philou. #11 Freiheit und Grenzen

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THEMA: FREIHEIT philou . A USGA BE 11 UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN

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Schweiz

FREIHEIT DENKEN 06 Wie frei ist unser Wille? Yvonne Schneider Was die Hirnforschung über den freien Willen sagt und was daraus folgen würde 10 Konzepte von Freiheit Victoria Alberty & Yvonne Schneider Unterschiedliche Freiheitsvorstellungen – Ideen von vier Denkern 12 Warum uns die Demokratie unfrei KarlmachtKühne Eine Diskussion über das Verhältnis von Freiheit und demokratischer Entscheidung 16 Freiheit durch Bildung Christoph Springer Die befreiende Kraft der Bildung in Platons Höhlengleichnis philou instagram.com/facebook.com.rwth-aachen.de/philoumagazinphilou.magazininfo@philou.rwth-aachen.de Inhalt FREIHEIT LEBEN 22 Hommage an die Freiheit Sofia Eleftheriadi-Zacharaki Sehnsucht nach Freiheit in Kunst, Literatur und Musik 25 Nachts schlafen die Schmetterlinge – Ein Reisebericht Luise Lamberty Wie uns das Reisen der Freiheit näherbringen kann philou .

„Wer Schrankenseine kennt, der ist der Freie, wer frei sich wähnt, ist seines Wahnes Knecht.“ FRANZ 1791–1872GRILLPARZER 4

The essence of liberty has always lain in the abi lity to choose as you wish to choose, because you wish so to choose, uncoerced, unbullied, not swallowed up in some vast system; and in the right to resist, to be unpopular, to stand up for your convictions merely because they are your convictions. That is true freedom, and without it there is neither freedom of any kind, nor even the illusion of it.”

FREIHEIT DENKEN (2)(1) DAS RECHT AUF FREIHEIT GRUNDGESETZ – ARTIKEL 2

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung sei ner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfas sungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.Jederhat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist un verletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

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Isaiah Berlin (1909–1997)

Unter dem klassischen Begriff der Willensfreiheit wird das Streben nach einem Ziel verstanden, das nicht durch innere Motivationen wie Triebe, Leidenschaften oder Af fekte fremdbestimmt wird. Der freie Wille ist demnach eine Selbsttätigkeit, die unabhängig und spontan zustande kommt und den Menschen dazu befähigt, autonom zu han deln und Entscheidungen zu treffen. (vgl. Prechtl 1999a) Schon in der Zeit der Aufklärung wurden verstärkt Zweifel an der Existenz eines freien Willens laut. Philosophen wie John Locke und David Hume vertreten einen sogenannten Determinismus, also die Ansicht, dass unser Wille durch kausale Ereignisse vorherbestimmt ist (vgl. Prechtl 1999b).

Artikel 6

Nach Hume unterliegt die Welt kausalen Gesetzen – auch das menschliche Denken. Das, was Menschen wollen, ba siert also auf dem Prinzip der Ursache und Wirkung. Der Wille des Menschen ist demnach unfrei, denn es ist keine spontane autonome Entscheidung, etwas zu wollen – innere Motivationen und Persönlichkeitseigenschaften bestimmen unseren Willen auf die gleiche Weise, wie Kausalketten Ereignisse in der Natur hervorrufen. Das Gefühl der Wil lensfreiheit ist nach Hume nur eine Selbsttäuschung. (vgl. Hume 1739–1740; Kulenkampff 2007) Die Überlegungen über den Determinismus, die sich Hume schon Mitte des 18. Jahrhunderts machte, werden in der mo dernen Hirnforschung weiter ausgeführt und experimentell untersucht. Philosoph_innen und Wissenschaftler_innen, die den menschlichen Geist durch materielle Prozesse er klären, vertreten einen sogenannten Physikalismus: Mentale Zustände seien demnach das Produkt physikalischer Hirn vorgänge und nicht unabhängig von diesen zu betrachten (vgl. Brinkmeier 1999). Anknüpfend an Humes Überle gungen behauptet der Hirnforscher Gerhard Roth: „Aus dem Gefühl, wir seien bei Willkürhandlungen willensfrei, folgt nicht zwingend, dass Willensfreiheit tatsächlich existiert“ (Roth 2006: 10). Gemeint ist, dass Versuchspersonen durch Hirnstimulation oder experimentelle Tricks zu Handlungen YVONNE SCHNEIDER LITERATUR- UND SPRACHWISSENSCHAFT WILLE?

„Das natürliche Bild eines freien Willens ist eine unbeschwerte Waa ge: sie hängt ruhig da und wird nie aus ihrem Gleichgewicht kommen, wenn nicht in eine ihrer Schalen etwas gelegt wird. Sowenig wie sie aus sich selbst die Bewegung, kann der freie Wille aus sich selbst eine Handlung hervorbringen; weil eben aus nichts nichts wird.“ (Schopenhauer 1839: 596) Haben Menschen einen freien Willen? Seit jeher streiten sich Philosoph_innen um diese Frage. Viele, so auch Arthur Schopenhauer, zweifelten daran, dass es den freien Willen wirklich gibt. Heute wird nicht nur aus philosophischer Perspektive über die Frage diskutiert. Auch Erkenntnis se aus der modernen Hirnforschung, die untersucht, wie Entscheidungs- und Willensprozesse im Gehirn ablaufen, sprechen gegen die Existenz eines freien Willens. Kann mit Hilfe der Hirnforschung die Frage nach der Willensfreiheit beantwortet werden? Und wenn ja, wie würden sich die Erkenntnisse auf unser Leben auswirken?

WIE FREI IST UNSER

Dass die Frage nach der Willensfreiheit nicht obsolet ist, zeigt sich an den Folgen, die sich aus

gebracht werden können, von denen sie im Nachhinein sa gen, sie hätten sie gewollt (vgl. ebd.). Ein weiteres Argument lautet nach WillensfreiheitRoth:wird mit ‚einen Willen haben‘ verwechselt. Zweifellos gibt es einen Willen als Erlebniszustand, und dieser Wille ist notwendig, um bestimmte innere oder äußere Wider stände zu überwinden. Die Frage, ob dieser Wille frei sei, wird […] dabei nicht thematisiert, da wir die externe und interne Bedingtheit unseres Willens nicht empfinden. (Roth 2006: 11) Vor allem aber widerspreche das Konzept der Willensfrei heit aus psychologischer und neurobio logischer Sicht dem ZentrenHandlungen,darüber,Wissenwiediewiralsfreiempfinden,inunseremGehirnzustandekommenunddannausgeführtwerden(vgl.ebd.).„AusSichtderNeurowissenschaftenistfürdenBeginnunddieKontrollevonWillenshandlungendasZusammenwirkenvielermotorischerinnerhalbundaußerhalbderGroßhirnrinde(Kortex)notwendig.“(ebd.)WichtigeHirnareale, die bei der Entstehung des Willens zusammenar beiten, sind die Amygdala (Hauptzentrum für das Entstehen und die Kontrolle von Gefühlen) und der Hip pocampus (Organisator des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses) (vgl. ebd.). Die Verkettung von Amygdala, dem Hippocampus und weiteren Zentren führt nach Roth dazu, dass „beim Entstehen von Wünschen und Absichten das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungsgedächtnis das erste und letzte Wort hat: das erste Wort beim Ent stehen unserer Wünsche und Absichten, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was gewünscht wurde, jetzt und hier und so und nicht anders getan werden soll.“ (Roth 2006: 13)

Das Entscheidende bei diesem Prozess sei, dass die Letz tentscheidung einige Sekunden bevor wir diese überhaupt bewusst wahrnehmen und den Willen haben, eine Handlung auszuführen, getroffen werde (vgl. ebd.). Die Erkenntnisse der Hirnforschung beschreiben ein deterministisches Men schenbild, das der klassischen Vorstellung der Willensfrei heit entgegengesetzt ist, da unser Wille und auch unsere Handlungen durch die Prozesse unseres Gehirns bestimmt werden. Das Gefühl, dass wir in unseren Entscheidungen und Handlungen frei sind, ist aus dieser Sicht kein zureichender Grund, um die Willensfreiheit zu beweisen.

handelnfreiheitDennbedeutendelensfreiheitgebenMenschenbilddeterministischeneinemerwürden.WilspielteineRolleinderEthik.nurwennwirüberWillensverfügen,könnenwirfreiundsomoralischeVerantwor

tung übernehmen. Bereits Aristoteles begründete seine Ethik auf der Prämisse, dass der Mensch in der Lage sei, sein Handeln selbst zu bestimmen und die moralische Verantwortung für sein eigenes Handeln zu tragen. Die Ursache für unmoralisches Verhalten liegt für Aristoteles immer in der handelnden Person selbst, denn diese ist da für verantwortlich, unmoralische Handlungen vorzubeugen, indem sie einen guten Charakter ausbildet. (vgl. Aristoteles III3b–III4b)

Freiheit denken 7 philou .

Moralische Verantwortung, die schon Aristoteles zur Grund lage seiner Ethik machte, müsste durch einen radikalen De terminismus in Frage gestellt werden. Denn wenn niemand sich aus freiem Willen für eine Handlung entscheiden kann, kann ihm auch keine moralische Verantwortung und damit auch keine Schuld zugewiesen werden. Ohne Schuld wäre aber auch eine gerechte Bestrafung nicht möglich. Ein deter ministisches Menschenbild hätte also erhebliche Folgen für Rechtssysteme in westlich-demokratischen Gesellschaften – vor allem in Bezug auf das Strafrecht und den Strafvollzug. Denn es wird davon ausgegangen, dass der Täter über Wil lensfreiheit verfügt und deshalb in der Lage war, nicht so zu handeln, wie er es letztendlich getan hat. (vgl. Roth 2006) Der Determinismus wird jedoch von vielen Seiten kriti siert. Für Jürgen Habermas liegt eine der offensichtlichsten Schwächen der Theorie darin, dass sie der alltäglichen Wahr nehmung einfach nicht gerecht werden könne, denn der Determinismus sei unvereinbar mit dem Selbstverständnis der handelnden Personen (vgl. Habermas 2004). Auch der Philosoph Peter Hacker und der Hirnforscher Maxwell Ben nett sehen eine Erklärung des menschlichen Bewusstseins durch die Erkenntnisse der Hirnforschung als unzulänglich: But the mind, we argue, is neither a substance distinct from the brain nor a substance identical with the brain. […] Hu man beings possess a wide range of psychological powers, which are exercised in the circumstances of life, when we perceive, think and reason, feel emotions, want things, form plans and make decisions. The possession and exercise of such powers define us as the kinds of animals we are. We may enquire into the neural conditions and concomitants for their possession and exercise. This is the task of neu roscience, which is discovering more and more about them. But its discoveries in no way affect the conceptual truth that these powers and their exercise in perception, thought and feeling are attributes of human beings, not of their parts – in particular, not of their brains. (Bennett/Hacker 2003: 6) Geistige Zustände ließen sich demnach also nicht nur auf feuernde Neuronen in unserem Gehirn reduzieren. Das schwerwiegendste Problem des Physikalismus besteht laut dem Philosophen David Chalmers darin, dass nicht erklärt werden könne, wie Prozesse unseres Gehirns dazu führen, dass wir bewusste geistige Zustände erleben und reflektieren können (vgl. Chalmers 2018). Folgt man diesem Gedanken, dann kann die Hirnforschung geistige Zustände wie die Willensfreiheit zwar untersuchen und beschreiben, aber nicht erklären, wie sie zustande kommen. Die Frage, ob Menschen über Willensfreiheit verfügen, bleibt also weiterhin offen im philosophischen und natur wissenschaftlichen Diskurs. Denn der Physikalismus, der die klassische Idee der Willensfreiheit verwirft, ist nur eine Betrachtungsweise und keine allgemeingültige Antwort. Ei nes scheint jedoch sicher: Die Frage nach der Willensfreiheit bleibt bedeutsam, denn sie beeinflusst unser Zusammenleben. Hätten wir Menschen keinen freien Willen, dann müssten wir unsere Vorstellung von moralischer Verantwortung und Schuld in Frage stellen. Das würde Rechtssysteme in demo kratischen Gesellschaften fundamental beeinflussen – denn der Mensch wäre nicht frei in dem, was er will oder tut, und demnach auch nicht verantwortlich oder schuldfähig. Die Vorstellung eines Willens, der die Freiheit ausklammert, hätte dann keine Bedeutung mehr – oder wie Hegel es einst sagte: „Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort“ (Hegel 1820: 285).

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Aristoteles (o.J.): Nikomachische Ethik. Griechisch/Deutsch. In: Nickel, R. (Hg.): Düsseldorf: Artemis und Winkler 2007. Bennett, M.; Hacker, P. (2007): The In troduction to Philosophical Foundations of Neuroscience. In: Bennett, M. et al. (Hg.): Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language. New York et al.: Columbia University Press. S. 3–13. Brinkmeier, B. (1999): Physikalismus. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S. 448–449. Chalmers, D. (2018): The Meta-Problem of Consciousness. In: Journal of Consciousness Studies, 25(9–10). S. 6–61. Habermas, J. (2004): Freiheit und Determi nismus. In: DZPhil, 52(6). S. 871–890. Hegel, G. (1820): Grundlinien der Philoso phie des Rechts. Zusatz zu §4. In: Lasson, G. (Hg.): Leipzig: Meiner. Neu herausgegeben mit den von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen 1911. S. 285. Hume, D. (1739–1740): A Treatise of Hu man Nature. In: Selby-Bigge, L. A. (Hg.): Oxford: Clarendon Press. Nachdruck der Originalausgabe in drei Bänden 1896. S. 399–418. Kulenkampff, J. (2007): Locke und Hume: Freiheit ja, Willensfreiheit nein. In: an der Heiden, Uwe et al. (Hg.): Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen. Stuttgart: Reclam. S. 171–184. Freiheit denken Prechtl, P. (1999a): Willensfreiheit. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S. 663. Prechtl, P. (1999b): Determinismus. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S.103–104. Roth, G. (2006): Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung. In: Roth, G. et al. (Hg.): Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissen schaftlichen Grundlegung der Philosophie. Göttingen: Vanderhoeck und Ruprecht. S. 9–29. Schopenhauer, A. (1839): Die beiden Grundprobleme der Ethik. Über die Frei heit des menschlichen Willens. In: Von Löhneysen, W. (Hg.): Arthur Schopenhau er. Sämtliche Werke. Bd. 3. Stuttgart et al.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Repro graphischer Nachdruck der 2., überprüften Auflage 1986. S. 483–624. 9

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Kategorischer Imperativ Immanuel Kant (1724–1804) „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“. (Kant 1785: BA Eine67) der berühmten Formulierungen des Kategorischen Imperativs beschreibt ein elementares Konzept von Frei heit, wenn es um das gesellschaftliche Zusammenleben geht: Die individuelle Freiheit des_der Einzelnen darf niemals so weit gehen, dass sie die Freiheit eines anderen Individuums einschränkt. Ein Verstoß gegen den Kategorischen Imperativ würde zur Verdinglichung des Menschen führen und ihm somit die Freiheit als eigenständiges Subjekt absprechen. (vgl. Döring 2004) VICTORIA GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTENALBERTY

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KreativPositive und negative Freiheit Isaiah Berlin (1909–1997) Konzepte von positiver und negativer Freiheit finden sich bei vielen Theoretiker_innen wieder, mit jeweils variieren den Definitionen. Im Rahmen einer allgemeinen Definition kann von negativer Freiheit als die „Abwesenheit [...] äuße rer Zwänge“ (Lenz/Ruchlak 2001a: 67) gesprochen werden. Positive Freiheit hingegen kann als „unter anderem durch Gesellschaft und Staat [...] geschaffene[n] Bedingungen“ (Lenz/Ruchlak 2001a: 67) zur Selbstverwirklichung defi niert werden. Eine ergänzende, interessante Perspektive auf dieses Kon zept legte der politische Philosoph Isaiah Berlin vor. Berlin verstand negative Freiheit als Wert an sich (vgl. Puttermann 2006). Positive Freiheit hingegen, so war Berlin der Ansicht, stelle nur ein Mittel dar, durch dessen Existenz andere Ziele erreicht werden könnten. So könnte beispielsweise ‚Gerech tigkeit‘ als eines dieser Ziele gedacht werden, welches aller dings nur durch Institutionen oder Gesetze erreicht werden kann, die an anderer Stelle eventuell einengend wirken. Da also das Erreichen keiner dieser Zwecke ohne Gegenleis tung erfolge, folgte für ihn, dass positive Freiheit effektiv zu einem Verlust an Freiheit führen würde. Für Berlin handelt es sich bei positiver und negativer Freiheit daher um zwei rivalisierende Formen von Freiheit. (vgl. Puttermann 2006) Wenn wir über Freiheit reden, haben die meisten vermutlich grundsätzlich ähnliche Vorstellungen davon, was „Freiheit“ bedeutet. Um aber tiefer in entsprechende Diskussionen ein zusteigen, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie große in der Vergangenheit Freiheit verstanden. In der folgenden Darstellung werden daher vier verschiedene Freiheitsvorstellung erläutert.

YVONNE SCHNEIDER LITERATUR- UND SPRACHWISSENSCHAFT

KONZEPTEVON

Denker_innen

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FREIHEIT

In seiner Abhandlung „Über die Ästhetische Erziehung des Menschen“ beschreibt Schiller die Idee, den Menschen durch Kunst zu Moralität und Freiheit zu erziehen. Durch den Umgang mit schöner Kunst werde der Mensch zur Freiheit und zum vernünftigen moralischen Handeln befä higt. Für Schiller durchdringen sich im Kunstwerk Mate rie und Form, Sinnlichkeit und Geistigkeit und bilden ein harmonisches Gleichgewicht. In dieser Ausgewogenheit sieht Schiller einen Appellcharakter für den Betrachten den, um sich gleichfalls in eine sinnlich-geistige Einheit verwandeln zu können. Das „Spiel“ (ebd.: 335) mit dem Schönen erzeugt also ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Vernunft, naturhafter Neigung und moralischer Pflicht. (vgl. Fenner 2013) Döring, E. (2004): Immanuel Kant. Eine Einführung. Wiesbaden: Marix Verlag. Fenner, D. (2013): Was kann und darf Kunst? Ein ethischer Grundriss. Frankfurt et al.: Campus Verlag. Kant, I. (1785): Grundlegung zur Metaphy sik der Sitten. In: Weischedel, W. (Hg.): Im manuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 9. Auf lage 2017. S. 11–102.

Ästhetik Friedrich Schiller (1759–1805) „Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll [...]“. (Schiller 1795: 358)

Liberalismus John Stuart Mill (1806–1873) Der Liberalismus „basiert auf der Auffassung, dass das Indi viduum ein von der gesellschaftlichen und staatlichen Ord nung unabhängiges Recht auf Selbstbestimmung“ (Lenz/ Ruchlak 2001b: 128) hat. Aus diesem Grundprinzip des Liberalismus lassen sich verschiedene andere Freiheiten ableiten, wie z.B. die Glaubensfreiheit (vgl. Lenz/Ruchlak 2001b). Einen wichtigen Beitrag zum Liberalismus stellt John Stuart Mills Schrift „Über die Freiheit“ dar. Mill sieht das Ziel des Liberalismus jedoch nicht in einer Gesellschaft, die aus isolierten Einzelnen besteht, welche sich nur um sich selbst kümmern, sondern in einer Gemeinschaft aus hilfsbe reiten, gegenseitig interessierten und souveränen Individuen (vgl. Schefczyk/Schramme 2015). Lenz, C.; Ruchlak, N. (2001a): Freiheit. In: Lenz, C.; Ruchlak, N. (Hg.): Kleines PolitikLexikon. Lehr- und Handbücher der Politik wissenschaft. München et al.: Oldenbourg Verlag. S. 67. Lenz, C.; Ruchlak, N. (2001b): Liberalis mus. In: Lenz, C.; Ruchlak, N. (Hg.): Kleines Politik-Lexikon. Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft. München et al.: Olden bourg Verlag. S. 128–129. Putterman, T. L. (2006): Berlin’s Two Con cepts of Liberty: a Reassessment and Revi sion. In: Polity, 38(3). S. 416–447. Schefczyk, M.; Schramme, T. (2015): John Stuart Mill. Über die Freiheit. Berlin et al.: De Gruyter. Schiller, F. (1795): Über die ästhetische Er ziehung des Menschen. In: Netolitzky, R. (Hg.): Friedrich Schiller. Gesammelte Wer ke in fünf bänden. Bd.5: Schriften zur Kunst und Philosophie. Gütersloh: Bertelsmann 1955. S. 287–391.

Freiheit denken

KARL POLITIKWISSENSCHAFTKÜHNE

WARUM DEMOKRATIE

Artikel

Das Problem demokratischer Entscheidungsprozesse soll eingangs an einem Gedankenexperiment verdeut licht werden: Drei Personen (A, B & C) sind nach einem Schiffbruch auf einer entlegenen Insel gestrandet, die als einzige Ressource einen Baumstamm bietet. A und B sind mit der Situation überfordert und resignieren. Sie schlagen vor, aus dem Baumstamm gleich ein Grabkreuz zu bau en. C hingegen nutzt die Zeit, um eine rationale Lösung auszuarbeiten. Sein Plan sieht vor, das Holz in der Nacht anzuzünden, damit es als rettende Wärmequelle fungiert und zugleich eintreffende Rettungshelikopter alarmiert. Die begrenzte Ressourcenmenge sorgt dafür, dass die beiden Ideen miteinander unvereinbar sind. Folglich ist das Problem nicht individuell zu lösen, sondern verlangt eine kollektiv verbindliche Entscheidung. Damit handelt es sich um eine politische Situation. Einigen sich die drei Personen auf ein demokratisches Entscheidungsverfahren, ist C verpflichtet, die Lösung von A und B zu akzeptieren, wenn es ihr nicht gelingt, diese durch ihre Affektivität von einem rationalen Lösungsweg zu überzeugen. Das demokratische Machtver hältnis begünstigt also A und B, obwohl die Alternative von C verantwortungsvoller und effektiver für alle Beteiligten ist. Die Behauptung, dass das demokratische Verfahren eine gerechte und freiheitliche Lösung hervorgebracht hätte, ob

UNS DIE

Das demokratische Wahlrecht gibt allen Bürger_innen die Souveränität, ihre Interessen öffentlich zu artikulieren und ermöglicht folglich Selbstbestimmung. „Demokratie macht uns nicht frei, sie ist der höchste Ausdruck politischer Frei heit!“ (ebd.) – vermutlich sind es jene Ausführungen, die wir erwarten, wenn das Verhältnis zwischen Freiheit und Demokratie betrachtet wird. Dennoch will dieser Beitrag das Gegenteil zeigen: Werden die kompetenztheoretischen Voraussetzungen der Demokratie betrachtet, so entstehen Zweifel daran, dass sie die Freiheit aller Individuen ausrei chend sichert. Vielmehr stellt sie in der Perspektive eine Freiheitseinschränkung dar, die in normativer Hinsicht als illegitim und ungerecht angesehen werden kann. Neben den Ausführungen von Mill bezieht sich der Artikel auf das Werk „Against Democracy“ des amerikanischen Philoso phen Jason Brennan. Jenes provozierte jüngst Kontroversen, da der Autor die These vertritt, dass eine Epistokratie – eine Staatsform, die das Wahlrecht an Kompetenztests bindet –ein freiheitlicheres und höherwertigeres Leben ermögliche (vgl. Brennan 2017).

UNFREI MACHT 12

Die Demokratie befreite historisch das Individuum von der autoritären Fremdbestimmung. „Entwürdigt wird jeder, […] wenn andere, ohne ihn zu fragen, mit unbeschränkter Machtvollkommenheit über sein Geschick entscheiden“, schrieb bereits 1861 John Stuart Mill (Mill 1861: 141).

Freiheit denken 13 philou .

An der Stelle knüpft Brennan an: Das demokratische Wahl recht sei nicht in kollektiver oder individueller Selbstbe stimmung begründet (vgl. Brennan 2017). In kollektiver Betrachtung kann Selbstbestimmung mithilfe eines Indi vidualrechts begründet werden. So wie jedes Individuum die Freiheit haben sollte, sich selbst schädigen zu dürfen, so steht jenes Recht auch der politischen Gemeinschaft zu. Diese Argumentation bildet die Grundlage für umfassende kollek tive Selbstbestimmung, welche dem Volk inkompetente Ent scheidungen gestattet. Ein Individualrecht auf das Kollektiv zu übertragen, beruht allerdings auf der problematischen An nahme, dass sich jenes als homogene Gemeinschaft begreift. Anderweitig existiert keine Analogie zwischen Individuum und Volk. In modernen individualistischen Gesellschaften fehlt ein solches homogenes Volksverständnis, weshalb auf dieser Basis kein kollektives Selbstbestimmungsrecht abge leitet werden kann. (vgl. ebd.)

wohl die Überlebenschancen aller reduziert worden sind, wirkt nachfolgend nicht überzeugend. Die Frage, die jenes Gedankenexperiment thematisiert, formulierte Mill wie folgt:Empfindet man es als ungerecht, dass einer dem anderen nachgeben muss, welche Ungerechtigkeit ist dann grö ßer: dass das bessere Urteil dem schlechteren zu weichen hat oder das schlechtere dem besseren? (Mill 1861: 146) Das Inselbeispiel verleitet zu der Antwort, dass demokra tische Verfahren nicht an sich gerecht und freiheitlich sind, wenn sie verantwortungslos erfolgen. Selbst wenn A und B über die Mehrheit verfügen, ist es aufgrund von Effektivitätsund Gerechtigkeitskriterien nicht haltbar, ihre Alternative gegenüber C durchzusetzen. Das demokratische Verfahren wurde illegitim, als einzelne Individuen (A und B) ihre mo ralische Pflicht – bewusst oder unbewusst – vernachlässigten, verantwortungsvoll und informiert gegenüber den anderen Entscheidungsunterworfenen (C) aufzutreten. Realitätsfern wäre es anzunehmen, dass das Beispiel nicht auf moderne Demokratien zuträfe, da sich alle Bürger_innen vor ihrer Wahlentscheidung rational informieren würden.

Ist seine Betrachtung der politischen Praxis zutreffend? Oder anders formuliert: Handelt es sich bei dem Inselbeispiel um eine sinnvolle Analogie des Politischen? Dies kann durchaus bezweifelt werden, da politische Streitfragen selten einer Dichotomie zwischen wahr und falsch folgen, wie Alexander Bogner zu bedenken gibt (vgl. Bogner 2021). Benötigen wir überhaupt ein solches negatives Freiheitsrecht vor in kompetenten Entscheidungen für umfassende politische Freiheit? Müssen wir die Ungerechtigkeiten und Freiheits einschränkungen, die sich aus dieser kompetenztheoreti schen Betrachtung der Demokratie ergeben, gar akzeptieren? Letztendlich stellte Mill fest, dass „[…] kein Wahlrecht auf die Dauer befriedigen [kann], das irgendeine Person oder Klasse kurzerhand ausschließt […]“ (Mill 1861: 141). Es wäre auch unrealistisch anzunehmen, dass der Inkompeten te ohne weiteres identifiziert werden kann und bereitwillig den Herrschaftsanspruch des Kompetenten hinnimmt. Jene Ansicht impliziert folglich die These, dass gerade die Demo kratie eine notwendige Grenze der Freiheit darstellt.

Vielmehr besteht eine Nation aus einzelnen Individuen, die den Wahlentscheidungen ihrer Mitbürger_innen un terworfen sind, wie das Gedankenexperiment zeigt. Folglich schaden ignorante und irrationale Wähler_innen vorrangig ihren Mitmenschen (vgl. Brennan 2017). Das Wahlrecht ist somit eine Form der Fremdbestimmung, die über die Wahl berechtigten hinausreicht – man bedenke vom Wahlrecht Ausgeschlossene oder internationale Verflechtungen. Da die einzelne Wahlstimme mehr Macht über andere als über einen selbst gewährt, kann es sich bei dem Wahlrecht nicht um ein individuelles Selbstbestimmungsrecht handeln (vgl. ebd.). Ein Herrschaftsrecht, das Macht über andere verleiht, bedarf hingegen einer guten Rechtfertigung (vgl. ebd.). Die se fehlt, wenn Wähler_innen irrationale, unmoralische oder unbegründete Wahlentscheidungen treffen. Es gilt: „Citizens may reasonably demand competence from the electorate.“ (Brennan 2013: 198) Jener Kompetenzanspruch kann von einer egalitären Demokratie nicht garantiert werden. Es fehlt ihr somit eine Rechtfertigung, um die Bürger_innen zu den Entscheidungen anderer zu verpflichten. Zusam menfassend stellen verantwortungslose und uninformierte Wahlentscheidungen unzulässige Freiheitseinschränkun gen für die Mitbürger_innen dar, die besser informiert sind. Brennan kritisiert folglich, dass die Demokratie kein negatives Freiheitsrecht vorsieht, welches vor den inkom petenten Wahlentscheidungen anderer schützt. Er verlangt, dass „[w]enn unschuldigen Menschen bedeutsame politische Entscheidungen aufgezwungen werden, […] jede einzelne Entscheidung kompetent und rational von kompetenten und rationalen Menschen gefällt […]“ werden muss (Brennan 2017: 283). Solange dieses Recht nicht existiert, sollte die Demokratie als eine illegitime und ungerechte Staatsform betrachtet werden, die aktiv individuelle Freiheiten be schränkt.

Brennan schlägt deshalb eine politische Machtverteilung vor, die an der Kompetenz und den Kenntnissen der Bür ger_innen orientiert ist (vgl. Brennan 2017). Um nicht mit einer undemokratischen Alternative enden zu müssen, sollte danach gefragt werden, welche praktischen Konsequenzen und Fragen die brennansche Perspektive aufwirft.

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Brennans Argumentation eröffnet eine Schlussfolgerung, die einem logischen Disqualifikationsprinzip folgt. Dennoch hat sie problematische Implikationen, da sie die demokratische Gleichheit als unrechtmäßige Fremdbestimmung abwertet. Eine Ausübung des universellen Wahlrechts sei meist un moralisch, ungerechtfertigt und nicht funktional begründbar, wie es dazu bei Richard Arneson heißt (vgl. Arneson 2009).

Anzeige Arneson, R. (2009): The Supposed Right to a Democratic Say. In: Christiano, T.; Christ man, J. (Hg.): Contemporary Debates in Po litical Philosophy. Chichester: John Wiley & Sons. S. 197–212. Bogner, A. (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam. Brennan, J. (2017): Gegen Demokratie. Wa rum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin: Ullstein Buchverla ge. 2. Auflage 2017. Freiheit denken Brennan, J. (2013): Epistocracy within Pu blic Reason. In: Cudd, A.; Scholz, S. (Hg.): Philosophical Perspectives on Democracy in the 21st Century. Berlin: Springer Verlag. S. 191–204. Mill, J. (1861): Betrachtungen über die Re präsentativregierung. Berlin: Suhrkamp Ver lag. 1. Auflage 2013.

Wer würde schon den Gedanken an Freiheit mit Schule oder der Universität verbinden, die doch die größten Stätten for maler Bildung darstellen? Die heutigen Studierenden fühlen sich sicherlich nicht besonders frei, während sie stundenlang am Schreibtisch sitzend für die nächste Klausur lernen und immer weniger Zeit für andere Aktivitäten finden. Doch trotzdem macht uns diese Bildung frei. Sie befreit von Illu sionen, die man sich über die Welt zusammengereimt hat. Sie befreit von vorgefassten Meinungen, die nicht den Tatsa chenwahrheiten entsprechen. Sie befreit von Abhängigkeiten gegenüber denjenigen, die die vermeintliche Wahrheit in ihren Händen halten. Ein Gleichnis, das genau diese Kraft von Bildung heraushebt, ist das Höhlengleichnis Platons.

Kreativ 16

Würde man nun einen dieser Menschen befreien und ihm die Wirklichkeit der umherlaufenden Menschen zeigen, so würde er zuerst von dem Licht des Feuers geblendet werden und dadurch Schmerzen erleiden. Seine Augen müssten sich also erst an die neue Helligkeit gewöhnen. Würde man ihn nun noch weiter aus der Höhle hinauszerren, bis an dessen Eingang, so würden ihm erneut die Augen schmerzen, da er nun in das noch hellere Licht der Sonne blicken würde. Auch dort müsste er sich erst an die neue Helligkeit gewöhnen. Die Wirklichkeit, die er nun betrachten würde, wäre die ewige Wirklichkeit, die verborgen hinter den Dingen liegt und erst durch den richtigen Blick erkannt werden kann. Der Verstand müsse so ausgebildet werden, dass er mit der Wirklichkeit übereinstimmen kann, und der richtige Blick

Im siebten Buch von Platons Politeia findet sich sein Höhlen gleichnis. Dort finden wir eine Geschichte über die Befreiung des Menschen durch Bildung. Unter Bildung versteht Platon die Erziehung des Menschen zu einem vernunftgeleiteten Wesen. Für ihn stellt sich Bildung als diszipliniertes Lernen in unterschiedlichsten geistigen Disziplinen dar. Er erzählt uns von Menschen, die seit ihrer Kindheit tief unten in einer Höhle an eine Wand gekettet sind. Auch ihre Nacken sind festgekettet, sodass sie nicht nach rechts oder links schauen CHRISTOPH GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTENSPRINGER

UND LITERATURUND SPRACHWISSENSCHAFT

können. Hinter der Wand mit den angeketteten Menschen, brennt ein Feuer. Es beleuchtet die Wand, die direkt vor diesen Menschen liegt. Vor dem Feuer laufen Menschen und Tiere hin und her, sie tragen Dinge in den Händen oder re den miteinander. So wirft das Licht des Feuers die Schatten der laufenden Menschen und Tiere an die Wand, auf die die angeketteten Menschen blicken. Sie müssten diese Schatten und das ferne Gerede der anderen Menschen für die einzige Wirklichkeit halten, da sie doch nie etwas anderes sahen.

würde nur durch Bildung erreicht werden können. Der Verstand kann dann mit der Wirklichkeit übereinstimmen, wenn er in seinen Vorstellungen wahrheitsgetreu funktioniert. Bildung lässt den befreiten Menschen die Wirklichkeit und sogar die ewige Wirklichkeit, die hinter den Dingen liegt, sehen. Wahrheit lässt sich also nur erreichen, wenn man sich befreit, von den vorbeiziehenden Schatten an der Wand abwendet und unter Schmerzen der Ange wöhnung die Wirklichkeit betrachtet. Diese Geschichte bleibt aber nicht nur eine Geschichte. Anhand eines biografischen Beispiels lässt sich das Höhlengleichnis ver deutlichen. Im Weltbestseller „Befreit: Wie Bildung mir die Welt erschloss“ von Tara Westover findet sich solch ein Beispiel: Tara Westover war 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Klassenzimmer betrat. Sie ging vorher nie zur Schule, sondern blieb zuhause bei ihrer Fami lie. Ihre Eltern unterrichteten sie kaum, denn eine Bildung, wie sie andere Kinder bekommen, war ihren Eltern suspekt. Sie wuchs in einer radikalfundamentalistischen mormonischen Familie in Idaho auf, die am Fuße eines Berges lebte und dort ein autonomes Leben führte. Ihr Vater war extrem in seinen Ansichten über die Welt und glaubte, dass keinem Menschen zu trauen sei, der in irgendeiner Weise an der Gesellschaft partizipiert. Außerdem war er davon überzeugt, dass die Welt bald untergehen würde und sah immer wieder Anzeichen für das nächste Armageddon. Er bereitete sich und seine Familie auf den Weltuntergang vor, doch das Armageddon kam nie. Tara Westover, die nie ein anderes Leben als ihr Familienleben kennengelernt hatte, musste diese Dinge zwangsläufig für wahr halten. Als einer ihrer Brüder immer wieder gewalttätig wurde, nahm sie das ebenso hin wie ihre Familie, die daran nicht glauben wollte und diese Gewalttätigkeit so weit wie möglich ignorierte. 17 philou.

In Platons Höhlengleichnis lernten wir den angeketteten Menschen kennen, der nur die vorüberziehen den Schatten der Wirklichkeit sieht, aber nie selbst zu dieser gelangt. Der angekettete Mensch lässt sich mit Tara Westovers Vater vergleichen, der durch seine radikalfundamen talistischen Perspektive die Welt betrachtet. Ihm wird es nicht möglich sein, Tatsachenwahrheiten als diese zu er kennen, denn seine vorgefasste Idee wird sich immer über die vorliegende Wahrheit stülpen. So erkennt er in allen Tätigkeiten der Gesellschaft die Machenschaften des Teu fels und Unregelmäßigkeiten im Alltag werden zu einem Anzeichen für das nahende Armageddon. Tara hingegen konnte sich durch Bildung von diesen Ideen befreien, um Wahrheiten erkennen zu können. Der Blick ihres Geistes wandelte sich um und richtete sich auf das, was tatsächlich vor ihr liegt, anstatt durch die Perspektive einer vorgefassten Idee zu blicken. Für sie sind die Schatten an der Wand nicht mehr die einzige Wahrheit, an der sie sich orientiert. Leseempfehlungen: Platon (o. J.): Der Staat. In: Reclams Universalbiblio thek Nr. 19512. Stuttgart: Reclam, Westover,2019.T.(2019): Be freit: Wie Bildung mir die Welt erschloss. Köln: Kie penheuer & Witsch. 18

Erst als ihr anderer Bruder von zuhause wegging, um am College zu studieren, keimte auch in ihr der Wunsch auf, ein eigenes Leben führen zu können. Sie kaufte sich eigene Lehrbücher und lernte für sich allein, um die Aufnahmetests der Universitäten zu bestehen. Damit hatte sie erstaunlichen Erfolg und bald darauf studierte sie in Harvard und an der Cambridge University. In den langen Lernprozessen, die sie durchlief, realisierte sie immer wieder, dass das Zuhause, von dem sie fortging, kein Ort mehr ist, an den sie vorbe haltlos zurückkehren kann. Die Illusionen ihres Vaters, die Gewalttätigkeit ihres Bruders und die Abhängigkeitsbe ziehungen innerhalb ihrer Familie erkannte sie nach ihrem Bildungsweg und wollte sich von ihnen befreien. In den verschiedensten Vorlesungen und Seminaren erkannte sie, dass die Verschwörungstheorien ihres Vaters aus Büchern stammen, die sich schon längst als Unwahrheiten entpuppt hatten. Weiterhin lernte sie, was positive Freiheit bedeutet. Positive Freiheit, erklärte der Professor in Cambridge, ist die Kontrolle über den eigenen Geist, um sich von irra tionalen Ängsten und Überzeugungen, von Aberglauben und allen anderen Formen des Selbstzwanges zu befreien. Dieses Konzept der positiven Freiheit wurde Tara zu einer Art Lebensmotto. Durch den Umgang mit anderen Studie renden und durch lange Tage und Nächte in der Bibliothek lernte sie, dass ihr Unwohlsein in ihrer Familie auch daher rührte, dass sie in eine Frauenrolle gedrückt wurde, die sie nicht einnehmen wollte. Dieser Unwille führte sie immer wieder in extreme Selbstzweifel, da sie annahm, irgendetwas könne mit ihr nicht stimmen, wenn sie den Willen von allen anderen Familienmitgliedern nicht erfüllen will. Erst die Worte John Stuart Mills gaben ihr Trost, denn dieser schrieb, dass es über die Natur der Frau keine abschließenden Antworten gibt. Dies gab ihr die Freiheit, so zu sein, wie sie selbst sein möchte. Heute lebt sie in Cambridge, wo sie auch ihren Doktortitel in Geschichte am Trinity College erlangte. Sie wurde eine weltberühmte Autorin und ihr Buch war lange Zeit Platz 1 auf der New York Times Bestsellerliste. Diese Biografie Tara Westovers verdeutlicht, wie Bildung aus einer illusionsge bundenen Weltsicht befreien kann und, in ihrem Fall, die wirklichen Familienverhältnisse erkennen lässt.

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PRODUKTZERTIFIZIERUNGEN

ASTRID 1907–2002LINDGREN „Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie Menschen.“andere 20

FREIHEIT LEBEN WIND OF CHANGE (SCORPIONS, 1990) Blows straight into the face of time Like a storm wind that will ring the freedom bell For peace of mind Let your balalaika sing What my guitar wants to say Take me to the magic of the moment On a glory night Where the children of tomorrow share their dreams With you and me Take me to the magic of the moment On a glory night Where the children of tomorrow dream away In the wind of change FREIZÜGIGKEIT ALS MENSCHENRECHT ARTIKEL 13 DER „ ALLGEMEINEN ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE“ (1948) (2)(1)

Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staa tes frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.

21 philou.

SOFIA ELEFTHERIADI-ZACHARAKI MASTER OF EDUCATION DEUTSCH/ENGLISCH

Seitdem gilt die Friedenstaube weltweit als Symbol für den Frieden und die Friedensbewegung. Frieden geht bei ihm einher mit Freiheit, Gleichheit sowie der Ablehnung von Gewalt und Terror. Picassos und Delacroix’ Werke verstehen sich im Sinne Peter Weiss’ als „Ästhetik des Widerstands“ (1975). In ihnen manifestiert sich die widerständige und emanzipatorische Kraft der Kunst, die sich gegen Unterdrü ckung und Faschismus auflehnt und für die Freiheit stark Nebenmacht.

der künstlerischen birgt auch die literarische Welt Myriaden fiktive und weniger fiktive Welten, die dem Ge fühl der Unfreiheit und der Sehnsucht nach Freiheit einen Ausdruck verleihen. Es sind teils subjektive und private, teils öffentliche und politische Emanzipationen und Frei heitskämpfe, die sich mal im Kleinen und mal im Großen Soabspielen.demonstriert Virginia Woolf (1882–1941) in „Ein Zim mer für sich allein“ die Ironie des Schicksals, dass ausgerech net vier Wände und eine geschlossene Tür das Befreiendste auf der Welt sein können. Denn, um intellektuell frei zu sein, braucht man auch finanzielle und emotionale Unabhängig keit. In ihrer wunderbaren und umfassenden Betrachtung dessen, was es braucht, um eine Schriftstellerin und eine Frau zu sein, nimmt uns Virginia Woolf mit auf eine Reise 22

Die Sehnsucht nach Freiheit wohnt uns allen inne. In Kunst, Literatur und Musik ist die Sehnsucht nach der Freiheit ein wiederkehrendes und prägendes Motiv. Wenn der einsame Wanderer den Blick gen Nebelmeer richtet, die Friedenstaube mit Olivenzweig im Schnabel ihre Flügel auffächert oder die Freiheit personalisiert als über Leichen gehende entblößte Frau eine Flagge hisst, begegnen uns einige der prägendsten künstlerischen Inter pretationen der Sehnsucht nach Freiheit. In der Romantik gelten angesichts der voranschreitenden Industrialisierung und politischen Unruhen das eigene Innenleben und die Natur als Sehnsuchtsorte der Freiheitssuchenden. Für Caspar David Friedrich (1774–1840) sind es die überwäl tigenden Naturszenerien der Rügener Kreidefelsen oder die zerklüftete Felsenlandschaft der sächsischen Schweiz, die er zum Mittelpunkt seiner Malerei macht und seine Figu ren bewandern lässt. In zahlreichen seiner Gemälde ist der Mensch uns abgewendet abgebildet, meist melancholisch blickt er in die Ferne, bestaunt die Szenerie und lädt uns, die Betrachter_innen, ein, es ihm gleich zu tun. Während sich Friedrichs romantische Gemälde nach Freiheit im Privaten sehnen, sehnt sich Eugene Delacroix’ (1798–1863) roman tisches Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) nach politischer Freiheit. Hier sehen wir die allegorische Figur der Freiheit personifiziert als entblößte Frau, die die Trikolore und ein Bajonett emporstreckend, ihre Mitstreiter anführt, sich gegen Kirche und Adel zu behaupten. Ihr Haar be deckt die phrygische Mütze – in der Antike Symbol befreiter Sklaven, heute Symbol der Französischen Revolution. Sie verkörpert die Sehnsucht nach Freiheit und den Kampf der Kreativ einfachen Bürger_innen für die Freiheit. Zugleich verkörpert sie den Tatendrang und die Energie, die mit einer Revolution einhergehen. Ebenso politisch erweist sich Pablo Picassos (1881–1973) Friedenstaube, ein biblisches Motiv, welches er für den Weltfriedenskongress 1949 als Lithografie entwarf.

Schließlich gilt auch Musik als Medium des freien Geistes. Sie wird als universell menschlich betrachtet – eine Sprache, die jede_r versteht. Spirituals und Work Songs – die Musik versklavter Menschen in den USA aus denen später der Jazz und Blues hervorgingen – sind musikalische Ausdrucksfor men, deren zentrale Elemente die Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und einem taktischen Kampf für eine bessere Zukunft sind. Spirituals sind „geschichtsbezogene Lieder, die vom Verbrechen am [S]chwarzen Leben erzählen; sie erzählen uns von einem Volk im Lande der Knechtschaft und von dem, was es tat, um beieinander zu bleiben und sich zur Wehr zu setzen“ (Cone 1973: 47).

23 philou .

Darüber hinaus ist auch der griechische Komponist und Politiker Mikis Theodorakis (1925–2021) ein prägendes Beispiel für die Relation von revolutionärer Kunst und politischer Freiheit. Ob im Widerstand gegen die Nazis, im griechischen Bürgerkrieg von 1946 bis 1949, in der Militärjunta oder als kommunistischer Regimegegner im Arbeits- und Straflager auf der Gefängnisinsel Makronissos inhaftiert und grausam gefoltert, seine Liebe zur Musik blieb ungebrochen. Theodorakis immenses Schaffen und Wirken war immer dem Kampf gegen Barbarei und Unterdrückung gewidmet. Nicht ohne Grund trägt seine Biografie den Titel „Mein Leben für die Freiheit“.

Ob wir nun im Louvre stehen und Delacroix’ „Die Freiheit führt das Volk“ betrachten, Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein“ lesen oder die nie resignierenden und hoffnungs vollen Spirituals versklavter Menschen hören, erleben und empfinden wir, was Sehnsucht nach Freiheit heißt. Kunst, Literatur und Musik verbinden uns über Jahrhunderte hin weg. Sie stellen Ereignisse und Menschen in ein Verhältnis zueinander und bilden ein Beziehungsgeflecht, in dem wir uns selbst verorten können. Durch künstlerische, literarische und musikalische Ausdrucksformen der Sehnsucht nach Freiheit lernen wir den Wert der Freiheit tiefer zu verstehen.

Freiheit leben durch Gärten, Bibliotheken und glänzende Elfenbeintürme und taucht uns ein in Biografien literarischer Figuren. Die brillante Verflechtung persönlicher Erfahrung, fantasievol lem Gedankenspiel und politischer Klarheit wird für die jungen Frauen, die sie ansprach, ein Aufruf zum Handeln. In George Orwells (1903–1950) „1984“ finden wir uns als Leser_innen in einer Welt wieder, in der Versammlungs-, Bewegungs- und sogar Gedankenfreiheit verboten sind. Mag diese Welt, in der solch grundlegende Freiheiten von der Regierung beschnitten werden, unvorstellbar für manche wirken, zeigen sich unzählige Parallelen zu vergangenen und bestehenden Lebensrealitäten vieler Menschen auf. Li teratur eröffnet Weltentwürfe und bietet den Lesenden eine Projektionsfläche, an der sie ihre eigenen Einstellungen und Haltungen prüfen können. Folglich hat der Wert des Lesens nicht alleinig eine inhaltliche oder literarisch-ästhetische Dimension, sondern auch eine moralisch-ethische. Durch das Eintauchen in und Imaginieren von fiktiven Welten, dem Miterleben der Gefühle und Gedanken von Figuren wird der eigene Erfahrungshorizont erweitert und Empa thie gefördert. Um ihr Verständnis von Literatur und dem Urteilen zwischen richtig und falsch zu beschreiben, greift die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) auf ein Zitat von Thomas Jefferson zurück: The fictitious murder of Duncan by Macbeth‘ exci tes in us ‚as great a horror of villainy, as the real one of Henri IV‘ and a ‚lively and lasting sense of filial duty is more effectually impressed on a son or daughter by rea ding King Lear, than by all the dry volumes of ethics and divinity that ever were written. (Arendt 2003: 145)

Bei der Recherche für diesen Kommentar habe ich Men schen nach ersten Assoziationen zu „Sehnsucht nach Freiheit in Kunst, Literatur und Musik“ befragt. Dabei ist mir aufs Neue vor Augen geführt worden, dass unser Blick auf die Künste überwiegend eurozentrisch und westlich geprägt ist.

Arendt, H. (2003): Responsibility and Jud gement. New York: Schocken Books. Cone, J.H. (1973): Ich bin der Blues und mein Leben ist ein Spiritual. Eine Interpreta tion [S]chwarzer Lieder. München: Kaiser.

Als interdisziplinäres Magazin ist es unser Anspruch, nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht interdisziplinär zu denken, sondern auch gesellschaftlich und kulturell. Die Autorin Elif Shafak schreibt in ihrem 2021 erschienenen Buch „How to Stay Sane in an Age of Division“: We must strive to become intellectual nomads, keep moving, keep learning, resist confining ourselves in any cultural or mental ghetto, and spend more time not in select centres but at the margins, which is where real change always comes from. Im Sinne dieses Gedankens, laden wir euch ein, uns weite re (gern weniger bekannte) künstlerische, literarische und musikalische Ausdrucksformen der Sehnsucht nach Freiheit zu senden. Diese werden wir in unser Onlinemagazin auf nehmen und einen vielfältigen Katalog zusammenstellen.

E-Mail an: info@philou.rwth-aachen.de EINMOERGENSLAB.DEORTDERFORSCHUNG.EINORTDERKUNST. //THEATERAACHEN.DETHEATERKASSE(0241)4784-244MörgensLab-InEineMemoriam«(»AdBrunnCarl//Louis)EdouardvonRomandemnach/Eddy«vonEnde(»DasKoerferLudwigFoto:szenierungvonUlrikeGünther) // ANGEBOTE FÜR STUDIERENDE HIGH FIVE 5 X THEATER UND KONZERT FÜR NUR 22,50 €* ERMÄSSIGUNG // LAST-MINUTE-TICKET WEITERE INFOS AN DER THEATERKASSE *bis zum vollendeten 30. Lebensjahr. Die Gutscheine sind jeweils für die Spielzeit gültig, in der sie gekauft werden. Gastspiele, Sonderveranstaltungen und Premieren sind ausgenommen. In Kooperation mit ta_2201_philou_rwth_q.qxp 21.01.2022 16:00 Uhr Seite 1Anzeige

Wir träumen dahin und haben schon bald den ersten Hü gel erklommen. Im Tal danach fließt ein kleiner Bach und hundert Schmetterlinge flattern um die Uferblumen, rüsseln den süßen Nektar. In Deutschland sieht man immer weni ger Schmetterlinge, dabei will ich doch, dass meine Kinder Schmetterlinge kennen. Nachts schlafen Schmetterlinge. Auf einer Wiese machen wir die lang ersehnte Mittagspause. Kurz danach haben wir den Anstieg fürs erste geschafft und laufen nun entlang der Bergflanke. Die Seite des Berges, auf der wir laufen, zeigt nach Nord-Westen und bekommt so kaum Sonne ab. Die Vegetation erinnert an einen Re genwald: Nasse Erde, Felsen, an denen Wasser herunter rinnt und tropft, darauf Moos und Farngewächse. Einige Bäume sind komplett von Flechten eingenommen, die nun geisterhaft die Äste schmücken und sich im Wind wiegen. Sobald wir um die Kurve sind und der nächste Hang der Sonne zugewandt ist, ändert sich die Landschaft komplett:

CIERP Cierp-GaudWolkensuppeMorgenSPANIENARTIGUE,GAUD,wachenwirineineraufundentscheifahren.Raus,RichtungWirschreibenJoerneinendenwirmitdenWander-anderHaustürablegen.fahrenwirausdemTalundinsnächsteimOstenherein.(Weiteralsge-wiederindieBerge,aberCampingplatzSuchegestalsichalsschwierig.)In(großartigerName)Municipal.Nachderfünftenaus-probiertenTelefonnummererrei-Jean-Pierre,derunsundeineSchlüsselkarTeamworkanderRezep-redemitJean-Pierre,-

Dunkelgrüne Sträucher auf braun-staubigem Boden, beigerosé oder pink-violette Tupfen als Blüten. Den Hang wei ter hinauf liegt eine Grassteppe – dicke Büschel vergilbtes, vergoldetes Gras. Hinter der nächsten Biegung wartet ein kleiner Wasserfall, an dem wir unsere Flaschen füllen können. Kurz darauf sollte eigentlich ein Weg hochführen, und es gibt auch einen kleinen Trampelpfad – aber anders als auf der Karte eingezeichnet. Naja, es bleibt uns nicht so viel anderes übrig und so folgen wir dem kleinen Pfad hoch. Durch einen Nadelwald steigen wir hinauf, bis die Sonne durch das Geäst bricht.

Kreativ Freiheit leben 25 philou .

wort heimlich ab. Der Camping platz ist klein, vielleicht 25 Buchten, mitten in dem Dorf. Um uns rum erheben sich die Berge, langsam in einem herbstlichen Gewand. Wir bauen auf uns machen die Postkarten fertig hübsch mit Isolierband geklebt. Die Rucksäcke sind gepackt, wir haben eingekauft und die Wander schuhe stehen bereit. Mit dem Auto fahren wir bis nach Artigue, bzw. kurz davor, wegen Straßen arbeiten dürfen wir nicht weiter. Also dann. Wir sind bereits auf 1200 Höhenmetern, rund 1000 liegen noch vor uns, verteilt auf 20km Strecke. Wir sind schnell durch Artigue durch und laufen anschließend über eine Schotter30.08.-01.09.

NACHTS SCHLAFEN DIE SCHMETTERLINGE Ein Reisebericht

LUISE LAMBERTY MASTER OF EDUCATION DEUTSCH/GESCHICHTE

Am Stadtrand Targasonnes fanden wir einen Campingplatz, der direkt an einem Bouldergebiet lag. Wir spazierten eine Runde durch das hohe Gras, aus dem Farbkleckse von Disteln, Lattichen , Wegwarten und Wilden Möhren hervorlugten. Um uns herum surrte und zirpte alles: Hummeln, Schmetterlinge und Grashüpfer stoben bei jedem Schritt auf. Es roch nach trockener Wiese, Sommer und Pinien. Aus der Wiese wuchsen immer wieder einzelne Felsen oder Felsformationen raus. Verrückt, wie diese riesigen Brocken zufällig, wie Kieselsteine, hier verteilt lagen. Manche waren gesprungen und ein großer Riss teilte sie, wie eine fallengelassene Murmel. Und überall fanden wir Chalkreste, ließen unsere Hände an Risse oder Ausbuchtungen gleiten, spürten den rauen, kalten Fels. Nach einer Mittagspause auf einem Felsrücken und einem stärkenden Kaffee auf dem Campingplatz nahmen wir unsere Isomatten und Kletterschuhe und spazierten wieder in das Wald23.03.-26.08.

Der Morgen bricht kalt über uns hinein. Wir verliegen noch einige Zeit, bis die Sonne ihre Fühler in die kleine Schlucht ausstreckt. Abbauen und dann weiter. Fahrtenleben. Nach einigen Schritten kommt Wärme in die kalten Glieder. Vor uns liegt ein Berggipfel, den Rücken mit dichtem Gras bewachsen, dazwischen Steine und Felsen. In Serpenti nen gehen wir ein steiles Stück hinauf und dann am Hang entlang. Unser Weg kreuzt eine Wiese, auf der kräftige Ponystuten stehen, in ihrer Mitte einige Fohlen. Eines ist weiß und kastanienbraun gescheckt und das Fell liegt in Locken an, auch der Schweif und die Mähne sind gewellt. Es springt scheu vom Weg und der Mutter hinterher. Den Weg weiter hinauf kommen wir in eine Schafsherde, weiße Punkte grasen das stachlige Gras ab. Weiter oben steht ein Schäfer am Hang, ein Hund springt um ihn herum. Am Hang wachsen letzte Blaubeeren, die wir probieren. Lila Finger greifen nach dem Glück. Über den Bergkamm ge hen wir weiter. Links von uns Spanien, rechts Frankreich. Weiße Steine markieren die Grenze. Die Berge in Spanien sind steiler und felsiger, liegen in dunklen Falten unterm Himmel. Auf der französischen Seite sehen die Berge aus wie Samt, achtlos in eine Ecke geworfen, abgenutzt und 26

28 TARGASSONNE

In den großen Facettenaugen tiefe Schwärze. Beim Abstieg werden die Beine leichter, die Füße schneller. Die Erde ist schwarz, wie versengt von einem nicht dagewesenen Feuer. Tiefgraue Steine bedecken große Teile der Erde, schiefrig, aber mit rot-glitzernden oder regenbogenfarbenen Einzügen.

33 Freiheit leben 27 philou .

Über uns kreisen Vögel, Milane vielleicht, in langen, glatten Flügelschlägen. Eine große Feder ist zu Boden gesegelt und liegt verloren im Gras. Vor uns hüpft eine Herde Steingeiße und -böcke über die Weite. Ein neugieriges Zicklein bildet den Schluss der Herde. Alles wirkt so perfekt und friedlich, so, als wäre es schon immer so gewesen, als müsste es für immer so sein. In solchen Momenten kann ich beinahe vergessen, welch zerstörerische Kraft der Mensch hat. Die Welle bricht und stürzt hinab, die Natur kann nicht immer stärker sein. Eine tiefe Zerrissenheit durchfährt mich. Über der Kletterwand sitzen, beide Beine baumelnd, Kaffee und Kippe in der Hand. Mit Tassen in der Hand klettern wir einen Felsspalt hoch, barfuß, ohne Seil, vorbei an den angegurteten Kletter_innen. Der Körper wurde schwer und verschwamm, der Geist wurde herrlich leicht und beinahe schwebend. Ein Abend in Freiheit unter dem schwarzen Himmel, die Augen auf dem lodernden Licht. Der Tag entgleitet in Schatten.

matt. In satten, warmen Farben strahlt das Gras weich. Auf dem Gipfel machen wir Bekanntschaft mit einer Hummel.

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AUSBLICK: AUSGABE 12 CHAOS Unordnung, Durcheinander, Wirrwarr – Chaos. Aus dem Alt griechischen übersetzt bedeutet Chaos „der weite leere Raum“. Der Begriff findet vielfach Anwendung in unterschiedlichen Dis ziplinen, wie der Physik, Mathematik, Theologie, Politikwissen schaft, Biologie, Psychologie u.v.m. In der Chaosforschung wird sich mit der Unvorhersehbarkeit von Systemen auseinanderge setzt, die nichtlineare Effekte, wie den Schmetterlingseffekt, auf Kannweisen.der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Was kennzeichnet chaotische Sys teme? Inwieweit können wir (langfristige) Auswirkungen von Einflüssen voraussagen? Welche kognitiven, individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen und Strategien haben wir, um mit Chaos und Unversehrbarkeit umzugehen? Was ist Chaos? Mit diesen und vielen weiteren Aspekten soll sich die nächste Ausgabe beschäftigen – dabei geht es uns um einen interdiszipli nären und inneruniversitären Diskurs. Hast Du Lust zu schreiben, wissenschaftlich zu arbeiten und zu publizieren? Dann verfasse doch einen Artikel oder einen kreati ven Beitrag für uns! Melde Dich unter lektorat@philou.rwth-aachen.de

Sofia Fischer, Kirsten Funke, Friederike García Mata, Cristina Layout Döring, Luca Funke, Friederike Kim, Sumin Originalbild (verändert) David Maier via Unsplash S.16 Orginalbild Solen Feyissa via Unsplash Texturen: texturefabrik.com & Kiwihug via Unsplash V.i.S.d.P Ann-Kristin StudierendenmagazinWinkens Philou. e.V. Rehmplatz 7 52070 Aachen Heinrichs, Katja Kim, Sumin Korr, Jan Neu, Winkens,Weingarten,Specht,Schneider,SabrinaYvonneHannaKarlaAnn-Kristin

Credits FreiheitS.4:Originalbild Sepehr via Unsplash S.17: Originalbild (verändert) Jessica Felicio via Unsplash S.20: Originalbild (verändert) Eneko Uruñuela via Unsplash S.25-27: Originalbild (verändert) via Mika Leßmann S.4GrenzenOrginalbild Jon Tyson via Unsplash S.9 Orginalbild (verändert) Rockström et al. 2009 S.12-15

Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlichst bei allen Mitwirkenden, die Zeit, Rat und Geld zur Verfügung ge stellt haben. Diese Ausgabe und die vorigen Ausgaben der philou. können auch online unter philou.rwth-aachen.de eingesehen Diewerden.Redaktion behält sich das Recht vor, Artikel redaktionell zu bearbeiten. Eine Abdruckpflicht für eingereichte Beiträge gibt es nicht. Die in der philou. veröffentlichten, namentlich gezeichne ten Beiträge geben die Meinungen der Autor_innen wieder und stellen nicht zwangsläufig die Position der Redaktion dar. Nach druck und Wiedergabe von Beiträgen aus der philou. sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion erlaubt.

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philou .

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Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin an der RWTH Aachen Ausgabe 11, 2022 Auflage: 2000 Mitwirkende Ausgabe #11 Alberty, EleftheriadiDöring,Bresser,Bendler,VictoriaKarlMalouLuca–Z.,

Liebe Leser_innen,

VERFASST VON ANN-KRISTIN WINKENS

Grenzen überwinden: Technologischer Fortschritt kann Grenzen sowohl überschreiten als auch überwinden. Neben moralischen Fragestellungen über beispielsweise Selbstoptimierung und Gen veränderung kann medizinischer Fortschritt aber auch Grenzen überwinden, wie es ein Beispiel zur Organtransplantation veran schaulicht (S. 18). Denn manchmal müssen Grenzen überwunden werden, um Freiheit zu erlangen (S. 22). Andererseits ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, wo Freiheit beginnt und Grenzen enden (S. 26). Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie Problemstellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die elfte philou. Durch den Fokus auf die Diversität und Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die elfte Ausgabe genauso gefällt wie uns!

NELSON MANDELA1918–2013

Editorial Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiertfördert.und

Eure philou. Redaktion

Grenzen setzen: „Der Mensch ist frei wie ein Vogel im Käfig. Er kann sich innerhalb gewisser Grenzen bewegen.“, wie einst Johann Kaspar Lavater schrieb. Der voranschreitende Klimawandel sowie die zunehmende Beanspruchung des Ökosystems Erde zeigen uns jene Grenzen auf, innerhalb derer wir uns bewegen können und sollten. Einen konkreten Ansatz hierfür stellt das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen dar (S. 6). Welche Grenzen braucht die Freiheit des Einzelnen, damit die Freiheit Aller erhalten bleibt? Ein Beispiel hierfür sind staatliche Eingriffe in den täglichen Kon sum (S. 12).

in Zeiten der Coronapandemie aber auch des Klimawandels sind Diskurse über Freiheit und Grenzen omnipräsent. Diese stellen jede menschliche Generation vor neue Herausforderungen – welche Grenzen wollen bzw. müssen wir setzen, um langfristig Freiheit zu gewährleisten? Die Relevanz von derartigen Fragen zeigt sich bereits in der Vielfältigkeit, mit der sich diese stellen lassen. Gibt es grenzenlose Freiheit? Was bedeutet Freiheit für den Menschen als Individuum? Wir können Freiheit in verschiedenen Dimensionen denken und leben, wir können uns aber auch Grenzen setzen und diese gleichsam überschreiten sowie überwinden – und so unsere Freiheit neu definieren. Freiheit denken: Was stellen wir uns vor, wenn wir an „Freiheit“ denken? Wie frei sind wir unserer Vorstellung nach? Im Vorder grund dabei steht vor allem die Frage nach dem freien Willen, insofern wir diesen haben (S. 6). In der Theorie gibt es dabei ver schiedene Vorstellungen des Freiheitsbegriffes, die sich historisch entwickelt und angepasst haben (S. 10). Eine relevante Rolle spielt dabei das gesellschaftliche System, in dem wir leben und von dem wir geprägt werden. Welchen Einfluss spielt dabei die Demokratie als Staatsform – stellt sie eine Begrenzung der Freiheit dar oder macht sie uns erst frei? (S. 12) Und welche befreiende Kraft können Bildung und Aufklärung in uns entfalten? (S. 16) Freiheit leben: Freiheit ist ein Grundrecht. International festge schrieben wurden die Freiheitsrechte in der Erklärung der Men schenrechte im Jahr 1948. Dennoch sehnen sich Menschen im Privaten sowie im Politischen fortwährend nach Freiheit, wie es sich seit Jahrhunderten in Kunst, Literatur und Musik widerspiegelt (S. 22). Gerade das Reisen in andere Welten und Länder kann uns dabei ein besonderes Freiheitsgefühl vermitteln (S. 25).

A USGA BE 11 THEMA: GRENZEN philou . UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN

Aachen bonding – erlebe, was Du werden kannst. bonding international Jetzt Mitglied werden der RWTH Aachen, auch Softskill-Trainings, Exkursionen, Fallstudien und Vorträge. Bei uns hast Du die Möglichkeit Dich auszuprobieren, Praxiserfahrung zu sammeln und wertvolle Softskills wie Teamarbeit, Projektmanagement, Präsentations- und Kommunikationstechniken zu erlernen.

Angefangen haben wir 1988 in Aachen mit kleinen Exkursionen und den ersten Messen. Das Konzept war so erfolgreich, dass sich die Idee schnell verbreitete und bald weitere Gruppen an anderen Hochschulen gegründet wurden. Inzwischen arbeiten wir mit über 500 aktiven Mitgliedern an 10 Standorten und einem Remotestandort. In Kooperation mit unserer Patnerinitiative BEST (Board of European Students of Technology) ist bonding auch international aktiv und organisiert Veranstaltungen weltweit. Möchtest Du mehr als nur ein Teilnehmer bei unseren Veranstaltungen sein? Bei bonding kannst Du von kleinen Aufgaben, wie Veranstaltungen und Exkursionen, bis zu großen Projekten, wie Messen und den Semesterplaner, alles übernehmen. Unser internes Weiterbildungsprogramm vermittelt Dir die notwendigen Softskills für Dein Engagement bei bonding und Deine zukünftige berufliche Laufbahn.

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Inhalt GRENZEN SETZEN 06 Genug ist genug – Die Grenzen unserer (Um)Welt Sabrina Neu Wie wir die planetaren Belastbarkeitsgrenzen für uns nutzen sollten 12 Freiheit zur Selbstbegrenzung oder Begrenzung der Freiheit? – Auf der Suche nach dem richtigen Weg zu nachhaltigem Konsum Caroline Gasten & Jonathan Schieren Über die Notwendigkeit und Legitimität staatlichen Eingreifens in die Souveränität der Konsument_innen GRENZEN ÜBERWINDEN 18 Wo kann man das kaufen? – Wie tierische Organe den Mangel an Spenderorganen beenden könnten Merle Riedemann Xenotransplantationen und ihre Herausforderungen 22 Freiheit hinter der Grenze – Flucht aus HeinzNazideutschlandGödde Porträts jüdischer Aachener_innen auf der Flucht vor dem NS-Regime 26 Mit Gänsehaut und Tränen Sarah Breusch Eine poetische Betrachtung der Vielschichtigkeit von Freiheit und Grenzen philou instagram.com/facebook.com.rwth-aachen.de/philoumagazinphilou.magazininfo@philou.rwth-aachen.de

„Niemand hat die eineAbsicht,Mauer zu errichten.“ WALTER 1893–1973ULBRICHT 4

Die Menschheit hat der freien Forschung viel zu verdanken. Innerhalb der letzten Jahrhunderte hat sie mit zunehmender Geschwindigkeit Wis sen gemehrt und geholfen, die Lebensqualität und -erwartung vieler Menschen zu steigern. Doch die Entdeckung neuer Technologien und Anwendungsmöglichkeiten bringt eine große Verantwortung mit sich. Allzu leicht kann die An wendung vieler Forschungsergebnisse großen Schaden anrichten – unbewusst, bewusst oder sogar explizit gewollt. So fordert beispielsweise die Nationale Akade mie der Wissenschaften Leopoldina, dass For schende nicht nur rechtliche Regeln, sondern auch ethische Grundsätze einhalten. Die meisten Forschungseinrichtungen haben eigene Vorga ben, wie in kritischen Fällen vorgegangen wer den soll. Es gilt, die Chancen und Risiken der Forschung für Menschheit, Umwelt und weitere Aspekte abzuwägen. Im Zweifelsfall obliegt die se Entscheidung über die Begrenzung der durch die Verfassung geschützten Wissenschaftsfrei heit häufig einer Ethikkommission der jeweiligen Forschungseinrichtung.

GRENZEN WISSENSCHAFTSFREIHEITDER

5 philou.

Der Club of Rome veröffentlichte 1972 erstmals die Studie „Limits to Growth“ (Grenzen des Wachstums), die von Wissenschaftler_innen des MIT durchgeführt wurde. Ziel war es, die Aus wirkungen und Folgen des Wachstums der Welt bevölkerung, des Ressourcenverbrauchs, der Industrie und der Umweltverschmutzung aufzu zeigen. Die Ergebnisse der Studie wiesen auf eine über das Jahr 2050 hinaus besorgniserre gende Zukunft hin, weshalb der Club of Rome eine freiwillige Begrenzung des industriellen Wachstums und eine grundsätzliche Umorientie rung zu einem nachhaltigen Wachstum empfahl. Dadurch wurde der Grundstein für das Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung gelegt.

LIMITS TO GROWTH

GRENZEN SETZEN

Im August 2021 veröffentlichte der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) den sechsten Sachstandsbericht zur Lage des Klimas. Das erste Kapitel des Berichts thema tisiert unter anderem die physikalische Wissenschaft des Klimawandels auf Basis fünf verschiedener Klimaszenarien. In einem der Szenarien sind die Umweltschutzmaßnahmen unzureichend und die CO2-Emissionen steigen im Laufe des Jahrhunderts weiter an. Die Temperaturen liegen im Jahr 2100 bei 3,6 °C über dem vorindustriellen Wert. Infolgedes sen werden Dürren wie auch Überschwemmungen häufiger und intensiver, das arktische Sommereis verschwindet und Hitzewellen kommen bis zu vierzigmal häufiger vor. (vgl. IPCC Betrachtet2021)man unabhängig von den fünf Klimaszenarien des IPCC die Zukunft der Erde bei Fortsetzung der bis herigen ökonomischen Entwicklung und Überschreitung ökologischer Grenzen, so kommt es anstelle der gesellschaft lich angestrebten Wohlstandsmehrung zu einer drastischen Minderung der Lebensqualität (vgl. Müller 2015). Auch wenn die Diskurse um Nachhaltigkeit und Klimaschutz zunehmen, ist es in der alltäglichen Realität jedoch häu fig schwierig einzuordnen, was tatsächlich nachhaltig und umweltschonend ist und was nicht. Die Unzufriedenheit mit den verantwortlichen Akteuren, die großen Einfluss auf den Zustand der Umwelt nehmen, nimmt einer Umfrage des Umweltbundesamtes (2019) zufolge zu. Im Rahmen der Umfrage sind nur 8 % der deutschen Bevölkerung der Meinung, dass die Industrie genug für den Umwelt- und Klimaschutz tut (vgl. UBA 2019). Im Alltag finden sich zwar eine Vielzahl von Siegeln, Zertifikaten und grünen Verpackungen, doch die tatsächlichen Umweltauswirkungen der Produkte bleiben unbekannt. Es fehlt der Bezug zu den limitierenden Faktoren der Umwelt, also den Faktoren, die erheblichen Einfluss auf das Erdsystem und dessen Funk tionsfähigkeit haben. Denn diese sind notwendige Mittel, wenn es um Umweltschutz und entsprechend wirksame und wissenschaftlich sinnvolle Maßnahmen geht. (vgl. Müller et al. 2017) Es gibt eine Reihe solcher Grenzen, die den komplexen Zustand der Umwelt veranschaulichen und beurteilen. Diese Belastbarkeitsgrenzen definieren den sicheren Handlungs spielraum für die Menschheit in Bezug auf das Erdsystem. Rockström et al. (2009) haben die Erdsystemprozesse und die damit verbundenen Schwellenwerte identifiziert, deren Überschreitung zu inakzeptablen Umweltveränderungen führen könnten. Die meisten dieser Schwellenwerte können durch einen kritischen Wert („Tipping Point“) definiert wer den. Grundsätzlich wird zwischen einem handlungssicheren Spielraum (siehe Abb. 1 dunkelgrüner Bereich), einem er höhten Risiko (hellgrüner Bereich) und einem hohen Risiko (lilafarbener Bereich) unterschieden.

SABRINA NACHHALTIGENEUROHSTOFF- UND ENERGIEVERSORGUNG Artikel 6

GENUG IST GENUG

Die Grenzen unserer (Um)Welt

Belastbarkeitsgrenzen berücksichtigt: • Klimawandel • Intaktheit der Biosphäre (Funktionale- und Genetische Vielfalt) • Biogeochemische Flüsse (Stickstoff- und Phosphorkreislauf) • Ozonverlust in der Stratosphäre • Neue Substanzen und modifizierte Lebensformen • Süßwassernutzung • Landnutzungswandel • Versauerung der Meere • Aerosolgehalt der Atmosphäre 7 philou .

Diese Prozesse haben dennoch erheblichen Einfluss auf das Erdsystem und sind daher Teil des Modells (vgl. Steffens et al. 2015). Zwei der neun planetaren Grenzen wurden be reits überschritten und sollen im Folgenden näher erläutert werden (vgl. Rockström et al. 2009). Rückgang der biologischen Vielfalt (auf dem Land und im Meer) Das Artensterben ist ein natürlicher und evolutionsbedingter Prozess, der auch ohne menschliches Zutun stattfinden wür de. Allerdings hat sich der Verlust der biologischen Vielfalt erheblich beschleunigt. Arten sterben in einem Ausmaß aus, wie es seit dem globalen Massenaussterben der Dinosaurier nicht mehr zu beobachten war. Die Rate des Artensterbens liegt schätzungsweise 100 bis 1.000-mal über dem Wert, der als natürlich angesehen werden kann.

Diese planetaren Grenzen beruhen auf einem konservativen und risikoaversen Ansatz. Das bedeutet, dass sie risikoscheu ausgelegt sind und auf eher pessimistischen Prognosen beru hen. Das gibt der Gesellschaft prinzipiell Zeit, auf Warnzei chen zu reagieren, die darauf hindeuten, dass sie sich einem Tipping Point nähert und möglicherweise eine abrupte Veränderung des Erdsystems bevorsteht (vgl. Steffens et al. 2015). Es werden auch die Unsicherheit und unvorher sehbaren Veränderungen der Umwelt berücksichtigt (vgl. Rockström et al. 2009).

Grenzen setzen Die folgenden neun Prozesse werden im

Wie beim Klimawandel sind auch hier menschliche Ak tivitäten die Hauptursache für die Beschleunigung. Daher wird der mit dem Artensterben einhergehende Verlust der genetischen Vielfalt der Hochrisikozone zugeordnet.

Die Annäherung an eine der neun Grenzen erhöht das Risi ko, Tipping Points zu überschreiten, was zur Instabilität der Erdsysteme und zu irreversiblen globalen Umweltverände rungen führt. Aus Abbildung 1 geht hervor, dass für drei der Werte noch keine Risikobeurteilung stattgefunden hat: Für den Aerosolgehalt der Atmosphäre, neue Substanzen und modifizierte Lebensformen sowie die funktionale Vielfalt konnten bisher keine Tipping Points quantifiziert werden.

Störung des Stickstoff- und Phosphorkreislaufs

der

Die zusätzlichen Mengen an Stickstoff und Phosphor, die durch den Menschen freigesetzt werden, sind inzwischen so groß, dass sie die globalen Zyklen dieser beiden Elemente erheblich stören (vgl. Mackenzie 2002). Die Herstellung von Düngemitteln für die Nahrungsmittelproduktion und der Anbau von Hülsenfrüchten wandeln jährlich etwa 120 Millionen Tonnen Stickstoff aus der Atmosphäre in reaktive Formen um. Diese belasten das Klima, die Luftqualität sowie die Biodiversität erheblich. Der durch den Menschen verur sachte Ausstoß ist höher als der aller natürlichen Prozesse der Erde zusammen. (vgl. Rockström et al. 2009) Wiederkehrende Diskurse in der Politik sowie in der Ge sellschaft bemessen dem Klimawandel eine besondere Be deutung zu. Daher wird im Folgenden die planetare Grenze für den Klimawandel und die dafür herangezogenen Werte näher erläutert. Der Klimawandel wird zwar noch nicht der Hochrisikozone zugeteilt, die unbedenklichen Grenzwerte wurden allerdings durchaus überschritten. Dementsprechend liegt der Prozess in der gelben Zone der Unsicherheit und des erhöhten Risikos. Konzept planetaren

Klimawandel Anhand zweier unterschiedlicher Zustände des Klima systems wird der Klimawandel betrachtet. Zum einen die atmosphärische Kohlendioxidkonzentration, deren Unsi cherheitszone zwischen 350–450 parts per million by volume (p.p.m.v.) liegt. Die derzeitige CO2-Konzentration liegt bei 412 p.p.m.v. (vgl. UBA 2021). Des Weiteren wird die Rate der Energieänderung pro Flächeneinheit des Globus be rücksichtigt. Dabei soll der Wert nicht mehr als +1 Watt pro Quadratmeter (W/m2) über dem vorindustriellen Niveau liegen. Der aktuelle Wert liegt bei +2,3 W/m2 gegenüber dem Jahr 1750 (vgl. Steffens et al. 2015). Das Überschrei ten bzw. die Annäherung an diese Grenzwerte erhöht unter anderem das Risiko für den Verlust großer Eisschilde, einen beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels und Veränderun gen der Wald- und Agrarsysteme (vgl. Rockström et al. 2009). Steffens et al. (2015) veröffentlichten eine Überarbeitung und Ergänzung zum System der planetaren Grenzen, woraus hervorgeht, dass bereits eine Zunahme der Intensität, Häu figkeit und Dauer von Hitzewellen weltweit zu beobachten ist. Darüber hinaus nimmt die Zahl der Starkregenereignisse in vielen Regionen der Welt zu. Ebenso steigt der Massen verlust des grönländischen und antarktischen Eisschilds an. Unser Umweltsystem bewegt sich also an seiner Belas tungsgrenze. Trotz des offensichtlichen Notstandes sind die Umweltschutzmaßnahmen unzureichend. Die planetaren Grenzen ermöglichen eine wissenschaftlich fundierte Analy se des Risikos, das menschliches Handeln auf der planetaren Skala zu einem definierten Zeitpunkt hervorruft. (vgl. Stef fens et al. 2015) Sie schreiben hingegen nicht vor, wie Gesell schaften auf die dargelegten Risiken reagieren sollten. Dies bleibt eine politische Entscheidung, die auch die ethischen Dimensionen, einschließlich sozialer Gerechtigkeit, mitein binden müssen, die im Zuge dieser klimawissenschaftlichen Ausarbeitung nicht berücksichtigt wurden. Nichtsdestotrotz leistet das Konzept der planetaren Belastbarkeitsgrenzen einen wertvollen Beitrag für Entscheidungsträger, indem es einen sicheren Handlungsspielraum für die Menschheit auf der Erde aufzeigt. (vgl. ebd.) Die Einhaltung der planetaren Grenzen wurde 2016 im Integrierten Umweltprogramm 2030 des Bundesministeri ums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit als zentrale Herausforderung der Umweltpolitik festgelegt (vgl. BMU 2021). Diese politische Einbindung entspricht einem ersten Erfolg. Die planetaren Grenzen bieten auch eine Chance für die Wirtschaft und den Privatsektor, sich konkret mit den eigenen Handlungsfolgen auseinanderzusetzen und die sen entgegenzuwirken. Auf der „Making the Planetary Boundaries Concept Work“ Konferenz in Berlin (2017) wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Umsetzung des Planetary-Boundaries-Konzepts auch einen Mehrwert für Unternehmen mit sich bringt. Die planetaren Grenzen können von Unternehmen als Narrativ genutzt werden, wo durch ein Anreiz zum nachhaltigen Wirtschaften geschaffen werden kann. Dem Kunden wird beispielsweise vermittelt, dass das Unternehmen die eigenen Wertevorstellungen teilt und Rücksicht auf Umweltverträglichkeit nimmt. Darüber hinaus bringt das Konzept Transparenz und Konsumenten vertrauen mit sich. Unternehmen und Produkte in Bezug zu den Belastungsgrenzen zu setzen, macht die Umwelt belastungen konkret und vergleichbar. (vgl. Keppner 2017) 8

Grenzen setzen Klimawandel Neue Substanzen und VersauerungderLebensformenmodifizierteOzonverlustinderStratosphäreAerosolgehaltAtmosphärederMeereBiogeochemischeFlüsse SüßwasserLandnutzungsnutzung -IntaktheitwandelBiosphäreder FunktionaleVielfaltGenetischeVielfaltPhosphorStickstoff sicherer Handlungsraum verlassen; hohes Risiko gravierender Folgen sicherer Handlungsraum verlassen; erhöhtes Risiko gravierender Folgen Menschheit agiert im sicheren BelastbarkeitsgrenzenHandlungsraumnichtdefiniert ? ? ? Abbildung 1: Planetare Belastbarkeitsgrenzen (angepasst nach Rockström et al. 2009) 9 philou .

Bundesministerium für Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2021): Planetare Belastbarkeitsgrenzen. Online ver fügbar unter: keit/integriertes-umweltprogramm-2030/nachhaltigkeit-digitalisierung/nachhaltig(https://www.bmu.de/themen/planetare-belastbarkeitsgrenzen[Zugriff:18.11.2021].

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ODER BEGRENZUNG DER FREIHEIT?

Auf der Suche nach dem richtigen Weg zu nachhaltigem Konsum

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Artikel

CAROLINE GASTEN & JONATHAN SCHIEREN WATER MANAGEMENT, TU DELFT Zwei Wochen dauerten die Verhandlungen von 192 Staa ten und weiteren Akteuren auf der 26. Weltklimakonferenz (COP26) in Glasgow (UK Government 2021). Auch wenn laut UN-Generalsekretär António Guterres der resultierende Glasgow Climate Pact nicht ausreichend sei, die Gefahr einer Klimakrise zu bannen (vgl. ZDF 2021), wird die Dringlich keit aktiv zu werden dennoch deutlich: Um das 1,5°C Ziel zu erreichen, müssten die globalen CO2-Emissionen bis 2030 um 45% relativ zu 2010 reduziert werden (vgl. Glasgow Climate Pact, Paragraf 22). Eine besondere Verantwortung wird dabei reichen Nationen bzw. Nationen, die maßgeblich zu bisherigen Emissionen beigetragen haben, auferlegt (vgl. Glasgow Climate Pact, Paragraf 23; Rio Declaration on En vironment and Development, Principle 7). Auch losgelöst von historischer Verantwortung und finanziellen Mitteln, wenn im Rahmen des equal share per capita Prinzips das welt weite CO2-Budget gleichmäßig auf alle Menschen verteilt werden würde, müssten sich die großen Emittenten unter den Nationen überproportional einschränken: Deutschland, beispielsweise, stieß im Jahr 2019 mit 9,88 Tonnen CO2 pro Person mehr als doppelt so viel CO2 aus wie der weltweite Durchschnitt (vgl. Schlosberg 2012; Ritchie 2019). Dem equal share per capita Prinzip folgend müsste Deutschland seine CO2-Emissionen pro Kopf bis 2030 um knapp 75% reduzieren. Eine Rechnung, die man durchaus als Aufforde rung an jede_n Einzelne_n begreifen kann, denn durch ihren Konsum tragen sie einerseits zum Klimawandel bei und kön nen andererseits durch veränderte Nachfrage das Angebot an nachhaltigeren Produkten auf dem Markt beeinflussen (vgl. Tobler et al. 2012; Umweltbundesamt 2021b). Aber kann nachhaltiger Konsum in der Breite, durch die Bereitschaft Einzelner ihre Konsummuster anzupassen, erreicht werden oder darf und muss der Staat lenkend eingreifen?

FREIHEIT SELBSTBEGRENZUNGZUR

Konsumfreiheit oder auch die Souveränität der Konsu ment_innen ist definiert als „die Möglichkeit der Verbrau cher, unabhängige, ausschließlich an ihren persönlichen Vorstellungen und Wünschen ausgerichtete Entscheidun gen zum Einkauf von Gütern oder Leistungen zu treffen“ (Pollert et al. 2013: 28).

In der sozialen Marktwirtschaft stellt die Souveränität der Konsument_innen ein zentrales Leitbild dar (vgl. Weber 2010). Ein Eingriff durch den Staat solle nur in der Schaf fung der Rahmenbedingungen für eine informierte, freie Entscheidung der Konsument_innen stattfinden, indem er für weitestmögliche Markttransparenz und einen funk tionierenden Wettbewerb sorgt und nur dort regulierend eingreift, wo die Sicherheit der Verbraucher_innen gefährdet ist (vgl. Hauff/Fischer 2017). Jedoch rückt das Spannungs feld zwischen individuellen Konsumentscheidungen und nachhaltigem Konsum zunehmend in den Vordergrund: Auf der einen Seite haben die Menschen das Recht auf Selbstbe stimmung und Wahlfreiheit. Auf der anderen Seite erfordert das übergeordnete Ziel der Nachhaltigkeit eine Änderung des Konsumverhaltens (vgl. ebd.). Doch muss eine solche Veränderung notwendigerweise zu einer Einschränkung der Souveränität der Konsument_innen führen? Nachhaltiger Konsum kann als Hebel dienen für eine nachhaltigere Gestaltung von Konsumgütern, die in der Produktion weniger Ressourcen verbrauchen (Effizienz strategien), deren benötigte Ressourcen regenerierbar oder recycelbar sind (Konsistenzstrategien) oder die langlebiger sind (Permanenzstrategien). Weiterhin kann sich nachhaltiger Konsum auch durch eine Änderung der Konsummuster (Suf fizienzstrategien) auszeichnen. Suffizienzstrategien zeigen sich beispielsweise in einer Erhöhung der Lebensdauer der Konsumgüter durch Reparieren und Warten, dem Teilen und Tauschen oder einer Abwendung von materialistischen Werten als Zeichen des Wohlstands (vgl. ebd.).

Auch ist es ungewiss, ob eine derart drastische Redukti on der CO2-Emissionen, wie sie von Deutschland für die Einhaltung des equal share Prinzips erwartet werden würde, durch eine reine Effizienzsteigerung erreicht werden kann.

Momentan werden insbesondere energie- und ressourcen schonendere Produkte entwickelt und vermarktet, um eine Änderung in Richtung nachhaltigeren Konsums zu erwir ken. Die Attraktivität solcher Maßnahmen erwächst aus der Hoffnung, dass Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen reduziert werden können, ohne dass die Lebensqualität der Konsument_innen verringert wird. Jedoch senkt eine gesteigerte Effizienz oft die Kosten, was ein verändertes Nutzerverhalten zur Folge haben kann, beispielsweise eine intensivere Nutzung des Produkts. Dadurch werden die technisch zu erwartenden Energieeinsparungen zum Teil aufgehoben (Rebound-Effekt) (vgl. Schoenheit 2009; Um weltbundesamt 2019).

Grenzen setzen

Letztendlich könnte die freiwillige Selbstverpflichtung zu weniger Flügen, weniger Fleischkonsum oder dem kleineren Auto eben doch einen notwendigen, zusätzlichen Beitrag zur Verminderung der CO2-Emissionen bedeuten. Doch wer wäre bereit, den ersten Schritt zu gehen und seine Kon summuster nachhaltiger ausrichten?

Mit einer ähnlichen Frage beschäftigte sich William Foster Lloyd bereits im Jahr 1833: Er entwarf das Szenario einer durch mehrere Bauern geteilten Weide. Jeder Bauer ließe möglichst viele Kühe auf dieser Weide grasen. Doch auch eine Weide sei begrenzt und bei Anzeichen von Übergrasung müsste sich jeder Bauer fragen, ob er noch weitere Kühe kau fen sollte. Handle es sich um die eigene Weide, entschiede sich, Foster zufolge, der Bauer wahrscheinlich dagegen, denn jede weitere Kuh fräße den anderen das Gras weg. Doch bei einer geteilten Weide verteile sich der negative Einfluss einer weiteren Kuh auf die Kühe aller Bauern, sodass der Nutzen für den einzelnen Bauern größer wäre als sein individueller Nachteil (vgl. Lloyd 1980). Die Tendenz von Individuen im Kontext eines geteilten Guts mit eingeschränkter Ka pazität primär eigene Interessen zu vertreten wurde 1968 von Garrett Hardin wieder aufgegriffen. Er nannte sie die tragedy of the commons, die Tragödie der Allmende. Ohne die Regulierung der Nutzung öffentlicher Güter durch Einzel ne gibt es nach dieser Theorie keinen Anreiz individuelle Wünsche einzuschränken (vgl. Hardin 1968). Auch wenn es Menschen gibt, die mit gutem Beispiel vorangehen und ihren negativen Einfluss auf das globale Gut Atmosphäre durch veränderte Konsummuster verringern, reicht diese freiwillige Selbstverpflichtung laut Umweltbundesamt nicht aus, um in der Breite nachhaltigen Konsum zu erreichen (vgl. Umweltbundesamt 2021a). In Fällen, in denen keine nachhaltigen Konsumabsichten bestehen, bedarf es daher Anreizen von Seiten der Politik, um das gewünschte Ver halten zu erzielen (vgl. Hauff/Fischer 2017).

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Das Klimaschutzgesetz regelt unter anderem die zulässi gen Jahresemissionsmengen zur Erreichung der nationalen Klimaschutzziele. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die ursprünglich festgesetzten Emissionsminderungen bis 2030 zu gering sind, weil die notwendigen Emissions minderungen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 somit überproportional auf den Zeitraum nach 2030 und somit auf jüngere und zukünftige Generationen fallen. Die Verbindung zwischen Emissionsminderungen und poten ziellen Einschränkungen der Freiheit wird hier dadurch festgestellt, dass „noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden [sind]“ (BVerfG 2021). Dadurch bedeutet eine überpropor tionale Emissionsminderung nach 2030 auch eine potenziell überproportionale Einschränkung der Freiheit nach 2030 (vgl. BVerfG 2021). Bei der Umsetzung der Klimaschutz ziele stehen sich also nicht die individuelle Freiheit und die Abschaffung dieser gegenüber, sondern die Gewährleistung individueller Freiheit für heutige und für zukünftige Ge Dernerationen.Staatkann also in das Konsumverhalten von Individuen eingreifen und tut dies auch. Ob und wie weit dies auch für nachhaltigere Konsummuster notwendig sein wird, hängt davon ab, wie nah Deutschland auch ohne diese Eingriffe seinen Klimaschutzzielen kommt. Denn wenn die Freiheit zukünftiger Generationen gefährdet ist, wird das Recht des Staats zur Pflicht.

Um politische Anreize zu nachhaltigerem Konsum zu be werten, ist es relevant, dass trotz der Leitidee eines freien Marktes, der Staat bereits vielfach Konsummuster beeinflusst, wie beispielsweise durch unterschiedliche Mehrwertsteu ersätze oder auch die gezielte Förderung von bestimmten Produkten und Werbeverbote für andere (vgl. Umwelt bundesamt 2021a). Somit stellt eine staatliche Lenkung in Richtung nachhaltigeren Konsums keine Neuerung dar. Auch kann der Staat in seiner lenkenden Rolle als Garant der Freiheiten Dritter begriffen werden. Nach Lerch (2003: 184) ist die Konsumentensouveränität „dort zu begrenzen, wo die Rechte jeweils anderer (auch künftiger) Individuen berührt sind“. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus den jeweils ersten Absätzen der Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, also aus Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, ein Grund recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ab (BVerfG 2010). Dazu gehört unter anderem auch Nahrung und Gesundheit (vgl. Alexy et al. 2019). Im Grundgesetz ist außerdem verankert, dass der Staat „auch in Verantwor tung für die künftigen Generationen die natürlichen Le bensgrundlagen [schützt]“ (Art. 20a, GG). Dass dies auch Anwendung findet, zeigt sich in der teilweise erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen das Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019.

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15 philou .

„Hallo Berlin! Von hier oben sieht man keine Grenzen!“ ALEXANDER GERST, ASTRONAUT25JAHRENACH DEM FALL DER BERLINER MAUER 16

GRENZEN ÜBERWINDEN Jedes Jahr immigrieren hunderttausende Menschen in die EU und nach Deutschland. Zu den häufigs ten Gründen zählen Familie, Flucht und Arbeit. Der Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft ist für Ein wander_innen mit viel Aufwand und teilweise tiefen inneren Konflikten verbunden. Diese Statistik gibt die Anzahl derer wieder, die die deutsche Staats bürgerschaft jedes Jahr erlangen. EINWANDERUNG NACH DEUTSCHLAND „Eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last, greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ew‘gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“ 2016201720182019 112.843115.421116.210131.490 0 50.000 100.000 76% 24% 75% 25% 73% 27% 74% 26% Nicht-EU EUZahl der Einbürgerungen in Deutschland Quelle: eurostat Wilhelm Tell II, 2. (Stauffacher), Schiller 17 philou.

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Wie tierische Organe den Mangel an Spenderorganen beenden könnten Im Oktober 2021 wurde bekannt gegeben, dass Forscher und Chirurgen der New York University zum ersten Mal erfolgreich eine porzine Niere, d.h. eine Niere eines gene tisch veränderten Schweines, einem Menschen transplantiert haben (vgl. Rabin 2021). Die New York Times nannte dieses Ereignis einen „wissenschaftlichen Durchbruch, welcher eventuell eines Tages den Zugang zu einem großen neuen Vorrat an Organen für schwer kranke Patienten ermöglichen könnte“ (Rabin 2021). Dabei ist die Idee, tierische Körper bestandteile an Menschen zu transplantieren, ungefähr so alt wie die moderne Medizin selbst. Schon 1667 transfundierte Jean-Baptiste Denis, französischer Chirurg und Leibarzt von König Ludwig dem 14., seinen Patienten Blut von Lämmern, wenn auch mit derartig schlechten Ergebnissen, dass diese Praxis bald verboten wurde (vgl. Roux et al. 2007). Die Idee, Tiere als nahezu grenzenlose Bezugsquelle für biologische Materialien zu verwenden, blieb bestehen und wurde zum Erfolgsmodell. Sie stößt jedoch weiterhin an ethische und praktische Grenzen. Von Herzklappen und Heparin Biologische Herzklappenprothesen sind heutzutage keine Seltenheit mehr und schon Ende der 70er Jahre transplan tierte der französische Chirurg Alain Carpentier die ersten tierischen Herzklappen vom Schwein (vgl. Carpentier et al. 1974). Auch Heparin, welches als Antithrombosemedika ment unentbehrlich ist, wird nach wie vor größtenteils aus tierischen Materialien bzw. Schweine-Gedärmen/Schlacht abfällen gewonnen (vgl. van der Meer et al. 2017), genauso wie auch Gelatine-Infusionen für Patienten mit großem Blutverlust und einige Antikörper.

Aber warum lassen sich einige biologische Materialien pro blemlos vom Tier auf den Menschen übertragen und andere nicht? Das liegt vor allem am menschlichen Immunsystem.

WO

Dieses ist darauf ausgerichtet, fremde Zellen zu zerstören und unterscheidet dabei nicht zwischen „bösen“, schädlichen Zellen, wie etwa Bakterien und Krebszellen, und „guten“, gewünschten fremden Zellen, die sich etwa in tierischen oder menschlichen Transplantaten befinden. Ohne in das Thema tiefer einzusteigen, lässt sich vereinfacht sagen, dass das menschliche Immunsystem stärker antwortet, je „frem der“ eine Zelle ist. So reagiert es auf Autotransplantationen (Transplantation eines Gewebes von einer Person auf dieselbe Person, z.B. Hautransplantationen bei Verbrennungen) und Isotransplantationen (Transplantationen zwischen eineiigen Zwillingen/genetisch identischen Individuen) üblicherwei se gar nicht und verursacht bei Allotransplantationen (d.h. zwischen Personen mit kompatiblen Gewebefaktoren) eine starke, aber durch Immunsuppressive meist beherrschbare, Reaktion. Auf Transplantationen zwischen inkompatiblen Personen und Xenotransplantationen, das heißt zwischen Mensch und Tier, spricht das Immunsystem hingegen so heftig an, dass dies eine lebensgefährliche und nicht mit Medikamenten kontrollierbare Reaktion hervorruft. Diese sogenannte „hyperakute Abstoßungsreaktion“ verursacht in der Regel sofort ein Versagen des transplantierten Organs und gegebenenfalls den Tod des Transplantierten.

Artikel 18

MERLE RIEDEMANN MEDIZIN KANN MAN DAS KAUFEN

19 philou .

Grenzen überwinden

Ethik

Die Tierrecht-Organisation PETA schreibt: „Schweine sind kein Ersatzteillager und sollten nicht als solche genutzt wer den, nur, weil Menschen zu egozentrisch sind, um ihre Kör per denen zu spenden, die dringend auf ein fremdes Organ angewiesen sind“ (Prater 2021). Die Frage, ob es überhaupt moralisch vertretbar ist, einem Tier, wie etwa einem Schwein, ein Organ zu entnehmen, um damit einen Menschen zu ret ten oder dessen Lebensqualität stark zu verbessern, stellt sich aber offenbar für Patienten, die mit dieser Situation konfron tiert werden, eher nicht. Alleine in Deutschland werden jedes Jahr zehntausende tierische Herzklappen transplantiert (vgl. Bartel et al. 2021). Ein schwerwiegenderes ethisches und praktisches Problem hingegen ist das Risiko der Entstehung von Xenozoonosen und damit einer Gefahr nicht nur für den Transplantierten, sondern auch für die Gesundheit von An gehörigen oder gar der gesamten Bevölkerung. Unbekannt ist auch, wie es sich psychologisch mit einem Tierorgan lebt. Wie beeinflusst es das menschliche Selbstverständnis, wenn statt eines menschlichen Herzens, das eines Schweins in einem schlägt? Fraglich ist auch, wie sich Xenotransplantate auf die Verteilung von Spenderorganen auswirken würden. Welche Patienten würden ein menschliches Organ erhalten, welche ein tierisches und nach welchen Kriterien sollte diese Entscheidung getroffen werden?

Wie können dann künstliche Herzklappen trotzdem sicher transplantiert werden? Herzklappen sind sogenannte bra dytrophe und kapillarfreie Gewebe (vgl. Herold 2012). Das bedeutet, dass sie nicht durchblutet sind. Blutgefäße sind jedoch nötig, damit die menschlichen Immunzellen in die Klappe einwandern und diese zerstören könnten. Zwar flie ßen etwa fünf Liter Blut pro Minute an der neuen Klappe vorbei, durch die hohe Geschwindigkeit haben die im Blut enthaltenen Immunzellen es aber schwer, sich direkt an der Klappe festzusetzen. Biologische Herzklappenprothesen de generieren dadurch zwar mit der Zeit, es dauert aber etwa 15 Jahre, bis eine neue Klappe nötig ist (vgl. Applegate et al. Für2017).dieregelrechte Funktion einer Niere ist eine gute Durch blutung allerdings essenziell. Im Falle der transplantierten Schweineniere bedienten sich die Wissenschaftler eines Tricks, um der Immunantwort zu entgehen: Das Spender schwein war so genmanipuliert, dass seinen Zellen alphaGal fehlt, ein Molekül auf der Zelloberfläche, welches die hyperakute Abstoßungsreaktion beim Empfänger auslöst (vgl. Dolgin 2021; DeVries 2021). Aber nicht nur durch das Immunsystem sind Transplantati onen nicht-menschlicher Organe Grenzen gesetzt. Bei einer Xenotransplantation besteht auch das Risiko der Krank heitsübertragung und der Entstehung einer sogenannten Xenozoonose. Ein besonders großes Problem stellen diese Zoonosen deshalb dar, da Patienten nach der Transplanta tion, um eine Abstoßung zu vermeiden, immunsupprimiert werden, was allerdings eine erhöhte Empfänglichkeit für Infektionen mit sich bringt. Von Schweinen geht dabei nicht nur eine Infektionsgefahr mit zum Beispiel multiresistenten Bakterien aus, sondern insbesondere das Risiko einer Infekti on mit endogenen Retroviren, also Viren, welche sich in das Schweinegenom integriert haben und aus dem Transplantat auf den Menschen übertragen werden könnten (vgl. Pati ence et al. 1997). Um Infektionen zu vermeiden, werden die Spendertiere daher unter sehr hygienischen Bedingungen gehalten oder sogar genmanipuliert, um Retroviren aus dem Schweinegenom zu entfernen (vgl. Patience et al. 1997).

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Xenotransplantationen ermöglichen es, jedem Patienten, der ein neues Organ benötigt, auch eines zur Verfügung stellen zu können, unabhängig vom Angebot an mensch lichen Spenderorganen. Ob sich dies jedoch jemals in der Praxis durchsetzen oder vielleicht durch Tissue Enginee ring („Nachzüchten“ von menschlichen Organen im Labor) überholt werden wird, ist noch nicht entschieden. Momen tan stoßen Xenotransplantationen jedoch noch an einige Grenzen, sowohl praktisch durch die Gefahr von Absto ßungsreaktionen und der Entstehung neuer gefährlicher Krankheiten als auch ethisch, da viele Fragen zum Umgang mit Xenotransplantaten weiterhin ungeklärt sind.

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Nachtrag: Anfang Januar 2022 transplantierten Chir urgen der Universität Maryland einem Menschen zum ersten Mal ein Herz eines genetisch modifizierten Schweines (Kotz für die Universität Maryland, 2022) 20

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Als Alex Matthes nach Hause zurückkommt, wird er einige Zeit später von der Polizei mitgenommen und kurz darauf von Aachen ins KZ Buchenwald verschleppt. Die Gefan genen werden dort in ungeheizte Baracken gesteckt, men schenunwürdig behandelt. Oft mussten die Verschleppten stundenlang bei eisiger Kälte zum Appell stehen. Nach seiner Entlassung flieht er mit seiner Schwester und dem Schwager nach Belgien, ein belgischer Fluchthelfer verlangte pro Per son 500 RM. Hier sind sie in Freiheit, ohne Verfolgung in Sicherheit, eine Freiheit allerdings nur auf Zeit. Nach dem deutschen Überfall 1940 werden seine Schwester und sein Schwager in einem Lager nahe der französischen Grenze interniert, am 25.08.1942 von den Nazis von Mechelen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Eltern und der jüngere Bruder Erich bleiben zunächst in Brand, bis sie

Flucht aus Nazideutschland

Heute sind die Grenzen zwischen Belgien, Deutschland und den Niederlanden kaum noch wahrnehmbar. Im Herbst 2021 wurden zwei weitere Gedenktafeln des Projektes der VHS Aachen „Wege gegen das Vergessen“ an der Grenze zu Vaals und bei Köpfchen enthüllt. Das Projekt erinnert an die Opfer der NS-Diktatur in Aachen, die beiden neuen Gedenktafeln an die Rolle der Grenze bei der Flucht von Verfolgten aus Nazideutschland. Zu ihnen gehörten Alex Matthes aus Brand und Familie Voss aus Aachen. Bruno Kreus berichtete über das Leben von Alex Matthes (vgl. Kreus 1995), stellte Kontakte zu ihm her. Fred Voss veröf fentlichte eine Biografie über sein Schicksal und über die Geschichte seiner Familie (vgl. Voss 2005), gab über viele Jahre hinweg als Gesprächs- und Briefpartner umfassende Einblicke in das Leben in Aachen zur Nazizeit. Diese und weitere Gespräche mit Zeitzeug_innen, die früher in Aa chen lebten, zeigen, welche Bedeutung die Grenzen für sie hatten: Freiheit.

Alex Matthes „Mach, dass Du über die Grenze kommst!“. So ein Bekannter zu Alex Matthes (1911–2006), als dieser am 10.11.1938 von Brand nach Aachen gefahren war und schon an der Hein richsallee eine große Menschenmenge sah. Aus Richtung der Synagoge stieg Qualm auf: Nazis hatten in der Nacht vom 09./10.11.1938 die Aachener Synagoge in Brand gesteckt.

FREIHEIT HINTER DER

HEINZ POLITIKWISSENSCHAFTGEOGRAPHIE,GÖDDEGESCHICHTE,

KreativGRENZE

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Grenzen überwinden

1942 nach Izbica verschleppt und wahrscheinlich in Sobibor ermordet werden. Alex Matthes kommt über verschiedene Inter nierungslager schließlich nach Südfrankreich. Über die Jewish Agency geht die Flucht des mit tellosen Alex Matthes vor den Nazis weiter nach Nordafrika und in die Dominikanische Republik, hier endgültig dem Einflussbereich der Nazis entkommen. Die Dominikanische Republik ist allerdings nicht sein Traumziel, Hoffnung sind die USA. Erst 1946 gelingt es ihm, in die USA zu kommen. Hier lernt er seine Frau, ebenfalls eine Deutsche, kennen. Auch sie war aus Deutschland geflohen, über die Niederlande in die USA. In Philadelphia kann er als Bäcker und Konditor arbeiten, baut sich eine neue Existenz in Freiheit und Sicherheit auf. Die Nazis haben Alex Matthes alles genommen, die Eltern, seine Geschwister und seinen Schwager, Verwandte, Freunde, Heimat, Existenz und Elternhaus; sie zerstörten seine Wurzeln. Wie viele Vertriebene hatte er die Absicht, nie mehr nach Deutschland zu kommen, nimmt aber letztendlich eine Einladung aus Brand an. In einem Gespräch mit Studierenden der RWTH Aachen wies er darauf hin, dass er Probleme mit der deutschen Sprache habe, die er schließ lich sehr lange nicht mehr gesprochen habe. Brander Platt allerdings wäre kein Problem. Familie Voss „Was macht Ihr denn hier?“. So ein Nachbarjunge, als er einen Möbelwagen in Aachen an der Burtscheider Straße 32 stehen sieht und beobachtet, wie Julius Voss (1884–1975) Hausrat in den Möbelwagen trägt. Ein so genannter „Lift“ wird vorbereitet für den Hausrattransport über Hamburg in die USA, der dort allerdings nie ankommt. Sein Sohn Fred Voss (1920–2019) vermutet später in einem Interview, dass die Gestapo den Hausrat schon im Mö bellager in Aachen beschlagnahmte. Julius Voss reagiert unwirsch, er hat andere Sorgen, als dem Nachbarjungen die Frage zu beantworten. Er bereitet ihre Flucht, eine „legale Ausreise“, in Wahrheit eine „Rauswanderung“ aus In der Nacht vom 09./10.11.1938 hatten Nazis das Geschäft der Familie und ihre Wohnung verwüstet, ihn kurz darauf nach Buchenwald ins KZ verschleppt. Erst als seine Frau Else belegen kann, dass sie Tickets nach Shanghai besorgt hat, wird Julius Voss aus dem KZ entlassen. Und sofort bereitet sich Familie Voss vor, Deutschland zu verlassen. Visa müssen organisiert werden, das Haus wird an einen Aachener Nazi zu einem Spottpreis „verkauft“. Über Belgien und Großbritannien gelangt schließlich die Fa milie noch kurz vor Kriegsausbruch in die USA. Julius und Else Voss kehren nie mehr nach Aachen zurück, der Sohn Fred zum ersten Mal kurz nach der Befreiung als USSoldat. Sein Elternhaus ist durch den Bombenkrieg zer stört, seine neue Heimat sind die USA geworden. Hier kann er schließlich nach dem Krieg auch Ilse Machauf aus Wien heiraten, die er in London 1940 kennenge lernt hatte. Sie war 1939 mit ihrer Mutter aus Wien geflohen, Vater und Bruder sollten folgen, doch der Kriegsausbruch verhinderte die Flucht. Beide werden von den Nazis in Polen ermordet. Ilse und Fred Voss besuchten bis ins hohe Alter immer wieder Europa, auch Aachen. „Amerika war wunderbar zu uns!“, so Fred Voss in einem Interview über seine neue Heimat. Nach seinen eigenen Erfahrungen in Deutschland mit Diskriminierung und Hass, die er auch in den USA der afroamerikanischen Bevölkerung gegen über erlebte, sah er es als Aufgabe an, sich dagegen zu engagieren. Er wirkte als Zeitzeuge an Schulen, Universitäten und in Kirchengemeinden für Toleranz und Aufklärung. Auch in Deutschland war er Zeitzeuge, zuletzt half er noch 2018 Studierenden der RWTH Aa

chen bei ihrer Arbeit über Lebenswege von Opfern der Shoah aus dem westlichen Rheinland. Zeit seines Lebens bis zu seinem Tod blieb Fred Voss als US-Amerikaner ein „aue Öcher“.

Auf belgischer Seite gab es für Grenzbeamte, die direkt an der Grenze Flüchtlinge aufgriffen und nach Deutschland zurückschickten, den Begriff „Judenfänger“ [Anm. d. Red.:

Freiheit hinter der Grenze Diese und viele weitere Schicksale zeigen, dass während der Nazizeit Freiheit erst hinter den Grenzen Deutschlands begann, sei es in Belgien oder den Niederlanden, in Großbri tannien oder den USA. In Belgien konnten die Flüchtlinge zunächst wieder in Freiheit und ohne Angst vor Verfol gung, ohne Diskriminierung leben. Es gab Fluchthelfer, die selbst bei eigener Gefährdung aus humanitären Gründen halfen, aber auch, so die damalige Grenzbevölkerung, so genannte „Judentreiber“, die nur gegen Geld halfen, oft die Menschen bis aufs Letzte ausbeuteten. Manche sollen sich dabei eine finanzielle Grundlage erworben haben, die sie nach 1945 nutzen konnten, so etwa im Transportgewerbe.

Bei den vorliegenden Begriffen „Judentreiber“ und „Juden fänger“ handelt es sich um historische Formulierungen aus dem antisemitischen Sprachgebrauch. Die Begriffe wer den im Rahmen des vorliegenden Textes ausnahmslos zur Verdeutlichung des Ausmaßes und der Grausamkeit der Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verwendet].

Für wie viele dies den sicheren Tod bedeutete, ist nicht feststellbar. Es spielten sich Tragödien ab; so wird über eine Mutter berichtet, die mit ihren fünf Kindern in der Eifel auf der Flucht über die Grenze war. Im Schneegestöber verlor sie drei ihrer Kinder und auch eine Suchaktion der Dorfbevölkerung fand keine Spur mehr. Belgien und auch die Niederlande waren nicht unbedingt das Zielland ihrer Flucht; die Flüchtlinge versuchten in andere Länder wie z. B. Großbritannien, die USA und Palästina zu gelangen, aber dies war nur möglich, wenn diese Länder ihnen auch die Einreise gewährten. Nach dem deutschen Überfall saßen die deutschen und österreichischen Flücht linge in der Falle, wurden interniert, von Belgien aus nach Frankreich abgeschoben, andere tauchten unter und wurden in Klöstern, von Bauern, von Familien versteckt. Viele Belgi er und Niederländer zeigten dabei Zivilcourage und brachten dabei auch sich selbst in Gefahr. Die Internierten wurden ab 1942 von den Nazis meist nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nur wenige überlebten. Wie viele Menschen über die Westgrenze bei Aachen und in der Eifel fliehen konnten, lässt sich nicht beziffern. Es gab viele „nicht verzeichnete Fluchtbewegungen“ (Schubert 1990). Vor allem ältere Menschen blieben aber in Deutsch land, viele erhielten auch kein Visum für eine Ausreise, manche waren zu arm, nachdem das Naziregime ihnen ihre wirtschaftlichen Grundlagen zerstört hatte. Ab Oktober 1941 begannen dann die Deportationen aus Deutschland, aus Aachen 1942. Sicherheit gab es nur bei einer Flucht aus Kontinentaleuropa; Großbritannien, die USA, Palästina, Staaten in Lateiname rika wurden neue Heimat. Schwer war das Einleben in der neuen Heimat, die Flüchtlinge waren mittelos, die Spra che eine andere, oft auch das kulturelle Umfeld wie auch das Klima. Eine neue Lebensgrundlage musste geschaffen werden, nicht alle gelernten Berufe waren nachgefragt. Für ältere Flüchtlinge bedeutete die neue Heimat oft nur eine physische Rettung, aus ihrem Kultur- und Lebensumfeld waren sie zwangsentwurzelt worden. Für jüngere Flüchtlinge war es oft einfacher, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Sie erlernten schneller die neue Sprache, hatten es einfacher mit einer Ausbildung oder der Berufswahl, wie es etwa Fred Voss in verschiedenen Gesprächen berichtete.

Viele der älteren Generationen kamen bewusst nie mehr in ihre alte Heimat zurück, auch nicht für Besuche, Deutsch land hatte sie vertrieben. Alex Matthes wurde Ende der 80er Jahre vom Heimatverein Brand zu einem Besuch in seine alte Heimat eingeladen, berichtete in einem Seminar an der RWTH Aachen als Zeitzeuge über sein Schicksal. Es dauer te noch bis 1992, bis schließlich auch die Stadt Aachen ihre ehemaligen Bürger_innen zu einem Besuch der Stadt einlud. Viele von ihnen berichteten in Schulen als Zeitzeug_innen über das Leben in der Nazizeit, waren damals selbst Schü ler_innen. Am Geschwister Scholl-Gymnasium in Aachen gab eine Zeitzeugin, Frau Fleischmann, den Schüler_innen mit auf den Weg: „IHR seid für EURE Gegenwart verant wortlich, Ihr müsst HEUTE aufpassen!“

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Grenzen überwinden Kreus, B. (1995): Kriegsende 1945. Zwi schen Hoffnung und Verzweiflung. In: Brand. Heimatkundliche Blätter, Bd. 6. Aa chen: Bürgerverein Brand e.V. S. 156–169. Kuhn, M. (1995): Und wir waren noch so jung. Aus dem Leben ehemaliger Aachener Bürger. Aachen: Meyer und Meyer Verlag. Schubert, K. (1995): Fluchtweg Eifel. Spu rensuche an einer kaum beachteten Grenze. München: Tabu Verlag. Voss, F. (2005): Miracles, Milestones, & Memories. A 269-Year Reflection, 1735–2004. Ithaca: Searose Associates. Jakob V.; van den Voort, A. (1988): Anne Frank war nicht allein. Lebensgeschichten deutscher Juden in den Niederlanden. Ber lin/Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. de Jong, L. (1988): De jodenvervolging. Amsterdam: Budgetboeken. Ruland, H. (o.J.) Fluchtbewegungen an der deutsch-belgischen Grenze und in Inner belgien vor dem Hintergrund der zeitge schichtlichen Entwicklung 1914-1945. In: Grenzgeschichte DG. Online verfügbar unter: https://www.grenzgeschichte.eu /ar chiv/Flucht1.pdf [Zugriff: 14.11.2021]. Schubert, D.; Schubert, K. (1990): Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen. Oder: Wie die Juden in die West-Eifel in die Freiheit kamen [Film]. Dahlem-Kronenburg: Schu bertfilm. Vogelsang IP (2021): Gerettet – Auf Zeit. Digital Opening. Online verfügbar unter: GERETTET – AUF ZEIT. Digital opening / inauguration numérique / Digitale Eröff nung am 31.03.2021 - YouTube [Zugriff: 16.01.2022]. Vogelsang IP (2020): Gerettet – Auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/39. Online verfügbar unter: GERETTET – AUF ZEIT. KINDERTRANSPORTE NACH BELGIEN 1938/1939 - YouTube [Zugriff: 16.01.2022].

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Nicht zum ersten Mal ist er so frei zu entscheiden, wo er die Grenze zieht. Sie samt Familie abschiebt oder von der Abschiebung absieht. Stempel fest umklammert. Krawatte festgezurrt. Gewohnheit voraus, Mitgefühl hinterher, keinerlei Gänsehaut auf dem Indifferenz.Arm.

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MIT UNDGÄNSEHAUTTRÄNEN - I -

Grenze | Es ist Nacht. Es ist kalt. Es ist dunkel hier im Wald und ihr Magen knurrt. Zum ersten Mal übertritt sie eine Grenze. Kuscheltier fest umklammert. Rucksack festgezurrt. Mama voraus, Papa hinterher, kleiner Bruder auf dem Arm. Tränen. — Freiheit — Es ist Nacht. Es ist heiß. Es ist dunkel hier im Club und sie tanzt.

Grenze | Es ist noch Nacht. Es ist noch heiß. Es ist noch dunkel hier im Club und ihr Herz klopft. Zum ersten Mal übertritt jemand ihre Grenze. Oberarm fest umklammert. Hand fährt ungefragt in den Schritt. Gedanken voraus, Handlung hinterher. Sie entreißt sich. Schock. — Freiheit — Es ist der nächste Tag. Es ist grau in grau möbliert. Es sind 20 Grad temperaturreguliert hier im Büro und er setzt sich.

Kreativ 26

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Zum ersten Mal fühlt sie sich grenzenlos frei. Bierflasche fest umklammert. Haargummi festgezurrt. Strobolicht voraus, Nebelmaschinendampf hinterher, man nimmt sich gegenseitig auf den Arm und in den Gänsehaut.Arm.

SARAH BREUSCH LEHR- UND FORSCHUNGSLOGOPÄDIE

Doch sollte er sich besser selbst begrenzen in seiner eigenen Begrenztheit.

SIEüberwand eine Grenze, auf der Suche nach Freiheit, doch sie fand in der Freiheit nur ein Überschreiten ihrer eigenen Grenzen.

Grenzen überwinden

WirNein!dürfen nicht länger vor unserer Verantwortung fliehen, Grenzen aus Respekt zwischen den Menschen zu ziehen und Grenzen aus Stacheldraht und Patriarchat zu überwinden.“ Inspiration zu diesem Text lieferte das Lied „ Grenzen“ von der Musikerin und Songwriterin Dota Kehr und ihrer Band DOTA. 27 philou.

Menschen erlauben sich Freiheiten, die die Freiheit anderer eingrenzen.ER nimmt sich mal die Freiheit zum Setzen von Grenzen, mal die Freiheit zum Überschreiten von Grenzen.

Grenzen sind nicht gleich Grenzen Freiheit ist nicht gleich Freiheit Menschen überwinden Grenzen, weil sie vor Grenzüberschreitungen fliehen.

wir brauchen mehr Differenzierung und wenigerdennBeliebigkeit

- I I IEr fragt: „Wo sollen wir denn dann die Grenze ziehen?“

Sie „Wirsagt:sollten nicht länger vor unserer Verantwortung fliehen, Grenzen aus Respekt zwischen den Menschen zu ziehen, uns zu reflektieren statt aus Reflex zu reagieren, uns zu hinterfragen statt noch `ne Runde Vorurteile zu spendieren.

- I I Doch-

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