stunde vor. Die SPD hätte in der revolutionären Übergangszeit zwischen der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 weniger bewahren müssen und mehr verändern können, und das vor allem im Hinblick auf die Unterordnung des Militärs unter die zivile Staatsgewalt und die Ablösung antirepublikanischer Beamter namentlich in Ostelbien. An der Richtigkeit der Grundsatzentscheidung für die rasche Wahl einer Konstituante und für die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte aber gab es auch im Rückblick nichts zu deuteln. Ohne diese Selbstfestlegungen wäre nichts von dem zustande gekommen, was Otto Wels am 23. März 1933 zu den historischen Leistungen der Weimarer Republik rechnete. Von den 14 Jahren der ersten deutschen Republik entfielen elf auf die Zeit der parlamentarischen Demokratie. Sie endete am 27. März 1930 mit der Auflösung der letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller, eines Kabinetts der Großen Koalition, die von der SPD bis hin zur unternehmernahen Deutschen Volkspartei, der Partei des 1929 verstorbenen Gustav Stresemann, reichte. Die SPD hätte durch mehr Kompromissbereitschaft bei der Sanierung der Arbeitslosenversicherung das Scheitern der
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HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK
Regierung Müller verhindern können. Dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion sich anders entschied, trug ihr heftigen Widerspruch seitens der unterlegenen Minderheit ein. Rudolf Hilferding, der zweimalige Reichsfinanzminister und theoretische Kopf der Partei, kam damals schon zu dem Schluss, die Sozialdemokraten hätten gut daran getan, sich nochmals mit den bürgerlichen Parteien zu verständigen, statt „aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben“. Auf die parlamentarische Demokratie folgte die Zeit der Präsidialkabinette, des Regierens mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei in der Reichstagswahl vom 14. September 1930 beschlossen die Sozialdemokraten, das Minderheitskabinett des Reichskanzlers Heinrich Brüning aus der katholischen Zentrumspartei zu tolerieren. Dass sie diesen Kurs bis zur Entlassung Brünings Ende Mai 1932 durchhielten, gehört zu den damals und später leidenschaftlich umstrittenen Entscheidungen der Weimarer SPD. Für die unpopuläre Tolerierungspolitik gab es zunächst zwei Gründe: Die Sozialdemokraten wollten erstens eine weiter rechts stehende, von den Nationalsozialisten abhängige Reichsregierung verhindern. Zweitens ging es ihnen darum, in Preußen, dem größten deutschen Staat, an der Regierung zu bleiben. An der Spitze eines Kabinetts der „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei, die sich seit 1930 Deutsche Staatspartei nannte, stand dort der Sozialdemokrat Otto Braun. Hätte die SPD Brüning gestürzt, wäre Braun vom Zentrum zu Fall gebracht worden. Mit der Regierungsmacht in Preußen hätten die Sozialdemokraten die Kontrolle über die preußische Polizei verloren, das wichtigste staatliche Machtinstrument im Kampf gegen Umsturzbestrebungen von rechts und links außen.
Mit dem Zentrum sollte Hitler verhindert werden Zu diesen beiden Gründen der Tolerierungspolitik trat im Lauf der Zeit noch ein dritter hinzu: Im Frühjahr 1932 sollte die Volkswahl des Reichspräsidenten stattfinden. Je stärker die Nationalsozialisten wurden, desto mehr wuchs die Gefahr, dass sie den Mann an der Spitze des Reiches stellen, also ins Machtzentrum vorstoßen könnten. Nur zusammen mit dem Zentrum und der übrigen bürgerlichen Mitte ließ sich verhindern, dass Weimar auf diese Weise zugrunde ging. Die Kommunisten bekannten sich zum revolutionären Bürgerkrieg und zur Errichtung von „Sowjetdeutschland“. Hätte die SPD auf eine linke Einheitsfront gesetzt, wäre dies das Ende jedweder Art von Machtbeteiligung gewesen. Die SPD
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hätte einen erheblichen Teil ihrer Wähler und Mitglieder verloren und noch mehr verschreckte bürgerliche Wähler in die Arme der Nationalsozialisten getrieben. Die Vorstellung, man könne auf diese Weise die Demokratie retten, war angesichts des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen SPD und KPD reines Wunschdenken, ja nach Einschätzung der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Wels ein Ausdruck von politischem Abenteurertum.
Die „tragische Situation“ der SPD Die Tolerierung der Regierung Brüning war eine Politik ohne verantwortbare Alternative, aber auch nicht mehr als eine Politik des kleineren Übels. Ihre Kehrseite war die Radikalisierung der Massen, die entweder den Kommunisten oder, in sehr viel größerer Zahl, den Nationalsozialisten zuströmten. Hitler zog einen zusätzlichen Vorteil daraus, dass er seine Partei als Alternative sowohl zu der bolschewistischen als auch zu der reformistischen Spielart des „Marxismus“ und als einzige systemverändernde Massenpartei rechts von den Kommunisten präsentieren konnte. Er sprach einerseits das verbreitete Ressentiment gegenüber der Demokratie an, die aus der Sicht der Rechten mit dem Makel der Niederlage von 1918 behaftet war und als Staatsform der Sieger des Westens, mithin als „undeutsch“, galt. Auf der anderen Seite appellierte er pseudodemokratisch an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts, das seit dem Übergang zum Präsidialsystem viel von seiner Wirkung verloren hatte. Hitler wurde also nach 1930 zum Hauptnutznießer der ungleichzeitigen Demokratisierung Deutschlands: der frühen Einführung eines demokratischen Reichstags-Wahlrechts und der späten Parlamentarisierung des Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von 1918. Das Dilemma der Sozialdemokratie hat Rudolf Hilferding im Juli-Heft 1931 der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift Die Gesellschaft in einem denkwürdigen Verdikt zusammengefasst. Er sprach von einer „tragischen Situation“ seiner Partei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom 14. September 1930 geschaffen hätten. „Der Reichstag ist ein Parlament gegen den Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbeiterschaft, für die Außenpolitik . . . Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt,
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das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt wird – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.“ Noch nicht dagewesen war auch die Zumutung, mit der die SPD im Frühjahr 1932 ihre Anhänger konfrontierte: die Parole „Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!“ So weit war es inzwischen mit Weimar gekommen. Der einzige Kandidat, der einen Reichspräsidenten Hitler verhindern konnte, war der monarchistische Amtsinhaber, der einstige kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Hätte dieser nicht, gestützt auf die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die bürgerlichen Wähler von der Mitte bis zur gemäßigten Rechten, im zweiten Wahlgang am 10. April 1932 über Hitler obsiegt, wäre das „Dritte Reich“ noch am gleichen Abend angebrochen. Zum Wendepunkt der deutschen Staatskrise wurde der 30. Mai 1932: der Tag, an dem Hindenburg den wichtigsten Betreiber seiner Wiederwahl, Reichskanzler Heinrich Brüning, entließ, um zwei Tage später das „Kabinett der Barone“ unter dem ehemaligen rechten Flügelmann der preußischen Zentrumspartei Franz von Papen zu berufen. Mit dem vom Reichspräsidenten, von der Reichswehrführung und dem ostelbischen Rittergutsbesitz betriebenen Rechtsruck endete die sozialdemokratische Tolerierungspolitik und mit ihr die erste, die gemäßigte Phase des Präsidialregimes. Die Kennzeichen der nun beginnenden zweiten Phase waren der offen zur Schau getragene autoritäre Antiparlamentarismus und das Bemühen um ein Arrangement mit den Nationalsozialisten.
In Preußen wurde Otto Braun entmachtet Zu den Forderungen Hitlers, die die neue Regierung sogleich erfüllte, gehörten die Aufhebung des im April verhängten Verbots von SA und SS und die Auflösung des im September 1930 gewählten Reichstages. Der Neuwahltermin wurde auf den 31. Juli 1932 festgelegt. Elf Tage vor der Wahl, am 20. Juli 1932, ließ der Reichspräsident auf dem Weg einer Reichsexekution nach Artikel 48 Absatz 1 der Reichsverfassung die Weimarer Koalition in Preußen, das Kabinett Otto Braun, absetzen, das seit der Landtagswahl vom 24. April über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügte und nur noch geschäftsführend im Amt war. Nur das Reich sei noch in der Lage, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Preußen wiederherzustellen: So lautete die offizielle Begründung des „Preußenschlags“. Der Aufruf der Sozialdemokraten, den Gewaltakt des 20. Juli 1932 am 31. Juli mit einer Stimme für die SPD zu beantworten, fand nicht das erhoffte Echo. Bei der
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Reichstagswahl stiegen die Nationalsozialisten mit einem Stimmenanteil von 37,4 Prozent zur stärksten Partei auf; die SPD kam auf 21,6, die KPD auf 14,3 Prozent. Das Ergebnis bedeutete eine Mehrheit gegen die Demokratie – eine negative Mehrheit aus Nationalsozialisten und Kommunisten, der man rechts auch noch die Stimmen der monarchistischen Deutschnationalen hinzurechnen musste. Von einer Mehrheit im Reichstag aber waren die Rechtsparteien weit entfernt.
Die Wahlniederlage der NSDAP Eine parlamentarische Krisenlösung wäre eine „braun-schwarze Koalition“ gewesen: ein auf die Einhaltung der Weimarer Verfassung festgelegtes Bündnis aus NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei, wie die beiden katholischen Parteien es anstrebten. Es scheiterte daran, dass Hitler auf der Bildung eines Präsidialkabinetts mit den Vollmachten des Artikels 48 bestand. Einen mit diesen Befugnissen ausgestatteten Reichskanzler Hitler aber lehnte Hindenburg zu diesem Zeitpunkt noch kategorisch ab. Hingegen war er bereit, den Reichstag unter Berufung auf einen Verfassungs- oder Staatsnotstand abermals aufzulösen, ohne gleichzeitig Neuwahlen innerhalb der verfassungsmäßigen Frist anzuordnen. Da die Regierung von Papen vor diesem Schritt aus Furcht vor einem Bürgerkrieg zurückschreckte, kam es am 6. November zur zweiten Reichstagswahl des Jahres 1932. Das Ergebnis dieser Wahl wirkte sensationell: Erstmals seit 1930 verloren die Nationalsozialisten an Stimmen. Gegenüber der Juli-Wahl büßte die NSDAP mehr als zwei Millionen Stimmen ein, während die Kommunisten fast 700.000 Stimmen hinzugewannen, was ihnen zur magischen Zahl von 100 Sitzen verhalf. Die SPD, so stellte Otto Wels vier Tage später im Parteiausschuss fest, habe im Verlauf des Jahres 1932 fünf Schlachten mit dem Ruf „Schlagt Hitler!“ geschlagen, „und nach der fünften war er geschlagen“. Die andere Seite des Wahlergebnisses kommentierte der Chemnitzer Bezirksvorsitzende Karl Böckel, ein Vertreter des linken Parteiflügels, in der gleichen Sitzung mit den Worten: „Wir sind im Endspurt mit den Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate zu verlieren, dann sind die Kommunisten stärker als wir.“ Die kommunistische Sicht brachte am 10. November die Prawda zum Ausdruck. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sah Deutschland unterwegs „zum politischen Massenstreik und zum Generalstreik unter der Führung der Kommunistischen Partei, zum Kampf um die proletarische Diktatur“.
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Mit ihrer Revolutionspropaganda schürten die Kommunisten die Angst vor dem Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu einer wichtigen Verbündeten Hitlers. Sie trug entscheidend dazu bei, dass die Niederlage der NSDAP vom 6. November 1932 um ihren politischen Sinn gebracht wurde und Hitler die Chance erhielt, sich als Retter vor der roten Revolution zu präsentieren. Im Januar 1933 gelang es Papen, der das Amt des Reichskanzlers inzwischen an den eher vorsichtig agierenden Reichswehrminister General Kurt von Schleicher hatte abgeben müssen, den Reichspräsidenten von seinem bisherigen klaren Nein zu einer Kanzlerschaft Hitlers abzubringen. Papen sprach nicht nur für sich, sondern auch für den rechten Flügel der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. Im gleichen Sinn versuchten Vertreter des hochverschuldeten ostelbischen Rittergutbesitzes und der Reichslandbund auf das Staatsoberhaupt einzuwirken. Ein von einer konservativen Kabinettsmehrheit „eingerahmter“ Reichskanzler Hitler erschien dem Kreis um Hindenburg, der vielzitierten „Kamarilla“, und schließlich dem Reichspräsidenten selbst als ungefährlichste, vielleicht sogar ideale Krisenlösung: Sie sollte den alten Eliten die Herrschaft und zugleich, in Gestalt der Nationalsozialisten als Juniorpartner, die lange ersehnte Massenbasis verschaffen.
Die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt Einen Zwang, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, gab es für Hindenburg nicht. Hindenburg hätte Reichskanzler von Schleicher auch nach dem zu erwartenden Misstrauensvotum einer negativen Reichstagsmehrheit geschäftsführend im Amt belassen oder einen möglichst wenig polarisierenden, „unpolitischen“ Nachfolger berufen können. Der mehrfach erwogene verfassungswidrige Aufschub einer Neuwahl war keineswegs die einzige Alternative zur Ernennung Hitlers. Dieser war zwar immer noch der Führer der größten Partei, von einer parlamentarischen Mehrheit nach den Wahlen vom 6. November aber weiter entfernt als nach der Wahl vom 31. Juli 1932. Dass er trotzdem am 30. Januar 1933 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, verdankte er jenem Teil der Machtelite, der seit langem darauf aus war, mit der verhassten Republik von Weimar radikal zu brechen. Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, war Deutschland schon kein Rechtsstaat mehr. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, am 28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, erlassen, hatte die wichtigsten Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft gesetzt. Die Wahlen erbrachten eine klare Mehrheit, nämlich 51,9 Prozent, für die Regierung Hitler: 43,9 Prozent für die
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NSDAP, acht Prozent für ihren Koalitionspartner, die „Kampffront Schwarz-WeißRot“. Eine Zweidrittelmehrheit für das von Hitler erstrebte Ermächtigungsgesetz aber war damit noch längst nicht erreicht. Um diese sicherzustellen, brach die sogenannte „Nationale Regierung“ die Verfassung: Sie behandelte die Mandate der Kommunisten als nicht existent, wodurch sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“ des Reichstags von 566 um 81 Mandate verminderte. Sodann änderte der Reichstag am 23. März seine Geschäftsordnung: Abgeordnete, die der Reichstagspräsident, der Nationalsozialist Hermann Göring, wegen unentschuldigten Fehlens von den Sitzungen ausschließen konnte, galten dennoch als „anwesend“. Selbst wenn die Abgeordneten der SPD geschlossen der Sitzung ferngeblieben wären, hätten sie nach dieser verfassungswidrigen Manipulation die Verfassungsänderungen nicht verhindern können.
Das Nein erforderte großen Mut Das Ermächtigungsgesetz gab der Reichsregierung pauschal das Recht, für die Dauer von vier Jahren Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung abwichen. Die einzigen „Schranken“ bestanden darin, dass die Gesetze die „Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats nicht als solche zum Gegenstand haben“ und nicht die Rechte des Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag und Reichsrat waren von der Gesetzgebung fortan ausgeschlossen. Das galt ausdrücklich auch für Verträge mit fremden Staaten. Die Gründe, die das Zentrum veranlassten, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, sind ein Thema für sich: Die Abgeordneten der zweitgrößten demokratischen Partei setzten auf die kirchenpolitischen Zusicherungen, die Hitler dem Parteivorsitzenden, dem Prälaten Kaas, mündlich gemacht hatte, auf deren schriftliche Bestätigung das Zentrum aber am 23. März, dem Tag der Abstimmung, vergeblich wartete. Die zu Splittergruppen gewordenen liberalen Parteien gingen ebenso wie die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, von der Annahme aus, dass eine „legale“ Diktatur ein kleineres Übel sei als die illegale Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzes drohte. Das Ja der bürgerlichen Parteien war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung. Das Nein der SPD war von der Regierung einkalkuliert, erforderte aber ein hohes Maß an Mut. Vor der Kroll-Oper, dem provisorischen Tagungsort des Reichstags, mussten sich die Abgeordneten, die nicht zum Regierungslager gehörten, ihren Weg durch grölende Massen von Parteigängern der Nationalsozialisten bahnen,
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aus deren Reihen Rufe wie „Zentrumsschwein“ und „Marxistensau“ ertönten. Im Innern des Gebäudes wimmelte es von Angehörigen der SA und SS, die besonders dort an den Saalausgängen postiert waren, wo die Sozialdemokraten saßen. An der Sitzung nahmen 93 von insgesamt 120 Abgeordneten der SPD teil. Als vierundneunzigster kam vor der Abstimmung noch der kurz zuvor verhaftete, inzwischen aber wieder freigekommene Carl Severing, der langjährige preußische Innenminister, hinzu. Von den Abwesenden waren einige bereits inhaftiert, darunter der Lübecker Abgeordnete Julius Leber, der auf dem Weg in den Reichstag festgenommen worden war. Von den Politikern jüdischer Abstammung hatten sich einige, wie zum Beispiel Hilferding, im Einvernehmen mit der Fraktionsführung wegen Krankheit entschuldigt; andere waren bereits emigriert. Ein Abgeordneter, der ehemalige Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann, war zwei Wochen zuvor von SA- und SSMännern in seiner Kölner Wohnung überfallen und zusammengeschlagen worden und lag seitdem im Krankenhaus. Otto Wels, der an Bluthochdruck litt, hatte sieben Wochen zuvor gegen den Rat seiner Ärzte das Sanatorium verlassen. Die Nationalsozialisten hätten die verfassungsändernde Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz auch ohne ihre verfassungswidrigen Maßnahmen vor der Abstimmung erreicht. Mit 444 Ja-Stimmen gegenüber 94 Nein-Stimmen nahm das Gesetz die entsprechende Hürde bequem. Die Macht hätte die NSDAP freilich auch dann nicht wieder aus der Hand gegeben, wenn das Ermächtigungsgesetz an der Barriere der verfassungsändernden Mehrheit gescheitert wäre. Die Verabschiedung des Gesetzes erleichterte die Errichtung der Diktatur aber außerordentlich. Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.
Weimar scheiterte an den bürgerlichen Parteien Hitlers Legalitätstaktik – sein Versprechen vom September 1930, die Macht nur auf legalem Weg zu übernehmen – war eine wesentliche Vorbedingung der Machtübertragung vom 30. Januar 1933, hatte an diesem Tag ihren Zweck jedoch noch nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde. Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war. Dem massiven Druck der Nationalsozialisten hielten allein die Sozialdemokraten stand. Dass nicht ein einziger Abgeordneter aus den Reihen der katholischen
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und der liberalen Parteien mit ihnen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, machte nochmals deutlich, woran Weimar letztlich gescheitert war: Der Staatsgründungspartei von 1918 waren die bürgerlichen Partner abhanden gekommen. Was die Sozialdemokraten, auf sich allein gestellt, noch zu tun vermochten, taten sie. Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik. |
PROF. DR. HEINRICH AUGUST WINKLER
ist emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.
Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 20. März 2013 vor der SPD-Bundestagsfraktion gehalten wurde und am 23. März in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.
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Die „Volksgemeinschaft“ als Terror und Traum Woher die durchaus vorhandene Zustimmung zum Nazi-Regime kam — Von Norbert Frei n das Faktum, dass die Nationalsozialisten nicht aus eigener Kraft an die Macht gelangten, wird in diesen Tagen vielfach erinnert. Und es ist ja richtig: Es hätte vor 80 Jahren auch anders ausgehen können. Deshalb kann es auch heute nicht verkehrt sein, sich vor Augen zu führen, wie viel damals von der Entscheidung eines Einzelnen abhing – nämlich vom Reichspräsidenten und vielleicht noch von einigen Wenigen, die auf ihn Einfluss hatten. Die Ernennung Hitlers war kein „Betriebsunfall“, wie nach 1945 oft entschuldigend gesagt worden ist, und dennoch war einiges an Zufall im Spiel. Das anzuerkennen scheint uns seit 1989/90 wieder leichter geworden zu sein: Seit wir in anderer Weise als zuvor offen sind für den Gedanken, dass Menschen Geschichte machen, und dass diese nicht nur aus Strukturen erwächst. Hindenburgs Entscheidung vom 30. Januar 1933 war weder Zufall noch Zwangsläufigkeit. Sie war bedacht und sie war gewollt, und sie hatte eine benennbare Logik auf ihrer Seite. In ihr kam eine Koalition von Kräften und Interessen zum Tragen, die trotz mancher Unterschiede ein gemeinsames Ziel verband: die Überwindung der parlamentarischen Demokratie.
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Hindenburgs Schwäche Aber Hindenburgs Entschluss war auch ein Zeichen der Schwäche. Er offenbarte den dramatischen Verlust an politischer Integrationsfähigkeit – vor allem an parteipolitischer Bindekraft –, der auf Seiten der Alten Rechten in den letzten Jahren der Weimarer Republik eingetreten war. Und zugleich bestätigte er die im Zeichen der ökonomischen Krise so rasant gewachsene soziale Attraktivität der nationalsozialistischen Bewegung. Dass Hitler in dem Moment Kanzler wurde, da es mit der NSDAP eigentlich abwärts und mit der Wirtschaft endlich wieder ein wenig aufwärts ging, bleibt bittere Ironie.
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Doch wir wissen ja auch, wie rasch es dem neuen Regime gelang, die gegnerischen politischen Strukturen zu zerschlagen oder „gleichzuschalten“, und wie letztlich gering der Widerstand war, auf den es dabei traf. Und wir wissen, wie schnell die Zustimmung wuchs, die es nach der Phase des unverhüllten Terrors schon seit dem Sommer 1933 fand. Diese Zustimmung war ein Gemisch aus persönlichen Erwartungen und allgemeinen Hoffnungen, aus Opportunismus und Angst, aus der Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen und zu glauben: nicht zuletzt an den Traum von der „Volksgemeinschaft“.
Die Wahlergebnisse entsprachen der Stimmung Als Hitler die Deutschen im November 1933 zum zweiten Mal binnen acht Monaten an die Wahlurnen rief, entfielen auf die Einheitsliste der NSDAP 92,2 Prozent der Stimmen. Noch höher, nämlich bei 95,1 Prozent, lag die gleichzeitig abgefragte Zustimmung zum Austritt aus dem Völkerbund. Solche Zahlen machten misstrauisch. Sie hätten, so konstatierte die linkssozialistische Widerstandsgruppe Neu Beginnen in einer internen Analyse, „auch kritische Beobachter des Auslandes dazu verleitet, dieses Ergebnis als gefälschtes oder auf unmittelbaren Zwang und Terror zurückzuführendes anzusehen“. „Dem liegt aber“, so heißt es weiter, „eine irrtümliche Auffassung über den wirklichen Einbruch faschistischer Ideologien in alle Klassen der deutschen Gesellschaft zugrunde. (...) Genaue Beobachtungen (...) zeigen, dass die Wahlergebnisse im großen und ganzen der wirklichen Stimmung entsprechen. Mögen auch in der Hauptsache in Landbezirken und kleineren Orten zahlreiche ,Korrekturen‘ vorgekommen sein. Das Gesamtergebnis zeigt einen ungemein raschen und starken Faschisierungsprozess der Gesellschaft an.“ Aus der Rückschau wissen wir, dass die Stimmung der Deutschen vorderhand gleichwohl labil blieb: Trotz eben demonstrierter Einigkeit, trotz der Geschwindigkeit, mit der sich das Gesicht des Landes verändert hatte, trotz der Radikalität, mit der eine politisch freie, in Maßen pluralistische Gesellschaft in eine konsequent als solche adressierte Gemeinschaft von „Volksgenossinnen und Volksgenossen“ umcodiert worden war. Kurz: trotz einer unbestreitbar effektiven Politik der Machtmonopolisierung und Machtsicherung. Im Spätwinter und Frühjahr 1934 zeigte sich allenthalben Unzufriedenheit – in der Wirtschaft, bei den Bauern, im Beamtenapparat und nicht zuletzt bei der Reichswehr, wo man die Machtansprüche der SA-Führung unter Ernst Röhm mit höchstem Miss-
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trauen beäugte. Diese veritable Krise beendete erst Hitlers doppelter Coup vom 30. Juni 1934: ein Blutbad gegen die konservativen Kritiker von rechts genauso wie gegen die Unzufriedenen in den eigenen Reihen, den Deutschen damals aber verkauft als die Vereitelung eines angeblichen Putschversuchs seines Duz-Freundes Röhm. Das erneute Plebiszit ein paar Wochen später, nach Hindenburgs Tod, bestätigte Hitler nicht nur in seiner nunmehr erreichten Omnipotenzstellung als Staatsoberhaupt, Regierungschef, Oberster Parteiführer und Oberbefehlshaber. Es bekräftigte darüber hinaus ein Funktionsprinzip des „Führerstaats“: Partizipation per Akklamation – mit einer Zustimmungsrate von 89,9 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 95,7 Prozent. Die „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis, von der in der Forschung neuerdings so gerne gesprochen wird – sie fand nicht zuletzt im Stimmlokal statt. Denn wie sagte doch der „Führer“ über den „Führerstaat“: „Das ist die schönste Art der Demokratie, die es gibt.“ Der Satz entstammt einer Rede vom April 1937, und man darf ihn als die frappierend ehrliche Auskunft eines Mörders lesen, der mit sich und seinen „Volksgenossen“ im Reinen war; der wusste, dass die Hitler-Begeisterung der Deutschen seit dem Sommer 1934 in phantastische Höhen gewachsen war. „Das Volk ist heute in Deutschland glücklicher als irgendwo in der Welt“, erklärte Hitler vor 800 Kreisleitern, die sich auf der „Ordensburg“ Vogelsang in der Eifel versammelt hatten.
Ein Reich der Chancengleichheit? Ein Jahr zuvor, nur wenige Wochen nach der vertragswidrigen Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch die Wehrmacht, hatte Hitler noch einmal eine „Reichstagswahl“ veranstalten lassen – diesmal mit einer Zustimmungsquote von 99 Prozent. Das Kalkül dahinter legte er nun offen: „Ich habe aber erst gehandelt. Erst gehandelt, und dann allerdings habe ich der anderen Welt nur zeigen wollen, dass das deutsche Volk hinter mir steht (...). Wäre ich der Überzeugung gewesen, dass das deutsche Volk vielleicht hier nicht ganz mitgehen könnte, hätte ich trotzdem gehandelt, aber ich hätte dann keine Abstimmung gemacht.“ Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle lebhaften Beifall, und diesen als Höflichkeitsapplaus zu deuten, wäre ein Fehler. Denn was Hitler seinen Unterführern zwei Stunden lang auseinandersetzte, das leuchtete damals den meisten Deutschen ein: „Man kann nur, glauben Sie, diese Krise der heutigen Zeit beheben durch einen wirklichen Führungs- und damit Führerstaat. Dabei ist es ganz klar, dass der Sinn einer solchen Führung darin liegt zu versuchen, auf allen Gebieten
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des Lebens durch eine natürliche Auslese, immer aus dem Volk heraus, die Menschen zu gewinnen, die für so eine Führung geeignet sind. Und das ist auch die schönste und in meinen Augen germanischste Demokratie. Denn was kann es Schöneres für ein Volk geben als das Bewusstsein: Aus unseren Reihen kann der Fähigste ohne Rücksicht auf Herkunft und Geburt oder irgendetwas anderes bis zur höchsten Stelle kommen. Er muss nur die Fähigkeit dazu haben. Wir bemühen uns, die fähigen Menschen zu suchen. Was sie gewesen sind, was ihre Eltern waren, was ihre Mütterchen gewesen sind, das ist gänzlich gleichgültig. Wenn sie fähig sind, steht ihnen jeder Weg offen.“ Kein Wort zwar über die Volkgemeinschaft – aber jede Menge Gründe dafür, in ihr ein Reich der Chancengleichheit zu erblicken! Die Sympathie, die Hitler und sein Regime in diesen mittleren Jahren erfuhren, beruhte nicht zuletzt auf solchen Parolen. Belege für diese affektive Bindekraft sind naturgemäß nicht ganz leicht zu erschließen. Was dazu in den Lage- und Monatsberichten der Behörden zu finden ist – von den Gendarmerieposten über die Landratsämter bis in die Innenministerien – unterliegt noch stets dem Verdacht der Schönfärberei. Breit angelegte Oral-History-Projekte, wie sie vor allem in den frühen achtziger Jahren von der Gruppe um Lutz Niethammer geführt worden sind, kamen dem Gefühlshaushalt der Zeitgenossen schon näher – ohne freilich das Problem lösen zu können, dass es erinnerte Emotionen waren, die in den lebensgeschichtlichen Interviews an die Oberfläche kamen.
Ein neues soziales Bewusstsein wird konstruiert Ich habe solche großen Befragungen nie gemacht, aber ich werde das Gespräch nicht vergessen, das ich als Doktorand mit einem eher wehmütigen als auf Selbstrechtfertigung erpichten Gau-Funktionär in Bayreuth führte. Plötzlich entfuhr es der Ehefrau, die dem Gespräch bis dahin still zugehört hatte: „Aber eines muss man sagen, beim Hitler wurden wir Bauersleut’ überhaupt zum ersten Mal estimiert.“ Dass der Traum von der „Volksgemeinschaft“ von seiner ständigen gezielten Aktualisierung lebte, lag in der Natur des Mobilisierungsregimes. Unentwegt wurden symbolische Loyalitätsbekundungen eingefordert. Darin hatte das offizielle „Heil Hitler“ seine Funktion, aber auch die Häufung öffentlicher Veranstaltungen, auf denen die Partei den „Volksgenossen“ Anerkennung zollte, sie aber auch stets aufs Neue zum Bekenntnis ihrer Zugehörigkeit zwang.
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Auf diese Weise wurde in den sogenannten Friedensjahren massenhaft soziales Bewusstsein verändert, wurden Klassen- und Standesdünkel vielleicht nicht beseitigt, aber delegitimiert und mentale Sperren aus dem Weg geräumt. Die so produzierte Regimeloyalität erzeugte ihrerseits eine Dynamik psychosozialer Kraftentfaltung, die sich als äußerst funktional im Sinne der NS-Ideologie erwies. Dass Leistung zählen sollte statt Herkommen und Rang, das machte die sozialen Integrationsangebote des Regimes für viele attraktiv und führte auch tatsächlich zu einer gewissen Egalisierung wenigstens von Aufstiegschancen. Gerade junge Arbeiter, die während der langen Wirtschaftskrise die Erfahrung bröckelnder Solidarität gemacht und darauf mit einer Abkehr von den gewerkschaftlichen Strukturen reagiert hatten, fühlten sich von den nationalsozialistischen Parolen angesprochen. Das umso mehr, als die schönen Worte nach Einsetzen der Hochkonjunktur – dem offiziellen Lohnstopp zum Trotz – durch eine deutliche Leistungslohn-Politik untermauert wurden.
„Wenn das der Führer wüsste“ Auch und gerade die NSDAP, so ist neuerdings argumentiert worden, habe als „Integrationsmaschine“ im Sinne der „Volksgemeinschaft“ funktioniert. Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Hunderttausende, für die es Aufgaben und Pöstchen gab in dem aufgeblähten Parteiapparat, ihre Pflichten nicht als Ausgrenzung verstanden, sondern im Gegenteil als sinnhaftes Wirken im Dienste einer großen Sache. Doch aus den geheimen Stimmungsberichten wissen wir, dass dies unter den sogenannten einfachen Volksgenossen häufig anders gesehen wurde: Zumal während des Krieges begegnete man den Repräsentanten der Partei vielfach mit Distanz, ja mit Geringschätzung angesichts ihrer Privilegien und ihrer Neigung, sich als Verkörperung des „Führerwillens“ aufzuspielen, und hinter vorgehaltener Hand gab es nicht selten harsche Kritik. In diesem Sinne war das durch Ian Kershaws Hitler-Biographie bekannt gewordene Tugendgebot eines zweitrangigen NS-Funktionärs durchaus populär. Allerdings genau andersherum, als es Werner Willikens seinerzeit meinte: Viele Volksgenossen hielten es für ausgemacht, dass die Partei nicht dem Führer entgegen-, sondern gegen den Willen des „Führers“ arbeitete. Der Satz: „Wenn das der Führer wüsste“ war der gängige Ausdruck der Unzufriedenheit und der Klage über Missstände, für die man die Schuld bei den Parteibonzen suchte. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Funktion der Parteiorga-
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nisation – wohlgemerkt nicht die Hitler-Jugend, deren sozialintegrative und mentalitätsprägende Bedeutung weitaus höher anzusetzen ist – doch zutreffender im Bild eines Puffers beschrieben als in dem einer „Integrationsmaschine“. Überhaupt meine ich, wir sollten die Funktionalität der „Volksgemeinschaft“ nicht überzeichnen. Denn eines ihrer Merkmale – und letztlich ihre Schwäche – war eine labile Grundstimmung, die zur fortwährenden Erzeugung sozialer Hochgefühle und zu deren ständiger Reaktualisierung zwang. Erinnert sei nur an die gekonnt inszenierten Olympischen Spiele von 1936, an das sozialpolitische Remmidemmi der sogenannten „guten Jahre“ vor dem Krieg – und nicht zuletzt an die Wohlstandsverheißungen für die Zeit danach, wie sie die Deutsche Arbeitsfront (DAF) seit 1940/41 ventilierte, etwa mit dem „Sozialwerk des Deutschen Volkes“. Das alles waren Bemühungen um positive Integration – Götz Aly würde von „Bestechung“ sprechen –, und das alles war nicht ohne Effekt. Aber es war nicht alles. Wenn die „Volksgemeinschaft“ über weite Strecken klag- und fraglos funktionierte, dann auch wegen des verbreiteten Wissens über die repressiven Möglichkeiten des Regimes – und wegen deren zu Teilen hoher Akzeptanz, ja Popularität.
Woher kamen Gewalt und Aggressionen? Dass, wer nichts leistet, auch nichts essen, und im Zweifelsfall im Lager zur Arbeit erzogen werden soll: Darauf konnte sich die „Volksgemeinschaft“ schnell verständigen, und wie wir wissen, auf noch vieles mehr. Ins Bild der „Volksgemeinschaft“ eingeschrieben war bekanntlich immer auch das Gegenbild der vielen, die nicht dazu gehören durften oder wollten: die weltanschaulichen Feinde, die „Volksschädlinge“, die „rassisch“, sozial oder sexuell „Andersartigen“, die „erblich“ Belasteten und die psychisch Kranken. In diesem Sinne bedeutete „Volksgemeinschaft“ zugleich und per Definitionem auch Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Frage aber bleibt, inwieweit es erst der Gewaltakt der Ausgrenzung war, durch den sich „Volksgemeinschaft“ herstellte. Um es konkreter zu machen und auf das Kernverbrechen zu kommen: War die Gewalt gegen die Juden, an deren Bedeutung für die NS-Bewegung in der Weimarer Republik uns Michael Wildt so nachdrücklich erinnert hat, konstitutiv auch für die Herausbildung der „Volksgemeinschaft“ im Dritten Reich? Oder war, was sich an Aggressionen, an Hass und Gemeinheit gegen die Juden vom Moment der Macht-
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übernahme an Bahn brach und in der sogenannten „Boykottaktion“ vom 1. April 1933 erstmals quasi-staatlichen Ausdruck fand, eher ein Störfaktor für die von Hitler propagierte „nationale Erhebung“? Wildt hat überdies das Moment der „Selbstermächtigung“ betont, das in der gemeinschaftlichen Ausübung antisemitischer Gewalt zum Ausdruck komme. Das ist, bezogen auf die Gewalttäter selbst, nicht von der Hand zu weisen. Aber als Erfahrung wichtiger und häufiger war doch wohl das Moment der Fremderhöhung: die den „Volksgenossen“ von ihrem „Führer“ immer wieder zuteil gewordenen Gesten der Wertschätzung, verbunden mit einer geradezu religiösen Rhetorik des Auserwähltseins.
Der Weg in den Krieg Man wird die Frage nach dem „volksgemeinschaftlichen“ Stellenwert der Gewalt gegen die Juden am Ende nicht pauschal beantworten können, und für eine raumgreifende Erörterung der – übrigens lange vernachlässigten – Geschichte des Antisemitismus im Dritten Reich ist hier nicht der Raum. Deshalb nur ein paar skizzenhafte Bemerkungen, wobei es mir am wichtigsten ist, dass wir das Thema nicht als ein statisches missverstehen, sondern prozesshaft und in seinem erfahrungsgeschichtlichen Kontext behandeln. An Quellen dafür ist weniger Mangel, als man mitunter meint. Dass der „Judenboykott“ vom April 1933, gemessen an der Empörung in den westlichen Demokratien, ein Fehlschlag war, steht außer Frage. Einigermaßen deutlich ist auch, dass die Aktion der antisemitischen Parteibasis fürs erste eine gewisse Genugtuung verschaffte; umgekehrt ebenso, dass sie in den noch halbwegs intakten sozial-moralischen Milieus der Arbeiterbewegung und des Katholizismus auf Ablehnung stieß. Am wenigsten klar ist der Befund für das Bürgertum. Hier reichten die Reaktionen von echter Scham und leise bekundetem Mitgefühl für die Betroffenen über ein empathieleeres „So etwas ziemt sich nicht“ bis hin zur Schadenfreude oder gar zum Applaus. Das Spektrum von Reaktionen und Verhaltensweisen ist damit natürlich nur grob umrissen, und wichtiger noch: Es ist damit noch nichts über die weitere Entwicklung gesagt. Doch in der Rückschau ist völlig klar, dass der staatlich zunächst sanktionierte, dann forcierte Antisemitismus, der seit Frühjahr 1933 vor aller Augen und mit Billigung vieler in Gang gesetzt wurde, eine moralische Erosionsdynamik auslöste, in der am Ende auch eine „Endlösung“ darstellbar wurde. Dieser
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Weg in eine umgedrehte Wertewelt war von den Weltanschauungskriegern gewiss nicht strategisch geplant, wohl aber gewollt und von ihren Unterstützern immer weniger einzuhegen. Hier wäre dann auch der Punkt, nach dem Entstehen einer spezifischen NS-Moral zu fragen, über die in letzter Zeit, angestoßen vor allem durch Raphael Gross, wieder intensiver nachgedacht wird, als dies jahrzehntelang der Fall war. |
PROF. DR. NORBERT FREI
lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Der Text ist ein Auszug aus seinem Eröffnungsvortrag bei der „IV. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung“ der Bundeszentrale für Politische Bildung am 27. Januar 2013 in Berlin. Mehr zum Thema in seinem Buch: „Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933-1945“.
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Otto Wels 1873-1939
Ehre, wem Ehre gebührt Von Christian Neusser ie letzten Worte, die in der Weimarer Republik in Freiheit gesprochen wurden, haben Spuren hinterlassen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Diese Worte stammen von Otto Wels, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei und Reichstagsfraktion. Er stellte sich damit am 23. März 1933 im Namen seiner sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen das von den Nationalsozialisten eingebrachte Ermächtigungsgesetz. Mit einem flammenden Plädoyer bot Wels der nationalsozialistischen Willkürherrschaft die Stirn – und trotzte der Bedrohung durch die Nationalsozialisten: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“ Gemeint waren Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit sowie der Glaube an die Menschenrechte. Der Ausgang ist bekannt: Die 94 anwesenden Sozialdemokraten lehnten das Gesetz als einzige Fraktion im Reichstag ab. Bei Abwesenheit der verfolgten Kommunisten und Zustimmung auch durch die bürgerlichen Parteien wurde das Ende des Parlamentarismus und der freiheitlichen Demokratie besiegelt. Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde die Demokratie in Deutschland buchstäblich zu Grabe getragen, der Weg war frei für die zwölf Jahre andauernde nationalsozialistische Diktatur. Der 23. März 1933 war ein schwarzer Tag für die Demokratie. Und dennoch bleibt uns mit diesem Tag Denkwürdiges in Erinnerung: der mutige Einsatz für Freiheit und Demokratie, den Otto Wels mit seiner Rede so eindrucksvoll verkörpert. Zum 80. Jahrestag dieses Ereignisses wurde jüngst der Person Otto Wels und dessen Rede gedacht. Ein Blick auf das Leben von Otto Wels macht deutlich, dass sein politisches Wirken für uns heute lehrreich sein kann. Lehrreich vor allem deshalb, weil wir in Wels’ Biographie sehr anschaulich erfahren, was es heißt, für die Demokratie einzutreten. Otto Wels ist ein Mann der Arbeiterbewegung. Geboren am 15. September 1873 in Berlin, wuchs er als Sohn einer Gastwirtfamilie auf. Die Familie seines Vaters, der sein Lokal im Norden Berlins betrieb, stammte aus Groß Briesen im Kreis ZauchBelzig in der Provinz Brandenburg. Schon früh kam Wels in Kontakt mit den Idealen der Sozialdemokratie. Als Heranwachsender hörte er in der Gastwirtschaft seiner Eltern den Gesprächen von Sozialdemokraten zu, die während der Zeit des Sozialistengesetzes im Hinterzimmer des Lokals zu vertraulichen Runden zusammenkamen.
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Otto Wels 1873-1939
Hierbei lernte Wels auch August Bebel und Wilhelm Liebknecht kennen. Seine Leidenschaft für die Sozialdemokratie war schon als Jugendlicher entfacht. Nach Volksschule und Lehre als Tapezierer war Otto Wels zunächst als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär im Verband der Tapezierer tätig und wurde 1906 zum Vorsitzenden des Verbands gewählt. Zugleich engagierte er sich in der Berliner Kommunalpolitik. Er war Mitglied der Armen- und Schulkommission sowie Vorsitzender der Arbeitnehmer in der Handwerkskammer Berlin-Potsdam. Seine politische Karriere nahm 1907 Fahrt auf, als Wels zum Bezirkssekretär der SPD für die Provinz Brandenburg gewählt wurde. Schon bald galt er in Berlin und der Provinz Brandenburg als einer der profiliertesten Arbeiterführer. Innerparteilich schuf er maßgeblich den Grundstein für eine einheitliche und straffe Parteiorganisation in Brandenburg. Wels war ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer. Zugute kam ihm dabei seine Eigenschaft als eindringlicher Redner, der seine kräftige, zuweilen derbe Sprache einzusetzen wusste. 1912 gewann er den Wahlkreis Calau-Luckau und wurde Reichstagsabgeordneter. Die SPD rettete die Ehre der Weimarer Republik Otto Wels scheute sich als Politiker nicht davor, Verantwortung zu übernehmen und lernte auch die Schattenseiten politischer Verantwortung kennen. Nach dem Sturz der Monarchie übernahm Wels im November 1918 das Amt des Berliner Stadtkommandanten. In den Wirren der Revolutionszeit kam es im Dezember 1918 zum Zusammenstoß von Soldaten und Revolutionären, bei Schießereien gab es 16 Tote und einige Schwerverletzte. Obwohl eine konkrete Schuld Wels’ als Stadtkommandant nicht vorlag, reichte er – auch aufgrund innerparteilicher Kritik – seinen Rücktritt als Stadtkommandant ein. Die Erfahrungen der Revolutionszeit bewogen ihn auch zu einer persönlichen Konsequenz: Wels fasste den Entschluss, sein politisches Wirken auf die Parteiarbeit in der SPD zu konzentrieren. Den Rückhalt hierfür hatte er. Im Juni 1919 wurde Wels auf dem Parteitag in Weimar zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Bereits in den frühen Jahren der Weimarer Republik trat Otto Wels als entschiedener Kämpfer für die Demokratie auf. Beim Kapp-Putsch 1920, dem Versuch rechtsmilitanter Kreise, die Regierungsgewalt an sich zu reißen, demonstrierte der SPD-Parteivorstand unter Führung von Wels Entschlossenheit und rief zum Generalstreik auf. Der Generalstreik von Gewerkschaften und der Arbeiterschaft im Land sorgte dafür, dass der Putsch rasch scheiterte. Wels hatte schon früh verinnerlicht, dass die Demokratie wehrhaft gegenüber seinen Feinden sein musste. Er war maßgeblich an der
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Otto Wels 1873-1939
Gründung des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ zum Schutz der Weimarer Republik beteiligt. Ebenso zählte er zu den Organisatoren der „Eisernen Front“, einem Bündnis, das sich gegen den Vormarsch der Rechtsextremisten einsetzte. Dass sich die SPD-Führung unter Wels sowie die Gewerkschaftsspitzen zum Ende der Weimarer Republik nicht zum aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten oder zum Generalstreik durchringen konnten, war eine schwerwiegende und umstrittene Entscheidung. Wels’ Sorge, ein möglicher Bürgerkrieg hätte viele Opfer unter den Arbeitern gekostet und keine Aussicht auf Erfolg gehabt, ist gewiss Ausdruck von Macht- und Ratlosigkeit, aber wohl auch Zeichen für Verantwortungsbewusstsein. Letztlich blieb es ein fataler Irrtum der Weimarer Sozialdemokratie, die Republik könnte mit den Mitteln des Rechtsstaats gesichert werden. Nach seiner Flucht aus Deutschland im Frühjahr 1933 baute Wels in Prag die Exilorganisation der SPD auf und setzte den Kampf gegen die Nationalsozialisten fort. Bis zu seinem Tod nach schwerer Krankheit am 16. September 1939 prangerte Wels immer wieder die Verbrechen Hitlers an. Kurz zuvor bei Kriegsausbruch hatte sich Otto Wels im Namen der Sozialdemokratie an das deutsche Volk gewandt und forderte alle demokratischen Kräfte in Europa auf, gemeinsam Hitler zu stürzen und den europäischen Völkern zu Recht und Freiheit zu verhelfen. Otto Wels’ politische Lebensleistung liegt in seinem entschiedenen und unbeugsamen Einsatz für die Demokratie. In das kollektive Gedächtnis der Deutschen hat Otto Wels gleichwohl nur bedingt Eingang gefunden. Dies ist ein Schicksal, das er mit manch anderer verdienter Persönlichkeit teilt. Es mag damit zusammenhängen, dass Wels nie ein herausragendes Staatsamt innehatte, sondern er seine Arbeit vorwiegend in sozialdemokratischen Parteifunktionen verrichtete. Sein mutiges Eintreten gegen die Hitler-Diktatur, wie dies in der Rede vom März 1933 eindrucksvoll zum Ausdruck kommt, rechtfertigt gleichwohl, Wels einen würdigen Platz in der Geschichte der deutschen Demokratie zuzuweisen. Dem Urteil des Historikers Heinrich August Winkler zufolge, hat die SPD die Ehre der Weimarer Republik gerettet. Otto Wels hat daran einen wichtigen Anteil. | CHRISTIAN NEUSSER
ist Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.
Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.
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ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN Wie die vierte industrielle Revolution in Brandenburg gelingen kann — Von Ralf Holzschuher
m Anfang war die Dampfmaschine. Mit ihr begann das, was wir heute die erste industrielle Revolution nennen. Die erste nutzbare Dampfmaschine wurde 1712 von Thomas Newcomen entwickelt und später von James Watt verfeinert. Alsbald verbreitete sich die Dampfmaschine im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von England ausgehend rasch auf das kontinentale Europa und trug wesentlich zur Mechanisierung der Arbeit und zur Nutzung von Energie bei. Mit ihr kam im übrigen vor 150 Jahren die „soziale Frage“ auf und wurde zum Geburtshelfer der Sozialdemokratie – die SPD ist mithin also die „Industrie-Partei“ der ersten Stunde. Die zweite industrielle Revolution begann im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie ist durch zwei Entwicklungsstränge gekennzeichnet. Die Nutzung des elektrischen Stroms führte zu vollkommen neuen Industriezweigen wie der Elektrotechnik aber auch des Maschinenbaus und der chemischen Industrie – vor allem Deutschland stand hier an der
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Spitze der technologischen Innovationen. Die zweite industrielle Revolution zeichnete sich aber auch durch die aufkommende Massenproduktion aus. Die Einführung des Fließbandes 1913 in den Ford-Werken ist dafür der bekannteste Ausdruck. Als die Computer und das Internet aufkamen In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt vor allem der Computer die Hauptrolle. Die Nutzung von Elektronik und Informationstechnik führen zur dritten – der digitalen – industriellen Revolution. Die Erfindung des Mikrochips macht neue automatisierte Produktionsverfahren und neue Kommunikationsnetze möglich. Die Raumfahrt wäre ohne Computer nicht denkbar; Roboter, Mobiltelefonie oder Internet prägten einen neuen Innovationszyklus. Heute, am beginnenden 21. Jahrhundert, stehen wir vor der nächsten – der vierten – industriellen Revolution. Sie
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wird durch zwei Tendenzen gekennzeichnet sein. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit von höherer Energieund Ressourceneffizienz angesichts sinkender Rohstoffvorräte und zunehmenden Klimawandels. Auf der anderen Seite wird die Verknüpfung der Industrieproduktion mit dem „Internet der Dinge“ dazu führen, dass maßgeschneiderte Produkte in hoher Effizienz hergestellt werden können und die dafür nötigen Informationen auch schnell und effizient von A nach B gelangen. Von Niedergang und Wiederaufstieg Am Beginn der Industrialisierung importierte Deutschland die dafür nötigen Dampfmaschinen noch aus England, mauserte sich aber schnell zu einer Innovationskraft mit Weltruf („Made in Germany“). Bahnbrechende Erfindungen in der chemischen Industrie oder die Entwicklung des Computers (Zuse) stehen dafür. Bis heute ist Deutschland eines der größten Industrieländer der Welt und die Industrie unser wichtigster Wohlstandsmotor. Wenn wir heute an Brandenburg denken, verbindet man das Land sicher nicht auf den ersten Blick mit Industrie. Doch beim genaueren Hinschauen, stellt man fest, dass Brandenburg eine lange industrielle Geschichte hat. Sie lässt sich im Wesentlichen in drei Phasen einteilen.
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Am Ende des 19. Jahrhunderts begann auch im heutigen Brandenburg die Industrialisierung. So wurde die bis dato eher agrarisch geprägte Lausitz eine Bergbauregion. Die älteste noch erhaltene Brikettfabrik Europas ist die Louise in Elbe-Elster, sie ging 1882 in Betrieb und wurde 1992 stillgelegt. Ebenfalls in der Lausitz entwickelte sich ab dem späten 19. Jahrhundert eine umfangreiche Textilindustrie. Auch die Stadt Brandenburg an der Havel ist eine der traditionellen Industriestandorte im Land – dort begann die Entwicklung mit Textilfabriken und ab 1912 wurde dort Stahl hergestellt. Wittenberge – logistisch gut gelegen am Kreuzungspunkt von Elbe und wichtiger Straßen zwischen Hamburg, Magdeburg und Berlin – wurde im frühen 20. Jahrhundert ein Zentrum der Nähmaschinen- und Zellstoffproduktion. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich viele Standorte der industriellen Produktion – viele von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg in große Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg begann die DDR mit einer „planmäßigen Industrialisierung“. Dazu wurden historische industrielle Kerne massiv aus- und neue Zentren aufgebaut. Das Stahl- und Walzwerk in Brandenburg an der Havel hatte zu DDR-Zeiten über 10.000 Beschäftigte, in den Optischen Werken in Rathenow arbeiteten 4.500 Menschen, das IFA-Werk in Ludwigsfelde stellte LKWs für den gan-
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zen Ostblock her, die Lausitzer Braunkohleindustrie wurde zum zentralen Energieversorger der DDR. Vollkommen neue Industriestandorte entstanden unter anderem in Eisenhüttenstadt und Schwedt. 1958 gab Walter Ulbricht den Bau des „Petrolchemischen Kombinats (PCK)“ bekannt, später arbeiteten dort über 8.000 Menschen. Bis zu 16.000 Beschäftigte hatte das „Eisenhüttenkombinat Ost (EKO)“, dass 1950 von der SED beschlossen wurde – ebenso wie der Bau der dazugehörigen Retortenstadt, die erst den Namen Stalins trug und später in Eisenhüttenstadt umbenannt wurde. Die dritte Phase in Brandenburgs Industriegeschichte begann mit der Wiedervereinigung. Sie ist sowohl eine Phase des Niedergangs und des Wiederaufstiegs. Zahlreiche Industrieunternehmen mussten schließen, vielen Unternehmen gelang mit westlichen Partnern aber auch der Neuanfang. Die neunziger Jahre standen deshalb zunächst vor allem im Zeichen des massiven Arbeitsplatzabbaus. Nach einer Phase der Konsolidierung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert sind die „Regionalen Wachstumskerne“ heute Ausdruck einer neuen und zukunftsfähigen Industriestruktur. Sie basieren zum einen auf Unternehmen mit langer Tradition: So werden seit 1913 in Hennigsdorf Lokomotiven und Züge gebaut, Vattenfall produziert heute in den modernsten Kraftwerken
Europas Strom, BASF hält einen seiner profitabelsten Standorte in Schwarzheide. Daneben überlebten einige DDRGroßbetriebe, die auch heute erfolgreich am Markt operieren. Dazu gehören das PCK in Schwedt genauso wie das aus dem IFA-Werk in Ludwigsfelde hervorgegangene Daimler-Werk oder ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt. Hinzu kamen vollkommen neue Industriezweige wie die Biotechnologie (zum Beispiel in Hennigsdorf und Luckenwalde) oder die erneuerbaren Energien mit dem Windturbinenhersteller Vestas. Gleichzeitig zeigt dieser Industriezweig aber auch, wie schnelllebig industrielle Erfolge sein können: 2010 gab es in unserem Land noch fünf große Solarfabriken, ein Teil von ihnen ist heute bereits wieder geschlossen, ein anderer Teil hat große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Hat Brandenburgs Industrie also noch eine Zukunft? Nun lässt sich aus den Schwierigkeiten einer Branche sicherlich nicht das Ende der Industrie in Brandenburg ableiten. Gleichwohl steht die Industrie in unserem Land vor vier großen strategischen Herausforderungen, die gleichzeitig Chancen als auch Risiken bieten: > Die Zahl der Brandenburger Erwerbsfähigen sinkt, gleichzeitig werden sie älter. Das kann zu zunehmendem Fachkräftemangel führen.
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> Die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft setzt sich fort, damit steigt auch der Wettbewerbsdruck. Das kann zu neuen Konkurrenzsituationen führen aber auch zu neuen Märkten mit zusätzlichen Absatzmöglichkeiten. > Rohstoffe werden überall auf der Welt knapper und führen langfristig zu höheren Rohstoffpreisen. Das kann die Wettbewerbsfähigkeit vieler Firmen bestimmen, steigert gleichzeitig aber die Nachfrage nach materialschonenderen und ressourcensparenden Technologien. > Die Energiewende in Deutschland ist eine „Operation am offenen Herzen“, denn mit ihr wird eine der wichtigsten materiellen Grundlagen der Industrie komplett umgestellt. Die Gestaltung der Energiewende übt großen Druck – unter anderem durch steigende Energiepreise – auf viele Unternehmen aus. Gleichzeitig können durch den Zwang zu mehr Nachhaltigkeit Absatzchancen für neue Technologien entstehen. Neben diesen globalen Rahmenbedingungen zeichnet sich Brandenburgs Industriestruktur durch drei Besonderheiten aus: > Durch massive staatliche Investitionen seit der Wiedervereinigung verfügt Brandenburg über eine im europäischen Vergleich exzellente
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Infrastruktur. Auch wenn es noch die eine oder andere Lücke gibt, ist dies eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Industrie. > Unsere Unternehmenslandschaft ist im Bundesvergleich zu klein. Das ist auch eine Erklärung für die vergleichsweise niedrige Exportquote der Brandenburger Unternehmen. Das kann zwar in Zeiten externer wirtschaftlicher Schocks – wie der Weltfinanzkrise – auch positiv wirken, langfristig lässt sich neues Wachstum jedoch nur durch Erschließung neuer Märkte erzielen. > In Brandenburg fehlen – wie in ganz Ostdeutschland – Unternehmenszentralen. Dadurch sind die Wertschöpfungs- und Herstellungsketten im Land zu kurz, fehlen vor allem unternehmensnahe und unternehmenseigene Forschung und Entwicklung. Zwar wird dies durch hohe staatliche Forschungsausgaben ein Stück weit kompensiert, führt aber in der Summe trotzdem zu insgesamt niedrigeren Ausgaben für Forschung und Entwicklung und damit zu geringerer Innovationsfähigkeit in Ostdeutschland. Eine sozialdemokratische Industriepolitik muss diese Rahmenbedingungen in den Blick nehmen, wenn sie Erfolg haben will. Ziel muss es sein, den industriellen Sektor zu stärken, denn er ist
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die Basis unseres Wohlstandes. Dabei gibt es fließende Übergänge zum Dienstleistungsbereich – es geht deshalb auch nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Mit der vorhandenen Industriestruktur, den Erfahrungen gut ausgebildeter Fachkräfte und einer auf Konsens ausgelegten Kultur industrieller Beziehungen kann es jedoch gelingen, den Anteil der Industrie und industrienahen Dienstleistungen weiter auszubauen. Dazu stehen auf der Landesebene sechs strategische industriepolitische Handlungsfelder auf der Tagesordnung. Innovation braucht Investition in Köpfe Erstens: Fachkräftesicherung. Die Fachkräftesicherung wird nur in einer großen Kraftanstrengung zusammen mit den Unternehmen gelingen. Die demografische Entwicklung Brandenburgs prognostiziert bis 2030 einen Rückgang des Erwerbspersonenpotentials um 28 Prozent, in einigen Regionen sogar von bis zu 50 Prozent. Umso mehr kommt es darauf an, jede und jeden so gut wie möglich zu qualifizieren und auszubilden. Deshalb muss es unser Ziel sein, die Zahl der Schüler, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen, und die Zahl der jungen Menschen, die die Berufsausbildung abbrechen, bis 2020 mindes-
tens zu halbieren. Das Bewusstsein für technische Berufe und für industrielle Entwicklung kann bereits bei Schülerinnen und Schülern geweckt werden. Dazu soll das Unterrichtsfach „Wirtschaft-Arbeit-Technik“ ausgebaut werden, ferner sollen weitere „Mit-Mach-Museen“ nach dem Vorbild des Potsdamer Extaviums entstehen. Innovation braucht Investition in Köpfe. Deshalb müssen unsere Hochschulen noch stärker mit den Unternehmen in ihrer Umgebung kooperieren. Ein Beispiel dafür sind duale Studiengängen, die Studium und Berufsausbildung verknüpfen. Deren Zahl soll erhöht werden. Mit einem „Brandenburg-Stipendium“ kann die Bindung von Studierenden an Brandenburger Unternehmen verstärkt werden. Unternehmen sollen bei der Einstellung von jungen Hochschulabsolventen („Innovationsassistenten“) unterstützt werden. Daneben brauchen wir eine neue Willkommenskultur in unserem Land. Damit wollen wir zum einen viele gut ausgebildete junge Menschen, die in den vergangenen Jahren Brandenburg auf der Suche nach einem Job verlassen mussten, zurückholen. Gleichzeitig muss unser Land aber auch offen sein für talentierte Fachkräfte aus dem Ausland. Sie sollen mit Hilfe von Stipendienprogrammen und Gutscheinen systematisch angeworben und integriert werden.
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Zweitens: Gute Arbeit. Gute Arbeitsbedingungen sind heute die entscheidende Grundlage, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Der „Krieg um Talente“ findet heute bereits in einem Maßstab statt, der weit über die Grenzen unseres Bundeslandes hinaus geht. Für eine zukunfts- und wettbewerbsfähige Industrie sind gute Löhne (einschließlich Mindestlöhne) deshalb eine wichtige Grundbedingung. Dazu braucht es eine starke Sozialpartnerschaft. Nur mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die sich durch hohe Organisationsgrade auszeichnen, können eine hohe Tarifbindung und ordentliche Arbeitsbedingungen erreicht werden. Das schließt auch ein familien- und altersgerechteres Produktionsumfeld ein. Das Know-how der Arbeitnehmer für unternehmerische Entscheidungen zu nutzen, ist eines der Erfolgsgeheimnisse der deutschen Wirtschaft. Wenn wir in Zukunft weiter erfolgreich sein wollen, werden wir dieses Rezept stärker anwenden müssen: Arbeitnehmervertretungen sollten mehr als bisher in unternehmerische Prozesse einbezogen werden und Verantwortung übernehmen können. Drittens: Forschung und Entwicklung. Brandenburg hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein erfolgreiches Hochschulsystem aufgebaut, die mittlerweile über 50.000 Studierenden sind dafür ein gutes Zeichen. Wir brauchen
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die Hochschulen in Zukunft so deutlich wie nie zuvor als Anker für regionale Wachstumsdynamiken und als Partner regionaler Unternehmen. Das Land muss anwendungsbezogene Forschung und Entwicklung stärker fördern. Der Anteil des Landeshaushaltes für Wissenschaft und Forschung muss in den kommenden Jahren auf mindestens sechs Prozent steigen. Ein „Institut für industrielle Innovation“ soll die verschiedenen Akteure vernetzen und den Paradigmenwechsel zu einer aktiven Industriepolitik unterstützen. Das Institut soll die Zusammenarbeit mit Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie Imagebildung, Internationalisierung und Innovation befördern.1 Ein Anziehungspunkt in der Mitte Brandenburgs Viertens: Sichere und bezahlbare Energieversorgung. Ohne sichere Energieversorgung und ohne vernünftige Energiepreise gibt es keine Industrie – so einfach ist das. Deshalb berührt die Energiewende auch das Herz der Brandenburger Industrie. So lange erneuerbare Energien nicht kontinuierlich und in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen können, wird die Grundlast der Energieversorgung weiter aus konventionellen Kraftwerken kommen 1
Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Berger in diesem Heft.
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müssen. Dafür wird auch die heimische Braunkohle noch für längere Zeit gebraucht. Als Spitzenreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien und Heimat großer Kohlekraftwerke trägt Brandenburg heute und in Zukunft eine hohe Verantwortung auf dem europäischen Energiemarkt. Unser Land soll Energieexporteur bleiben – das sichert viele gut bezahlte Arbeitskräfte im Land. Bergbau und Energieproduktion von Kohle über Wind, Sonne, Erdwärme bis Biogas sind wichtige Säulen der Brandenburger Industrie. Mit dieser umfassenden Kompetenz – gepaart mit wichtigen Forschungszentren im Land – kann Brandenburg ein Musterland für die Gestaltung der Energiewende sein. Das schließt die Entwicklung neuer Verfahren bei der Energieeffizienz und beim Energiemanagement ein. Die entsprechenden Forschungskapazitäten müssen gebündelt und besser vernetzt werden. Fünftens: Intelligente Wirtschaftsförderung. Mit Unternehmensnetzwerken und Clusterbildung kann es gelingen, Wertschöpfungsketten zu verbessern und zu verlängern. Deshalb muss die Wirtschaftsförderung deren Bildung noch stärker unterstützen. Kleinere Partner können sich in Industriegenossenschaften besser vernetzen und so voneinander profitieren. Auf diese Weise können beispielsweise duale Studiengänge oder Nachfolge-
regelungen bei der Unternehmensführung besser organisiert werden. Die Bildung von Industriegenossenschaften sollte deshalb in Zukunft unterstützt werden. Insgesamt muss die Brandenburger Wirtschaftsförderung stärker an die Kriterien guter Arbeit und Arbeitsbedingungen geknüpft werden sowie Forschung und Entwicklung in den Fokus nehmen. Brandenburg profitiert in hohem Maß von der Bundeshauptstadt in seiner Mitte: Berlin ist Anziehungspunkt und Sehnsuchtsort für viele kreative Unternehmen und innovative Talente. Industriepolitisch ergänzen sich Berlin und Brandenburg in ihren Profilen. Ziel muss es sein win-win-Situationen herbeizuführen; dazu müssen gerade die Wirtschaftsförderungen der beiden Länder zum wechselseitigen Nutzen stärker zusammenarbeiten. Ohne Industrie kein Licht, keine Autos, keine Windräder Sechstens: Mehr Internationalisierung. Die attraktive Lage Brandenburgs mit dem Magneten Berlin in seiner Mitte müssen wir stärker ausspielen, wenn es darum geht, internationale Fachkräfte und ausländische Investoren anzuziehen. Ganz grundsätzlich gibt es bei den Brandenburger Unternehmen noch großes Potential bei der Exportorientierung – bisher sind sie häufig
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schlicht zu klein, um auf internationalen Märkten aktiv sein zu können. Sie brauchen deshalb stärkere Unterstützung durch Messeförderung, bei der Finanzierung und Zertifizierung. Bei einem schrumpfenden Brandenburger Binnenmarkt ist es entscheidend, unsere Unternehmen stärker in internationale Wertschöpfungsketten einzubauen. Dazu ist es auch erforderlich, dass der Bund die Infrastrukturlücken insbesondere nach Osteuropa schließt. Die Industrie ist in Deutschland und Brandenburg Grundlage für Wohlstand und Beschäftigung. Ohne Industrie gehen sprichwörtlich die Lichter aus, fahren keine Autos, werden keine Windräder aufgestellt. Und: mit mehr Arbeitsplätzen in der Industrie steigt auch die Nachfrage nach Dienst- und Serviceleistungen. Deutschland – und insbesondere Brandenburg – sind seit 2008 vergleichsweise gut durch die (andauernde) Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen. Ein entscheidender Grund dafür war die wettbewerbsfähige und starke industrielle Basis unseres Landes. Doch die Zukunft kommt nicht von allein, auch ist Brandenburg nicht allein auf der Welt. Eine aktive industriepolitische Strategie kann man nicht im Alleingang durchsetzen, es braucht das enge Zusammenspiel von Europa-, Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik mit Unternehmern, Arbeitnehmervertretungen ebenso wie mit Schulen und Hochschu-
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len. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne eine strategische Ausrichtung auch der Landespolitik wird es nicht gelingen, Brandenburg als Akteur inmitten der gerade stattfindenden vierten industriellen Revolution zu etablieren. Brandenburg kann als besonders ressourcen- und energieeffizientes Industrieland ein eigenständiges Profil innerhalb Deutschlands erlangen. Entscheidend wird sein, dass Innovationen von einem Bereich zum anderen übertragen und die bisherigen Wertschöpfungsketten verlängert werden. Genauso kann Brandenburg zu einem Industrieland der vierten Generation werden – mit zukunftsfähigen und gut bezahlten Arbeitsplätzen, attraktiv für Fachkräfte und Unternehmen. | RALF HOLZSCHUHER
ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Brandenburger Landtag.
ULRICH FREESE | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE
ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE Eckpunkte einer nachhaltigen Energie- und Rohstoffpolitik für den Industriestandort Deutschland — Von Ulrich Freese eutschland hat in den letzten zwei jahrzehnten weder die Industrie als Kern der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung noch die industriellen Wertschöpfungsketten aus den Augen verloren. Das unterscheidet unser Land von vielen anderen Staaten. Die vergleichsweise gute volkswirtschaftliche Situation wäre ohne diese Politik aber auch ohne die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie nicht zu erklären. Die Fakten: Rund 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland lassen sich direkt oder indirekt dem produzierenden Gewerbe und den industrienahen Dienstleistungen zuordnen. Zwei Drittel der Exporte und 90 Prozent der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung der deutschen Wirtschaft dokumentieren eindrucksvoll die Bedeutung. Die Weltfinanzkrise vor wenigen Jahren hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass solche Staaten, die einseitig auf die Finanzindustrie oder überwiegend auf Dienstleistungen gesetzt
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haben, mit erheblichen Problemen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Haushaltskonsolidierung, einem nachhaltigen Wachstum und Handelsbilanzrisiken zu kämpfen haben. Nicht ohne Grund versucht der nordamerikanische Wirtschaftsraum – allen voran die USA – durch eine angebotsorientierte Energiepolitik die Zukunftsperspektiven des industriellen Sektors gezielt wieder zu beleben. Leitplanken für die nächsten Jahrzehnte Neben vielen anderen Facetten bilden eine nachhaltig sichere, wettbewerbsfähige Energie- und Rohstoffversorgung zentrale Voraussetzungen für den Erhalt und den Ausbau des Industriestandortes Deutschland. Weder eine planwirtschaftliche Energie- und Rohstoffpolitik, noch marktradikalen Träumereien, nach denen die Märkte schon alles von alleine regeln, werden den
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Ansprüchen einer nachhaltigen Energieund Rohstoffpolitik als Kernelement einer zukunftsorientierten Industriepolitik gerecht. Anfang 2012 hat die SPD-Bundestagsfraktion mit ihrem Beschluss „Sozialdemokratische Industriepolitik – Impulse für den Standort Deutschland“ wichtige Leitplanken für die wirtschafts- und sozialpolitische Grundlage der Bundesrepublik Deutschland für die nächsten Jahrzehnte gesetzt. Vergleichbare Konzepte sind bei anderen Parteien in dieser Form nicht einmal ansatzweise zu finden. In der Querschnittsaufgabe Industriepolitik werden in dieser Positionsbeschreibung folgende Themenfelder als entscheidungsrelevante Faktoren herausgestellt: > Weiterentwicklungen der Infrastruktur aber auch ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz als Standortvoraussetzung für Innovationen, > demografische Herausforderung und Fachkräftebedarf (Stichwort: Aus-, Fort- und Weiterbildung), > Gewerkschaften und Sozialpartnerschaft, > Energie- und Rohstoffpolitik, > Technologie- und Innovationspolitik mit einer im Kern mittelständischen Industriepolitik sowie > Europäisierung und Internationalisierung.
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Die besondere Bedeutung einer stabilen, sicheren, wettbewerbsfähigen und sozial ausgewogenen Energieund Rohstoffpolitik für den Standort Deutschland erklärt sich schon angesichts der Tatsache, dass rund 50 Prozent des Stromverbrauchs durch die Industrie erfolgt. Die Bundesrepublik ist mit einem Rohstoffbedarf von jährlich 1,2 Milliarden Tonnen der EU-weit größte Nachfrager. Großer Reformbedarf bei erneuerbaren Energien Zentrale Punkte der nach Fukushima im deutschen Bundestag einmütig beschlossenen Energiewende bilden die Umstellung der Stromerzeugung auf eine hundertprozentige Versorgung aus erneuerbaren Energiequellen bis zum Jahr 2050 sowie die Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie bis 2022. Ein vorrangiges Ziel bildet dabei die Rückführung der CO2-Emissionen um 80 Prozent gegenüber dem Jahr 1990. Dieses ambitionierte Ziel bedingt – wenn es denn industriepolitisch verträglich für den Standort Deutschland sein soll – sowohl eine langfristig orientierte, wie auch eine auf den technischund wirtschaftlich darstellbaren Optionen basierende Energiepolitik. Dem steigenden Anteil der erneuerbaren Energien muss dabei notwendigerweise parallel ein entsprechender
ULRICH FREESE | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE
Ausbau der Übertragungs- und Verteilungsstromnetze sowie von Speicherpotentialen für Strom begleiten. Erkennbar ist, dass entgegen dem rückläufigen Primärenergieverbrauch der Stromverbrauch insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 20 Jahren in etwa gleich blieb beziehungsweise leicht ansteigt. Dem heutigen Anteil von rund 12 Prozent erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch – das entspricht in etwa dem Anteil von Braunkohle oder Steinkohle – steht auf Grundlage des Erneuerbare EnergienGesetzes (EEG) ein Subventionsvolumen von rund 20 Milliarden Euro entgegen. Unbestritten ist, dass es hier Reform- und Handlungsbedarf gibt. Wenn erneuerbare Energien zukunftsfähig bleiben sollen, muss ihre Förderung nach der Bundestagswahl sowohl kostengünstiger wie auch EU-Binnenmarktkonform erfolgen: Die jetzige Form der Umlage belastet in hohem Maße die privaten Verbraucher, aber auch – trotz Sonderregelungen – die stromintensive Industrie und kann so nicht weiter fortgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die Endlichkeit von Öl und Gas durch neue Fördermöglichkeiten (beispielsweise Fracking) für mehrere Jahrzehnte, wenn nicht Generationen, in die Zukunft verschoben wird – mittlerweile ist das ein erheblicher Wettbewerbsvorteil für die nord-
amerikanische Industrie. Fossile Brennstoffe werden aus heutiger Sicht deshalb nicht in dem bislang erwarteten Maß teurer werden, sondern sich voraussichtlich in etwa auf dem heutigen Niveau stabilisieren, bei einer schwachen Weltkonjunktur unter Umständen gar preissenkend entwickeln. Der heutige Strommarkt, in dem die vorgehaltene Leistung der Kraftwerke nicht ausdrücklich honoriert wird, ist auch auf Dauer so nicht mehr darstellbar. Dennoch kann für dieses Jahrzehnt aus heutiger Sicht insgesamt von ausreichender, gesicherter Kraftwerksleistung ausgegangen werden. Diese Zeit muss man nutzen, um ein neues Marktmodell zu entwickeln und umzusetzen. Strompreis ist für deutsche Industrie sehr wichtig Die Strompreise für die energieintensive Industrie – so zum Beispiel in den Bereichen Chemie, Papier, Stahl und Aluminium – müssen, um wettbewerbsfähig bleiben zu können, sich auch in den nächsten Jahren an den internationalen Märkten orientieren. Das heißt, es ist für die deutsche Industrie und damit für einen Großteil der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik von existenzieller Bedeutung, dass die Preise nicht weiter ins Beliebige steigen. Diesem Trend kann mittlerweile nur sehr bedingt mit
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Energieeffizienzmaßnahmen begegnet werden. In vielen Fällen ist die Energieproduktivität in den Betrieben ausgereizt, erhebliche Effizienzzugewinne lassen sich auf Basis der vorhandenen Technologien und Wertschöpfungsketten nicht mehr heben. Eine vorausschauende Rohstoffpolitik ist nötig Bei vielen Rohstoffen, insbesondere Erzen, Öl, seltene Erden u. a. ist Deutschland auf Importe angewiesen. Damit ist die deutsche Industrie abhängig von offenen, fairen und nicht diskriminierenden Märkten. Grundsätzlich sind hinreichende Vorräte technisch und auch wirtschaftlich verfügbar. Ungeachtet dessen existieren Risiken durch politische Markteingriffe zum Beispiel durch Ausfuhrkartelle oder Exportzölle und nicht zuletzt durch die chinesische Marktmacht. Solchen Ansätzen kann am ehesten durch eine koordinierte EU-Politik und die Schaffung zusätzlicher Optionen – Sekundärrohstoffe, heimische Quellen als Versicherungsprämie, Substitutionsstrategien – entgegengewirkt werden. Die im Rahmen der europäischen Rohstoffinitiative in Deutschland entstandenen Rohstoffpartnerschaften sollten daher weiterentwickelt und auf EU-Ebene gebracht werden. Ergänzt werden müssen sie durch die soziale Dimension.
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Dieser Ansatz hat bislang weitgehend gefehlt. Hier können Gewerkschaften eine wesentliche Rolle spielen. Bei vielen Rohstoffen verfügt Deutschland über wichtige heimische Quellen. Das ist kaum im öffentlichen Bewusstsein. Insbesondere die Bedeutung für die Wertschöpfungsketten in der heimischen Volkswirtschaft wird kaum beachtet. Daher ist ein Rohstoffsicherungsgesetz notwendig, um langfristige Planungssicherheit für den Abbau heimischer Ressourcen zu gewährleisten. Wie in der Vergangenheit wird sich auch in der Zukunft die Bergbautechnologie weiterentwickeln und damit neue und verbesserte Gewinnungsmethoden Stand der Technik werden. Im Bereich der Öl- und Gaswirtschaft ist dieses schon heute durch das sogenannte Fracking der Fall. Diese Technologien sollten nicht nur als Risiko gesehen werden, sondern können auch eine Chance für eine langfristig nachhaltige Rohstoffoption sein. Mittlerweile wird beispielsweise intensiv an der Entwicklung chemiefreier Frackingmethoden gearbeitet. Grundsätzlich wird einer intelligenten Sekundärrohstoffwirtschaft ein wesentlicher Anteil an einer langfristigen Versorgung der Volkswirtschaft zukommen. Die schon heute weltweit führende Position der Bundesrepublik muss als integraler Bestandteil der Wertschöpfungskette der heimischen Industrie weiterentwickelt werden.
ULRICH FREESE | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE
Dass eine Rohstoff- wie auch die Energiepolitik für Brandenburg eine besondere Dimension besitzt, ergibt sich aus folgenden Fakten: Vergleicht man die Bevölkerungszahl Brandenburgs mit dem Rohstoffverbrauch, ergibt sich eine Kennziffer von ungefähr 32 Tonnen pro Kopf. Das ist in etwa doppelt so viel wie der Bundesdurchschnitt und auch deutlich höher als in den anderen ostdeutschen Ländern, deren Verbrauch zwischen 13 und 20 Tonnen liegt.
Parteigrenzen hinweg, bezahlbare Preise für Verbraucher und Wirtschaft aber zugleich Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung in unserem Land. Das geschieht nicht von alleine. Hier ist eine kluge, konsequente Energiepolitik gefordert. Sonst ist der Dreiklang aus ökologischer Sinnhaftigkeit, wirtschaftlicher Machbarkeit und sozialer Gerechtigkeit nicht zu erreichen. Es gibt noch viel zu tun. | ULRICH FREESE
Sinnhaft, machbar und gerecht
ist stellvertretender Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE).
Unter den Rohstoffen spielt die Braunkohle für das Industrieland Brandenburg eine herausgehobene Rolle. Sie ist derjenige Energieträger, der in Deutschland noch über Jahrzehnte sicher, wettbewerbsfähig und umweltschonend gewonnen werden kann. Er bildet somit einen unverzichtbaren Eckpfeiler einer langfristigen Energie- und Industriepolitik. Sowohl mittelfristig im energetischen Einsatz in Kraftwerken als auch langfristig in der Veredlung bietet die Braunkohle für Brandenburg wie auch für die produzierende Industrie hervorragende Optionen als eine perspektivisch sichere, bezahlbare Rohstoffquelle. Dieses Potential gilt es in der Zukunft weiter zu nutzen. Die Nutzung erneuerbarer Energien ist das politische Ziel quer über die
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ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN
DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN Wie eine Vision für die Hauptstadtregion aussehen kann — Von Ulrich Berger
Nach aktuellen Studien des Forschungsinstituts Prognos behauptet Deutschland in vielen Wirtschaftsbranchen seinen Anteil am Weltmarkt oder baut ihn sogar aus. Der Anteil Deutschlands an der weltweiten Industrieproduktion ist demnach in der vergangenen Dekade von 7,6 auf 8,1 Prozent gestiegen, an den weltweiten Exporten von 12,1 auf 14,3 Prozent. Mehr als 40 Prozent der deutschen Exporte entfallen dabei auf die vier Top-Branchen Automobil, Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau und Metallerzeugnisse. Innovative Produkte und Verfahren „Made in Germany“ sind auch auf den neuen Wachstumsmärkten außerhalb Europas sehr gut vertreten und tragen so maßgeblich zum Wohlstand unseres Landes bei. Es ist aber auch eine Verlagerung wertschöpfender Anteile in Schwellenländer und Länder Osteuropas festzustellen. Nach einer in 2012 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgelegten Studie: „FuE1-intensive Industrien und wissens-
I.
intensive Dienstleistungen im internationalen Wettbewerb“ ist die starke Spezialisierung auf forschungsintensive Industrien wie die der Elektrotechnik, dem Maschinenbau, der Chemie oder dem Fahrzeugbau ein wesentlicher Faktor der langfristigen strukturellen Wettbewerbsstärke der deutschen Industrie. Die Schuldenkrise holt eine Erinnerung zurück Zusätzlich fördern gezielte Investitionen in zukunftsweisende Standorte, Herstellverfahren und Anlagen die langfristige Wettbewerbsfähigkeit und schaffen zusätzliche Arbeitsplätze wie zum Beispiel in der Warenlogistik. Somit hat sich neben der allgegenwärtigen Diskussion um die Energiewende und Euro-Schuldenkrise die produzierende Industrie wieder als Fels in der Brandung in Erinnerung gebracht. Nach 1
FuE: Forschung und Entwicklung
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einem Bericht des Statistischen Bundesamts hat das verarbeitende Gewerbe im Jahr 2012 überproportional zur deutschen Wirtschaftsleistung (BIP) beigetragen. Getrieben von der Nachfrage aus dem Ausland, stieg der Anteil am BIP auf rund 26 Prozent an, dies entspricht im Vergleich zu 2009 einer Steigerung um fast 3 Prozentpunkte. Trotz des enormen Strukturwandels in der Europäischen Union und der Zunahme des Dienstleistungsanteils in allen Branchen weist Deutschland im internationalen Vergleich immer noch den höchsten Industrieanteil am BIP auf. Die industrielle Produktion stellt daher auf Grund ihrer vielfältigen Produkt-, Markt- und Absatzmöglichkeiten eine stabile und zuverlässige Größe für den Wohlstand unseres Landes dar. In jüngster Zeit findet daher eine flächendeckende gesellschaftliche Rückbesinnung auf die industrielle Produktion als elementare Basis des Wirtschaftswachstums eines Landes oder einer Region statt. Dies gilt auch für die Hauptstadtregion Berlin und Brandenburg. So verzeichnet das Amt für Statistik BerlinBrandenburg für 2011 im verarbeitenden Gewerbe einen Zuwachs auf 332 (Berlin) und 436 Betriebe (Brandenburg) bei 81.000 (Berlin) und 79.000 (Brandenburg) Beschäftigten und einem Umsatz von etwa 23,1 (Berlin) und 22,8 (Brandenburg) Milliarden Euro. Dabei sind
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jedoch nur Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeitern berücksichtigt. Die vielen kleinen Betriebe in der Region tragen jedoch ebenfalls entscheidend zur Wertschöpfung bei. Das Interesse wächst bei Besuchern und Investoren Die geschichtliche Entwicklung in Berlin und Brandenburg kann auf eine jahrhundertelange Industrietradition zurückblicken. So liefern Elektro- und Schwermaschinenbau, Schienen- und Personenkraftfahrzeugproduktion, Metallverarbeitung und Tagebau überall in der Region viele historische Zeugnisse, die für eine gewachsene Industriekultur stehen. Diese Industriekultur wird heute noch in der Bevölkerung sehr positiv wahrgenommen und erweckt ein wachsendes Interesse bei Besuchern und Investoren. Die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg ist mit Blick auf die industriellen Voraussetzungen durch differenzierte Alleinstellungsmerkmale im Vergleich zu anderen Bundesländern gekennzeichnet. Daher sind die im Bundesgebiet erprobten und vorgeschlagenen Mittel zur Sicherung und Steigerung der industriellen Produktion nicht oder nur in Teilen übertragbar. Eine hohe Wissenschaftsdichte und ein großes Angebot an gut ausgebildeten Fach-
II.
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN
kräften in der Kernregion schaffen wichtige Rahmenbedingungen für die notwendigen industriellen Forschungsgrundlagen. Einige große Betriebe mit über 1.000 Mitarbeitern sind stark exportorientiert und verzeichnen überproportionale Aufwendungen in Forschung und Entwicklung. In Brandenburg haben sich viele kleine und mittlere Unternehmen zu regionalen, industriellen Wertschöpfungsnetzwerken und Zweckverbänden zusammengeschlossen, um strukturelle Defizite im Technologietransfer, der Exportförderung und der Internationalisierung auszugleichen. Die so entstandenen Netzwerke übernehmen vielerorts durch ehrenamtliches Engagement von Betrieben und Mitarbeitern viele soziale und kulturelle Funktionen wie zum Beispiel die personelle und sächliche Ausstattung von Ortsfeuerwehren oder den Erhalt kultureller Einrichtungen wie Theater und Museen. Dadurch wird ein wichtiger positiver Bezug zwischen industrieller Produktion und gesellschaftlichem Engagement abgeleitet. Die Zukunft in Berlin und Brandenburg wird, wie auch in ganz Deutschland, mehr und mehr durch den gesellschaftlichen Diskurs und das Engagement jedes Einzelnen geprägt. Nutzen- und Risikoüberlegungen aber auch Chancenabwägungen und Zukunftsperspektiven werden viel stärker als in der Vergangenheit gemeinsam diskutiert und kommu-
niziert. Green oder Clean Technologies haben stark an Bedeutung gewonnen. Dabei geht es um Innovationen in ressourcenschonende und nachhaltige Energieerzeugung und Mobilität sowie die energieeffiziente und emissionsarme Herstellung und Weiterverarbeitung von Produkten. Drei Säulen für die Industrie von morgen Die Innovationen in diesen Feldern benötigen jedoch auf Grund der interdisziplinären Anforderungen andere industrielle Umsetzungsmechanismen als die bisher bekannten. Vorrangiges Ziel muss daher die Verlängerung und Komplettierung von Wertschöpfungsketten in diesen Zukunftstechnologien innerhalb des regionalen Wirtschaftsraumes der Hauptstadtregion sein. Der in 2012 durch die Regierungen beider Länder Berlin und Brandenburg initiierte Clusterprozess reagiert darauf mit der zunehmend übergreifenden Zusammenarbeit in Branchen und Kompetenzfeldern in Kooperation mit externen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen. Ziel ist es, die bereits 2007 identifizierten gemeinsamen Zukunftsfelder zu länderübergreifenden Clustern zu entwickeln. Die im Juni 2012 beschlossene Gemeinsame Strategie (innoBB) führt die bisherige Kohärente Innovationsstra-
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tegie des Landes Berlin und das Landesinnovationskonzept (LIK) Brandenburgs zusammen und ersetzt diese. Beide Landesregierungen haben dabei auch die Themen der industriellen Entwicklung und der Nachhaltigkeit aufgegriffen und durch entsprechende Strategiepapiere unterlegt (Masterplan Industriestadt Berlin 2020, Leitbild und Aktionsplan „ProIndustrie“ Brandenburg). Die politischen Rahmenbedingungen und Handlungsfelder für den Ausbau der industriellen Basis sind damit vorhanden. Wie kann aber die industrielle Zukunft der Hauptstadtregion, die die vorhandenen Potentiale aufnimmt, weiter entwickelt und in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum abbildet, konkret verwirklicht werden?
III.
Es wird eine Drei-Säulen-Strategie vorgeschlagen, die in der ersten Säule die Exportfähigkeit der industriellen Produktion im weltweiten Wettbewerb steigert. Der technologische Vorsprung bei Produkt- und Prozessinnovationen in der Investitionsgüterindustrie beträgt in der Regel drei Jahre. Nur durch kontinuierliche Neuund Weiterentwicklung können Kundenkreis und Marktposition unter den sich ständig verschärfenden Wettbewerbsbedingungen abgesichert werden. Die zunehmende Verkürzung der Produktlebenszyklen verlangt aber gerade kleinen und mittelständischen
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Betrieben (KMU) hohe Innovationskraft und einen ständigen Wandlungsprozess ab. Wesentlicher Aspekt der Zukunftssicherung bleibt gerade für diese Betriebe die Erhöhung der FuE-Aufwendungen auf den für eine nachhaltige Entwicklung notwendigen Wert von 3 Prozent vom Umsatz. Hier müssen, auch wegen des Fehlens großer, konzerngebundener Industrieforschungszentren, wie sie im Süden Deutschlands existieren, neue Wege erschlossen und begangen werden. Technologietransfer braucht stärkeren Fokus Der FuE-Anteil, das heißt sowohl der Personalstand als auch die internen Aufwendungen im verarbeitenden Gewerbe, könnte durch zielgerichtete Maßnahmen, zum Beispiel fiskalische Anreize oder Schaffung von Innovationsverbünden deutlich gesteigert werden. Die Strukturen des Technologietransfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft müssen stärker auf innovative, zukunftsweisende Produkte und Technologien aber auch auf deren Herstellung in regionalen Wertschöpfungsketten ausgerichtet werden. Die Technologiezentren in der Region befassen sich mit spezialisierten Themen wie zum Beispiel der Grundlagenforschung zu Polymeren, metallischem Leichtbau oder Beschichtungstechnologien, sind aber mit Blick auf die indus-
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triellen Anwendungen der Zukunft noch nicht genügend miteinander verknüpft und können daher vorhandene Potentiale nicht vollständig erschließen. Schließlich werden zukunftsweisende Informations- und Kommunikationstechnologien wie selbststeuernde Fabriken und Logistiksysteme, virtuelle Entwicklungstechnologien sowie neue Formen der Mensch-Maschine-Kooperation die industrielle Produktion der Zukunft beherrschen. Diese Zusammenhänge werden auch in der 2012 herausgegebenen Studie des BDI/BDA unter dem Titel „Deutschland 2030: Zukunft der Wertschöpfung“ besonders hervorgehoben. Die zweite Säule bildet eine mit allen Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik abgestimmte Internationalisierungsstrategie, die Innovationen „Made in Berlin“ oder „Made in Brandenburg“ durch gezielte Neugründung oder Beteiligung in Ländern außerhalb Europas, zur herstellungstechnischen Umsetzung bringt. In diesen Ländern stehen meist hohe Einfuhrzölle oder andere Handelshemmnisse wie zum Beispiel local content-Vorschriften einem direkten Export entgegen. Viele KMU aus der Region folgen hier schon seit einiger Zeit global agierenden Unternehmen und bilden oft das Rückgrat ganzer Produktionsstandorte, wie es zum Beispiel in der Kraftfahrzeugindustrie bereits die Regel ist.
Durch dabei erworbenes technisches, organisatorisches und interkulturelles Know-how können die Tochtergesellschaften in aller Welt zur Standortsicherung der Stammhäuser in der Hauptstadtregion beitragen. Auch der rasche und direkte Informationsaustausch zu harten und weichen Standortfaktoren im jeweiligen Partnerland sowie die direkte Rückkopplung zu Verbund- oder Systempartnern im Inland spielt eine große Rolle. Schließlich kann in der Nähe zu den Absatzmärkten die produktnahe Dienstleistung abgesichert und ausgebaut werden. Wer das letzte Segment im Produktlebenszyklus beherrscht, schafft nicht nur Mehrwerte über Ersatzteilhandel und Instandhaltung, Wartung und Reparatur, sondern ist auch Kunden und Absatzmarkt stets so nahe, dass er Trends und Entwicklungen viel schneller erfassen und aufgreifen kann. Ausländische Investoren suchen Talente Die dritte Säule bildet die gezielte Einwerbung von Direktinvestitionen aus dem Ausland (das so genannte Foreign Direct Investment), die sich in zwei Bereiche aufteilt. Zunächst werden Investitionen in Produktionsstandorte mit hohem Technologie- und Qualitätsanspruch betrachtet. Dabei wählen ausländische Investoren vorwiegend Regio-
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nen aus, an denen schon ähnliche Ansiedlungen realisiert wurden und eine hohe Dichte an Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen existiert. Erfolgreiche Entwicklungen sind in Brandenburg am Beispiel der Entwicklung und Produktion von Flugzeugturbinen zu verzeichnen. Eine andere Investitionsstrategie verfolgen überwiegend talentgetriebene, nicht langfristig plan- und vorhersehbare Innovationen. Ein Beispiel hierfür ist die rasante Entwicklung bei Smartphones, die über neue Entwicklungsmethoden wie Design Thinking entwickelt und mit immer umfangreicheren Funktionalitäten angeboten werden. Dazu ist ein großes Reservoir an naturwissenschaftlichem und insbesondere ingenieurwissenschaftlichem Humankapital erforderlich. Verzahnung von Herstellung und Innovation Gerade in der Hauptstadtregion mit ihrer international anerkannten hohen Wissenschaftsdichte bestehen hierzu große aber, gerade auf die industrielle Innovation bezogene, unerschlossene Potentiale. Vordringliches Ziel bleibt jedoch bei all diesen Strategien die enge, standortnahe Verzahnung zwischen Herstellung und Innovation. So kann die Produkt- und Prozessinnovation stets gekoppelt und der Regelkreis zwischen
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Innovator, Produzent, Zulieferer und Markt durchgehend geschlossen werden. Die positive Wirkung der ausländischen Direktinvestitionen zur Standortsicherung in Inland wird auch durch das im Frühjahr 2013 veröffentlichte Gutachten zur Forschung, Innovation und technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands durch die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) besonders gewürdigt.
IV.
Die Umsetzung der Drei-SäulenStrategie verlangt ein systematisches und koordiniertes Arbeitsprogramm, das kurz-, mittel- und langfristige Zielstellungen verfolgt. Dabei ist es sinnvoll, säulenübergreifende Arbeitsstrukturen zu entwickeln, die in allen Bereichen Wirkung entfalten können. Die beispielhafte Umsetzung kann am Vorbild eines neu zu schaffenden Brandenburger Instituts für Industrielle Innovation (B3I) näher erläutert werden. Das B3I gliedert sich in drei funktionale Hauptbestandteile, die dem Anspruch an Technologie, Information, Kommunikation sowie Qualifizierung gleichermaßen Rechnung tragen. Die Basis bildet das B3I-Lab, in dem industrielle Zukunftstechnologien lauffähig abgebildet werden. Arbeitsschwerpunkte im B3I-Lab beinhalten die Identifizierung und systematische Verknüpfung des vorhandenen industriellen Leistungsportfolios der Haupt-
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stadtregion mit einer „zerstörerischen“ Innovationskraft, die sich insbesondere durch neue Technologien in der Informationsverarbeitung (IKT) herausbildet. Diese Entwicklung wird in Fachkreisen auch als nächste industrielle Revolution oder Industrie 4.0 bezeichnet und ist derzeit durch erhebliches FuE-Engagement in Bund und Ländern gekennzeichnet. Voraussetzung ist die flächendeckende Etablierung des „Internet der Dinge“ und „Internet der Dienste“ im Rahmen bestehender und neuer Wertschöpfungsketten. Der Systemgedanke Industrie 4.0 ertüchtigt Cyber-Physical Systems zur Anwendung in der produzierenden Industrie. Dadurch wird die modelltechnisch, kommunikationstechnisch und interaktionsmäßig durchgängige Bearbeitung von Produkten, Produktionsmitteln und Produktionssystemen erreicht. Flankiert werden diese Entwicklungen durch die Entwicklung und Einführung neuer Organisations- und Gestaltungsmodelle sowie neuer Arbeitskulturen (offenes Informationsfundament). Dadurch können dynamische Veränderungen in industriellen Wertschöpfungsketten, die durch Markt- und Absatzvolatilität, ad hoc-Lieferstrukturen und variable Produktionskapazitäten entstehen, weitaus schneller erkannt und kompensiert werden. Unterschiedliche Infrastrukturplattformen für Entwurf, Realisierung und Erpro-
bung neuer industrieller Technologien mit ausgewähltem Regionalbezug (zum Beispiel Leichtbau, energietechnische Anlagen, Metall-Wertschöpfungsnetzwerke, ressourceneffiziente Produktionsverfahren) können interdisziplinär integriert werden. Innovative Ansätze im B3I-Lab eröffnen neue Zusammenarbeitsmöglichkeiten für die Beschäftigten in der industriellen Produktion. Was ein Institut für Industriepolitik tun kann Der Mensch steht im Mittelpunkt beim Entwurf neuartiger Assistenzsysteme für die wandelbare Fabrik der Zukunft. Die Verwirklichung dieser Ziele erfordert menschzentrierte und soziotechnisch ausgewogene Fabrik- und Arbeitssysteme in direkter Anbindung an FuE-Einrichtungen. Arbeiten in einem sich ständig verändernden Arbeitsumfeld mit immer komplexeren Werkzeugen stellt extrem hohe Anforderungen an Fähigkeiten und Wissen der beteiligten Mitarbeiter. Diesen Anforderungen wird durch ein aufgabenspezifisches Training innerhalb der Technologieplattformen im B3I-Lab Rechnung getragen. Die Entwicklung und Bereitstellung angepasster IKT-Dienstleistungsmodelle für die industrielle Produktion erfolgt in einem neu zu organisierenden Innovations- und Servicenetzwerk, dem
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B3I-Net. Die Implementierung neuer, rechtlicher und organisatorischer Funktionalitäten für die Beförderung von unternehmensübergreifenden Innovationsprozessen, insbesondere in KMU-Verbünden, liefert wichtige Voraussetzungen bei der Standortsicherung im Innovationsprozess. Aus- und Weiterbildung sind das A und O Die Weiterentwicklung des industriellen Innovationsraums in Berlin und Brandenburg wird durch die Integration und Erweiterung der bestehenden Innovations- und Technologienetzwerke in überregionaler Form und über bestehende Technologie- und Clusterstrukturen hinweg erreicht. So können beispielsweise technisch spezialisierte Leistungsträger in der Fahrzeugtechnik mit denen der Luftfahrt unter der Überschrift Stoff- und Funktionsleichtbau oder die der Energietechnik mit denen der Gebäudetechnik unter dem Begriff Thermoenergetische Effizienzsteigerung verknüpft werden. Das B3I-Net organisiert unter Einbindung von Experten aus dem In- und Ausland Veranstaltungen wie Workshops oder Fachkonferenzen zu ausgewählten industriellen Themengebieten. Eine weitere Aufgabe bildet die Verknüpfung des B3I-Net mit existierenden sozialen und staatlichen Netzwerken
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unter Berücksichtigung des industriellen Bezugs. So können Fachkräftebedarfe, Zulieferangebote, Finanzierungsanfragen u. v. m. direkt und zeitnah kommuniziert werden. Das dritte Element beinhaltet ein regional abgestimmtes Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebot, das in enger Verknüpfung mit den regionalen Unternehmen, tertiären Bildungsträgern und Forschungseinrichtungen im Rahmen der B3I-Academy umgesetzt wird. Dabei sind individuelle, bedarfsorientierte Lösungen für die stark variierenden Betriebsgrößen zu entwickeln und neue Wege der Kooperation zwischen Unternehmen und Forschungsstellen (Perspektivwechsel) zu erschließen. Die kontinuierliche Aus- und Weiterbildung von industrierelevanten Fachkräften für die gesamte Hauptstadtregion bekommt eine hohe Priorität. Die im globalen Wettbewerb erforderlichen industriellen Schlüsseltechnologien wie zum Beispiel im Stoff-, Form-, und Funktionsleichtbau müssen zeitnah erprobt, bedarfsgerecht adaptiert und über personellen Transfer in die Unternehmen der Region überführt werden. In der B3I-Academy wird ein „Bildungsatlas Technik Berlin-Brandenburg“ erstellt werden können, der die vorhandenen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in der Hauptstadtregion beschreibt, aber auch Defizite aufzeigt und Handlungsempfehlungen für das lebenslange Lernen formuliert.
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Die systematische Konzeption und Verwirklichung der Drei-SäulenStrategie mit Hilfe ausgewählter Methoden und Verfahren wie dem B3I bildet perspektivisch einen „Industriellen Innovationsraum Berlin-Brandenburg“, der sich auch bei kurzzyklischen Konjunkturschwankungen anpassungsfähig und robust erweist und neue Marktchancen zeitnah durch Produkte und Produktionsverfahren mit hoher Qualität aufgreift und umsetzt. Dadurch wird er attraktiv für Investoren und Fachkräfte aus dem Ausland. Durch die vorhandenen und gut vernetzten Unternehmens- und Zulieferstrukturen im regionalen Wirtschaftsverkehr entstehen in Verbindung mit FuE-Einrichtungen zukunftsweisende industrielle Innovationen, deren Organisation und Finanzierung mit neuen Instrumenten erprobt und kommuniziert wird. Eng verzahnte Entwurfs-, Entwicklungs- und Herstellungsprozesse (open innovation) führen Kunden und regionale Produzenten viel schneller und besser als bisher zusammen und schaffen die technologische Basis für die zunehmende Individualisierung von Produkten bei Konsum- und Investitionsgütern. Dieser Innovationsraum erzeugt auch soziale Innovationen, die sich in der Etablierung sozialer Netzwerke zu Berufs- oder Bildungsthemen oder der Übernahme ehrenamtlicher Verpflich-
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tungen ausprägen. Die sekundären und tertiären Bildungsträger (zum Beispiel Berufsschulen, Hochschulen und Berufsakademien) haben ihr Bildungsangebot systematisch aufeinander abgestimmt, erfüllen dadurch regionale Bildungsaufträge und erzeugen andererseits internationale Forschungsexzellenz. Dadurch wird der wachsende Bedarf an industrienahen Fachkräften und Absolventen in naturwissenschaftlich/ technischen Studiengängen abgesichert. Die vielfältigen beruflichen Erfahrungen älterer Arbeitnehmer bei der Schaffung neuer Arbeitssysteme und -strukturen werden optimal genutzt und unternehmensübergreifende, altersund qualifikationsgerechte Beschäftigungsmodelle erzeugen Freiräume, die den demographischen Wandel in der Gesellschaft abfedern können. Der industrielle Innovationsraum Berlin-Brandenburg befördert die kulturelle Identität der industriellen Produktion und verbindet diese mit dem Wohlstand in der Region. | PROF. DR. ULRICH BERGER
ist Lehrstuhlinhaber Automatisierungstechnik der BTU Cottbus und Sprecher des Industrieclusters Metall des Landes Brandenburg.
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PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT UND DOCH NICHT VERSTANDEN
UNGELIEBT, BEGEHRT UND DOCH NICHT VERSTANDEN Die deutsche Industrie ist entscheidend für Wachstum und Beschäftigung — Von Philipp Fink n der Bedeutung der Industrie als wichtige Quelle für Wachstum und Wohlstand scheiden sich die Geister. Das eine Lager verweist auf die stabilisierende Wirkung der Industrie während der Finanz- und Wirtschaftskrise. Der im Vergleich zu anderen Staaten hohe Industrieanteil an Beschäftigung und Produktion wird im Zusammenhang mit einer klugen Krisenpolitik und einer gut funktionierenden Sozialpartnerschaft als Grund für die schnelle Erholung der deutschen Wirtschaft von der Krise angeführt. Nach Jahren der offiziell sanktionierten Deindustrialisierung wird nun die Reindustrialisierung Europas gefordert. Einst als Standortnachteil und als rückschrittlich kritisiert, wird eine starke Industrie nun als Wettbewerbsvorteil und Zeichen der Moderne gesehen. Das andere Lager moniert die umwelt- und klimaschädlichen Auswirkungen der ressourcen- und energieintensi-
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ven Produktionsweise. Diese Kritik gipfelt in einem post-wachstumskritischen Diskurs, der sich in Teilen durch vermehrte Bürgerproteste gegen Industrieprojekte ausdrückt und in seinen Extremen eine De-Growth-Strategie fordert – also weniger Wachstum und damit weniger industrielle Produktion. Ein zweiter kritischer Strang verweist auf den langanhaltenden Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Saturierte Märkte, kostengünstigere Produktionsstandorte im Ausland und neue Konsummuster durch veränderte gesellschaftliche Bedarfe (Stichwort: demografische Entwicklung) sowie neue Technologien würden, langfristig gesehen, die Deindustrialisierung beschleunigen und neue Dienstleistungsbranchen entstehen lassen. So weit die Bandbreite der Diskussion: Zwar sind die Positionen in Teilen berechtigt und nachvollziehbar, doch sind die Argumente in ihrer Absolutheit
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zu hinterfragen. Das tatsächliche Bild der Industrie ist jenseits der dargestellten Maximalpositionen diffuser und die Schlussfolgerungen daraus sind differenzierter. Industrie hat wieder Boden gut gemacht Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die deutsche Industrie vom Krisenjahr 2008/2009 einigermaßen erholt. Doch von einem Boom kann keine Rede sein. Denn nach Berechnung von Destatis war 2012 der Anteil des produzierenden Gewerbes1 an der Gesamtwirtschaftsleistung mit 26,2 Prozent nur marginal höher als ihr Anteil von 25,9 Prozent im Jahre 2008. Damit hat die Industrie teilweise Boden wieder gut gemacht. Denn im Krisenjahr 2009 verringerte sich ihr Beitrag auf weniger als 25 Prozent. Dennoch ist ihr heutiger Anteil einer der höchsten Werte unter den Industrieländern. Zum Vergleich lag 2012 der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung in Frankreich bei 12,6 Prozent, in Großbritannien bei 16,5 Prozent und in Schweden bei 20,5 Prozent. Das verarbeitende Gewerbe treibt nach wie vor den Export. So gingen 2011 knapp 93 Prozent der Ausfuhren auf sein Konto. Darüber hinaus ist die Industrie ein wichtiger Nachfrager für Waren und Güter aus den anderen Sektoren der Wirtschaft. Schätzungen gehen davon
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aus, dass die Nachfrage aus der Industrie zu ca. einem Drittel der Bruttowertschöpfung beiträgt.2 In Puncto Beschäftigung ergibt sich ein anderes Bild. Zwar blieben die gefürchteten Massenentlassungen in der Industrie wegen der umsichtigen Krisenpolitik (Regelung zur Kurzarbeit, Investitionsprogramm usw.) aus, doch nach Berechnungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lag die industrielle Beschäftigung 2011 immer noch unter dem Niveau von 2008. Damit nahm der Anteil der Industrie an der Gesamtbeschäftigung von 19,6 Prozent auf 18,8 Prozent ab – die Erholung der deutschen Industrie nach der Krise fand also ohne Beschäftigungsausweitung statt. Stattdessen wurde die Arbeitsproduktivität erhöht. Ein Grund für die unmittelbare Erholung war die Exportnachfrage, die durch diverse staatliche Konjunkturprogramme der Haupthandelspartner angeheizt wurde. Die deutschen Unternehmen konnten wegen voller Lager, freier Produktionskapazitäten und geringer Freisetzung von Arbeitskräften die gestiege1
Im Zusammenhang mit der Industrie wird zwischen produzierendem Gewerbe ohne Baugewerbe (inkl. Bergbau, Energie, Wasserversorgung und dem verarbeitenden Gewerbe) und verarbeitendem Gewerbe differenziert. Letzteres entspricht dem angelsächsischen Begriff des Manufacturing und kommt dem deutschen Verständnis von Industrie am Nächsten.
2 Birgit Gehrke et al., Adäquate quantitative Erfassung wissensintensiver Dienstleistungen. Schwerpunktstudie zum deutschen Innovationssystem 13/2009, Hannover 2009, S. 21-22.
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ne Nachfrage schnell bedienen. Damit konnte der Exporteinbruch vom Krisenjahr 2009 im folgenden Jahr ausgeglichen werden, und die Exporte des Jahres 2011 überstiegen die Vorkrisenwerte von 2007 deutlich. Des Weiteren hat die Zunahme des Exports von Waren außerhalb der krisengeplagten Eurozone – vornehmlich nach China, den USA und Indien – geholfen, den Einbruch der Nachfrage aus dem Euroraum zu überwinden. Dies betrifft vor allem die wichtige Sparte der Investitionsgüter – also Maschinen- und Automobilbau. Ein Trend, der sich nach jüngsten Berechnungen des DIW weiter verfestigt. Denn während 2012 Kunden aus dem Euroraum fast 18 Prozent weniger Bestellungen aufgaben als im Vorjahr, nahmen die Aufträge außerhalb des Euroraums um mehr als vier Prozent zu. Der NichtEuroraum war für fast 40 Prozent aller Exportaufträge der Investitionsgüterbranche verantwortlich. So gingen beispielsweise nach Angaben der Automobilindustrie fast 75 Prozent der PkwExporte nicht in den Euroraum.3 So verwundert es nicht, dass der Maschinenbau und die Automobilindustrie im letzten Jahr ihre Produktion weiter ausbauen konnten. Doch alle anderen Zweige des verarbeitenden Gewerbes – darunter die Schlüsselbranchen Chemie 3 Dorothea Lucke, Deutsche Industrie stemmt sich gegen die Krise im Euroraum, in: DIW Wochenbericht, 48/2012, S. 18.
sowie die Elektro- und Metallindustrie – mussten 2012 mit leichten Rückgängen kämpfen. Grund für die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Branchen sind andere Produktmärkte und Nachfragestrukturen. Diese Industriezweige stellen als nachgelagerte Branchen mehrheitlich keine Endprodukte her. Sie produzieren Waren, die bei der Produktion von Investitions- und Gebräuchsgütern verwendet werden – also beispielsweise chemische Grundstoffe, Stahl, Fahrzeugteile, Halbleiter usw. Deshalb orientieren sich die Unternehmen dieser Branchen überwiegend am Binnenmarkt und nur ein geringer Teil ihrer Produkte (2012: ca. 33 Prozent) wird exportiert. Abhängig von wenigen Märkten und Branchen Erfolg oder Misserfolg dieser Branchen ist damit im Großen abhängig von der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung. Laufen, wie geschehen, die staatlichen Konjunkturpakte aus und bauen Kunden wegen schlechter Geschäftsaussichten als Folge der Eurokrise eher ihre Lagerbestände ab als neue Waren zu bestellen, dann gehen die Bestellungen an Vorleistungen zurück und die Produktion wird letztendlich gedrosselt. Doch damit zeigt sich eine Schieflage. Denn zum einen werden die Märkte der Schwellenländer (vor allem China) und die USA als Absatzmärkte wegen der Eurokrise immer wich-
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tiger. Die Exportindustrie wird damit zunehmend abhängig von wenigen Märkten. Zum anderen wird das Wachstum der Industrie derzeit von wenigen Branchen getragen. Zusammen mit der Elektroindustrie waren der Maschinen- und Fahrzeugbau für fast 45 Prozent der Wirtschaftsleistung des produzierenden Gewerbes 2011 verantwortlich. Letztere dominierten 2012 wiederum den Export. Ist wirklich alles Hightech? Ein entscheidender Faktor für den Weltmarkterfolg der deutschen Industrie ist ihre Fähigkeit innovative Produkte herzustellen. Diese technologische Leistungsfähigkeit erklärt die starke internationale Position des Maschinen- und Fahrzeugbaus. Denn sie zeichnen sich durch eine Spezialisierung auf mittelwertige Technologien aus. Im Gegensatz zur Spitzenforschung, die im Allgemeinen als Hightech bezeichnet wird, ist der Anteil an Grundlagenforschung gering. Dagegen sind die Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf Prozess- und Produktinnovationen ausgerichtet. Innovationen sind eher inkrementell und bauen auf bestehende Technologien kontinuierlich auf. Zwar ist die Höhe der Forschungsausgaben im OECDVergleich eher durchschnittlich, doch ist im internationalen Vergleich die Zahl an Patentanmeldungen hoch und
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vor allem der Markterfolg der Innovationen sehr bedeutend.4 Das heißt nicht, dass Spitzenforschung nicht stattfindet. Aber die Bedeutung des Technologiebereichs für die Industrie ist im Vergleich zu mittelwertigen Technologien geringer. Die hohe Anzahl an Patentanmeldungen aus der Spitzenforschung steht im Widerspruch zur wirtschaftlichen Bedeutung des Sektors. Diese Diskrepanz wird damit erklärt, dass deren Forschungserkenntnisse von Firmen in den niedrigeren Technologiesegmenten genutzt werden. Die geringe Präsenz deutscher Firmen im Bereich der Spitzentechnologien wird mit dem schwierigen Marktumfeld begründet. So sind bestimmte Geschäftsfelder wegen ihrer strategischen Bedeutung oftmals staatlich geschützt. Der Kostenaufwand des Markteintritts ist wegen der nötigen Ausgaben für Forschungsleistungen sehr hoch. Die Produktlebenszyklen bestimmter Technologien (z.B. Kommunikationstechnik, Halbleiter) werden immer kürzer, was zur Folge hat, dass die Produktionskosten als Wettbewerbsfaktor wichtiger werden. Damit kommt es oftmals zur Verlagerung der Produktion an kostengünstigere Standorte im Ausland. Die hohe Innovationsfähigkeit deutscher Firmen im Bereich mittelwertiger 4 Christian Rammer, Innovationen: Zur technologischen Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie, in: Martin Allespach und Astrid Ziegler (Hg.), Zukunft des Industriestandortes Deutschland 2020, Marburg 2012, S. 68f.
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Technologien verschafft den Unternehmen deutliche Wettbewerbsvorteile in Märkten, die durch eine große Konkurrenz und Kostendruck gekennzeichnet sind. Denn ihre technologische Leistungsfähigkeit erlaubt es ihnen, lukrative Produkt- und Technologienischen zu besetzen. Dieser Zusammenhang erklärt im Übrigen auch den Untergang der Solarindustrie in Deutschland, die eine sehr geringe Innovationsleistung vorwies und von Wettbewerbern mit kostengünstigeren Produkten verdrängt wurde. Kein Gegensatz zwischen Industrie und Dienstleistungen Die Zahlen zum Zustand der Industrie und ihre öffentliche Wahrnehmung verdecken einen unterschwelligen Strukturwandel. Denn die Bedeutung der Industrie für die Wirtschaftsleistung und Beschäftigung nimmt über die Zeit gesehen zu Gunsten des Dienstleistungssektors ab. So stiegen zwischen 1970 und 2010 seine Anteile an der Wirtschaftsleistung von 48 Prozent auf über 70 Prozent und an der Gesamtbeschäftigung von 45 Prozent auf fast 74 Prozent.5 Sicherlich ist diese Entwicklung eine Folge des Strukturumbruchs. Marktverdrängung, neue Technologien und 5 Siehe dazu: Alexander Eickelpasch: Industrienahe Dienstleistungen: Bedeutung und Entwicklungspotenziale, WISO Diskurs, Bonn 2012.
veränderter Konsum haben in einigen Industrieregionen zu einer schmerzhaften Deindustrialisierung geführt. Doch mehren sich die Anzeichen, dass dieser Deindustrialisierungsprozess in den letzten zehn Jahren aufgehalten wurde. Weitere große Strukturverschiebungen sind ausgeblieben. Der Strukturwandel ist somit nicht einem saldenmechanischen Nullsummenspiel gleich zu setzen – nach dem Motto: Des einen Sektors Verlust ist des anderen Gewinn. Vielmehr verwischen die Grenzen zwischen den beiden Wirtschaftssektoren. Sie sind zunehmend miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Entwicklung. Es sind hochwertige unternehmensnahe Dienstleistungen als neue Geschäftsfelder entstanden. Ein wesentlicher Faktor hierfür ist die zunehmende Digitalisierung, die alle Geschäfts- und Produktionsprozesse sowie Kundenbeziehungen beeinflusst. Beispielsweise werden webgestützte Bestellsysteme eingesetzt oder Industriegüter mit Servicepaketen verkauft. Die zunehmende internationale Verflechtung der Firmen und die Herausbildung internationaler Wertschöpfungsketten erfordern einen höheren Steuerungs- und Kontrollbedarf über Ländergrenzen hinaus. Forschung und Entwicklung sowie Werbung, Marketing und Design sind entscheidende Wettbewerbsfaktoren für international
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tätige Unternehmen. Entsprechend werden diese Funktionen entweder von externen Dienstleistern übernommen oder sie gehören zu den Kernaufgaben in den deutschen Konzernzentralen. Industrie zugleich Teil des Problems und der Lösung Als Folge dieser Entwicklung sind die unternehmensnahen Dienstleistungsfelder deutlich gewachsen. Ihr Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Produktion ist zwischen 1970 und 2010 von knapp 14 Prozent auf 32 Prozent gestiegen. Waren sie 1970 für knapp sechs Prozent aller Dienstleistungsjobs verantwortlich, so war 2010 fast jeder Fünfte aus diesem Sektor dort beschäftigt. Somit arbeiteten im OECD-Vergleich nur in Großbritannien und in den USA mehr Menschen in unternehmensnahen Dienstleistungen als in Deutschland. Da die Tätigkeiten eng mit denen ihrer Auftraggeber in der Industrie verbunden sind, werden unternehmensnahe Dienstleistungen auch exportiert, wenn ihre Geschäftspartner im Ausland tätig sind. Somit ist Deutschland hinter den USA und vor China der zweitgrößte Exporteur von unternehmensnahen Dienstleistungen. Ohne Zweifel hat die Industrie eine tragende Rolle beim hohen Ressourcenund Energieverbrauch, bei der Emission von CO2 und von weiteren Schadstoffen
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wie Stickoxiden. Gerade die deutschen Schüsselbranchen der Chemie und der Metallindustrie haben energieintensive Produktionsverfahren. Nach Schätzungen des Umweltbundesamtes für das Jahr 2010 war das verarbeitende Gewerbe für 20 Prozent der CO2-Emmissionen verantwortlich. Dennoch ist viel passiert. Die Energieproduktivität (BIP/Primärenergieverbrauch) ist seit 1990 um ca. 40 Prozent gestiegen. Es wird also weniger Energie verbraucht. Damit stößt das Wirtschaftswachstum weniger CO2 aus. Doch bei der reduzierten Energie- und Kohlenstoffintensität des Wachstums müssen diverse Sondereffekte berücksichtigt werden. Zum einen hat der Niedergang der DDR-Industrie als Folge der Wiedervereinigung einen wesentlichen und einmaligen Beitrag zur CO2-Emmissionsminderung und Erhöhung der Energieeffizienz geleistet. Zum anderen ist die kohlenstoff- und ressourcenintensive Produktion im Zuge der vergangenen Restrukturierungsphasen der deutschen Industrie ins Ausland (z. B. nach China) verlagert worden. Damit wurde der CO2-Ausstoß exportiert. Zum Teil werden diese Produkte wieder nach Deutschland als Endprodukte oder als Vorleistungen importiert. Aufgrund des höheren CO2-Ausstoßes bei der Herstellung dieser Produkte importieren wir mehr CO2-Emissionen als wir exportieren. Schließlich, obwohl es durchaus
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Fortschritte bei der Ressourcen- und Energieeffizienz zu verzeichnen gibt, ist unser Wachstum immer noch im hohen Maß kohlenstoff- und energieintensiv. Mit der Erholung der Wirtschaft nach dem Krisenjahr 2009 stieg auch der Energie- und Ressourcenverbrauch und damit der CO2-Austoß erneut an. Von absoluter Entkopplung kann also keine Rede sein. Das absolute Niveau der deutschen CO2-Emissionen bleibt weiterhin um mehr als das Vierfache über der angestrebten Menge. Green Tech als Wachstumsmotor und Klimaretter Gleichwohl spielt die Industrie eine wichtige Rolle bei der Lösung der Umwelt- und Klimaprobleme. Denn sie kann die nötigen Technologien und Produkte liefern, die einen wichtigen Beitrag leisten, um die Energie-, Ressourcen- und Materialeffizienz zu erhöhen und den Ausstoß an Kohlendioxid zu minimieren. Die Entwicklung des „grünen“ Leitmarkts, auch bekannt als GreenTech, verdeutlicht dies. Hierunter sind alle Branchen erfasst, die für den Bereich Umwelttechnik und Ressourceneffizienz Produkte anbieten. Dies schließt sowohl Anbieter erneuerbarer Energien ein, als auch Spezialchemiehersteller, Spezialisten für Entsorgungstechnik, Anlagenbauer und Automobilzulieferer. Dieser Leitmarkt ist somit eine Querschnitts-
branche mit Überschneidungen zu den klassischen Industriezweigen und Wirtschaftssektoren. Aufgrund der Universalität der Umwelt- und Klimaproblematik sind Produkte aus Umwelttechnik und Ressourceneffizienz international nachgefragt. Angetrieben durch den hohen „grünen“ Anteil an den Konjunkturpaketen, die als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 von vielen Staaten initiiert wurden, ist der GreenTech-Markt rasant gewachsen. Betrug der weltweite Markt 2007 noch 1.383 Milliarden Euro, wurde sein Umfang 2010 auf 1.930 Milliarden Euro geschätzt. Alleine der deutsche Markt ist von geschätzten 200 Milliarden Euro auf 282 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum gewachsen.6 Dieser Markt hat sich somit zu einem wichtigen Geschäftsfeld für deutsche Unternehmen entwickelt, die einen Weltmarktanteil von 15 Prozent halten. Bei einer prognostizierten Wachstumsrate des globalen GreenTech-Markts von mehr als fünf Prozent pro Jahr wird seine Bedeutung als Zukunftsmarkt weiter zunehmen. Bereits 2011 besaß dieser Wirtschaftszweig in Deutschland einen Anteil von fast elf Prozent am Bruttoinlandsprodukt und beschäftigte 1,4 Millionen Menschen in Dienstleistungen und Industrie. Sicherlich sind die Wachs6 Siehe dazu: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: GreenTech made in Gemany 3.0 Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, Berlin 2012.
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tumsprognosen angesichts der künftigen konjunkturellen Unwägbarkeiten mit Vorsicht zu genießen. Sie machen aber deutlich, dass die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz lukrative Geschäftsfelder eröffnen sowie Beschäftigung sichern und ausbauen kann. Somit findet ein Strukturwandel statt, der zugleich der traditionellen Industrie und ihren Arbeitnehmern neue Möglichkeiten beim ökologischen Umbau schafft. Eine integrierte Industriepolitik wird gesucht Die kurze Zustandsbeschreibung der deutschen Industrie unterstreicht die zentrale Bedeutung für Wachstum und Beschäftigung. Allerdings sind Schieflagen zu erkennen, die behoben werden müssen, um fehlerhafte Entwicklungen und spätere schmerzhafte Restrukturierungen zu umgehen. In diesem Fall ist die Politik gefragt, entsprechende Anreize zu schaffen und Unterstützung zu leisten. Denn die geforderte Renaissance der Industrie setzt eine kluge Industriepolitik voraus. Zwar findet Industriepolitik in verschiedenem Umfang und durch verschiedene Akteure auf verschiedenen Politikebenen statt, doch sind diese Maßnahmen in seltenen Fällen koordiniert und miteinander abgestimmt.7 Das starke Wachstum des grünen Leitmarkts unterstreicht die wichtige
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Rolle des Staats bei der Schaffung von Märkten, der Gestaltung von Rahmenbedingungen und dem Setzen von Anreizen, um Markteintrittsbarrieren abzuschaffen. Ohne die Konjunkturpakete der vergangenen Jahre wäre der Markt für Umwelttechnik und Ressourceneffizienz nicht in der Form gewachsen. Ebenso ist es undenkbar, dass der Siegeszug der erneuerbaren Energien ohne das entsprechende Gesetz stattgefunden hätte. Der Erfolg von GreenTech zeigt auch, dass die Industriepolitik als Querschnittsaufgabe stärker in den Dienst gesellschaftlicher Bedürfnisse gestellt werden muss und sich nicht an einzelnen Politikfeldern orientiert oder einzelne Branchen und Technologien fördert. Die enger werdende Verzahnung zwischen Dienstleistungen und materieller Produktion erfordert eine integrierende Vorgehensweise, die einen branchen- und sektorübergreifenden Ansatz verfolgt. Damit muss Dienstleistungspolitik Teil einer integrierten Industriepolitik sein. Ständige Innovationen sind ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor für die deutsche Industrie. Entsprechend sollte die Forschungspolitik auf die Verzahnung von Unternehmen aus den verschiedenen 7 Jörg Meyer-Stamer, Moderne Industriepolitik oder postmoderne Industriepolitiken?, Schriftenreihe Moderne Industriepolitik 1/2009, Berlin. 8 Hans G. Schreck und Uwe Thomas, Nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit durch junge Unternehmen, WISO direkt, Bonn.
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Technologiesparten achten und die Zusammenarbeit mit den Hochschulen unterstützen. Aufgrund des Kostendrucks im internationalen Wettbewerb und der hohen Eintrittsbarrieren sollte die Forschungspolitik am Einsatz des Personals ansetzen. Somit können beschäftigungspolitische Effekte erzielt werden und junge Unternehmen unterstützt werden.8 Schließlich muss die beginnende Abhängigkeit des Exports von wenigen außereuropäischen Märkten abgewendet und die Dominanz der industriellen Wertschöpfung durch wenige Branchen gemildert werden. Die Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Denn zum einen werden Konsum und Investitionen angeregt. Zum anderen könnte der gebeutelte Euroraum von einer verstärkten deutschen Importnachfrage profitieren. Doch diese Aufgabe ist nicht nur durch die Industriepolitik zu lösen, sondern durch eine europäische Krisenpolitik, die nicht allein auf Austerität setzt. | DR. PHILIPP FINK
ist Referent für Nachhaltige Strukturpolitik in der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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ANDREA WICKLEIN | WOHLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!
WOHLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN! Wie die kleinen und mittleren Unternehmen weiter für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen können — Von Andrea Wicklein ir sind ein reiches Land. Wir bauen die besten Autos und Flugzeuge. Wir haben die besten Ingenieure. Wir forschen, entwickeln und verkaufen unsere Ideen und Produkte weltweit. „Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal – weltweit anerkannt und geschätzt. Gleichzeitig spüren die Menschen in Deutschland, dass die Schere zwischen „arm“ und „reich“ immer weiter auseinandergeht. Dies wurde beispielsweise sehr deutlich in der Diskussion über den von der Bundesregierung zensierten Armuts- und Reichtumsbericht. Wir können unseren Wohlstand heute nur dann sichern, wenn wir unser Land zusammenhalten, wenn alle Menschen gleiche Chancen haben und niemand zurückbleiben muss. Deshalb müssen wir soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg endlich wieder miteinander verbinden. Dafür brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn, eine
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solidarische Bürgerversicherung und Bildungschancen für alle. Jedoch: Wohlstand muss erwirtschaftet werden. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliches Wachstum sind zwei Seiten derselben Medaille. Einerseits ist der soziale Frieden in Deutschland ein wesentlicher Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs. Andererseits wäre unser soziales System ohne die Leistungskraft der Unternehmen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu halten. Der Mittelstand stellt 60 Prozent der Arbeitsplätze Deshalb brauchen wir eine aktive Industrie- und Mittelstandspolitik. Unternehmergeist ist Voraussetzung für den Fortbestand der sozialen Marktwirtschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland: Mittelständische Unternehmen erbringen 40 Prozent
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unserer Wirtschaftsleistung. Sie beschäftigen 60 Prozent unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und biden 80 Prozent der Azubis aus. Der deutsche Mittelstand und das Handwerk sind nicht nur das vielgepriesene Rückgrat der deutschen Wirtschaft: Sie sind vielmehr ihr Herz. Es fehlen große Unternehmeszentralen … Die vielen kleinen und mittleren Unternehmen stehen für Qualität, Erfindergeist, Wettbewerbsfähigkeit, ebenso wie für soziale Verantwortung, gute Arbeit und Aufstiegschancen. Rund 3,7 Millionen kleine und mittlere Unternehmen sowie Selbständige in Handwerk, Industrie, Handel, Tourismus, Dienstleistungen und Freien Berufen prägen die Vielfalt und den Erfolg des deutschen Mittelstandes. Gemeinsam mit ihren Arbeitnehmern sorgen sie mit Kreativität und Innovationen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Und das tun sie nicht weit weg, sondern direkt vor Ort: in unserer Region, unserer Stadt, unserer direkten Nachbarschaft. In Brandenburg ist die Wirtschaft eindeutig kleinteilig organisiert. Im Durchschnitt hat ein mittelständischer Betrieb bei uns 14 Beschäftigte. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt sind es 18. Uns fehlen immer noch Unternehmens-
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zentralen, aber: diese Kleinteiligkeit ist nicht zwangsläufig ein Nachteil. Kleine und mittlere Unternehmen sind sehr flexibel, innovativ und zeichnen sich häufig durch eine starke regionale Verbundenheit aus. In der Finanzund Wirtschaftskrise war es zuallererst der Mittelstand, der unser Land gut durch diese Krise geführt hat – mit Vernunft und Verantwortung, langfristiger Orientierung und Verzicht auf kurzsichtige Zockerei. Auch deshalb war Brandenburg weniger von der Krise betroffen als andere Bundesländer. Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Kreditfinanzierungen, Energiewende, Forschung und Entwicklung und Bürokratiebelastung – das sind die Themen, die landauf, landab mittelständische Unternehmer beschäftigen. Im Vergleich zu großen Konzernen haben mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe besondere Chancen, aber auch spezifische Herausforderungen in diesen Bereichen zu bewältigen. Sie stehen mit den Großunternehmen in einer harten Konkurrenz um Fachkräfte, haben einen eingeschränkteren finanziellen Spielraum und sind vom bürokratischen Aufwand vergleichsweise höher betroffen. Ein starker Mittelstand braucht also Rahmenbedingungen, die ihn stark machen. Die SPD setzt weiterhin auf den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Ein starker und innova-
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tiver Mittelstand ist der Garant dafür. Denn Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft sind Schlüsselfaktoren für Wachstum und Beschäftigung. Und es ist die Innovationsfähigkeit unserer kleinen und mittleren Unternehmen, die unseren Wohlstand entscheidend mitbegründet. Es ist ihre Risiko- und Leistungsbereitschaft, die Wachstum, Wohlstand und Innovation sichern. Wir wollen die Rahmenbedingungen zur Entfaltung von Mittelstand, Selbständigkeit und Existenzgründungen verbessern. Das Handwerk spielt dabei – auch als „Ausbilder der Nation“ – eine zentrale Rolle. … und es fehlen qualifizierte Fachkräfte „Innovation“ heißt wörtlich „Neuerung“ oder auch „Erneuerung“. Innovationen sind der Schlüsselfaktor, um den tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft und den globalen ökonomischen und ökologischen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Es sind die Ideen der kleinen und mittleren Unternehmen für neuartige Produkte und ihre Bereitschaft, die Unsicherheiten der Entwicklung in Kauf zu nehmen, die ein Schlüssel zur globalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sind. Mit über 30.000 forschenden und 110.000 hoch innovativen Unternehmen gibt der deutsche Mittelstand das Entwicklungs-
tempo vor. Dabei hat die Zahl der forschenden kleinen und mittleren Unternehmen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Allerdings stellt sich die Situation in Brandenburg ein wenig anders dar: Aufgrund der fehlenden Unternehmenszentralen fehlt es letztendlich auch an unternehmensnaher und unternehmenseigener Forschung und Entwicklung. Zwar konzentriert sich in der Region Berlin-Brandenburg 25 Prozent der deutschen Grundlagenforschung, aber die anwendungsbezogene Industrieforschung ist in Brandenburg unterentwickelt. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von Staat und Hochschulen liegen in Ostdeutschland bei 300 Euro pro Einwohner und damit 60 Euro höher als die durchschnittliche Investitionshöhe in den alten Ländern. Aber: Die Ausgaben der Wirtschaft in diesem Bereich belaufen sich in Ostdeutschland auf 220 Euro pro Einwohner – in den alten Ländern sind es im Vergleich 640 Euro. Hier besteht für Brandenburg noch Handlungsbedarf. Wie Studien belegen, schaffen Mittelständler in innovationsgetriebenen Wirtschaftszweigen deutlich mehr Arbeitsplätze als Unternehmen in anderen Branchen. Davon profitieren natürlich auch die Kommunen und Länder. Gleichwohl haben kleine und mittlere Unternehmen vielfach mit Innovationshemmnissen zu kämpfen:
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Mangel an Fachkräften, schwierige Finanzierungsbedingungen und Belastungen durch Bürokratie. Stichwort „Fachkräftemangel“: Als Haupthemmnis wird seitens der Unternehmen der zunehmende Fachkräftemangel, insbesondere in den sogenannten MINT (Mathematik, Ingenieurs-, Naturwissenschaften und Technologie)Berufen genannt. Ohne Arbeitnehmer mit dem erforderlichen Fachwissen, sind Unternehmen schlichtweg nicht in der Lage zu Innovation, Wachstum und Wohlstand beizutragen. Mittelstand und Handwerk brauchen bei der Sicherung ihrer Fachkräftebasis besondere Unterstützung. Häufig können kleinere und mittlere Unternehmen nicht mit den Angeboten von großen Unternehmen an Hochschulabsolventen und Facharbeitern konkurrieren. Es gehört inzwischen zu ihrer Alltagserfahrung, dass die großen Unternehmen die Fachkräfte direkt von der Universität oder Fachhochschule anwerben. Die Fachkräftesicherung ist eine der zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen in den kommenden Jahren. Das bestehende Fachkräftepotenzial in Deutschland wird bislang nicht annähernd ausgeschöpft. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit könnten bis 2025 zusätzlich bis zu 5,2 Millionen Fachkräfte gewonnen werden – insbesondere unter Jugend-
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lichen, Frauen, Älteren, Migrantinnen und Migranten. Gleiches gilt für die Geringqualifizierten. Klar ist: die Fachkräftebasis muss sich verbreitern. Dazu muss die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert und ausgebaut werden. Statt eines unsinnigen Betreuungsgeldes bedarf es mehr Investitionen in Kita-Plätze. Das Ziel muss es sein, mehr Frauen und Männer in Arbeit zu bringen und nicht, sie mit falschen Anreizen zum Zuhausebleiben aufzufordern. Um einem Fachkräftemangel effektiv entgegenwirken zu können, bedarf es auch mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem. Deshalb ist es unerlässlich, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern aufzuheben. Ohne Zuwanderung wird unsere Wirtschaft ärmer Ein zentraler Baustein zur Fachkräftesicherung ist die Beschäftigung Älterer. Viele Unternehmen haben die Potenziale älterer Beschäftigter längst erkannt und eigene Initiativen gestartet, um diese noch stärker zu erschließen. Weiterbildung und Qualifizierung bleiben daher Voraussetzung für die Berufstätigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zu einer effektiven breiten Fachkräftebasis gehören auch ausländische Fachkräfte. Ihnen muss der Anfang in
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Deutschland erleichtert werden. Dazu gehört eine wirkliche Willkommenskultur. Ein erster Anfang wäre beispielsweise schon gemacht, wenn eine Art „Lotsendienst“ eingerichtet werden würde: In einem ersten Schritt könnten die wichtigsten Formulare in englischer Sprache zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollte die Betreuung aus einer Hand bei Anmeldung, Suche von Wohnung oder eines Schul- oder Kindergartenplatzes erfolgen. Denn: Ohne Zuwanderung wird unsere Wirtschaft ärmer, ausländische Fachkräfte werden in Deutschland gebraucht. Stichwort „Schwierige Finanzierungsbedingungen“: Während die großen Unternehmen eigene Forschungsund Entwicklungsabteilungen in ihr Unternehmen integriert haben, muss dieser Bereich bei kleinen und mittleren Unternehmen eher neben dem normalen Tagesgeschäft mitlaufen. Und in der Regel können sie „Forschung und Entwicklung“ nicht allein aus Eigenmitteln finanzieren. Zum einen haben viele mittelständische Unternehmen immer noch zu wenig Eigenkapital und zum anderen treten häufig Schwierigkeiten bei der Beschaffung externen Kapitals auf. Begründet liegt dies einerseits in den unsicheren Verwertungsmöglichkeiten: Nicht jede Innovation taugt für eine wirtschaftliche Umsetzung. Sie mag einen hohen wissenschaftlichen Er-
kenntnisgewinn haben, aber ein ökonomischer Gewinn ist deshalb nicht zwingend. Andererseits bieten Innovationen an sich keine Sicherheiten, die beispielsweise für eine Kreditfinanzierung herangezogen werden könnten. Klassische Förderungen greifen nicht Aufgrund dieser großen Unsicherheit greifen klassische Förderinstrumente in diesen Fällen meist nicht. Somit entstehen große Förderlücken und in der Folge gehen Chancen verloren. Diesen Luxus kann sich Deutschland schlichtweg nicht leisten. Wie kann man also die Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen stärken? Ein Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion ist die Einrichtung eines Innovationsfonds. Dieser hätte die Aufgabe die Lücken zu schließen, die derzeit durch klassische Förderinstrumente oder am Kapitalmarkt nicht geschlossen werden können. Bei der organisatorischen, inhaltlichen und finanziellen Unterstützung innovativer Projekte, von der Validierungsforschung über die Gründung bis zur Wachstumsfinanzierung könnte der Innovationsfonds eine große Hilfe sein. Neben der bewährten Projektförderung durch den Bund, wie beispielsweise im „Zentralen Innovationsprogramm für den Mittelstand (ZIM)“, muss eine
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Form der steuerlichen Forschungsförderung etabliert werden. Dabei sind Mitnahmeeffekte zu vermeiden und auch jene Unternehmen zu unterstützen, die mangels Gewinnen keine Steuergutschriften erhalten können. Die SPD-Bundestagsfraktion schlägt dazu die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung in Form der wachstumsorientierten Personalkostenzulage vor, das sogenannte „Forschergeld“.1 Innovationen haben ihren Ursprung oftmals in jungen Unternehmen, denen aber zu wenig privates Beteiligungskapital zur Verfügung steht. Alternative Finanzierungsinstrumente wie private Wagniskapitalfonds oder auch Investitionen durch sogenannte „Business Angels“ werden zu selten in Betracht gezogen. Hier gibt es noch viel zu tun. Die deutsche Wirtschaft braucht einen gesicherten Zugang zu Kapital. Gleichzeitig muss sie ihren Beitrag zur fiskalischen Stabilität unseres Landes leisten. Dazu gehört eine angemessene Besteuerung, die die Unternehmen nicht über Gebühr belastet und den verschiedenen Bedürfnissen des Mittelstands und des Handwerks gerecht wird. Denn auch das muss klar sein: Um wirtschaftsfördernde Maßnahmen, wie Investitionen in Bildung und Infrastruktur finanzieren zu können, braucht es einen handlungsfähigen Staat. 1
erstmals von Peer Steinbrück in seinen „Siegener Thesen“
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Grundlagen für wirtschaftlichen Erfolg und individuellen Wohlstand sind zwar die persönlichen Leistungen von Unternehmerinnen und Unternehmern und gleichermaßen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dennoch ist die Wirtschaftskraft eines Landes immer auch abhängig vom Grad des sozialen Friedens, der Bildungschancen, der Infrastruktur und vielem mehr. Die Verbindung von wirtschaftlicher Leistung und gesichertem sozialen Fortschritt ist das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Dies gilt auch im Hinblick auf die Ausgestaltung des Steuersystems. Wie kann man Innovationen verwerten? Zu einer Innovationsstrategie für den Mittelstand gehört auch die Stärkung des Wissens- und Forschungstransfers – von der Idee bis hin zur wirtschaftlichen Verwertung. Es gibt in Brandenburg gute Beispiele von gemeinnützigen externen Industrieforschungseinheiten, sogenannten „Forschungs-GmbH’en“. Wie beispielsweise das Institut für Getreideverarbeitung in Nuthetal, die Schiffsbau-Versuchsanstalt in Potsdam oder auch Biopos in Teltow. Durch sie werden Forschungs- und Entwicklungsergebnisse für die Allgemeinheit diskriminierungsfrei zur Verfügung gestellt. Warum also nicht von diesen guten Beispielen lernen und nach dem „best
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practice“-Grundsatz eine Förderung für solche Forschungs-GmbH’en bundesweit einrichten? Das Motto „Gemeinsam sind wir stark“ gilt: Innovationen entstehen vor allem dort, wo sich Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Innovationsbündnissen zusammenschließen, um die Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Regionen zu erhöhen. Frei nach dem Satz „Tue Gutes und rede darüber“ sollten solche Technologietransferangebote der Hochschulen bundesweit, mittelstandsfreundlicher und sichtbarer kommuniziert werden. Eine Möglichkeit bestünde zum Beispiel darin, Informationen über Kooperationsangebote von Hochschulen und deren fachliche Ansprechpartner in Form einer öffentlichen Datenbank im Internet gebündelt zur Verfügung zu stellen. Bürokratieabbau bleibt auf der Tagesordnung So gibt es in Brandenburg viele gute Beispiele, wo die kleinen und mittleren Unternehmen eng und erfolgreich mit Universitäten und Forschungseinrichtungen in Clustern, Netzwerken und Verbünden zusammenarbeiten. Insgesamt in neun Clustern, beispielsweise für den Bereich Energie, Gesundheitswirtschaft oder auch Verkehr, Mobilität und Logistik funktioniert diese Zusammenarbeit bereits vorbildlich.
Stichwort „Bürokratiebelastungen“: Unternehmergeist braucht Freiraum. Der wird insbesondere für Gründerinnen und Gründer und für kleine Unternehmen durch zu viel Bürokratie bedroht. Unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen müssen abgeschafft werden, dazu gehört zum Beispiel die Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege. Sie wäre einfach umzusetzen und hätte eine effektive Entlastung zur Folge. Die Bewältigung bürokratischer Pflichten gehört für kleine und mittlere Unternehmen nach wie vor zu den größten Herausforderungen. Wenngleich kleine und mittelständische Unternehmen im Rahmen ihrer Informationspflichten in den letzten Jahren entlastet wurden, so sind sie durch den Erfüllungsaufwand gesetzlicher Vorgaben im Vergleich zu Großunternehmen überproportional belastet. Viele mittelständische Unternehmen holen sich für Aufgaben dieser Art externe Unterstützung, was aber wiederum Kosten verursacht, die für Investitionen nicht mehr zur Verfügung stehen. Schätzungen zufolge müssen im EU-Raum größere Unternehmen für eine Regulierungsmaßnahme durchschnittlich ein Euro pro Mitarbeiter ausgeben, kleine und mittlere Unternehmen dagegen bis zu zehn Euro pro Mitarbeiter. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn die nationale und die europäische Rechtsetzung von Vornherein auf den
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Mittelstand ausgerichtet werden würde. Die von der EU angekündigten Maßnahmen zur Verringerung der Verwaltungslasten für kleine und mittlere Unternehmen sind in diesem Zusammenhang zu begrüßen. Nach wie vor wäre deshalb ein Normenkontrollrat auf europäischer Ebene ein wichtiges Instrument um überflüssige Bürokratie zu verhindern. Verlässlichkeit schafft Sicherheit „Wohlstand muss erwirtschaftet werden“ – dazu bedarf es in erster Linie eines starken Mittelstandes. Um diese Stärke behaupten zu können, brauchen – und erwarten – mittelständische Unternehmer von der Politik vor allem eines: Verlässlichkeit. Das Gegenteil wird deutlich, wenn man die Energiepolitik der schwarz-gelben Bundesregierung betrachtet. In Brandenburg wurden tausende Arbeitsplätze vernichtet, weil die Förderung von Solarstrom von heute auf morgen reduziert wurde. Verlässlichkeit sieht anders aus. Wir brauchen eine Energiepolitik, die Umwelt- und Klimazielen ebenso gerecht wird wie den Ansprüchen an wirtschaftliches Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Die Energiewende bietet dabei vielfältige Chancen für den deutschen Mittelstand und das Handwerk. Brandenburg ist hier im wahrsten Sinne
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des Wortes „Spitze“ – bereits zum dritten Mal in Folge bekam das Land den „Leitstern“, den Bundesländerpreis für Erneuerbare Energien, in der Kategorie „Gesamtsieger“ verliehen. Brandenburg beweist eindrucksvoll, wie die Energiewende funktionieren kann: Die regenerativen Energien erweisen sich in unserem Land als Motor für wirtschaftliches Wachstum. Dadurch sind in Industrie, Handwerk und begleitenden Dienstleistungen inzwischen nahezu 21.000 Arbeitsplätze entstanden. Verlässlich, bezahlbar, nachhaltig: Diese Attribute muss die Versorgung mit Energie und Rohstoffen erfüllen – für die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie für die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Verlässlichkeit schafft Sicherheit, Sicherheit schafft die Grundlagen, um wieder zu investieren, zu wachsen und gute Arbeit und Aufstiegschancen zu schaffen. Und diese Grundlagen sind die Basis für unseren Wohlstand. | ANDREA WICKLEIN
ist Bundestagsabgeordnete und Mittelstandsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion.
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Kinder? Kinder! Erneuerung aus eigner Kraft Ohne Moos nix los? Was nun Deutschland? Die neue SPD Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert Brandenburg in Bewegung 10 Jahre Perspektive 21 Den Rechten keine Chance Energie und Klima Das rote Preußen Osteuropa und wir Bildung für alle
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