philou. Thema: Verantwortung
UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN
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Editorial
Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich. Antoine de saint-exupéry
Liebe Leser_innen,
der kleine prinz (1943)
Hans Jonas (1903–1993) begründet das Prinzip der Verant- Gebäude gelten als Fundament menschlichen Lebens und wortung mit dem Imperativ „Handle so, dass die Wirkungen Arbeitens, werden in ihrer Rolle und Funktion aber häufig deiner Handlungen mit der Permanenz menschenwürdigen als selbstverständlich erachtet. (S. 30) Und wie steht es um Lebens verträglich sind“ (1979). die moralisch-medizinische Gretchenfrage der menschlichen Existenz: Wer entscheidet, welches Leben lebenswert ist und Aber was ist Verantwortung? Von einem einzigen Verantwor- welches nicht? (S. 34) tungsbegriff – von „der Verantwortung“ – zu sprechen greift im Hinblick auf die zahlreichen Bedeutungsinterpretationen Verantwortung & Gesellschaft: Zahlreiche Diskurse und und verschiedenen Disziplinen, in denen Verantwortung eine Fragen im Hinblick auf Verantwortung basieren zunehmend Rolle spielt, zu kurz – auch wenn der Begriff in zahlreichen auf der Rolle der Aufklärung und Bildung. Eine zentrale Sprachen das Wort „Antwort“ enthält. Und inwieweit ist Ver- Funktion haben hier diejenigen, die ihre Gedanken verschriftantwortung das Thema, das die Herausforderungen und Fra- lichen und festhalten: Das geschriebene Wort kann Diskurse gen unserer Zeit aufgreifen kann? eröffnen und gesellschaftliche Meinungen formen – Journalist_ innen moderieren das Zeitgespräch der Gesellschaft. Aber was Verantwortung & Umwelt: Zentrale Probleme begegnen uns geschieht, wenn sie sich irren? (S. 40) Individuen sind nicht in einer Zeit der Überbevölkerung, der Ressourcenverknap- nur auf ihre Funktion als Konsument_innen von Ressourcen pung und des Klimawandels. Die Frage nach Verantwortlich- oder Medien zu reduzieren, sie sind in demokratischen Systekeiten und Verantwortungszuschreibung scheint in diesem men vor allem Bürger und Bürgerinnen, Akteure der ZivilgeKontext omnipräsent. Doch warum divergieren menschliches sellschaft. Entsprechend kommt insbesondere der Schule als Umweltbewusstsein und Umweltverhalten so stark und wa- Institution der Aufklärung eine bedeutende Verantwortung rum reicht das bloße Wissen darüber nicht aus? (S. 8) Ins- zuteil. (S. 41) Häufig wirken Medien diesem Erziehungsaufbesondere in den uns weitestgehend unbekannten Bereichen, trag jedoch entgegen: Vor allem soziale Medien können eiwie die Tiefsee, wird die Verantwortungszuschreibung unklar nen bedeutenden Einfluss auf die individuelle Haltung und – denn wer trägt die Verantwortung für Ökosysteme, die nie- Überzeugung haben – was geschieht, wenn diese missbraucht mandem gehören, auf die wir jedoch zwingend angewiesen wird? (S. 44) Ähnlich verhält es sich in der Filmkunst: Unsind? (S. 10) Das „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Prinzip terschiedliche Interpretationsmöglichkeiten schaffen Raum greift auch in der Abfallwirtschaft: Die Verantwortung wird für widersprüchliche Wertvorstellungen: Tragen die kreativen nahezu mit den Abfällen exportiert, die damit verbundenen Schaffenden von Film, Kunst und Medien die Verantwortung Auswirkungen werden übersehen und ignoriert. (S. 13) Was für ihre Botschaft? (S. 46) Nach Hans Jonas basiert Verantworam Ende bleibt, ist das Individuum als „Agent of Change“; tung auf Macht – bedeutet mehr Macht entsprechend auch Endverbraucher_innen, die die Welt retten sollen – kann das mehr Verantwortung? Und kann diese einen monetären Wert individuelle Konsumverhalten zu einer nachhaltigen Entwick- haben? (S. 49) Unsere gängige Vorstellung von Verantwortung lung beitragen? Und welche Verantwortung obliegt den In- ist die Verantwortung für eine Handlung. Aber wenn jedes stitutionen? (S. 16) Tun und Lassen aussichtslos wird, was kann Verantwortung dann noch heißen? Und offenbart sich dadurch eine andere Verantwortung, Wissenschaft & Technik: Im Rahmen des Dimension von Verantwortung? (S. 51) Studiums, der Forschung, der Lehre und der Wissenschaft befinden wir uns in einem Sammelsurium von zahlreichen Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie ProblemstelDisziplinen, in denen verantwortungsvolles Handeln eine zen- lungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun trale Rolle spielt. (S. 22) Der Eid des Hippokrates formuliert die neunte philou. Durch den Fokus auf die Diversität und die grundlegende Ethik für die Medizin – kann ein solcher Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das nicht auch ein Vorbild für Technik- und Naturwissenschaf- inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im ten sein? Ist nicht jede Wissenschaftsdisziplin in der Pflicht, Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu moralische Verantwortung zu übernehmen? (S. 24) Ethische neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die neunte Diskurse sind aktuell insbesondere im Bereich der Digitali- Ausgabe genauso gefällt wie uns! sierung und Künstlichen Intelligenz prägnant: Was haben technologische Fortschritte für Folgen und wer übernimmt Eure philou. Redaktion die Verantwortung im Falle des Scheiterns? (S. 27) Letzteres ist genauso im Städtebau und Bauingenieurwesen relevant – Verfasst von Ann-Kristin Winkens
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Inhalt
VERANT WORTUNG &
Umwelt
08 „We ought to. But we don’t.“ – Verantwortungslose Abwehrmechanismen
34 Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Merle Riedemann
Ann-Kristin Winkens
10 Zwischen Gewissen und Gerechtigkeit in der Tiefsee
Leona Rodenkirchen & Jonathan Schieren
Ressourcenreichtum vs. Artenvielfalt: Wer schützt, was niemandem gehört?
13 Die Wege des Abfalls – Eine Geschichte exportierter Verantwortung Caroline Gasten
Auswirkungen und Komplikationen des internationalen Abfallhandels
16 Geteiltes Leid, geteilte Verantwortung – Die Ambivalenz der Konsumentenverantwortung Ann-Kristin Winkens
Die Ohn(macht) der Konsumenten bei nachhaltigen Kaufentscheidungen
Zwischen Macht, Moral und Nichtwissen: Verantwortung in der Pränataldiagnostik
VERANT WORTUNG &
Gesellschaft
40 Verant[wort]ung: Erst denken, dann schreiben Cristina García Mata
41 Quo vadis, Gesellschaft? Schule in der Verantwortung: Bedeutung der politischen Bildung Yannik Achenbach
Wie Kinder zu Bürgern werden: Förderung von Urteilsbildung junger Menschen als demokratische Investition
44 Auch soziale Medien wollen erziehen – die Frage ist nur: Wohin erziehen sie? Christina Krüger
VERANT WORTUNG,
Technik & Wissenschaft
22 Interdisziplinäre Perspektiven – Verantwortung an der RWTH Aachen 24 Berufsethos in der Wissenschaft Felix Engelhardt
Kann der hippokratische Eid Vorbild für Naturund Technikwissenschaften sein?
27 Künstliche Intelligenz – ein Paradigma wissenschaftlicher Verantwortung(-slosigkeit) Betül Hisim
Der Versuch einer Moralisierung der Künstlichen Intelligenz: Ein Drahtseilakt zwischen Verantwortung, Sicherheit und Freiheit
30 Die Underdogs der Verantwortungsträger
Über den fragwürdigen Erziehungsauftrag sozialer Medien. Ein Plädoyer für Wachsamkeit gegenüber neuen Formen der Einflussnahme
46 Once Upon a Time…There was Responsibility – Verantwortung in der Filmkunst Luisa Maulitz
Die Moral von der Geschichte: Was, wenn sie nicht eindeutig ist?
49 Wa(h)re Verantwortung Thomas Sojer
Verdiente Bürde? Von Wert und Verwertung der Verantwortung
51 Glaube, Hoffnung, Liebe – Über Hiob, Nihilismus und Verantwortung Caner Dogan
Vom Sinn und Unsinn menschlicher Verantwortung: Eine Geschichte über Verbindlichkeit
Julia Kreklau
Zivile Belange: Über die unterschätzte Verantwortung der Bauingenieure
philou.
Kannst du die Frage stellen: „Bin ich für mein Handeln verantwortlich oder nicht?“, so bist du es. F.M. Dostojewski
1821–1881
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Verantwortung & Umwelt
Klimafinanzierung
Konsumentensouveränität Beschreibt ein ökonomisches Prinzip und basiert auf der Annahme der Freiheit der Konsumenten, auf freien Märkten ihre Bedürfnisse nach eigenem Belieben und Möglichkeiten zu befriedigen.
„Der Begriff ‚Klimafinanzierung‘ bezeichnet im
engeren Sinne die finanzielle Unterstützung der Industrieländer für die Entwicklungsländer bei der Reduzierung von Treibhausgasemissionen und bei der Anpassung an die klimatischen Veränderungen infolge der globalen Erwärmung. Die Klimafinanzierung leitet sich aus der UNKlimarahmenkonvention (UNFCCC) von 1992 ab, in der sich die Industrieländer dazu verpflichtet haben, die Entwicklungsländer mit neuen und zusätzlichen finanziellen Mitteln im Kampf gegen den Klimawandel zu unterstützen. Diese völkerrechtliche Verpflichtung wird auch im Pariser Abkommen von 2015 bestätigt. Sie lässt sich als Teil einer gerechten Lastenverteilung im globalen Klimaschutz ansehen und begründet sich damit aus der unterschiedlichen Verantwortung für das Verursachen des Klimawandels und der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit der Länder, zu seiner größtmöglichen Begrenzung und an die Anpassung an die unvermeidlichen Folgen beizutragen.“ (deutscheklimafinanzierung.de)
Ökologischer Rucksack Durch den ökologischen Rucksack kann das Gewicht aller natürlicher Rohstoffe berechnet werden, die für den Konsum anfallen. Dabei werden alle Produkte inklusive der Herstellung, Nutzung und Entsorgung gezählt. Der Input wird durch das MIPS-Konzept berechnet (Materialinput pro Serviceeinheit). Dieses ermöglicht eine grobe Abschätzung des gesamten Umweltbelastungspotentials – über den vollständigen Lebensweg eines Produktes von der Gewinnung, Produktion, Nutzung zur Entsorgung bzw. zum Recycling. So können Umwelteigenschaften von Produkten, Verfahren oder Dienstleistungen bewertet und verglichen werden. (Wuppertal Institut)
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philou.
Opener
„We ought to. But we don’t.“ Verantwortungslose Abwehrmechanismen Der Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky (1890– Ann-kristin winkens 1935) schrieb: „Der Zustand der gesamten menschlichen UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTEN Moral läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: We ought to. But we don‘t.“ Treffender ist die allgegenwärtige Kluft der Nutzung ausschließen, aber Rivalität im Konsum aufzwischen Wissen, Bewusstsein und Verhalten hinsichtlich weisen. Als gängiges Beispiel dient die Überfischung der des menschlichen Umgangs mit ökologischen Problemen Weltmeere: Für einen einzelnen Fischer ist der eigene Gewohl kaum zu beschreiben. Umweltprobleme sind mittler- winn umso größer, je mehr Fische er fängt. Eine Überfiweile für die meisten Menschen omnipräsent, in den Medien, schung der Weltmeere und damit in der Politik und draußen auf der Straße. Das Bewusstsein einhergehende Nahrungsmitteleng- Mind-Behavior-Gap hierfür steigt kontinuierlich – aber die seit Jahrzehnten be- pässe oder eine Erhöhung der Prei- Auch „Einstellungs-Verhalklagte Lücke zwischen Wissen und Verhalten möchte sich se betreffen jedoch alle Fischer. Das tens-Lücke“ oder „Intennicht schließen. Wie kann es sein, dass trotz des hohen In- bedeutet, der kurzfristige Gewinn tions-Verhaltens-Lücke“: teresses, der zunehmenden Aufmerksamkeit, des Verantwor- des einzelnen Fischers (individuel- Beschreibt die Diskrepanz zwischen dem Anspruch tungsbewusstseins und der Einsicht, dass sich etwas ändern les Interesse) steht dem langfristigen bzw. dem Willen der eimuss, das individuelle Umweltverhalten inkonsistent bleibt? Verlust aller (kollektives Interesse) ge- genen Verantwortung und genüber. Dadurch wird entsprechend dem tatsächlichen Verhalten. Zahlreiche verhaltenspsychologische Mechanismen und auch derjenige Fischer geschädigt, der Phänomene beeinflussen maßgeblich das individuelle Ver- verantwortungsvoller war und weniger Fisch gefangen hat halten in moralischen Entscheidungssituationen. Prob- – sodass am Ende kein Anreiz zum ökologisch verantworlematisch ist dies unter anderem im Konsumverhalten. tungsvollen Verhalten besteht. Verschiedene Mechanismen der Verantwortungsablehnung oder -leugnung, wie beispielsweise Moral Licensing oder die Beitragsdilemmata basieren auf öffentlichen Gütern, die Mind-Behavior-Gap, verdeutlichen, wie Verbraucher Stra- durch Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im tegien anwenden, um weniger morali- Konsum gekennzeichnet sind. Hier besteht jedoch grundMoral Licensing sches Verhalten zu rechtfertigen, ohne sätzlich der Anreiz zum Free Riding: Ohne etwas zu dem Eine weniger moralische ihr Selbstbild zu verletzen. Wir sind öffentlichen Gut beizutragen, profitieren auch TrittbrettfahHandlung wird mit einer uns unserer Verantwortung bewusst, rer hiervon – die Verantwortung wird regelrecht abgelehnt. moralischen kompensiert. Dies wird weiterhin durch Social Discounting verstärkt: In Sogenannte Ersatzhand- schaffen es aber nicht, uns regelmäßig Experimenten wurde nachgewiesen, dass das individuelle entgegen unserer individuellen Präfelungen verstärken diesen Effekt: Die Flugreise nach Fairnessverhalten von der sozialen Distanz abhängig ist. In renzen zu verhalten. Australien kann durch den Situationen, in denen anonym agiert werden kann, wird ein Kauf von CO2-Zertifikaten kompensiert werden, mit Ursprünglich basierend auf der öko- vergleichsweise geringes Fairnessverhalten festgestellt. Ist es deren Erlös wiederum Auf- nomischen Spieltheorie kennzeichnen für die handelnde Person lohnenswert, sich unfair zu verhalforstungsprogramme finaninsbesondere Soziale (bzw. sozial-öko- ten und fühlt sie sich dabei nicht beobachtet, wird dies in der ziert werden. Somit wird das gute Gewissen erkauft. logische) Dilemmata diese Diskrepanz. Regel auch ausgenutzt. (vgl. Locey et al. 2011) Hierbei geht es um den Konflikt zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen, Dies veranschaulicht beispielhaft, dass sich moralische sodass individuelles rationales Verhalten zu kollektiv inef- Vorstellungen nicht vollständig im realen Verhalten widerfizienten Ergebnissen führt. Je nach Kontext wird zwischen spiegeln. Zahlreiche Studien zeigen, dass es zwar für vieNutzungsdilemmata und Beitragsdilemmata unterschieden. le Verbraucher wichtig sei, nachhaltig und umweltbewusst Im ersten Fall geht es um Allmendegüter, die niemanden in zu konsumieren, das tatsächliche Konsumverhalten diver8
Ve r a n t w o r t u n g & U m w e l t
lung wird mit einer weniger moralischen kompensiert und das Gewissen ist wieder ausbalanciert. (vgl. Symmank/Hoffmann 2016; Thaler 1985)
Verantwortungsdiffusion In Gruppen kann die Verantwortung auf mehrere Personen verteilt werden. Je größer die Gruppe, desto geringer das Verantwortungsgefühl. Indirekter = Verantwortungsanteil
Die vorgestellten Mechanismen stellen lediglich einen kurzen Umriss einer komplexen Thematik dar und sind beliebig zu erweitern. Festzuhalten ist, dass das menschliche Verhalten in Umweltfragen zahlreichen psychologischen Mechanismen unterliegt, die uns erlauben, die Verantwortung von uns zu weisen – die Überforderung scheint einfach zu groß und nicht zu bewältigen. Ganz in Freuds Sinne nehmen wir uns dieser Abwehrmechanismen an, die uns ein Leugnen oder Verdrängen der eigenen Verantwortung ermöglichen, im Bewusstsein darüber und wohlwissend der Konsequenzen. Da also Wissen allein an dieser Stelle nicht ausreicht, muss es durch eine bestimmte Haltung begleitet werden: „Ein zentrales Element einer solchen Haltung ist dabei eine leitende Vision, die zum Kompass des eigenen Handelns wird.“ (Schneidewind 2018)
Verantwortung Personenzahl
giert jedoch hiervon. Dies wird als Mind-Behavior-Gap bezeichnet. Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz haben Menschen das inhärente Bedürfnis nach einer Konsistenz zwischen ihren Einstellungen und ihren Handlungen. Entsteht eine Inkonsistenz, nehmen wir uns diverser Mechanismen an, die uns von dem befremdlichen Gefühl der Dissonanz befreien sollen und unser moralisches Gleichgewicht wiederherstellen. Dies geschieht beispielsweise durch Verantwortungsdiffusion, Verantwortungsdelegation, Free Riding, Rationalisierung oder Moral Licensing. (vgl. Symannk/ Hoffmann 2016; Kollmuss/Agyeman 2002)
Kollmuss, A.; Agyeman, J. (2002): Mind the Gap: Why do people act environmentally and what are the barriers to pro-environmental behavior? In: Environmental Education Research. 8. Jg. 2002/03. S. 239–260.
Insbesondere in Gruppenkontexten werden diese Mechanismen relevant, da hier die Verantwortung auf mehrere Personen verteilt werden kann (Verantwortungsdiffusion). Entsprechend fühlt sich der Einzelne weniger verantwortlich – je größer die Gruppe, desto geringer die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Im Hinblick auf globale Umweltprobleme – in denen die gesamte Menschheit als Gruppe betrachtet werden kann – erscheint der individuelle Anteil trivial.
Locey, M. L.; Jones, B. A.; Rachlin, H. (2011): Real and hypothetical rewards in social discounting. In: Judgment and Decision Making. 6. Jg. 2011/06. S. 552–564. Schneidwind, U. (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Kognitive Dissonanz kann auch durch eine Rationalisierungsstrategie verringert oder aufgelöst werden; hierbei passt das Individuum seine Einstellung seinem Verhalten an. Diejenigen Informationen, die im Widerspruch zu der bereits getroffenen Entscheidung stehen, werden abgewertet und diejenigen, die die Entscheidung bestätigen, aufgewertet: Fährt ein „umweltbewusster“ Mensch mit dem Auto nach Kroatien, wohlwissend über die negativen Auswirkungen des Autofahrens, könnte er sich bewusst machen, dass Flugreisen wesentlich umweltschädigender sind – die Dissonanz nimmt ab und seine Einstellung wird seinem Verhalten angepasst. (vgl. Symannk/Hoffmann 2016)
Symmank, C.; Hoffmann, S. (2016): Leugnung und Ablehnung von Verantwortung. In: Heidbrink, L. et al. (2016): Handbuch Verantwortung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Springer VS. Thaler, R. (1985): Mental Accounting and Consumer Choice. In: Marketing Science. 4. Jg. 1985/03. S. 199–214. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Kahneman, D. (2003): Maps of bounded rationality: Psychology for behavioral economics. In: The American Economic Review. 95. Jg. 2003/05. S. 1449–1475.
Eine weitere Möglichkeit, kognitive Dissonanzen aufzulösen, gewährt uns das Moral Licensing. Sobald das moralische Selbstimage erhöht wird, sinkt das tatsächliche moralische Verhalten, indem zwei Handlungen miteinander „verrechnet“ werden: So können beispielsweise lange Flugreisen damit rechtfertigt werden, täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren oder sich vegan zu ernähren. Eine moralische Hand-
Thaler, R.; Sunstein, C. (2011): Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin: Ullstein Buchverlage. Thaler, R. (2015): Misbehaving. Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät. München: Pantheon Verlag.
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philou.
Artikel
Zwischen Gewissen und Gerechtigkeit in der Tiefsee Leona Rodenkirchen und Jonathan Schieren Physik und Umweltingenieurwissenschaften
Die Tiefsee birgt genug Ressourcen, um uns alle mit den Technologien der Zukunft zu versorgen – das klingt gut. Aber artenreiche Ökosysteme stehen auf dem Spiel. Die Vereinten Nationen arbeiten seit über zehn Jahren an einem Abkommen zur „Erhaltung und zur nachhaltigen Nutzung der marinen Artenvielfalt“ (United Nations 2019). Diesem Vertrag wird enormes geopolitisches Potential zugesprochen, da in ihm die grundlegende Idee verankert ist, dass die Rohstoffe am Meeresboden, außerhalb der Grenzen nationaler Souveränität, gleichermaßen allen Menschen dieser Erde zustehen. Bei diesen Rohstoffen handelt es sich unter anderem um Edelmetalle und Seltene Erden – in Zeiten des technischen Fortschritts wahre Schätze. Jene Funde in der Tiefsee könnten das internationale Ungleichgewicht der Ressourcenverteilung und kritische Abhängigkeiten in naher Zukunft vollkommen kippen. Aber kann es eine „nachhaltige Nutzung der Artenvielfalt“ überhaupt geben? Viele Umweltschützer fürchten, das Eingreifen in die noch weitestgehend unerforschten Ökosysteme der Tiefsee könne dramatische Folgen für die dort vertretene Biodiversität und die Wasserqualität haben. Fraglich ist, inwieweit sich der Mensch hiervon tangiert fühlt: Können und wollen wir uns den verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen und Ökosystemen der Tiefsee überhaupt leisten?
Unser aller Erbe
profitieren, auch Binnenstaaten. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, zu dem das diskutierte Abkommen ergänzend in Erscheinung treten soll, beschreibt die Ressourcen am Meeresboden internationaler Gewässer als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (UNCLOS 1982). Der Entwurf des neuen Vertrages sieht sogar vor, ein besonderes Augenmerk auf geographisch und wirtschaftlich benachteiligte Staaten zu richten. Außerdem beinhaltet das Abkommen die Bedingungen, dass Ressourcen nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden und die Biodiversität, insbesondere fragiler und langsam regenerierender Ökosysteme, geschützt wird (vgl. United Nations 2019). Es heißt, der Meeresboden sei gemeinsames Erbe der Menschheit und die Erkundung und Nutzung dessen solle der Menschheit als Ganzes zugutekommen. Doch diese zum Teil Jahrtausende alten Ökosysteme beherbergen Spezies, die weit älter sind als die Menschheit. Wer regelt die Bedürfnisse dieser Ökosysteme und ist es unsere Verantwortung, sie zu schützen? Und wenn ja, welchen Stellenwert messen wir dieser Verantwortung bei? Ein erster Schritt wäre, sich Klarheit zu verschaffen und die Meere und ihre Artenvielfalt sorgfältig zu erforschen. Denn derzeit sind die Meere aus Forschungssicht vor allem eins: ein großer, blauer, blinder Fleck. Der Anteil der uns bekannten Spezies, die die Weltmeere bewohnen, wird auf unter 30 % allen marinen Lebens geschätzt (vgl. Costello et al. 2010).
Potentiale des Tiefsee-Bergbaus
In den 200 Meilen vor ihrer Küste stehen den jeweiligen Nationen nach internationalem Recht die vorhandenen Obgleich wir ähnlich wenig über die Rohstoff- wie über die Ressourcen zur Erforschung und Förderung zu. Die Hohe Artenbestände der Tiefsee sicher sagen können, so ist die See dahinter ist momentan ein „juristischer Wilder Wes- Dunkelziffer in ersterem Fall doch eher Grund zum Entten“ (vgl. Schultz 2019). Mit dem Abkommen könnte die- husiasmus und zum Investitionsmut. Denn schon wenige ser aber zu einem Gebiet werden, von dem alle Nationen Proben versprechen große Schätze am Grund der Ozeane. 10
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Informationen über das Vorkommen wichtiger Rohstoffe, wie Gold, Kupfer, Lithium, Nickel und Kobalt, in teilweise deutlich höheren Konzentrationen als in Abbaugebieten an Land, liegen schon seit Jahrzehnten vor. Auch die Förderung von Manganknollen wurde in den Siebzigerjahren bereits versucht. Bei diesen Knollen handelt es sich um Klumpen aus über Jahrtausenden angereicherten Erzen. Sie bestehen zum Großteil aus den Metallen Mangan und Eisen, sind aber auch eine begehrte Quelle für Kupfer, Kobalt, Zink und Nickel. Manganfelder sind in mehreren tausend Metern Tiefe unter anderem im Pazifik vorzufinden und entsprechend kompliziert zu fördern. Gemeinsam mit den Vorkommen auf Seebergen und an Thermalquellen sind sie ein zentrales Objekt der Begierde im Tiefseebergbau. Die Entwicklung der Förderungstechniken ist auf dem Vormarsch. Was einst weder technisch ausgereift noch wirtschaftlich profitabel war, ist heute eine vielversprechende Investitionsmöglichkeit. Denn der wachsende Markt für Elektroautos, Smartphones, Solaranlagen und weitere zukunftsträchtige Technologien führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach Ressourcen wie Lithium und Kobalt und hatte in den vergangenen Jahren exorbitante Preisanstiege zur Folge (vgl. Metalary 2019).
die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA: International Seabed Authority). Diese hat bisher lediglich Lizenzen zur Erforschung des Meeresbodens und seiner Ressourcen erteilt, nicht aber zur kommerziellen Förderung dieser. Sie wird aber dennoch bereits jetzt von Organisationen wie Greenpeace heftig kritisiert. Angefangen damit, dass es der ISA an Expertise und Kapazitäten zum Schutze der Natur fehle, bemängelt Greenpeace insbesondere die ausgestellten Umweltverträglichkeitsgutachten. Diese stehen in der Kritik, da sie von Bergbaufirmen durchgeführt und nicht von unabhängiger Seite verifiziert werden. Darüber hinaus werden sie der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestellt (vgl. Casson 2019). Die Deep Sea Conservation Coalition (DSCC), zu deren Mitgliedern auch Greenpeace und der WWF gehören, fordert aufgrund dieser Intransparenzen einen Stopp der kommerziellen Exploration, bis die Auswirkungen auf die dadurch bedrohte Biodiversität ausreichend erforscht sind (vgl. DSCC 2019).
Das außergewöhnliche geopolitische Potential von Rohstoffquellen in der Tiefsee basiert auf ihrer Lage außerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszonen einzelner Staaten. Die Vorkommen in Landlagerstätten sind sehr ungleich verteilt, was zu mächtigen Monopolstellungen einiger weniger Nationen geführt hat (vgl. Ocean Review 2014). Durch eine geregelte, gerechte Ressourcenförderung am Meeresboden ergibt sich die Möglichkeit, jene Monopole aufzubrechen.
Ein weiterer zentraler Punkt in den Forderungen zum Schutz des Lebens in der Tiefsee ist der Plan für Meeresschutzgebiete. Genauer sollen Netzwerke von Meeresschutzgebieten eingeführt werden. Um lokalspezifische Schutzmaßnahmen ausführen zu können, bedürfe es streng regulierter und effizient verwalteter „Schutzgebiets-Netzwerke“ (Greenpeace 2019). Dazu werden derzeit Studien durchgeführt.
Risiken des Tiefsee-Bergbaus
Unser aller Verantwortung?
Zum Ausmaß der unmittelbaren und langfristigen Gefah- Es besteht also die Chance, eine gerechtere Ressourcenren für das Biotop Tiefsee können wir nur Schätzungen und verteilung zu ermöglichen und die Technologien der ZuPrognosen anstellen. Und selbst die Optimistischsten die- kunft weiter voranzutreiben. Dem gegenüber stehen die noch ser verknüpfen einen radikalen Eingriff in die unberührte größtenteils unerforschten Konsequenzen für die Umwelt, Welt der Tiefen, wie Schürfarbeiten es wären, mit drama- insbesondere für die marine Artenvielfalt. Eines steht jetischen Folgen für die dort angesiedelten Arten. So fand doch fest: Ein Eingriff in diese sensiblen Ökosysteme wird eine deutsch-französische Forschungsgruppe im Jahr 2006 nicht ohne Folgen bleiben. Es stellt sich also die Frage, was das Gebiet, in dem in den Siebzigern Manganknollen-Ab- die Menschheit aus vergangenen und aktuellen Ausbeutunbautests durchgeführt wurden, vollkommen kahl und unbe- gen des Planeten gelernt hat. Wenn wir – die Menschheit lebt vor, wohingegen sich das Leben im Umland tummelte – uns in diesem Belang überhaupt als eine Einheit bezeichund trotz der extremen Umstände der Tiefsee florierte (vgl. nen können, wie gedenken wir mit unserem gemeinsamen Erbe umzugehen – verantwortungsvoll? Zierul 2011). Zuständig für die Organisation und Überwachung der Ressourcennutzung am Meeresboden, aber auch für die Förderung wissenschaftlicher Forschung in diesem Gebiet, ist 11
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Casson, L. (2019): Why the International Seabed Authority probably won’t protect our oceans. In: Greenpeace International STORY, 24.06.2019. Online verfügbar unter: https://www.greenpeace.org/international/ story/23397/four-reasons-why-the-international-seabed-authority-probably-wont-protect-our-oceans/ [Zugriff: 10.11.2019]. Costello, M.J.; Coll, M.; Danovaro, R.; Halpin, P.; Ojaveer, H.; Miloslavich, P. (2010): A Census of Marine Biodiversity Knowledge, Resources, and Future Challenges. In: PLOS ONE, 02.08.2010. Online verfügbar unter: https://journals.plos. org/plosone/article?id=10.1371/journal. pone.0012110 [Zugriff: 13.11.2019]. DSCC (2019): Position Statement on Deep Seabed Mining. In: savethehighseas.org, Juli 2019. Online verfügbar unter: http:// www.savethehighseas.org/wp-content/ uploads/2019/08/DSCC-Position-Statement-on-Deep-Seabed-Mining_July2019.pdf [Zugriff: 10.11.2019]. Metalary (13. Februar, 2019): Durchschnittlicher Preis von Lithiumcarbonat weltweit in den Jahren von 2002 bis 2018 (in US-Dollar je Tonne) [Graph]. In Statista. Online verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/979746/umfrage/durchschnittlicher-preis-von-lithium-weltweit/ [Zugriff: 12.11.2019].
Schultz, S. (2019): Rohstoffrausch in der Tiefsee. In: SPIEGEL ONLINE, 21.08.2019. Online verfügbar unter: https://www. spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/vereinte-nationen-verhandeln-ueber-weltozeanabkommen-zum-schutz-der-meere-a-1283764. html [Zugriff: 11.11.2019]. UNCLOS (1982): United Nations Convention of the Law of the Sea, 10.12.1982. Online verfügbar unter: https://www.un.org/ depts/los/convention_agreements/texts/unclos/closindx.htm [Zugriff: 14.11.2019]. United Nations (2019): Draft text of an agreement under the United Nations Convention on the Law of the Sea on the conservation and sustainable use of marine biological diversity of areas beyond national jurisdiction. Online verfügbar unter: https://www.un.org/ga/search/view_doc. asp?symbol=A/CONF.232/2019/6 [Zugriff: 13.11.2019]. Zierul, S. (2011): Der Schatz der Tiefsee. In: ZEIT ONLINE, 08.02.2011. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/ zeit-wissen/2011/02/Dossier-Rohstoffe-Abbau-im-Meer [Zugriff: 13.11.2019].
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Die Wege des Abfalls Eine Geschichte exportierter Verantwortung
Auch der Importstopp Chinas konnte diese Praxis nicht beenden. Auf die Frage eines Studenten, was nun mit dem Caroline gasten Abfall passiere, dessen Recycling in Deutschland nicht wirtUmweltingenieurwissenschaften schaftlich ist, antwortet der Mitarbeiter des Aachener Entsorgungsunternehmens nur knapp: „Pakistan“. Und auch Früher wurde der minderwertige Plastikabfall nach China andere Länder, wie Vietnam, Thailand und Malaysia überexportiert. So beschreibt es ein Mitarbeiter eines öffentli- nahmen Chinas ehemalige Importmengen (vgl. Greenpeace chen Entsorgungsbetriebs in Aachen, als er an einem küh- South East Asia 2018). len Januarmorgen Anfang 2018 eine Studierendengruppe über das Gelände führt, denn wenige Wochen zuvor, am Die Wege des Abfalls sind geprägt von unterschiedlicher 1. Januar 2018, schloss China seine Grenzen für 24 Sorten Wertschätzung. Während er in Industrienationen primär als von Abfällen (vgl. UNEP 2018). ästhetisches Übel aufgefasst wird, stellt Abfall für Entwicklungsländer in erster Linie eine wertvolle Einkommensquelle Chinas Importverbot ist eines der seltenen Ereignisse, die auf dar (vgl. Grant 2016). internationaler Ebene Aufmerksamkeit erregten und damit die Praxis des Abfallexports in das Bewusstsein der Verbrau- Aufgrund der Ausnutzung dieser wirtschaftlichen cher_innen riefen, denn für diese endet der Weg des Ab- Abhängigkeit der Nicht-OECD-Staaten etablierte sich falls meist an der Mülltonne. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz in den 1980er Jahren der Ausdruck toxic colonialism. Der (KrWG) beschreibt den Übergang von Abfällen von End- Kunstbegriff sollte auf internationaler Ebene auf die nutzer_innen auf die zuständigen privaten und öffentlichen überproportionalen Risiken aufmerksam machen, die Entsorger als „Entledigung“. Diese ist anzunehmen, „wenn Entwicklungsländer durch den Import von gefährlichen der Besitzer Stoffe oder Gegenstände einer Verwertung […] Abfällen auf sich nehmen (vgl. Pratt 2011). Es wurde oder einer Beseitigung […] zuführt oder die tatsächliche argumentiert, dass die Länder, obwohl sie nicht an Sachherrschaft über sie unter Wegfall jeder weiteren Zweck- der Entstehung der Abfälle beteiligt seien und keinen bestimmung aufgibt.“ (§3 Abs. 2 KrWG). direkten Nutzen aus den produzierten Gütern zögen, die gesundheitlichen Konsequenzen und Umweltschäden trügen Der Satz suggeriert eine Abgabe von Verantwortung für die (vgl. Clapp 2001). produzierten Abfälle, eine Nicht-Beteiligung an jeglichen weiteren Schritten, die nötig sind, um den Abfall im Sinne Die Basler Konvention aus dem Jahr 1989 stellte eine erste des Gesetzes zu verwerten oder zu entsorgen. Nach dem internationale Anerkennung der Problematik der grenzüberPrinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ werde der Abfall, schreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle dar. Ein Exsobald er nicht mehr sichtbar ist, oft vergessen (vgl. Mauch port gefährlicher Abfälle sollte nur noch erfolgen, wenn in 2016). Doch obwohl er für den/die Endnutzer_in ab dem dem eigenen Land keine Kapazitäten für eine umweltschoZeitpunkt der Entledigung unsichtbar sein mag, verschwin- nende und effiziente Behandlung des Abfalls bestanden oder det der Abfall nicht, sondern taucht an anderer Stelle wie- wenn der Abfall im empfangenden Land als Rohstoff beder auf. Jedoch ist dies häufig weitab von dem Blickfeld der nötigt wurde. Bei einer grenzüberschreitenden Entsorgung Konsument_innen und auch außerhalb des Souveränitätsge- mussten sowohl Export- als auch Empfängerland vorher bietes der Staaten, denn der Export von Abfällen und damit zustimmen und jede Verbringung ohne vorheriges Übereinder Export der Verantwortung diese zu behandeln, ist seit kommen unter Verfügbarkeit aller vorhandenen InformatiJahrzehnten eine gängige Praxis in Industrienationen (vgl. onen über den zu entsorgenden Abfall wurde als illegaler Clapp 2001; Ajibo 2016). Handel betrachtet. 13
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Trotzdem ist die grenzüberschreitende Abfallentsorgung zwischen OECD- und Nicht-OECD-Staaten auch 30 Jahre nach dem Erlass der Konvention gängige Praxis. Es fehle eine globale Methode, um koordiniert den Handel mit gefährlichen Abfällen zu kontrollieren. Stattdessen berufe sich die Basler Konvention auf die Umsetzung der Bestimmungen durch die einzelnen Länder. Die in vielen Nicht-OECD-Ländern teilweise sehr geringen Kapazitäten, um nationale Regulierungen auch durchzusetzen, würden vielfach zur Verschleierung des Handels gefährlicher Abfallstoffe führen (vgl. Pratt 2011). Auch fehle es häufig an politischem Willen und öffentlicher Opposition, da keine angemessene Aufklärung über die entstehenden Gefahren durch den Import von gefährlichen Abfällen bzw. kein Zugang zur Justiz bestehe (vgl. Ajibo 2016). Um die Wirtschaft anzukurbeln, würden häufig die Regulierungen hinsichtlich gefährlichen Abfalls vernachlässigt und kurzzeitige Gewinne bevorzugt, ohne die langfristigen Konsequenzen für Gesundheit und Umwelt in Betracht zu ziehen (vgl. Pratt 2011). Für Industrieländer stellt die grenzüberschreitende Verbringung von Abfällen insbesondere im Zusammenhang mit den zunehmenden Mengen an Elektroschrott und Plastikabfall weiterhin eine attraktive Lösung dar. Während in diesen Ländern durch zunehmend strenge Umweltvorschriften und lokalen Widerstand die Entsorgungskosten steigen, gibt es in Entwicklungsländern häufig keine strengen Regulierungen, zudem sind Arbeitskräfte und Land in der Regel günstig (vgl. Pratt 2011). Studien aus den 1980er und 1990er Jahren ergaben, dass die durchschnittlichen Entsorgungskosten einer Tonne gefährlicher Abfälle in Afrika bei US $2,50–$50 lagen, während diese in Industrieländern US $200–$3000 betrugen (vgl. Ajibo 2016). Die gravierenden Folgen, die sich daraus für viele Entwicklungsländer ergeben, dringen nun auch in OECD-Staaten an die Öffentlichkeit. Oft fehle in Entwicklungsländern die Technologie, Ausbildung, Finanzierung und administrative Infrastruktur um den Abfall adäquat behandeln zu können (vgl. Pratt 2011). Häufig würden gefährliche Abfälle auf nicht als Mülldeponie geeigneten Flächen gelagert, Frauen und Kinder würden den Elektroschrott aus Deponien suchen und sich dabei den Dämpfen aussetzen, die durch die Verbrennung von Schwermetallen und Plastik entständen (vgl. Pratt 2011, Ajibo 2016). Auch hinsichtlich des Ressourcenpotentials des Elektroschrotts ist eine Rückgewinnung der verbauten Metalle unter diesen Bedingungen kritisch zu bewerten, da umweltverträgliche Methoden dazu führen könnten, dass weniger Ressourcen verbraucht würden (vgl. Pratt 2011).
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Ein Greenpeace-Bericht aus dem Jahr 2018 schildert ähnliche Bedingungen in Malaysia bei der Entsorgung von international gehandelten Plastikabfällen, die nicht zu den gefährlichen Abfällen zählen. Der Abfall werde häufig nicht richtig behandelt, sondern in einer Weise deponiert oder verbrannt, die gegen internationale Absprachen verstoße. Bereits jetzt beständen gesundheitliche Beeinträchtigungen und Umweltschäden, die wahrscheinlich durch illegale Verbrennung und Deponierung von importierten Plastikabfällen hervorgerufen würden. So berichtet Greenpeace von einer Mülldeponie, von der aus Wasser in die nahegelegenen Teiche einer Krabbenzucht liefen und gegenüber nationalen Wasserqualitätsstandards erhöhten Mengen an Aluminium und Eisen im Kuala Langat Fluss (vgl. Greenpeace Southeast Asia 2018). Berichte über die umweltschädliche Entsorgung von Abfällen oder Plastikmüll im Meer haben im Jahr 2019 zu zwei Meilensteinen im Bereich der Begrenzung der globalen Abfallverbringung geführt. Im Rahmen der Basler Konferenz vom 29. April bis 10. Mai 2019 wurde auch die Entsorgung von Plastikabfällen erstmals in einen internationalen Rechtsrahmen eingebunden, was laut UN Environmental Programme zu mehr Transparenz und Kontrolle im globalen Handel mit Plastikabfällen führe (vgl. UNEP 2019). Des Weiteren wird am 5. Dezember 2019 das Basel Ban Amendment umgesetzt (BRS Secreteriat 2019). Die Novelle sieht vor, dass sämtlicher Handel gefährlicher Abfallstoffe zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verboten werde (vgl. Pratt 2011). Die Auswirkungen und Effektivität der Novellen bleiben abzuwarten. Angesichts der bereits schwierigen Umsetzung der Basler Konvention in der ursprünglichen Form durch geringe nationale, administrative Kapazitäten (vgl. Pratt 2011), ist ein verstärkter illegaler Handel mit Abfällen sicherlich nicht auszuschließen. Auch wird das vollständige Verbot jeglicher Exporte gefährlicher Abfälle von Industriestaaten in Entwicklungsländer teilweise kritisiert, da so weniger Anreize für letztere existieren würden Recycling- und Rückgewinnungsmethoden umweltschonender zu gestalten (vgl. Pratt 2011). Die neusten Regulierungen wirken insbesondere deshalb symbolisch, da sie auf der Selbstverpflichtung vieler Industrienationen basieren, Verantwortung für ihre Abfälle zu übernehmen. Das Exportverbot gefährlicher Abfälle werde als Distanzierung vom toxic waste colonialism begrüßt (vgl. Pratt 2011). Ob jedoch die ethische Verantwortung letztendlich jegliche wirtschaftlich attraktive Abfallexporte zum Erliegen bringt, ohne dass die Staaten auf internationaler
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Ebene kontrolliert werden, bleibt abzuwarten. Eine internationale Kontrollinstanz könnte sicherstellen, dass die Abfälle tatsächlich nicht mehr exportiert werden. Chinas Importverbot hat exemplarisch gezeigt, welche Folgen es für die Industrienationen haben kann, wenn sie wieder Verantwortung für ihre Abfälle übernehmen müssen. Länder wie Indonesien und Malaysia, die anfangs noch bereitwillig Chinas Anteile global gehandelten Abfalls übernommen hatten, haben mittlerweile ihre Einfuhrbedingungen aufgrund fehlender Kapazitäten verschärft. Angesichts des kollabierenden globalen Recycling-Marktes sind viele Industrienationen nun dazu übergegangen, die zusätzlichen Plastikabfallmengen zu deponieren oder zu verbrennen – ein Unterfangen, das mit erheblichen Risiken für Umwelt und Gesundheit verbunden ist (Heinrich Böll Stiftung 2019). Die Hoffnung bleibt, dass so zumindest die Abfallproblematik wieder in das Blickfeld derer rücken wird, die sie als Einzige endgültig lösen könnten: die Endverbraucher_ innen. Denn letztendlich sei die globale Abfallproblematik nur zu bewältigen, indem weniger Abfälle produziert werden würden (vgl. Pratt 2011; Greenpeace Southeast Asia 2018).
Pratt, L. A. (2011): Decreasing Dirty Dumping? A Reevaluation of Toxic Waste Colonialism and the Global Management of Transboundary Hazardous Waste. In: William & Mary Environmental Law and Policy Review 581. 35. Jg. 2011/02. UNEP (2018): China‘s trash ban lifts lid on global recycling woes but also offers opportunity. Online verfügbar unter: https://www. unenvironment.org/news-and-stories/story/ chinas-trash-ban-lifts-lid-global-recycling-woesalso-offers-opportunity [Zugriff: 04.12.2019]. UNEP (2019): Governments agree landmark decisions to protect people and planet from hazardous chemicals and waste, including plastic waste. Online verfügbar unter: https://www.unenvironment.org/ news-and-stories/press-release/governments-agree-landmark-decisions-protect-people-and-planet [Zugriff: 14.11.2019].
Ajibo, K. I. (2016): Transboundary hazardous wastes and environmental justice. In: Environmental Law Review. 18 Jg. 2016/04. S. 267–283. BRS Secreteriat (2019): Entry into force of amendment to UN treaty boosts efforts to prevent waste dumping. Online verfügbar unter: http://www.basel.int/Default.aspx?tabid=8120 [Zugriff: 14.11.2019]. Clapp, J. (2001): Toxic Exports: The Transfer of Hazardous Wastes from Rich to Poor Countries: Cornell University Press. Grant, R. (2016): The "Urban Mine“ in Accra, Ghana. In: Christof Mauch (Hg.): Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste. RCC Perspectives: Transformations in Environment and Society 2016, no. 1. S. 21–29. Greenpeace Southeast Asia (2018): The Recycling Myth. In: Greenpeace, 27.11.2018. Online verfügbar unter: https:// www.greenpeace.org/southeastasia/publication/549/the-recycling-myth/ [Zugriff: 07.12.2019]. Heinrich Böll Stiftung (2019): Plastic Atlas. Facts and figures about the world of synthetic polymers. Berlin: Heinrich Böll Stiftung. Mauch, C. (2016): Introduction. In: Christof Mauch (Hg.): Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste. RCC Perspectives: Transformations in Environment and Society 2016, no. 1. S. 5–9.
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Artikel
Geteiltes Leid, geteilte Verantwortung Die Ambivalenz der Konsumentenverantwortung
Ann-kristin winkens
Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) benennt in seinem Umweltgutachten (1994) drei konkrete Verantwortungsbereiche, die im Kontext einer nachhaltigen Hans Jonas (1987) beschreibt Verantwortung als eine Funk- Entwicklung relevant sind: die Verantwortung des Mention von Macht: schen für seine natürliche Umwelt, die Verantwortung des Menschen für seine soziale Mitwelt und die Verantwor„Ein Machtloser hat keine Verantwortung. Man hat Veranttung des Menschen für sich selbst. Somit ist Verantwortung wortung für das, was man anrichtet. Wer nichts anrichten kann, hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur umbraucht auch nichts zu verantworten; […] derjenige, der nur weltethisch zu begründen, sondern auch im Kontext einer sehr geringen Einfluß auf die Welt hat, ist in der glücklichen sozialen Gerechtigkeit sowie der Sicherung der „personalen Lage, ein gutes Gewissen haben zu können.“ (ebd.: 272f.) Freiheit“ (SRU 1994; Buschmann/Sulmowski 2018). UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTEN
Auf die Frage „Was hast du da angerichtet?“ folgt somit die Antwort „Kaum etwas – denn wer bin ich?“ (ebd.: 272). Die- Das Individuum als „Agent of Change“ ser Logik wird heute häufig gefolgt, denn die Auswirkungen der Handlungen des Einzelnen erscheinen in der Gesamt- Wesentlicher Bestandteil der Nachhaltigkeitsdebatte ist die betrachtung nahezu null. Gleichzeitig werden zunehmend Frage nach potentiellen Schlüsselakteuren: Wer hat den entDiskurse über die Verantwortung der einzelnen Konsumen- sprechenden Einfluss, um einen gesellschaftlichen Wandel ten geführt – ausgehend von der Annahme, dass insbesonde- herbeizuführen? Wer trägt besondere Verantwortung? Wer re nicht-nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster für trägt in der Verursacherkette, beispielsweise hinsichtlich globale Umweltprobleme und gesellschaftliche Herausfor- des Klimawandels oder des Ressourcenverbrauchs, maßderungen maßgebend seien (vgl. WCED 1987; SRU 1994). geblich bei? (vgl. Grunwald 2012) Der seit Jahrzehnten festgeschriebene Weg hin zu einer nachhaltigen EntwickBereits im Brundtland-Bericht (1987) „Our Common Fu- lung ist zunehmend mit einem Appell an die individuelture“ findet sich die Feststellung wieder, dass die Menschen le Verantwortungsübernahme verbunden (vgl. Buschmann/ mit ihrem Verhalten und ihren Handlungen Verantwortung Sulmowski 2018; Grunwald 2010; Grunwald 2012): Die für eine nachhaltige Entwicklung tragen. In dem Bericht Debatte konzentriert sich vor allem auf den Konsumenten, werden primär zwei Handlungsebenen formuliert, um den der als „schlafender Riese“ gilt und die Welt retten könnKrisen der Moderne zu begegnen: Zum einen die intergene- te, wenn er sich doch nur aus seinem Schlaf befreien könne rationelle Perspektive, die die Verantwortung für zukünftige (vgl. Grunwald 2012, zitiert nach Busse 2006). Damit wird Generationen beschreibt und zum anderen die intragenera- dem einzelnen Konsumenten eine außerordentliche Macht tionelle Perspektive, das heißt die Verantwortung für derzeit zugeschrieben, was letztlich auf dem Verursacherprinzip balebende Menschen. (vgl. WCED 1987; Balaš/Strasdas 2018) siert: Das Konsumverhalten von Privathaushalten erzeugt Das inhärente Verständnis des Nachhaltigkeitsbegriffes geht maßgeblich globale ökologische und soziale Probleme, daentsprechend mit einer Verantwortungszuschreibung einher. mit sind die Konsumenten für diese Probleme verantwortlich 16
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und nach dieser Prämisse entsprechend in der moralischen Pflicht, diese auch zu lösen – dies wird als Konsumentenverantwortung bezeichnet (vgl. ebd.; Grunwald 2014). In diesem Sinne wäre das konsumierende Individuum gleichzeitig Verantwortungssubjekt, Verantwortungsobjekt und Verantwortungsadressat, das sich vor der Verantwortungsinstanz „Planet Erde“ rechtfertigen muss (vgl. Braun/Baatz 2018). Von Konsumenten wird erwartet, öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu nutzen, sparsam zu heizen und stromsparend zu leben, regionale und saisonale Lebensmittel zu kaufen sowie bei der Anschaffung von Bekleidung, Unterhaltungselektronik oder der Wohnungseinrichtung auf die Ökobilanz zu achten. Diese Erwartungshaltung spiegelt sich auch in der veränderten Werbekultur wider, in der vielfach Lösungen für private Endverbraucher angeboten werden, wie sie „etwas für die Umwelt tun könnten“. Ein ganzer Markt für Nachhaltigkeit hat sich gebildet: Von Mobilitätsalternativen zum Fliegen und Autofahren, Öko-Tourismus, Bekleidung bis hin zu Ernährungsgewohnheiten wird in der Öffentlichkeit direkt der Lebensstil des einzelnen Konsumenten angesprochen. (vgl. Grunwald 2012, 2014) Nachhaltiges und umweltschonendes Verhalten wird mittlerweile als „Muster politischer Korrektheit“ propagiert, ständige Beobachtung hinsichtlich ökologischen Handelns wird zum Alltag (Grunwald 2010). Private Unterhaltungen drehen sich darum, wessen Mittagessen die niedrigere CO2-Bilanz aufweist und wessen Urlaub eine bessere Ökobilanz hat (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit wird somit privatisiert – das heißt die Erwartungen verschieben sich von der politischen Ebene zur privaten Ebene (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit per se ist aber keine Privatangelegenheit: Als „Muster politischer Korrektheit“ deklariert, „verliert es auf eigentümliche Weise das Private“ (ebd.). Der moralische Druck auf den privaten Endverbraucher wächst zunehmend und dieser bemüht sich kontinuierlich, diesen „ökologischen Tugenden“ nachzugehen (Grunwald 2014). Fraglich ist jedoch, inwieweit diese öffentliche Erwartungshaltung an das Individuum gerechtfertigt ist und ob ein verändertes Konsumverhalten des Einzelnen überhaupt zu einer gesellschaftlichen Umstrukturierung beitragen kann – das heißt, wie viel Macht der Einzelne tatsächlich
hat bzw. haben kann. „Es wäre zynisch, an das private Handeln zu appellieren, wenn plausible Zweifel bestehen, dass dieses Handeln die erhofften positiven Folgen haben wird“ (Grunwald 2010). Und nicht nur das: Zynisch ist es auch, den Konsumenten durch ein breites Angebot vor die Wahl zu stellen, um ihm im Nachhinein vorzuwerfen, er habe unmoralisch gehandelt.
Geteilte Verantwortung Ausgehend von der Prämisse des Verursacherprinzips scheint die Schlussfolgerung, dass die von den Konsumenten verursachten Schäden auch durch diese behoben werden müssen, naheliegend und logisch – sie kommt jedoch vielmehr einem Trugschluss nah (vgl. Grunwald 2014). Weiterhin bedarf es einer Differenzierung der tatsächlichen Kausalität: Treibhausgasemissionen, die beispielsweise durch das Autofahren entstehen, können nur als geteilte Verursachung eines ökologischen Schadens verstanden werden, da dieser als Summe aller kollektiven Handlungen bewirkt wird – und nicht aus einer einzelnen Handlung resultiert (vgl. Schmidt 2016). Die Verantwortungszuschreibung basiert entsprechend nicht ausschließlich auf einem kausalen Zusammenhang, sie ist wesentlich komplexer, denn es müssen ebenso die Strukturen, Rahmenbedingungen und das vorhandene Wissen berücksichtigt werden. Eine vollständige Zuschreibung der Verantwortung an die verursachenden Akteure würde nur dann gelten, wenn diese in ihren Handlungsalternativen völlig frei wären – dies trifft aber im Falle des Konsumverhaltens nicht zu. (vgl. Grunwald 2014) Die Konsumenten bewegen sich in gesetzlichen Rahmenbedingungen. Es steht außer Frage, dass Privatpersonen einen Teil der Verantwortung tragen. Ebenso können sie sicherlich durch nachhaltige(re)n, aber vor allem bewussten Konsum zu Veränderungsprozessen beitragen. Der andere Teil liegt aber eben in jenen Rahmenbedingungen: In demokratischen Systemen sind die Konsumenten nicht nur Konsumenten, sondern vor allem als Bürger und Bürgerinnen Gestalter der Partizipation. (vgl. ebd.) Durch transparente und demokratisch legitimierte Prozesse, die für alle verbindlich sein können, werden Rahmenbedingungen, die einen bewussten Konsum fördern, zu einem öffentlichen Diskurs und stellen entsprechend Gestaltungsräume dar, an denen alle partizipieren können. Es geht nicht darum, das Individuum von seiner Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme zu befreien; diese Verpflichtung ist aber nicht nur auf den privaten Konsumbereich zu beziehen, sondern eben auch 17
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auf die politische Ebene des individuellen Handelns. (vgl. Grunwald 2010) Das Individuum ist sowohl Privatperson und Konsument als auch Mitglied einer Zivilgesellschaft und politischer Akteur – und der simplifizierte Ansatz des moralisierenden Verursacherprinzips ignoriert eben genau diesen zweiten Aspekt (vgl. ebd.; Grunwald 2012). Verantwortungsübernahme für „mehr Nachhaltigkeit“ kann sowohl durch verstärktes Engagement im politischen Bereich als auch durch bewusstes Einkaufen im Supermarkt geschehen – zwei unterschiedliche Weisen, der Verantwortung gerecht zu werden (vgl. Grunwald 2018). Entsprechend wird die Konsumentenverantwortung in ihrer Erwartung und den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten relativiert – Verantwortung für „mehr Nachhaltigkeit“ ist viel umfassender (vgl. ebd.). Im Hinblick auf eine geteilte Verantwortung ist es vor allem die Konsistenz im Handeln, die relevant ist. Wer sich im politischen Bereich aktiv für Nachhaltigkeit einsetzt, im privaten jedoch seine Überzeugungen verwirft, weist keine intrinsische Überzeugung auf – im Kantischen Sinne darf Nachhaltigkeit nicht als Mittel zum Zweck, zur Imagepflege oder Ähnlichem, missbraucht werden, es geht vielmehr um den „Guten Willen“ an sich. (vgl. Grunwald 2012) „In summa wirken wir alle mit und sogar im bloßen Verbrauchen, sogar ohne etwas zu tun. Schon dadurch, daß wir an den Früchten dieses Systems partizipieren, sind wir alle mit kausale Kräfte in der Gestaltung der Welt und der Zukunft. […] Wir alle sind es, ohne daß es ein einzelner zu sein braucht.“ ( Jonas 1987: 273)
Grunwald, A. (2012): Nachhaltiger Konsum – das Problem der halbierten Verantwortung. In: Globale öffentliche Güter in interdisziplinären Perspektiven [Online]. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing. Online verfügbar unter: http://books.openedition. org/ksp/3799 [Zugriff: 14.11.2019]. Grunwald, A. (2014): Nachhaltiger Konsum – Plädoyer gegen eine Engführung auf Konsumentenverhalten. In: HiBiFo. 2014/02. S. 15–23. Grunwald, A. (2018): Warum Konsumentenverantwortung allein die Umwelt nicht rettet. Ein Beispiel fehllaufender Responsibilisierung. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 422–436. Jonas, H. (1987): Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 9. Auflage 2017. Sachverständigenrat für Umweltfragen (1994): Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen. Schmidt, I. (2016): Konsumentenverantwortung. In: Heidbrink, L. et al. (2016): Handbuch Verantwortung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Springer VS.
Balaš, M.; Strasdas, W. (2018): Nachhaltigkeit im Tourismus: Entwicklungen, Ansätze und Begriffserklärung. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt.
World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future. New York: Oxford University Press.
Braun, F.; Baatz, C. (2018): Klimaverantwortung und Energiekonflikte. Eine klimaethische Betrachtung von Protesten gegen Energiewende-Projekte. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 31–48.
WEITERFÜHRENDE LITERATUR Heidbrink, L.; Schmidt, I.; Ahaus, B. (2011): Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Buschmann, N.; Sulmowski, J. (2018): Von Verantwortung“ zu doing Verantwortung“. Subjektivisierungstheoretische Aspekte nachhaltigkeitsbezogener Aspekte nachhaltigkeitsbezogener Responsibilisierung. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 281–295.
Schneidewind, U. (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
Grunwald, A. (2010): Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. In: GAIA. 19. Jg. 2010/03. S. 178–182.
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Das Projekt „Leonardo“ Interdisziplinäres Lernen, Querdenken und Reflektieren: für alle Studierende, für alle Fächer, für alle Semester. Du möchtest über den Tellerrand Deines eigenen Studienfachs hinausschauen? Du möchtest mit Studierenden aus anderen Fachbereichen diskutieren? Du glaubst, dass globale Herausforderungen auch für Dich eine Rolle spielen? Das Projekt „Leonardo“ bietet interdisziplinäre Lehre für kreative Köpfe: Jedes Semester gibt es dazu eine Vielzahl von Lehrveranstaltungen zu Themen wie den Sustainable Development Goals, Rohstoffpolitik, Energie oder der Rolle Chinas in der Welt.
Mail: leonardo@ipw.rwth-aachen.de Web: leonardo.rwth-aachen.de
Kunst und Kannst du die Wissenschaft, Frage stellen: „Bin Forschung ich fürund Lehre mein Handeln sind verantwortlich frei. oder nicht?“, Grundgeset z Artikel 5 so bist du es. F.M. Dostoyevski
1821–1881
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Verantwortung, Technik & Wissenschaft
Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir uns denken.
Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs VDI „In der Erkenntnis, daß Naturwissenschaft und
Technik wesentliche Gestaltungsfaktoren des modernen Lebens und der Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft darstellen, sind sich Ingenieurinnen und Ingenieure ihrer besonderen Verantwortung bewußt. Sie richten ihr Handeln im Beruf an ethischen Grundsätzen und Kriterien aus und setzen diese konsequent in die Praxis um.
Friedrich Dürrenmat t, Die Physiker (1962)
Die Grundsätze bieten Orientierung und unterstützen die Einzelnen bei der Beurteilung von Verantwortungskonflikten.“ (Auszug aus der Präambel)
Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) Zu den Hauptaufgaben der TA gehört, die Potentiale und Auswirkungen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen umfassend und vorausschauend zu analysieren und die damit verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ökologischen Chancen und Risiken auszuloten. Auf dieser Grundlage werden den Gremien und Abgeordneten Handlungsbedarf und -möglichkeiten aufgezeigt.(https://www.tab-beim-bundestag.de/de/)
Responsible research and innovation (RRI) „Responsible research and innovation is an
approach that anticipates and assesses potential implications and societal expectations with regard to research and innovation, with the aim to foster the design of inclusive and sustainable research and innovation.“ (Horizon 2020)
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Opener
Interdisziplinäre Perspektiven Verantwortung an der RWTH Aachen „In den Wirtschafts-
wissenschaften bilden wir zukünftige Führungskräfte aus, die damit eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft einnehmen. Verantwortung bedeutet in diesem Zusammenhang über den wirtschaftlichen Erfolg hinaus zu denken und das Wohl der anvertrauten Menschen, der zukünftigen Generationen sowie unserer natürlichen Umwelt in die Entscheidungskalküle mit einzubeziehen. Gerade bei den immer wieder auftretenden Interessenskonflikten erfordert Verantwortung damit Mut, sich kurzfristigem und egoistischem Denken entgegenzustellen und insbesondere unsere gewachsenen Institutionen zu schützen.“
„Der Aachener Maschinenbau
bekennt sich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt, indem er auf Nachhaltigkeit und Energieeffizienz setzt. Jeden Tag arbeiten wir daran, die Welt mit Hilfe unserer Forschungsergebnisse zu verbessern und dabei die Gesellschaft im Allgemeinen sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs im Speziellen zu unterstützen und für ein verantwortungsvolles Handeln auszubilden.“ Jörg Feldhusen
Dekan der Fakultät für Maschinenwesen RWTH Aachen
Peter Letmathe
Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften RWTH Aachen
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„Die Verantwortung für den
Gegenstand, die Ausgestaltung und den Nutzen von Forschung liegt bei den individuell handelnden Persönlichkeiten meiner Fakultät. Meine Verantwortung als Dekan liegt darin Arbeitsbedingungen zu ermöglichen, die relevante Forschung erlauben und die Freiheit in Forschung und Lehre gewähren.“ Ulrich Simon
Dekan der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften RWTH Aachen
Ve r a n t w o r t u n g , Te c h n i k & W i s s e n s c h a f t „Für alle Mitglieder der
RWTH Aachen gilt: Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre, festgeschrieben in Art. 5 des Grundgesetzes, ermöglicht uns Gestaltungsspielraum für unsere Arbeit, für die Entwicklung neuer Ideen und die Diskussion kontroverser Meinungen. Es ist ein hohes Gut, das zugleich ein hohes Maß an Verantwortung für unser persönliches Handeln mit sich bringt. Ob es um die Auswahl von Forschungsthemen geht, den Umgang mit Projektpartnern oder die Vermittlung von Wissen in der Lehre – Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung.“ Ulrich Rüdiger
Rektor der RWTH Aachen
„Für die Philosophische Fakultät
stellt die Frage nach der Verantwortung eine fortlaufende und herausfordernde Aufgabe dar. Neben den an einer Universität relevanten Rollenverantwortlichkeiten – man hat z.B. als Professor_ in eine Verantwortung gegenüber Kolleg_innen und Studierenden – geht es darum, verantwortungsvolle Forschung inmitten gesellschaftlichen Wandels zu praktizieren. Dafür steht das von der Philosophischen Fakultät verantwortete Human Technology Center (HumTec), das die zentrale Plattform der RWTH für avancierte interdisziplinäre Forschung darstellt.“
Was bedeutet Verantwortung in dem Wissenschafts- und Forschungsbereich Ihrer Fakultät? „Es bedeutet, die richtigen
Antworten auf Zukunftsfragen der Menschheit zu geben. Die Fakultät für Bauingenieurwesen beschäftigt sich hierbei mit den Themen ‚Anpassung an den Klimawandel‘, ‚Mobilität der Zukunft ‘ und ‚nachhaltiges Bauen und Betreiben von Gebäuden und Infrastrukturen‘. Diese Themen sind gleichermaßen in der Forschung und in der Lehre tief zu verankern.“
„Als Dekan der Medizinischen
Fakultät sehe ich mich verantwortlich für die Weiterentwicklung unserer Forschungsstrategie, und dann für die Sicherstellung der Finanzen und der Infrastruktur für deren Umsetzung.“
Stefan Uhlig
Dekan der Fakultät für Medizin RWTH Aachen
Markus Oeser
Dekan der Fakultät für Bauingenieurwesen RWTH Aachen
Christine Roll
Dekanin der Philosophischen Fakultät RWTH Aachen
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Artikel
Berufsethos in der Wissenschaft Mediziner_innen treffen in ihrer Arbeit auf eine Vielzahl moralischer Fragestellungen. Ein herausragendes Merkmal im Umgang mit diesen ist das Standesethos von Ärzt_innen, welches sich im Rahmen des hippokratischen Eids und seiner Nachfolger formuliert findet. Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern dieser Ansatz in der Medizin noch zeitgemäß ist und Vorbild für Natur- und Technikwissenschaften sein kann und sollte. Der Eid in seiner ursprünglichen Fassung ist uns als Teil des „Corpus Hippocraticum“ aus dem 5. Jahrhundert. n. C. bekannt. Damalige Kernaussagen sind das Anrufen göttlichen Schutzes, das Ehren von Mentor_innen, die Vermeidung von Schaden und Unrecht, der Wert menschlichen Lebens und Vertraulichkeit gegenüber Patient_innen sowie der professionelle Umgang mit ihnen (vgl. Nittis 1940). Es ist unbestritten, dass der hippokratische Eid eine prägende Wirkung auf das Berufsethos von Mediziner_innen hat. Dieser sei auch heute Eckpunkt und Grundlage der medizinischen Berufe. (vgl. Antoniou et al. 2010)
Felix engelhardt mathematik
In der Praxis gibt es selbstverständlich Grenzen der Wirksamkeit: Das Gelöbnis ist nicht rechtskräftig, anders als die ärztliche Approbation oder die Standesgerichtsbarkeit der Kammern. Es bleibt somit ein Leitbild, welches auch selbst den Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen unterworfen ist. Grundsätzliche Kritik greift die Frage auf, ob das Gelöbnis, über das Verständnis als Richtlinie hinaus, überhaupt Antworten auf fundamentale moralische Dilemmata bieten könne oder ob sich solche Probleme nicht ob der ihnen innewohnenden Komplexität einfacher und konsensfähiger Bewertung entzögen (vgl. Vollmann 2017). Dies spiegelt sich auch im Gelöbnis selbst wider. Dieses wurde über die Jahre, neben notwendigen Aktualisierungen, in Bezug auf ursprünglich klar formulierte Reglungen nivelliert. Ein herausragendes Beispiel sei der historische Grundsatz „Tue nichts, was schadet.“, welcher heute im Kontext der Patient_innenautonomie betrachtet werde: Auch medizinisch nicht indizierte Eingriffe (z.B. Geschlechtsumwandlungen) würden so moralisch gerechtfertigt, sofern Patient_innen sie wünschen (vgl. Egler 2003). Bemerkenswert bleibt, dass Egler, selbst Mediziner und emeritierter Professor in Bonn, im Resümee nicht die Abschaffung des Gelöbnisses, sondern ein formalisiertes und verpflichtendes Ablegen des selbigen im Rahmen der Mediziner_innenausbildung fordert.
In der praktischen Umsetzung wurde der hippokratische Eid bereits im Jahre 1948 durch die „Genfer Deklaration des Weltärztebundes“ oder kürzer das „Genfer Gelöbnis“ abgelöst. Selbiges ist in Deutschland, noch vor der Präambel, Teil der Berufsordnung der Bundesärztekammer. Das Gelöbnis wurde über die Jahre immer wieder ergänzt und geändert, zuletzt 2017 um die Anerkennung der Patientenwürde, das freie Teilen medizinischer Erkenntnisse, den Selbstschutz und den Schutz der Umwelt (vgl. World Me- Aber inwiefern lassen sich die diskutierten Konzepte auf Natur- und Technikwissenschaften übertragen? Historisch dical Association 2018). gesehen ist dies zunächst keine neue Idee. Bereits 1962 haben die Professoren Brüche und Luck die vorgestellte Frage im renommierten Physik-Journal „Physikalische Blätter“ diskutiert (vgl. Luck 1962). Im Folgenden gab es 24
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eine ganze Reihe von Veröffentlichungen diesbezüglich (vgl. Luck/Goubeau 1963; Luck 1975). Luck, der die Debatte federführend vorantreibt, formuliert auch einen ersten Entwurf für einen Eid: „Nach bestem Wissen und Können werde ich alle meine Kenntnisse nur zum Wohl der gesamten Menschheit einsetzen. Nie werde ich ihr irgendwie Schaden oder Unrecht antun. Naturwissenschaft bedeutet für mich, der Natur mit allem meinem Wissen in Ehrfurcht zu dienen.“ (Luck 1975)
Der Philosoph Karl Popper greift das gleiche Argument auf und leitet die Notwendigkeit eines Eids aus den sich ändernden Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Fortschritts ab: „Formerly, the pure scientist or the pure scholar had only one responsibility beyond those which everybody has; that is, to search for truth. […] This happy situation belongs to the past. […] One of the few things we can do is to try to keep alive, in all scientists, the consciousness of their responsibility.“ (Popper 1969)
Greift man Poppers und Lucks Gedanken auf, eröffnet sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Anspruch von Wissenschaft, in der Gesellschaft bedeutend zu sein und der Verpflichtung ihrer selbst, sich mit ethischen Fragestellungen zu beschäftigen und zu solchen zu positionieren. Der vielbeschworene Elfenbeinturm wird zum Schutzraum, dessen Verlassen Wissenschaftler_innen zwingt, die einfache Prämisse und die Sicherheit, dass Wissen gut und Wahrheit richtig ist, aufzugeben. Der Physiker Joseph Rotblat, wel-
cher selbst Beiträge zur Entwicklung der Atombombe leistete und später die Pugwash-Konferenzen mitbegründete, zielt in eine ähnliche Richtung und argumentiert, dass die Grundlage für das Fehlen moralischer Aspekte im Handeln mancher Wissenschaftszweige auf einer falsch verstandenen Trennung zwischen „reinen“ und „angewandten“ beruhe (Rotblat 1999). Die Verantwortung von Wissenschaftler_innen erstrecke sich stets auch auf die Nutzung ihrer Erkenntnisse (vgl. ebd.). Kann nun ein solcher Eid einen Beitrag leisten, sich einer entsprechenden Verantwortung zu stellen? Hier gilt es zu differenzieren zwischen der rechtlichen Verbindlichkeit, welche auch der hippokratische Eid nicht hat und welche im Kern immer von außen kommt, und der normativen Wirkung, die ein Eid nichtsdestotrotz langfristig entfalten kann. Dass eine normative Wirkung möglich ist, zeigt das Beispiel der Medizin. Dass ein Grundwertekanon in Naturund Technikwissenschaften wünschenswert ist, sei an dieser Stelle angenommen. Festzuhalten ist, dass die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in vielen Fällen kein Teil der Ausbildung darstellt, auch und gerade da, wo es notwendig sei: „They have never been asked to think about ethics, they have never been asked to consider how other people’s perspectives of life might be different to theirs, and ultimately these are the people who are designing the future for all of us.“ (Fry 2019).
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So beschreibt Mathematikerin Hannah Fry die Ausbildung von Absolvent_innen in Natur- und Technikwissenschaften. Hier vermittelt ein Eid zwar an sich noch keine Kompetenzen, er schafft aber Bewusstsein und Raum für Diskurse. Ein solcher Wertekanon kann auch in den Momenten, in denen keine konkreten moralischen Fragestellungen anstehen, eine positive Wirkung entfalten: Nämlich als verbindendes Element über Fachgrenzen hinaus. Denn was macht eigentlich die Identität eine_r Ingenieur_in oder Naturwissenschaftler_in aus? Interdisziplinarität lässt Grenzen zwischen Fachwissenschaften verschwimmen und die Konvergenz natur- und technikwissenschaftlicher Methoden eröffnet stetig neue Anwendungsszenarien. Die Prinzipien des „wie, was und wofür?“ nach denen Wissenschaft erforscht und entwickelt wird, können aber ein solches verbindendes Element sein. Für eine moderne Hochschule könnte ein solches Gelöbnis eine Möglichkeit bieten, etwas zu finden, was Studierende, Mitarbeiter_innen und Alumni verbindet – jenseits des modischen Hoodies oder der Anzahl an Creditpunkten in Mathematik oder Mechanik: Die Idee einer gemeinsamen Vision zur Verbesserung der Gesellschaft, nicht nur im Forschen, sondern auch im Lehren, Lernen und Denken. Am Ende wird ein Gelöbnis nie hand-, hieb- und stichfest sein, aber es hätte das Potential, trotzdem zu wirken. Und es gibt einen Weg, dies herauszufinden.
Antoniou, S.; Antoniou, G.; Granderath, F.; Mavroforou, A.; Giannoukas, A.; Antoniou, A. (2010): Reflections of the Hippocratic Oath in Modern Medicine. In: World Journal of Surgery. 34. Jg. 2010/12. S. 3075–3079. Egler, F.W. (2003): Der hippokratische Eid: Ein zeitgemäßes Gelöbnis? In: Deutsches Ärzteblatt. 100. Jg. 2003/34–35. Luck, W. (1962): Hippokratischer Eid für Naturwissenschaftler: Ein Gespräch mit Dr. Luck (Ludwigshafen). In: Physikalische Blätter. 18. Jg. 1962/12. S. 587–591. Luck, W. (1975): Hippokratischer Eid für Wissenschaftler. In: Physikalische Blätter. 31. Jg. 1975/06. S. 275. Luck, W.; Goubeau J. (1963): Hippokratischer Eid für Naturwissenschaftler. In: Physikalische Blätter. 19. Jg. 1963/07. S. 330–335. Matteucci, R.; Gosso, G.; Peppoloni, S.; Piacente, S.; Wasowski, J. (2012): A Hippocratic Oath for Geologists? In: Annals of Geophysics. 55. Jg. 2012/03. S. 365–369. Nittis, S. (1940): The authorship and probable date of the Hippocratic Oath. In: Bulletin of the History of Medicine. 8. Jg. S. 1012–1021. Popper, K. (1969): The Moral Responsibility of the Scientist. In: Encounter. S. 52–56. Rotblat, J. (1999): A Hippocratic Oath for Scientists. In: Science. 286. Jg. 1999/5444. S. 1475. Vollmann, J. (2017): Keine verbindliche Antwort auf ethische Probleme. In: Deutschlandfunk Kultur, 02.12.17. Online verfügbar unter: https:// www.deutschlandfunkkultur.de/neuer-hippokratischer-eid-keine-verbindliche-antwort-auf.1008.de.html?dram:article_id=402162 [Zugriff: 14.11.2019]. World Medical Association (2018): WMA Declaration of Genova. In: www.wma.net, 09.07.18. Online verfügbar unter: https://www.wma.net/ policies-post/wma-declaration-of-geneva/ [Zugriff: 14.11.2019].
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Artikel
Ve r a n t w o r t u n g , Te c h n i k & W i s s e n s c h a f t
Künstliche Intelligenz Ein Paradigma wissenschaftlicher Verantwortung(-slosigkeit)
„Die Entwicklung Künstlicher Intelligenz könnte entweder das Schlimmste oder das Beste sein, was den Menschen passiert ist.“ – Stephen Hawking (1942–2018) Mit diesen Worten warnte der berühmte Physiker Hawking vor der neuen revolutionären technologischen Entwicklung auf der Web-Summit 2017 in Lissabon. Künstliche Intelligenz (KI), ihre Entwicklung und ihr zukünftig geplanter Einsatz scheinen die Wissenschaft, die Politik und die Öffentlichkeit zu polarisieren. Seit Jahren wird sie in Science-Fiction-Filmen für die Darstellung apokalyptischer Endzeitszenarien und Dystopien instrumentalisiert, dabei besteht eine offensichtliche technikskeptische Tendenz, welche die irreversiblen und destruktiven Konsequenzen dieser Technik hervorhebt. Vor diesem Hintergrund scheint der Begriff „Künstliche Intelligenz“ an sich für viele bereits negativ geladen und vorbelastet zu sein, zumal es oft assoziativ für den Kontrollverlust und das damit einhergehende Gefühl des Ausgeliefert-Seins steht. KI wurde bisher fast ausschließlich in dem Kontext dieser technikdeterministischen Zukunftsvisionen und Katastrophenszenarien thematisiert. Überwachung und Kontrollverlust sind wiederkehrende elementare Aspekte, die seit Orwell und Huxley zentral für die Bedrohung des Endes der Menschheit bzw. des Menschseins stehen. Der umfassende Einsatz von KI in unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbereichen und vor allem der damit befürchtete Verlust an Arbeitsplätzen navigiert den bisherigen öffentlichen Diskurs bezüglich der KI. In diesem Kontext erfährt auch die Technikfolgenabschätzung eine zunehmende Bedeutung, da mit der KI oft eine Emanzipierung der intelligenten Systeme und daraus resultierende irreversiblen Folgen befürchtet wird. Hierbei trägt das Prinzip der Verantwortung seitens der Wissenschaft eine 27
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Gesellschaftswissenschaft
zentrale Bedeutung. Denn geplant wird eine zunehmende Delegation von intelligenten Tätigkeiten an Maschinen (vgl. Brockman 2017: 534). An dieser Stelle gilt der von Armin Grünwald initiierte Diskurs bezüglich Technikethik als äußerst signifikant, denn diese umfasst die „ethische Reflexion auf die Bedingungen, Zwecke, Mittel und Folgen des technischen Fortschritts“ (Grunwald 2009). In diesem Zusammenhang bilden Technikkonflikte mit ihren moralischen Implikationen wichtige Ansatzpunkte und Problemkonstellationen, die dabei neben der Entwicklung und Nutzung von gewissen Technologien auch darauf basierende Zukunftsvorstellungen, Menschenbilder und Gesellschaftsentwürfe umfassen (Gethmann/Sander 1999). Zumeist fungieren neue Techniken, Technologien oder Großtechnologien als Untersuchungsgegenstände für die Technikfolgenabschätzung, die entweder moralische Fragen aufwerfen, zu deren Beantwortung die gesellschaftlichen Üblichkeiten nicht ausreichen, oder die zu moralischen Konflikten führen. Doch im Kontext der KI ist die Frage nach Verantwortung von zentraler Bedeutung. Wer wird die Verantwortung tragen, wenn Dinge schiefgehen, wenn autonome Autos Unfälle verursachen, wenn Profiler-Algorithmen ethnische Minderheiten in ihren Kriminalitätsprognosen diskriminieren, wenn Menschen zum übermäßigen Konsum manipuliert werden? Die Ausführung von aufwändigen Tätigkeiten seitens intelligenter Systeme für effizientere Prozessabläufe scheint sich zwar im ersten Moment harmlos anzuhören. Doch die Verantwortung, die damit einhergeht, scheint im Rahmen der KI bisher missachtet zu bleiben und somit eine Verantwor-
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tungslücke zu erweisen. Denn im Gegensatz zu Maschinen trägt der Mensch eine moralische Verantwortung für sein Handeln und kann gegebenenfalls dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Doch während die menschliche Intelligenz zu autonomer Bearbeitung gewisser Aufgaben an Maschinen übertragen werden kann, ist die Übertragung der damit einhergehenden Verantwortung und moralischen Pflicht komplizierter als gedacht. Die moralische Urteilskraft ist zu abstrakt und intuitiv, um in eine Maschine einprogrammiert werden zu können, daher erscheint die Moralisierung der KI zunächst nicht realisierbar (vgl. Lenzen 2018: 144). Zudem sind die negativen Folgen oft nicht ganz kalkulierbar und selbst abstrakte dystopische Vorstellungen eines Superalgorithmus lassen sich nicht konkret ausschließen. Ausgelöst wird dieser Alarmismus von den Informationsasymmetrien, die zwischen dem Nutzer und den intelligenten Systemen herrschen und der daraus resultierenden Intransparenz der Prozessabläufe innerhalb der Systeme (vgl. Hagendorff 2017: 122). Oft wird in diesem Zusammenhang auch die tatsächliche Intelligenz dieser intelligenten Systeme vom Nutzer durchaus überschätzt, wodurch auch das Gefühl des Ausgeliefert-Seins suggeriert wird.
Dafür bedarf es der Vergegenwärtigung, dass es immer noch Menschen sind, die KI entwickeln. Denn Wissenschaftler und Bürger verfügen gemeinsam über die Macht diese Entwicklung in eine bestimmte moralbewusste Richtung zu lenken. Ein wegweisender Ansatz in diese Richtung ist das Moral Machine Experiment (vgl. Awad et al. 2018). Hierbei wurden anhand eines Serious Game diverse moralische Präferenzen aus verschiedenen Ländern weltweit gesammelt. Hiermit sollte dem Nutzer ermöglicht werden, die Moralvorstellungen der Maschine der geografischen oder demografischen Zuordnung entsprechend zu wählen. Dies war ein Versuch dem Vorbehalt der mangelnden universalen Moral zur moralischen Programmierung der Maschinen entgegenzukommen. Denn das Experiment ambitionierte einen öffentlichen Diskurs bezüglich moralischer Vorstellungen, der die geografisch oder demografisch auftretende Differenzen nicht als Hürde, sondern als Chance für eine einheitliche Durchsetzung moralischer Werte erfasst (vgl. ebd.: 63). Da Maschinen im Gegensatz zu Menschen ausnahmslos den Regeln folgen, zur dessen Verfolgung sie programmiert wurden, lassen sie sich dabei nicht spontan von Impulsen, Gefühlen oder Instinkten verleiten.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung fand in der vom FuDabei stellt sich die Frage, inwieweit die Wissenschaft tat- ture-of-Life-Institute im Jahre 2017 organisierten Asilosächlich eine Verantwortungsbereitschaft im Kontext der mar-Konferenz statt, hierbei wurde ein Leitfaden für eine Entwicklung der KI aufweisen kann, insbesondere mit Rück- wohltätige Entwicklung der KI-Forschung niedergeschriesicht auf den militärischen Ursprung der KI-Forschung. ben (vgl. Future of Life Institute 2017). In der Konferenz Inwiefern könnten Wissenschaftler einer möglichen Zweck- kamen viele führende und einflussreiche Größen der KI-Forentfremdung der KI für destruktive Ziele entgegensteu- schung wie Elon Musk und Eric Schmidt zusammen, woern oder bereits in der Entwicklungsphase diesbezüglich durch die Konferenz auch eine mediale Aufmerksamkeit Maßnahmen ergreifen? Vor allem im Bereich der KI ist erfuhr. Dies markierte den ersten Schritt der KI-Forschung die menschliche Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit oft im Hinblick auf die Entwicklung der KI anhand moralischer umstritten und die Möglichkeit, dass sie sich der mensch- Richtlinien. Dennoch kristallisierte sich auch in diesem Rahlichen Kontrolle entzieht, kann nicht ganz ausgeschlossen men ein mangelnder Konsens über zukünftige Gefahren der werden. Daher erscheint die Verantwortbarkeit der Entwick- KI heraus (vgl. Lenzen 2018: 245). lung dieser Technologie, deren negative Konsequenzen und Folgeerscheinungen als undurchschaubar und unkalkulierbar Insbesondere im Kontext des militärischen Einsatzes von bezeichnet werden, seitens der Wissenschaft und Forschung KI anhand intelligenter Waffen und autonomen Drohnen äußerst kritisch und lückenhaft. Die ultimative Frage lau- ist die Frage nach der Moral äußerst bedeutend. Selbst der tet: „Wie bringt man Maschinen dazu, so zu agieren, dass Akt des Tötens könnte durch die Entpersonalisierung und dies mit unseren Moralvorstellungen übereinstimmt?“ (vgl. Automatisierung, die diese intelligente Technik ermöglicht, Lenzen 2018: 142). der Verantwortung entzogen werden. Letztlich impliziert 28
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eine Entscheidung auch zugleich eine Verantwortung über dessen Folgen und Konsequenzen. Doch wenn wir Maschinen die Entscheidung über menschliches Leben lassen, wird die Kluft zwischen Ethik und Technik nicht mehr zu überbrücken sein. Hierbei kommt der Wissenschaft eine große Verantwortung zu, da sie die Forschung und Entwicklung an intelligenten und autonomen Waffentechnologien zurückweisen oder zumindest einschränken könnten. Denn sobald diese Technologien entwickelt werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ungenutzt bleiben, sehr gering (vgl. Bauman/ Lyon 2013: 110). Dennoch ist die Situation nicht ganz so aussichtslos wie sie häufig dargestellt wird. Die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod wird nicht an Maschinen delegiert, denn die Algorithmen, die darüber entscheiden, werden von Menschenhand programmiert. „Auch wenn sie lernen, lernen sie nach Regeln, die von Menschen bestimmt wurden“ (Grunwald 2018). Die Verantwortung bleibt und sollte auch zukünftig beim Menschen bleiben, nur wird dies in Zukunft im Kontext der KI eine unterschiedliche Akteurskonstellation und Prozessdynamik annehmen müssen.
Awad, E.; Dsouza, S; Kim, R.; Schulz, J.; Henrich, J.; Shariff, A.; Bonnefon, J.-F.; Rahwan, I. (2018): The Moral Machine experiment. In: Nature. 563(7729). S. 59–64.
Somit stehen wir im Bereich der KI vor einer großen Herausforderung in Bezug auf Moral, Verantwortung, Datenschutz, Sicherheit und Freiheit (vgl. Lenzen 2018: 159). Die Öffentlichkeit scheint im Hinblick auf die Gegenwart der KI vom Alarmismus und daraus resultierenden dystopischen Vorstellungen der Autonomie und Kontrollverlusten geplagt zu sein. Daher sind die Forderungen nach gemeinwohlorientierter Regulierung der Technikentwicklung seitens Politik und Recht nicht überraschend. Schließlich bedarf die Wahrung moralischer Grundsätze in der Zukunft der KI einer erfolgreichen Kooperation zwischen Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, die sich gemeinsam um eine gemeinwohlorientierte Technikentwicklung bemühen. Denn wenn das Streben nach technischem Fortschritt die Ethik und Moral besiegt, wird die Entwicklung der KI alles andere als das Beste sein, was den Menschen je passiert ist.
Hagendorff, T. (2017): Das Ende der Informationskontrolle: Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz. Bielefeld: transcript Verlag.
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Bauman, Z.; Lyon, D. (2013): Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin: Suhrkamp, 4. Auflage 2018. Brockman, J. (Hg.) (2017): Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über intelligente Maschinen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Future of Life Institute (2017): Die KI-Leitsätze von Asilomar. Online verfügbar unter: https:// futureoflife.org/ai-principles-german/ [Zugriff: 01.11.2019]. Gethmann, C. F.; Sander T. (1999): Rechtfertigungsdiskurse. In: Grunwald A. et al. (Hg.): Ethik in der Technikgestaltung. Berlin: Springer Verlag. S. 117–151. Grunwald, A. (2009): Zum Handlungsbegriff in Technikphilosophie und Technikethik. In: www. widerstreitsachunterrricht.de, Ausgabe 12, März 2009.
Lenzen, M. (2018): Künstliche Intelligenz. Was sie kann & was uns erwartet. München: C.H. Beck.
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Artikel
Die Underdogs der Verantwortungsträger
Julia Kreklau
Bauingenieurwesen
Bauwerke werden oftmals als selbstverständlich wahrgenom- um die Erfüllung von technischen Anforderungen. In der men und doch spielen sie eine so zentrale Rolle in unserem Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Leben. Seit bereits etlichen Jahren in der Menschheitsge- zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Verschichte werden sie überall auf der Welt geschaffen. Sie be- marktung von Bauprodukten werden dafür einige Grungleiten uns fortwährend und ohne sie wäre ein Leben, wie wir danforderungen an Bauwerke definiert, welche bei normaler es kennen, nicht möglich. Denn seit jeher dienen sie einem Instandhaltung und über einen wirtschaftlich angemesseganz bestimmten Zweck: Sie schützen uns vor den äuße- nen Zeitraum zu erfüllen sind (vgl. Europäisches Parlament ren Witterungseinflüssen, sie symbolisieren Sicherheit und und Rat 2011: 33). bieten einen Rückzugsort, ein Heim. Doch mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir ihnen in unserem Alltag Daraus ergibt sich eine große Verantwortung, der gerade begegnen, empfinden wir auch ihre Funktionalität – ohne zu auch im Zeitalter der Technik und Digitalisierung eine hohe bemerken, dass wir ihnen damit ein großes Vertrauen ent- Bedeutung zukommt. Denn im Einklang mit dem stetigen gegenbringen; in die Tragfähigkeit und letztendlich in den Wandel, besonders auf Ebene der Wissenschaft und Technik, Schutz, den sie uns versprechen. Dieses Vertrauen in unse- werden unsere Gebäude immer komplexer. Daraus ergeben re Bauwerke bedeutet aber gleichzeitig auch ein Vertrauen sich hohe technische Standards, die eine perfekte Ausfühin die Ingenieure und Architekten. Denn letztendlich sind rung sowie ein besonderes Maß an Fachwissen erfordern (vgl. Bauwerke nichts anderes als ein Ausdruck des menschli- VÖV Rückversicherung KöR: 1). Dies führt zudem dazu, dass sich die Anforderungen an die Bauwerke und zeitgleich chen Schaffens. auch die Aufgabenfelder – und damit der VerantwortungsWorin besteht also die Verantwortung der Menschen, die bereich – der Bauingenieure stetig ändern bzw. erweitern. für den Bau unserer Gebäude zuständig sind und wie weit Doch der Verantwortungsbereich im Bauingenieurwesen reicht diese? darf sich nicht nur auf die technische Ebene beschränken, In dem Verantwortungsbereich der Bauingenieure liegen vor denn er geht ganz klar darüber hinaus. Von besonderer Beallem Konzeptionierung und Planung, Bau und Betrieb, Or- deutung ist zum Beispiel auch die Lebensdauer der Bauwerganisation und Erhalt – sowohl von Gebäuden als auch von ke, ein wesentlicher Aspekt im Kontext von Nachhaltigkeit. Infrastrukturen (vgl. Schaumann 2014: 106f.). Dabei sind sie Denn Bauingenieure müssen sich bewusstmachen, dass sie Spezialisten in ihrem Fach und setzen sich auf Ebene der mit ihren Arbeitsergebnissen das Erscheinungsbild unseTechnik mit rational erfassbaren Angelegenheiten ausein- res Planeten mitgestalten und diesen langfristig prägen bzw. ander (vgl. Scheffler2019: 5). Inhaltlich geht es dabei meist verändern. 30
Ve r a n t w o r t u n g , Te c h n i k & W i s s e n s c h a f t
Grundanforderungen an Bauwerke 1.
Mechanische Festigkeit und Standsicherheit
2.
Brandschutz
3.
Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz
Im Hinblick auf die zunehmenden und 4. Sicherheit und Barrierefreiheit bei der Nutzung aktuellen Debatten über Klimaschutz und Umwelt und in einer Zeit, in der das Ver- 5. Schallschutz ständnis für Nachhaltigkeit immer weiter 6. Energieeinsparung und Wärmeschutz in den Fokus der Aufmerksamkeit der Ge- 7. Nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen sellschaft rückt, kann sich auch die Baubranche diesem Thema nicht mehr entziehen. Doch neben den augenscheinlichen Auswirkungen, die das Bauen selbst und im Anschluss der Betrieb von Gebäuden auf unsere Umwelt bzw. die Natur hat, wird oft eine ganz wesentliche Dimension übersehen: der Mensch. Das Problem ist oft eine irreführende Auffassung des Begriffes „Umwelt“. Im vorliegenden Kontext soll die Umwelt als ein den Menschen einschließender Begriff verstanden werden. Denn das Bauwesen tritt in Interaktion mit seinem gesamten Umfeld, d.h. der Natur genauso wie dem Menschen. Bauingenieure sind an der Erstellung von unveränderlichen, festgeschriebenen Strukturen beteiligt, welche sich langfristig auf Gesellschaft und Ökologie auswirken (vgl. Scheffler 2019: 4). Friedrich Rapp erkannte dazu passend, dass die bei der rationalen Ausübung von technischen Berufen entstehenden Ergebnisse, wie es auch im Bauingenieurwesen der Fall ist, „oftmals ohne Rücksicht auf die darüberhinausgehenden Resultate in den Strom des sozialen und kulturellen Geschehens entlassen [werden], wo sie ihre eigene, über die ursprüngliche Zielsetzung hinausführende, unkontrollierte und vorher nicht absehbare Wirksamkeit entfalten“ (Rapp 1993: 34).
Demnach ist der Forderung nach Nachhaltigkeit der Bauwerke ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Schaumann 2014: 108). Dafür gibt es bereits verschiedene Ansätze zur Beurteilung der Nachhaltigkeit von Gebäuden, welche das Verständnis des Nachhaltigkeitsbegriffes (basierend auf dem Brundtland Bericht 1987) durch die Inklusion der Dimension ‚Mensch‘, bestätigen. Gemeint ist hier die soziale Verantwortung. Biskaya-Brücke Vom Ingenieur und Architekt Alberto Palacio Elissague entworfen. Die BiskayaBrücke wurde 1893 eröffnet und ist somit die älteste Schwebefähre der Welt. 2006 wurde sie als Weltkulturerbe von der UNESCO anerkannt. Foto: Cristina García Mata
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Konzentriert man sich also auf den Menschen, dem die Bauwerke letztendlich gewidmet sind, erscheint es logisch, dass sich mit seiner Entwicklung auch die Bauwerke entwickeln und sich den ändernden sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen Gegebenheiten und Lebensbedingungen anpassen müssen. Der Menschen verbringt aktuell bis zu 90% seiner Zeit in Bauwerken (vgl. Lemaitre 2017: 6). Das heißt Bauwerke sind also in eines jeden Menschenleben nahezu dauerhaft präsent und gestalten somit unseren Alltag, unser Berufsleben – sie sind ein Zuhause. Demnach können und sollten sie nicht nur als reine Nutzobjekte empfunden werden. Bauwerke prägen unsere Gesellschaft und sind durch unsere Kultur geprägt, sie lassen Rückschlüsse auf unsere Geschichte zu und sind Teil einer bevorstehenden Zukunft. Der Bauingenieur Volker Hahn ist überzeugt, dass ein Gemeinschaftsgefühl sogar erst durch Bauwerke entstehen kann und folglich ohne sie ein Gemeinwesen auseinanderstrebt (vgl. Hahn 2000: 10). Wenn der Menschen aufgrund von Bauwerken ein Gemeinschaftsempfinden entwickelt bzw. verspürt, wird auch von einer sogenannten „Baukultur“ gesprochen. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Bauwerke beispielsweise zu Kulturgütern werden. Am bekanntesten sind wahrscheinlich die Ruinen der ehemaligen Stadtfestung in Akropolis oder das Kolosseum in Rom. Kulturgüter befinden sich aber nicht nur in Ländern wie Griechenland oder Italien, sie befinden sich meist auch in unmittelbarer Nähe, so wie z.B. der Elisenbrunnen in Aachen. Die Existenz solcher Bauwerke währt dabei über ihren ursprünglichen Zweck hinaus (vgl. Schaumann 2014: 108). Dennoch muss zunächst immer ein Grundstein für dieses erweiterte Verständnis der Bauwerke gelegt werden, welcher auch gleichzeitig eine notwendige Bedingung für die Nutzung durch den Menschen ist: die Sicherheit. Aus Sicht der Technik wird diese Anforderung meist anhand des Begriffs der „Standsicherheit“ beschrieben und ist ein ganz wesentlicher, wenn nicht sogar der bedeutendste Bereich der Verantwortung im Bauingenieurwesen. Dies wird auch in der Bauproduktenverordnung bestätigt: „Bauwerke müssen als Ganzes und in ihren Teilen für deren Verwendungszweck tauglich sein, wobei insbesondere der Gesundheit und der Sicherheit, der während des gesamten Lebenszyklus der Bauwerke involvierten Personen Rechnung zu tragen ist.“ (Europäisches Parlament und Rat 2011: 33)
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Durch ihre Unabdingbar- und Erforderlichkeit gehört die Standsicherheit damit zweifelsfrei zu den Grundanforderungen an Bauwerke. Die Pflicht, die sich daraus ergibt, sollte aber nicht nur auf rein technischer Ebene, sondern auch – oder vor allem – als Pflicht gegenüber den Menschen verstanden werden. Hier wird deutlich, dass technische und soziale Ansprüche im Bauingenieurwesen nicht klar voneinander abzugrenzen sind, sondern miteinander korrelieren. Die Notwendigkeit und Folgenschwere bei Missachtung der Pflicht der Sicherheit zeigen aktuelle Geschehnisse, wie z.B. der Brückeneinsturz in Genua am 13. August 2018. Leider ist das nicht der einzige Fall, in dem es zum Versagen der Standsicherheit eines Bauwerks kommt, wodurch das Leben von Menschen gefährdet oder sogar beendet wird. Solche Baukatastrophen mit ihren gravierenden Folgen, der Gefährdung menschlichen Lebens, geschehen immer wieder überall auf der Welt.
Europäisches Parlament und Rat (2011): Bauproduktenverordnung. In: Amtsblatt der europäischen Union.
Im Nachgang erscheint es sinngemäß, die Berufsbezeichnung bzw. den Titel „Bauingenieur“ auszutauschen und ihn durch die aus dem angelsächsischen Raum stammende Bezeichnung „ziviler Ingenieur“ zu ersetzen. Dadurch wird doch viel eher ihre Aufgabe beschrieben, „die natürliche Umwelt in aller Umsicht planmäßig und absichtsvoll zum Zwecke eines guten, bequemen und sicheren Lebens zu formen und umzugestalten“. Denn genau das beschreibt den zivilen Belang, dem ebendiese mit ihrem Beruf nachkommen. (vgl. Scheffler 2019: 8)
Scheffler, M. (2019): Moralische Verantwortung von Bauingenieuren. Wiesbaden: Springer Verlag.
Wir stellen fest, dass die Verantwortung, die mit dem Beruf der zivilen Ingenieure einhergeht, eine sehr umfassende und vielfältige Verantwortung ist. Sie darf nicht auf den technisch-fachlichen Bereich begrenzt werden. Vielmehr bedarf es eines Verständnisses seitens der zivilen Ingenieure für ökologische und soziale Wirkungsbereiche, da sie durch ihr Wirken direkten Einfluss auf unsere Umwelt, Gesellschaft und Natur nehmen. Dementsprechend sollten sie sich immer mit den gesellschaftlichen und ökologischen Ansprüchen und Auswirkungen ihrer Schöpfungen auseinandersetzen. Zum Schluss bleibt uns als Nutzer der Bauwerke nur zu hoffen, dass unsere zivilen Ingenieure stets mit Umsicht sowie neuen Denkweisen und erweiterten Zielsetzungen praktizieren (vgl. Scheffler 2019: 5f.). Denn sie „haben einen wesentlichen Anteil an der technischen Entwicklung der Welt, tragen aber auch große Verantwortung an der Schädigung der natürlichen Umwelt.“ (VDI, UNESCO, WFEO 2000: 16) 33
Hahn, V. (2000): Einführung. In: Der Bauingenieur und seine kulturelle Verantwortung. Stuttgart: Stiftung Bauwesen. S. 7–10. Lemaitre, C. (2017): Sinnvoll wohnen. In: Wohnen der Zukunft, März 2017. Online verfügbar unter: https://bc-v2.pressmatrix.com/ en/profiles/434ff880f16c-alle-publikationen/ editions/wohnen-der-zukunft-vernetzt-hochwertig-effizient/pages [Zugriff: 03.12.2019]. Rapp, F. (1993): Die normativen Determinanten des technischen Wandels. In: Lenk, H.; Ropohl, G. (Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart: Reclam. 2. Auflage. S. 34. Schaumann, P. (2014): Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen. In: Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren. Wiesbaden: Springer VS. S. 105–112.
Verein Deutscher Ingenieure (VDI), United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation (UNESCO) und der World Federation of Engineering Organizations (WFEO) (2000): Memorandum zum ersten Weltingenieurtag 2000 vom 19.–21. Juni. Hannover. VÖV Rückversicherung KöR (2016): Berufshaftpflicht Architekten/Ingenieure. World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future. New York: Oxford University Press.
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Artikel
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Merle riedemann Medizin
In Deutschland sind Gentests ohne begründeten Verdacht verboten – außer in der Schwangerschaft. Warum ist das so und welche Verantwortung ergibt sich daraus? Ab wann ist ein Kind krank und wo ist die Grenze zur Gesundheit? Ist es in Ordnung, Eltern ein Leben mit einem beeinträchtigen Kind zuzumuten, weil sie sich einen Test nicht leisten konnten? Ist es legitim, ein Baby einem Test zu unterziehen, von dem es keinen eigenen Vorteil haben wird? Im Folgenden soll deshalb die Verantwortung der einzelnen Akteure, also der Eltern, des Arztes, des Staats sowie der Unternehmen, welche nicht-invasive Pränataltests vertreiben, näher beleuchtet werden. Neben den standardmäßigen Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft werden weiterführende Untersuchungen, bei Risikoschwangeren und bei Hinweisen auf eine Komplikation, von der Krankenkasse übernommen. Untersuchungen auf den Wunsch der Eltern hin, müssen als sogenannte IGEL (Individuelle Gesundheitsleistung) selbst bezahlt werden. Zu den beliebtesten IGEL in der Schwangerschaft zählt das Ersttrimester-Screening zur Führerkennung von Trisomie 21 (Down-Syndrom). Dabei werden mit zwei Laborwerten (ß-HCG und PAPP-A) im mütterlichen Blut, dem Alter der Mutter und der Nackenfaltentransparenz (die Dicke des Nackens über der Halswirbelsäule) 90% der Babys mit Down-Syndrom identifiziert, bei einer falsch-positiv Rate von 5% (vgl. Nicolaides et al. 2005). Bei einem positiven Befund wird eine Fruchtwasserpunktion (Amniozentese) oder Biopsie des Mutterkuchens (welcher entgegen seines Namens aus Gewebe des Fötus besteht) zur Sicherung der Diagnose durchgeführt. Die Fruchtwasserpunktion wird bei 34
allen Schwangeren über 35 Jahren auch von der Krankenkasse bezahlt, ohne dass vorher ein Ersttrimester-Screening passiert ist. Ein großer Nachteil der Punktion ist, dass sie in etwa 0,3% (vgl. Beta et al. 2018) zu einer Fehlgeburt führt, weshalb nicht-invasive Pränataltests (NIPT) aufgrund ihrer einfachen Durchführung und der Zuverlässigkeit des Ergebnisses immer mehr an Bedeutung gewinnen. Für einen NIPT wird einer schwangeren Frau üblicherweise ab der neunten Schwangerschaftswoche Blut abgenommen, in welchem immer auch DNA des Fötus vorkommt, und diese auf Chromosomenstörungen hin untersucht. Nicht-invasive Pränataltests sind erst seit wenigen Jahren auf dem Markt und werden von unterschiedlichen Herstellern angeboten. Bei dem PraenaTest etwa, dem derzeit umfangreichsten NIPT auf dem Markt, wird der Fötus nicht nur auf Trisomie 21 (Down-Syndrom), sondern auch auf Trisomien und Monosomien aller anderen Chromosomen getestet, sowie auf Fehlverteilungen der Geschlechtschromosomen/Intersexualität, bei einem negativen Vorhersagewert von 99,68% (vgl. Lifecodexx 2019). NIPTs stellen damit eine quasi risikolose, schmerzarme und praktisch genauso zuverlässige Methode wie eine Fruchtwasserpunktion dar, ein Baby pränatal auf bestimmte Erbkrankheiten zu testen. Ein Nachteil ist jedoch der hohe Preis, welcher bei mehreren hundert Euro liegt und bisher von den Eltern übernommen werden muss. Auch deshalb gibt es in der letzten Zeit Bestrebungen, die Krankenkassen zur Übernahme der NIPTs zu verpflichten, um auch weniger zahlungskräftige Familien am medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen und nicht durch potentiell gefährliche Untersuchungen zu benachteiligen (vgl. Ärzteblatt 2019a, 2019b).
Ve r a n t w o r t u n g , Te c h n i k & W i s s e n s c h a f t
Einerseits sind diese Tests eine deutliche Verbesserung zu den vorherigen Möglichkeiten, andererseits stellt sich auch die Frage, ob umfangreiche genetische Tests standardmäßig vorgenommen werden sollten. Alle Eltern wünschen sich ein gesundes Kind und eine bestmögliche Versorgung schon vor der Geburt. Viele können sich vielleicht vorstellen ein Kind zu bekommen, welches nach der Geburt einige Zeit im Krankenhaus verbringen muss, aber mit der Aussicht, das ganze Leben auf ein beeinträchtigtes Kind auszurichten, das eventuell nie selbstständig werden wird, fühlen sie sich häufig überfordert. Oft entscheiden sich Mütter und Väter deshalb für eine Pränataldiagnostik, um so früh wie möglich Klarheit zu haben. Trotzdem liegt es auch in ihrer Verantwortung, kritisch zu hinterfragen, ob sie alle Möglichkeiten der Pränataldiagnostik nutzen möchten und welche Folgen sich für sie aus einem möglicherweise unerfreulichen Testergebnis ergeben.
Während der Schwangerschaft finden üblicherweise alle vier Wochen bis zur 32. Schwangerschaftswoche und danach bis zur Geburt alle zwei Wochen Untersuchungen statt, um sicherzustellen, dass es Mutter und Kind in der Schwangerschaft gut geht. Dabei werden standardmäßig Blutdruck und Gewicht gemessen, sowie eine Urinprobe auf Krankheiten wie etwa Blasenentzündungen und Nierenprobleme hin untersucht. Ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat wird der Hämoglobinwert bestimmt, um eine Blutarmut frühzeitig zu erkennen und in der fortgeschrittenen Schwangerschaft der Puls des Kindes mit einem Kardiotokogramm (CTG) gemessen, sowie die Lage des Kindes bestimmt. Die Schwangere wird zudem einmalig auf Infektionskrankheiten und Diabetes hin getestet und um die zehnte, zwanzigste und dreißigste Schwangerschaftswoche werden Ultraschalluntersuchungen durchgeführt. (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss 1985)
Hersteller von NIPTs sind Unternehmen, deren Hauptanliegen die Bedienung der Wünsche der Kunden ist, um so die Gewinne zu maximieren. Dennoch sind auch sie dafür verantwortlich ihre Produkte nicht als einfache Bluttests zu vermarkten, welche jede Schwangere in Anspruch nehmen sollte und so ihre Bedeutung zu verharmlosen. Zudem sollten Medizinunternehmen ihre Tests nicht nur so entwickeln, dass sie möglichst viele Krankheiten erkennen, sondern vor allem Richtung Sensitivität und Spezifität hin optimieren, um die größtmögliche Sicherheit des Ergebnisses zu gewährleisten.
Die Regulierung medizinischer Diagnostik ist die überwieInformationen zur Diagnostik erhalten Eltern meist vor al- gende Verantwortung des Staates, welcher die bestmögliche lem über ihren Arzt, dessen Intention der optimale Ge- Gesundheitsversorgung seiner Bürger im Sinne hat. Gleichsundheitszustand seiner Patienten sein sollte. Menschen zeitig kommt dem Staat eine gewisse Rolle als Wächter der ohne medizinische Vorbildung verbinden das Wort „Triso- Moral zu Gute, in der er ethisch fragwürdige Entwicklungen mie“, welches das Vorhandensein von drei statt normal zwei in der Gesellschaft verhindern sollte. Der Staat hat auch die gleichartigen Chromosomen beschreibt, meist ausschließlich Aufgabe, Menschen vor sich selbst zu schützen, etwa durch mit dem Down-Syndrom. Je nachdem welches Chromo- das Gendiagnostik-Gesetz, in dem unter anderem festgelegt somenpaar betroffen ist, können die Folgen von Trisomien ist, dass zu einem Test immer eine genetische Beratung vorallerdings von „kaum/nicht-beeinträchtigt“ bei einem Kline- her und nachher stattfinden muss oder dass ein Arbeitgeber felter-Syndrom, bis „todkrank“ bei einer Trisomie 18 reichen. keine Gentests als Einstellungsuntersuchung durchführen Deshalb ist es absolut unerlässlich, dass der behandelnde darf. Gleichzeitig muss der Staat aber auch gewährleisten, Arzt, als medizinischer Experte, seine Patienten vollum- dass alle Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen, Zufänglich, allgemein verständlich und neutral über pränatal- gang zu modernster Medizin und damit auch genetischer diagnostische Testverfahren aufklärt. Weiterhin sollte der Pränataldiagnostik haben. Arzt sich selbst genau über die diagnostische Sicherheit der Tests informieren und den Eltern korrekte Angaben dazu Im September 2019 beschloss der gemeinsame Bundesausmachen, denn viele Ärzte überschätzen die Nützlichkeit von schuss, dass der NIPT für die Trisomien 21, 18 und 13 ab präventiven Screenings deutlich. (vgl. Wegwarth et al. 2012) 2020 eine Kassenleistung wird, eine Entscheidung, die viel Zudem sollten sie auch darauf hinweisen, dass die Patien- diskutiert wurde (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss 2019). ten ein Recht auf Nichtwissen haben und nicht aus mone- Würden NIPTs, welche auf alle numerischen Chromosotären Gründen möglichst viele Untersuchungen empfehlen. menstörungen und gegebenenfalls weitere Gendefekte tesÄrzte sind in der Verantwortung, NIPTs als Verbesserung ten, als reguläre Vorsorgeuntersuchung etabliert, bestünde der bestehenden Pränataldiagnostik zu nutzen und nicht als eindeutig die Gefahr, dass der Druck auf Eltern ein gesunPatentlösung für alle Eltern. des Kind zur Welt zu bringen, noch größer würde. Auf die 35
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Spitze getrieben gar, dass es die Anbieter von Pränataltests durch die Auswahl der Krankheiten, die getestet werden, in der Hand hätten, wie groß die Abweichung von einem „normalen“ Zustand sein darf, damit ein Kind nicht als „krank“ deklariert wird. Um dem vorzubeugen, hat der Bundesausschuss gleichzeitig mit dem Beschluss der Kostenübernahme durch die Krankenkasse auch festgelegt, dass der NIPT nur im begründeten Einzelfall bei einem erhöhten Risiko für eine Trisomie, ab dem 35. Lebensjahr, übernommen wird. Weiterhin soll er als verbesserte Version des Ersttrimester-Screenings eingesetzt werden und nicht als Ersatz invasiver Diagnostik. Auch in Zukunft dürfen die NIPTs nur von Gynäkologen durchgeführt werden, die eine Zusatzqualifikation zur „Fachgebundenen genetischen Beratung“ absolviert haben und ausdrücklich nur mit ausführlicher Beratung der Schwangeren. Der Bundesausschuss fordert auch, dass die Eltern explizit darauf hingewiesen werden, dass es ein Recht auf Nichtwissen, auch auf Teilergebnisse eines NIPTs gibt. Es liegt daher in der Verantwortung der Mediziner, umfassende Aufklärungsgespräche durchzuführen, Wahrscheinlichkeiten und Risiken von Testverfahren korrekt darzustellen und keinen Druck in eine bestimmte Richtung auszuüben, damit die Eltern eine informierte selbstständige Entscheidung treffen können.
Ärzteblatt (2019a): Nicht invasive molekulargenetische Tests werden in bestimmten Fällen Regelleistung, 19.09.2019. Online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/ nachrichten/106130/Nichtinvasive-molekulargenetische-Tests-werden-in-bestimmten-Faellen-Regelleistung [Zugriff: 23.12.2019]. Ärzteblatt (2019b): Pränatale Bluttests: Bundestag diskutiert über mehr als nur die Frage der Kassenleistung, 11.04.2019. Online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/ nachrichten/102326/Praenatale-Bluttests-Bundestag-diskutiert-ueber-mehr-als-nur-die-Frage-der-Kassenleistung [Zugriff: 23.12.2019]. Beta, J.; Lesmes-Heredia, C.; Bedetti, C.; Akolekar, R. (2018): Risk of miscarriage following amniocentesis and chorionic villus sampling: a systematic review of the literature. In: Minerva Ginecologica. 70. Jg. 2018/02. S. 215–219. Gemeinsamer Bundesausschuss (1985): Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung („Mutterschafts-Richtlinien“). Gemeinsamer Bundesausschuss (2019): Nicht-invasiver Test zum Vorliegen von Trisomien als mögliche Alternative zu invasivem Eingriff, 19.09.2019. Online verfügbar unter: https:// www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/810/ [Zugriff: 23.12.2019]. Lifecodexx (2019): PraenaTest® Leistungsbewertung. Online verfügbar unter: https://lifecodexx. com/fuer-aerzte/praenatest-leistungsbewertung/ [Zugriff: 06.12.2019]. Nikolaides, K. H.; Spencer, K.; Avgidou, K.; Faiola, S.; Falcon, O. (2005): Multicenter study of first-trimester screening for trisomy 21 in 75 821 pregnancies: results and estimation of the potential impact of individual risk-orientated two-stage first-trimester screening. In: Ultrasound in obstetrics and gynecology. 25. Jg. 2005/25. S. 221–226. Wegwarth, O.; Schwartz, L. M.; Woloshin; S.; Gaissmaier, W.; Gigerenzer, G. (2012): Do physicians understand cancer screening statistics? A national survey of primary care physicians in the United States. In: Annals of internal medicine. 156. Jg. 2012/06. S. 340–349.
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Verantwortung & Gesellschaft
Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung DIN ISO 26000 Gesellschaftliche Verantwortung beschreibt die Verantwortung einer Organisation für die Auswirkungen ihrer Entscheidungen und Aktivitäten auf die Gesellschaft und die Umwelt durch transparentes und ethisches Verhalten. Zentrales Merkmal gesellschaftlicher Verantwortung ist der Wille einer Organisation, soziale und umweltbezogene Überlegungen in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen und Rechenschaft über die Auswirkungen ihrer Entscheidungen und Aktivitäten auf Gesellschaft und Umwelt abzulegen.
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Prä ambel des Grundgeset zes der Bundesrepublik Deutschl and
Der Begriff ‚gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen‘ (en: corporate social responsibility, CSR) ist den meisten Personen geläufiger als ‚gesellschaftliche Verantwortung‘.
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Opener
Verant[wort]ung Erst denken, dann schreiben
cristina garcia mata technik-kommunikation
Was einen Schriftsteller ausmacht, ist nicht die Handlung ren, sich zu positionieren, zu kämpfen und sich manchmal des Schreibens selbst, sondern die Fähigkeit, die scheinbar un- auch zu irren. wichtigen Dinge der Unklarheiten des Lebens zu abstrahieren. Dies unterscheidet ihn von all den Menschen, die reden Falsch zu liegen, bedeutet jedoch für einen Journalisten, dass und erzählen und vielleicht auch viel zu sagen haben, diese sein Fehler viele verschiedene Menschen erreicht: Die toDinge aber nie aufschreiben und zu einem Text verarbeiten. tale Präsenz der Medien hat Journalisten versehentlich selDer Publizistikwissenschaftler spricht an dieser Stelle von ber mächtig gemacht. Nicht umsonst werden die Medien einer Berufung dazu: Man müsse „ein impulsives Sendungs- als „vierte Gewalt“ bezeichnet (Schulz 2000). Darum ist die bewusstsein und die Triebkräfte publizistischen Wollens Verpflichtung zur Wahrheit in Bereichen wie dem Journalisverspüren“ (Dovifat 1967: 33). Somit wird der Schriftstel- mus und wissenschaftlichem Publizieren durchaus wichtig. ler zum Lehrer, Kritiker und Kommentator unserer Gesell- Der Journalist hat die Verantwortung, seinen Gegenstand schaft: Jemand, der andere Menschen dazu bringt, auf sich zu erforschen bzw. zu recherchieren. Dabei muss er sogar selbst zu schauen und reflektiert zu handeln. Das Wort ist sich selbst erforschen, nämlich den Gegenstand seines Arseine Waffe und das Papier sein Schlachtfeld – und genau tikels. In diesem Sinne bedeutet Schreiben auch Denken. dort liegt seine Verantwortung. Und allein schon daran zu denken, dass das Geschriebene gedruckt wird, fordert die Erkenntnis, dass man als JournaIn der Gruppe der Schriftsteller finden sich jedoch ver- list für die Folgen und Wirkungen von Recherche und Verschiedene Kategorien von schreibenden Menschen, deshalb öffentlichung verantwortlich ist. Letzendlich gibt es „kein konzentriert sich dieser Text auf die Verantwortung des Jour- Tun ohne Täter, keine journalistische Wirkung ohne einen nalisten, die in den Zeiten der Fake News häufig in Frage Handelnden“ (Boventer 1984: 414). Dennoch sollte nicht gestellt wird. vergessen werden, dass der Journalist im Ballwechsel mit dem Leser agiert: Auch unsere Gesellschaft müsste für einen Journalisten erfüllen für die demokratische Gesellschaft verantwortungsvollen Umgang mit den (Massen-)Medien grundlegende Aufgaben: Sie recherchieren, selektieren, be- sensibilisiert werden und eine mehr Boventer, H. (1984): Ethik des arbeiten und veröffentlichen Informationen in Form von oder weniger kritische Lesehaltung Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur. Konstanz: Nachrichten, Beiträgen oder Reportagen. Sie moderieren einnehmen. Universitätsverlag. das Zeitgespräch der Gesellschaft. Durch ihre Interpretationen und Kommentare tragen sie zur Meinungsbildung bei. Die Frage der Verantwortung beim Dovifat, E. (1967): Zeitungslehre. 2 Bände. Berlin: De GruyIm Kern geht es im Journalismus um das Recht zur freien journalistischen Arbeiten verweist ter. 6. Auflage 1976. Meinungsäußerung, „woraus sich Journalisten und Journa- schließlich auf die personale VerantSchulz, A. (2000): Der Auflismus legitimieren und wofür sie eine Verantwortung über- wortung, welche sowohl Handlunstieg der „vierten Gewalt“. Menommen haben“ (Boventer 1984: 381). Für den Journalisten gen als auch Einstellungen betrifft. dien, Politik und Öffentlichkeit ist daher die Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur ein Indi- Die Aufgabe des Journalisten um- im Zeitalter der Massenkommuvidualrecht, sondern auch ein Lebensziel, das durch Praxis fasst dabei, Denken und Tun – in nikation. Historische Zeitschrift 270: S. 65–97. erreicht werden soll. In der Verantwortung des Journalisten diesem Fall Schreiben – nach selbst liegt es, sich ein Herz zu fassen und sowohl über die Stärken ermittelten, rational begründeten Maßstäben auszurichten. als auch die Schwächen der eigenen Gesellschaft zu reden. Und natürlich auch für die daraus entstehende Folgen und Dabei geht es um den Mut über das zu schreiben, worüber Wirkungen einzustehen, zumindest soweit der eigene Handman lieber nichtmal sprechen würde; den Mut, zu fragen, lungsspielraum reicht. was viele nicht beantworten möchten; den Mut zu kritisie40
Artikel
Ve r a n t w o r t u n g & G e s e l l s c h a f t
Quo vadis, Gesellschaft? Schule in der Verantwortung: Bedeutung der politischen Bildung
Yannik Achenbach
Lehramt Englisch/Sozialwissenschaften
Ein Gespenst geht durch Europa – das Gespenst des Rechtspopulismus. Ein aktueller Blick in die Tageszeitungen und Nachrichten genügt, um von diversen Ereignissen Notiz zu nehmen, die unsere gegenwärtige Gesellschaft vor besondere Herausforderungen zu stellen scheint. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die im Allgemeinen zunehmenden rechtsextremistischen Tendenzen innerhalb Europas und der damit einhergehenden Diffamierung von Zugewanderten, die Verunsicherung der Bevölkerung und das Erstarken von rechtsextremem Gedankengut sowie im Umkehrschluss die Gefährdung der demokratischen Grundordnung. In Deutschland sind es rechtsextremistisch motivierte Anschläge wie in Halle oder das Attentat auf den Politiker Lübcke, die keiner weiteren Erläuterungen bedürfen und auf die aktuelle Brisanz verweisen. Diese Tendenzen weisen offenkundig auf Handlungsbedarfe hin, deren Aufarbeitung und Diskussion es bedarf. Mehr denn je stellt deshalb die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen und in der Gesellschaft sowie das Eintreten und die Verantwortungsübernahme für die Demokratie eine elementare Bedingung dar, um diese Anforderungen zu bewältigen. Der Institution Schule kommt als Primärsystem von Sozialisations- und Erziehungsprozessen für die Bürgerinnen und Bürger von morgen ein besonderer Stellenwert zu. Zum einen um auf die aktuellen Tendenzen kompetent zu reagieren und die Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung der individuellen Potentiale zu befähigen. Zum anderen aber auch, um Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen zur Lebensbewältigung und Teilnahme in der Gesellschaft, wie auch zur politischen Partizipation auszustatten. Von ihrer Aufgabe zur Erhaltung der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland zeugt die zuletzt veröffentlichte Empfehlung der Kultusministerkonferenz. Aus dieser geht 41
hervor, dass Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden sollen, sich mit politischen und gesellschaftlichen Konflikten kompetent auseinandersetzen zu können und dazu angeregt werden, für Demokratie, Menschenrechte und Frieden einzutreten. Diese Aufgabe stellt in Anbetracht der angeführten Gegenwartsdiagnosen ein zentrales Momentum von Schule dar. Im Besonderen stellen die Partizipation und die Verantwortungsbereitschaft aller ein besonderes Charakteristikum für eine beständige und lebhafte Demokratie dar. „Ziel der Schule ist es daher […] Werthaltungen und Teilhabe zu fördern sowie zur Übernahme von Verantwortung und Engagement in Staat und Gesellschaft zu ermutigen und zu befähigen“ (KMK 2018: 4). Neben den Zielen der Schulen als solches kommt der schulischen politischen Bildung im besonderen Maße der Stellenwert zu, die Schülerschaft mit entsprechenden Kompetenzen zu versehen, um als mündige Bürgerinnen und Bürger Verantwortung in und für die Gesellschaft zu übernehmen. Die politische Bildung in der Schule leitet junge Heranwachsende dazu an, ihre zugesprochene Position des mündigen Bürgers oder der mündigen Bürgerin in der Gesellschaft zu ergreifen. Diese Form der Teilnahme kann nur gelingen, wenn eine individuelle politische Kompetenz entwickelt wird, die zur Teilnahme an politischen Angelegenheiten befähigt (vgl. Scherr 2010: 303). Das Primat der Mündigkeit meint im Kontext der politischen Bildung, dass Schülerinnen und Schüler fähig sind, sich mit Politik und Gesellschaft eigenständig auseinanderzusetzen, um in der Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbstwirksam handeln zu können (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2016: 15). Die Schule leistet somit durch die Kompetenzentwicklung einen Beitrag, um politische Mündigkeit bei den Schülerinnen und Schülern herbeizuführen. Der Mündigkeitsbegriff geht dabei mit dem Ideal des aktiven, informierten Bürgers einher, der für sich und ande-
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re in der Gesellschaft Verantwortung übernimmt und sich selbständig durch das eigene Tätigwerden in den Diskurs einbringt. Die aktive Teilhabe ist gekoppelt an Reflexionsfähigkeit und die Bildung von Urteilen, um auf entsprechende Situationen eingehen zu können (vgl. Reinhardt 2018: 17). Diesem Anliegen hat sich die politische Bildung verpflichtet. Gesellschaftliche Mündigkeit, die soziale und politische Mündigkeit umfasst, erweist sich somit als Lebensbewältigungsstrategie, die den Schülerinnen und Schüler ermöglicht, als Subjekt der Umwelt eigenverantwortlich Entscheidungen zu fällen und eine entsprechende Haltung in der Gesellschaft einzunehmen.
Lernen einhergehen, aktuelle Gegebenheiten müssen einer Struktur- und Sachanalyse unterzogen werden, Lösungsstrategien ausgearbeitet und im öffentlichen Diskurs artikuliert werden (vgl. Nonnenmacher 2010: 460). Das kann Schule und vor allem politische Bildung nur bewerkstelligen, wenn sie zum einen an Alltagserfahrungen und den Problemen der jungen Heranwachsenden anknüpft, um damit einen lebensweltlichen Zugang zu gewährleisten. Davon ausgehend muss in diesem Zusammenhang dann aber auch auf gesellschaftspolitische Ursachen der Problemlagen eingegangen werden (vgl. Schmiederer 1971: 52). Zum anderen hat sich die politische Bildung der Urteilsbildung zu verpflichten. Im Unterricht müssen Kontroversen Gegenstand politischer Auseinandersetzung sein. Dabei kommt der Gewichtung von unterschiedlichen Argumenten unter Berücksichtigung von analytischen und normativen Urteilen zur Beurteilung eines Problemaufrisses ein besonderer Stellenwert zu. Die politische Bildung in der Schule hat somit den Auftrag den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung politischer Gegebenheiten für das eigene Leben zu vergegenwärtigen und sie dazu zu befähigen, begründete politische Urteile zu fällen (vgl. Massing 2017: 118). Und im Zeitalter der Fridays for Future Bewegung, der Fluchtbewegung und der Radikalisierung, dürfte es an konfliktreichen Zuständen, die zur kritischen Auseinandersetzung im Unterricht anregen, nicht fehlen.
Somit ist der Mündigkeitsbegriff eng an den Begriff der (demokratischen) Verantwortung gekoppelt, der impliziert, sich zur Einhaltung der demokratischen Grundwerte zu verpflichten. Die Schülerinnen und Schüler werden dazu angeleitet, etwas für Andere und das Allgemeinwohl zu tun, sich einzusetzen, durch eigenes Handeln Verantwortung zu übernehmen und für einen friedfertigen Umgang einzustehen. Sie müssen vernehmen, dass ihr eigenes Handeln eine Wirkung erzielen kann, dass ihr Wissen und Können in der Gesellschaft benötigt wird. Nur durch die gemeinsame Verantwortungsübernahme sind die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen. Dazu bedarf es jedoch auch der kritischen Auseinandersetzung mit den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen. Die politische Bildung in der Schule darf nicht dazu verkommen, Wenn die heutigen Schülerinnen und Schüler, die Bürgerinden Status Quo allzu plakativ darzustellen und Sündenbö- nen und Bürger von morgen, bereits in der Schule mit den cke zu suchen. Rechtsextremes Gedankengut ist schon längst entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden, um aksalonfähig geworden und in der Mitte der Gesellschaft tief tuelle Konflikte kritisch zu reflektieren und dazu angeleitet verankert. Den Schülerinnen und Schülern muss benötig- werden, Verantwortung auf der Basis eines friedlichen Mittes Wissen vermittelt werden, das sie zur Problemlösung be- einanders zu übernehmen, kann den gegenwärtigen Tendenmächtigt und sie dazu befähigt, sich selbst einzubringen und zen Einhalt geboten werden. Dann kann das Miteinander in politisch aktiv zu werden. Politisches Engagement muss in der Gesellschaft funktionieren und kommt dem Politikverdiesem Zusammenhang dann zwangsweise mit politischem ständnis von Hannah Arendt nah, das davon ausgeht, dass 42
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sich Politik auf der Pluralität, also der Vielfalt der Menschen, gründet (vgl. Arendt 1993: 9). Und für diese Vielfalt gilt es sich einzusetzen. Genauso wie für die Unversehrtheit aller Menschen in unserer Gesellschaft. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ (ebd.: 28). Diese Freiheit sollte die Handlungsmaxime darstellen. Freiheit bedeutet nicht, dass ein jeder ohne Rücksicht auf Verluste tun und machen kann was er will, sondern dass allen in der Auseinandersetzung mit den Anderen die Möglichkeit zuteilwird, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich im öffentlichen Raum zu betätigen, damit eine gemeinsame Welt gestaltet und verändert werden kann. Das (friedliche) Zusammenleben steht aktuell vor der Gefahr, in ein Pulverfass aus Angst, Hass und Diffamierung überzugehen, das bei dem nächsten Funken zur Explosion führen kann. Es gibt sie aber auch, die Hoffnung, die Hoffnung auf ein respektvolles Miteinander in der Gesellschaft. Dafür sind alle Bürgerinnen und Bürger gefordert, mit ihrem eigenen Handeln für eine bessere Gemeinschaft einzustehen und Verantwortung für demokratische Grundwerte zu übernehmen. Die aktive Teilnahme und Teilhabe können eine Veränderung erwirken, wenn wahrgenommen wird, dass die Gesellschaft aktiv mitgestaltet werden kann. Demokratie ist und bleibt auf den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin angewiesen und bedarf der ständigen Beteiligung. „Allen Beschwörungen ‚unserer Demokratie‘ in Sonntagsreden zum Trotz, ist Demokratie nicht Wirklichkeit, sondern bleibt nach wie vor Aufgabe“ (Salomon 2012: 127).
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Arendt, H. (1993): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München: Piper Verlag. Autorengruppe Fachdidaktik (2016): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Massing, P. (2017): Kompetenzorientierung in der schulischen politischen Bildung. In: Achour/ Gill (Hg.): Was politische Bildung alles sein kann. Einführung in die politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. S. 115–127. Nonnenmacher, F. (2010): Analyse, Kritik und Engagement – Möglichkeiten und Grenzen schulischen Politikunterrichts. In: Lösch/ Thimmel (Hg.): Kritische Politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. S. 459–471. Reinhardt, S. (2017): Politik Didaktik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Verlag. Salomon, D. (2012): Demokratie. Köln: PapyRossa Verlag. Scherr, A. (2010): Subjektivität als Schlüsselbegriff kritischer politischer Bildung. In: Lösch/ Thimmel (Hg.): Kritische Politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. S. 303–315. Schmiederer, R. (1971): Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des politischen Unterrichts. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/ fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf [Zugriff: 12.11.2019].
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Auch soziale Medien wollen erziehen – die Frage ist nur: Wohin erziehen sie? Christina Krüger Soziologie
Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung, in deren Rahmen sowohl Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen als auch eine Kinderärztin zum Sozialisationseinfluss der sozialen Medien befragt wurden. Instagram, Facebook, WhatsApp, Snapchat – soziale Medien sind heutzutage in aller Munde und erfreuen sich großer Popularität. In Deutschland verbringen die Nutzer_innen durchschnittlich 64 Minuten täglich mit der Verwendung sozialer Netzwerke. Vor allem bei Heranwachsenden sind sie besonders beliebt: So nutzten im Jahr 2018 etwa 66% der 10- bis 15-Jährigen und 89% der 16- bis 24-Jährigen soziale Medien (vgl. Rabe 2019). Dabei erfüllen sie für die Heranwachsenden eine Reihe von Funktionen: Neben Kontaktund Kommunikationsmöglichkeiten bieten sie weiterhin unter anderem die Möglichkeit zur Orientierung, Selbstdarstellung und Generierung von Selbstwert (vgl. Krüger 2019: 33–39). Die Verwendung sozialer Medien übt demnach einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die (soziale) Entwicklung heranwachsender Kinder und Jugendlicher aus, der jedoch häufig den Nutzer_innen sozialer Netzwerke selbst nicht bewusst ist. Eine Konsequenz dieses Einflusses ist eine erhöhte Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät, wie erste Untersuchungen von Sidani et al. (2016) und Mabe et al. (2014) zeigen. Doch wer ist verantwortlich für diese Entwicklung? Jede_r, der bzw. die soziale Medien nutzt, ist Teil eines Wechselspiels von Beeinflussung: Man wird nicht nur durch das Nutzungsverhalten anderer beeinflusst, sondern das eigene Nutzungsverhalten beeinflusst gleichwohl andere Nutzer_innen der Plattform. Die Ursache für diese wechselseitige Beeinflussung kann in der Sozialisationswirkung gesehen werden, die jede Handlung in den sozialen Medi44
en ausübt. Hurrelmann (1998) erklärt Sozialisation als „den Prozeß, durch den der Mensch [...] zur sozialen, gesellschaftlich-handlungsfähigen Persönlichkeit wird, indem er in gesellschaftliche Struktur- und Interaktionszusammenhänge (in Familien, Gruppen, Schichten, usw.) hineinwächst“ (ebd.: 275). Die Sozialisation ist demnach eng mit der Internalisierung von „gesellschaftlichen Werten, Normen und Handlungsanforderungen“ (ebd.: 276) verbunden: Der Mensch lernt nicht nur die entsprechenden Werte kennen, er lernt im Laufe des Sozialisationsprozesses auch, diese anzuwenden (vgl. ebd.). Normen, Werte und Handlungsanforderungen werden in den sozialen Medien laufend an die Nutzer_innen vermittelt. Eine der befragten Therapeutinnen erklärt, Aussehen habe in den sozialen Medien „allererste Priorität“ (E2: 79), wobei sie den Erwartungen, welche an Frauen gestellt würden, kritisch gegenüberstehe (vgl. ebd.: 313ff.). Grund dafür sei die Betrachtung der Frau als „Ware“ (ebd.: 315), die einem Mann lediglich gefallen könne, wenn sie diese speziellen Erwartungen erfüllte (vgl. ebd.: 313–316). Ein zweiter Wert, der vermittelt wird, ist Leistung: „Wer hat wieviel wovon?“ (ebd.: 87f.). Soziale Medien suggerierten, man bekomme lediglich dann soziale Anerkennung, wenn man folgende Anforderungen erfülle: „[D]u musst schön sein, du musst dünn sein“ (E7/E8: 208), „[d]u musst beliebt sein, du musst hunderttausend Freunde haben, du musst reich sein“ (ebd.: 212). Neben der Vermittlung von Normen, Werten und Erwartungen spielen Vorbilder eine zentrale Rolle für den Sozialisationsprozess, auch oder gerade im Kontext sozialer Medien. Der Peergroup als wesentlichem Element jugendlicher Sozialisation kommt auch in den sozialen Medien eine wichtige Bedeutung zu. Die sogenannten Influencer_innen stellen dagegen ein neues, jedoch in seinem Einfluss nicht zu unterschätzendes Element dieser speziellen Sozialisationsinstanz dar, wie in den Interviews deutlich wurde. Eine Interviewpartnerin vermutet nicht nur, dass der Erfolg der
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Influencer_innen anziehend auf die Heranwachsenden wir- Wenngleich es sich hierbei um eine stark verkürzte Darstelke (vgl. E3: 158ff.), sondern dass viele von ihnen darin ein lung einzelner Untersuchungsergebnisse handelt, so wird eigenes Ziel sähen: „Ich glaube wirklich, dass es hier einige dennoch deutlich, dass die Verantwortung für die gestiegeKinder und Jugendliche gibt, die als Berufswunsch Influen- ne Prävalenz von Essstörungen durch soziale Medien nicht cer_in haben“ (ebd.: 160f.). Eine andere Therapeutin fasst einer einzelnen Person oder Personengruppe zuzuweisen ist. die anziehenden Eigenschaften folgendermaßen zusammen: Vielmehr tragen alle Nutzer_innen sozialer Medien gleicher„Die sind so schön, die sind so erfolgreich, denen gelingt alles maßen Verantwortung, und das (auch) unabhängig von ihrer sofort, die können sich sehr gut darstellen, die haben viele Followerzahl. Wie auch die befragten Expertinnen betonen, Follower“ (E7/E8: 369ff.). ist der Einfluss der Influencer_innen, bedingt durch deren teils enorme Reichweiten, nicht zu unterschätzen. Doch Doch nicht nur ihre Vorbilder beeinflussen die Heranwach- das Grundprinzip, nach welchem soziale Medien funktiosenden in den sozialen Medien: Sechs der acht befragten nieren, „die schönen Dinge des Lebens“ mit dem sozialen Expertinnen sind der Meinung, dass auf entsprechenden Umfeld zu teilen, fernab zeitlicher und geografischer GrenPlattformen Realität nicht nur abgebildet, sondern vor allem zen – diesem Prinzip folgen wir alle. Denn schließlich kann verzerrt wird. Eine Therapeutin glaubt, dass in den sozialen die Bestätigung, die wir auf diesem Weg erhalten, auch eiMedien eine beschönigende Form der Realität dargestellt nen guten Zweck erfüllen: Sie kann unseren Selbstwert stärwürde (vgl. E7/E8: 163). Speziell für Instagram beschreibt ken. Wichtig ist jedoch immer das Bewusstsein, dass jede eine andere Therapeutin einen ähnlichen Eindruck, wobei Nutzung sozialer Medien, wie auch immer diese Nutzung sie darauf verweist, dass auch pädagogisches Fachpersonal im Einzelfall aussehen mag, andere Menschen nachhaltig von dieser Beschönigung nicht auszunehmen sei: „Auch Pro- beeinflussen kann. Wie wir diesen Einfluss dann gestalten fis, die immer mit Kindern arbeiten, die zeigen sich da so wollen, liegt in unserer Verantwortung. schick, so gestylt, dass da sehr leicht der Eindruck entstehen E1/E2/E3/E7/E8 (2019): Interview mit Kinderkann: Meine Welt ist Tag und Nacht, 24 Stunden, wahnsinnig und Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung spektakulär, aufregend und toll, aber nicht gezeigt wird, wenn im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer ein Problem da ist. Und wie ich mich mit diesem Problem Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der auseinandersetzen muss“ (E1: 130–133). Eine der TheraPubertät“. peutinnen erklärt: „[Es] werden auch nur tolle Ereignisse Hurrelmann, K. (1998): Einführung in die Sozialigeliked oder gepostet. Als wäre das Leben immer nur toll und sationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit. Weinheim und Basel: super“ (E7/E8: 198f.).“ Beltz Verlag.
Alle sechs Expertinnen, die eine Verzerrung der Realität in den sozialen Medien wahrnehmen, sehen darin auch eine Gefährdung der Heranwachsenden. Eine von ihnen glaubt, durch den täglichen Konsum dieser Verzerrungen würde die eigene Wahrnehmung ebenfalls verzerrt (vgl. E7/E8: 180–183), was sie als besonders gefährlich für Heranwachsende einstuft, die bereits mit einer Essstörung zu kämpfen haben, „weil das eine verzerrte Darstellung ist, die [s]ie da Tag für Tag in sich aufsaugen und die jeden Tag immer extremer wird“ (ebd.: 192f.). Eine weitere Therapeutin sieht vor allem eine Gefährdung selbstunsicherer Jugendlicher: Diese „verlieren dann [...] den Zugang zur Realität, dass das Leben keine Seifenoper ist“ (ebd.: 199f.). Beschrieben wurden außerdem gestörte Selbstwirksamkeitserfahrungen, beispielsweise in Bezug auf das eigene Äußere: „Man jagt immer einem Körperbild hinterher, das man nicht erreichen kann, was nicht mal möglich ist teilweise“ (E6: 164f.).
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Mabe, A. G.; Forney, K. J.; Keel, P. K. (2014): Do you “like” my photo? Facebook use maintains eating disorder risk. In: International Journal of Eating Disorders. 47. Jg. 2014/05 (Special Issue: Eating Disorders in Adolescents). S. 516–523. Krüger, C. (2019): Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät. Masterarbeit. Aachen: RWTH. Rabe, L. (2019): Ranking der Länder mit höchster durchschnittlicher Nutzungsdauer von Social Networks weltweit im Jahr 2018 (in Minuten pro Tag). Online verfügbar unter: https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/160137/umfrage/verweildauer-auf-social-networks-pro-tag-nach-laendern/ [Zugriff: 02.11.2019]. Sidani, J. E.; Shensa, A.; Hoffman, B.; Hanmer, J.; Primack, B. A. (2016): The Association between Social Media Use and Eating Concerns among U.S. Young Adults. In: Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics. 116. Jg. 2016/09. S. 1465–1472.
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Once Upon a Time… There was Responsibility Verantwortung in der Filmkunst
luisa maulitz
PSYCHOLOGIE
Kunst und Unterhaltungsmedien, wie beispielsweise Filme, anhand von Quentin Tarantinos Once Upon a Time…In Holkönnen bestimmte, aktuell gesellschaftlich relevante Prob- lywood (2019) die Frage diskutiert, welche Personengruppe, lemstellungen behandeln – sie reproduzieren jedoch oftmals Schaffende_r oder Zuschauer_innen, die Verantwortung für bereits Bekanntes, wie gesellschaftliche Stereotype, anstatt die geschaffene Filmkunst tragen sollte. diese herauszufordern. Zum Beispiel waren im Jahr 2017 lediglich in 14 von 109 veröffentlichten Filmen LGBTQ-Re- Once upon a Time…In Hollywood (2019) ist Quentin Taranpräsentationen vorzufinden. Damit kam es gleichzeitig zu tinos neuester und neunter Film, da Kill Bill Vol. 1 (2003) einer Abnahme der Diversität von Repräsentation in der und Vol. 2 (2004) als ein Film zu zählen sind. Once Upon a Filmindustrie (vgl. GLAAD 2018). Folglich nahm die Re- Time…In Hollywood begleitet einen Schauspieler, Rick Dalpräsentation geläufiger Stereotypen 2017 wieder zu. Durch ton, und seinen ehemaligen Stuntman und Freund, Cliff diese anhaltende Reproduktion von Stereotypen können Booth, in Hollywood in den 1960er Jahren. Im Laufe des diese nur schwer überwunden werden; aber woran soll sich Films trifft Cliff Booth auf eine junge Frau, die ihn auf eine eine jüngere Generation orientieren, wenn sie keine posi- Ranch führt. Anhand der Namen der Charaktere und des tiven Vorbilder repräsentiert sieht? In einer Zeit universel- Settings der Ranch lässt sich ableiten, dass es sich hierbei um ler Vernetzung und schnelllebiger Kommunikation kann die Anhänger_innen Charles Mansons handelt, sofern dem es schwerfallen, sich gegen diesen Gruppendruck zu stellen. oder der Zuschauer_in Details über die damaligen, tatsächWenn auch in anderen Zusammenhängen, zeigten Zim- lichen Ereignisse bekannt sind (vgl. Chaney 2019). Charles bardo, Maslach und Haney (1999) sowie Milgram (1964) Mansons Anhänger_innen versuchen später in Rick Daltons bereits, dass Gruppendruck Verhalten auslösen kann, das Nachbarhaus, in welchem die schwangere Sharon Tate lebt, inkongruent zu der eigenen Identität steht, und dass die einzubrechen, um diese zu töten. Sie verwechseln jedoch die Verantwortung für dieses Verhalten anderen Personen zu- Häuser und werden von Cliff Booth und Rick Dalton selbst geschrieben werden kann. „savagely beaten“ (Di Placido 2019). Die entsprechenden Szenen werden optisch sehr explizit, bis hin zu überzogen Zieht man die Analogie zur Filmkunst, werden die Schaf- gewaltsam dargestellt. Im Gegensatz zu der Schwere der fenden zur Autorität des jeweiligen Films. Demnach wären präsentierten Gewalt steht Sharon Tate, die das Bild einer sie zunächst in der Verantwortung für den Film, den sie kre- fröhlichen, gut gelaunten und nahezu unschuldigen aufstreieren. Anderseits konsumieren die Zuschauer_innen diesen benden Schauspielerin vermittelt (vgl. Di Placido 2019). Sie Film und befinden sich somit am rezeptiven Ende dessen scheint nicht zu ahnen, was ihr ursprünglich zustoßen soll. Lebenszyklus. Daher könnte ebenso argumentiert werden, dass die Zuschauer_innen am Ende die Verantwortung dafür Eine mögliche Interpretation des Films beinhaltet Rick tragen, welche Interpretationen oder neue Verhaltensweisen Dalton und Cliff Booth als typische sowie beliebte Holsie einem Film entnehmen. Im Folgenden wird beispielhaft lywood-Helden, während Sharon Tate Hollywood selbst, 46
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Frauen als Inkarnation des Bösen noch verstärken und bestätigen (vgl. Chaney 2019). Folglich scheint Tarantino sich nicht dafür verantwortlich zu sehen, dass seine Gesellschafts- und Filmkritik auch als solche wahrgenommen wird. Gemäß Banduras Theorie zum Modelllernen (Bandura 2000) könnten Zuschauer_innen nun lernen, dass die porträtierte Gewalt erfolgreich eingesetzt wurde. In einer (potentiell) bedrohlichen Situation könnte auf ein ähnliches Verhalten zurückgegriffen werden, ähnlich der Kontroverse zu Gewalt darstellenden Videospielen. Anderson, Gentile und Buckley (2007) fanden Hinweise, dass ein gewaltsames Auftreten innerhalb der Spiele sowohl zur Steigerung von aggressivem Verhalten als auch der Minderung von prosozialem Verhalten führte.
oder aber die Zuschauer_innen repräsentiert. Obwohl die Helden Gewalt ausüben, ohne eine kritische Selbstreflexion folgen zu lassen, bleiben die Zuschauer_innen blind gegenüber der Implikation dieser Gewalt. Eine weitere mögliche Interpretation des Films ist, dass Tarantino selbst Hollywoods glorifizierte Gewalt kritisiert und aufzeigen möchte, was hinter den vermeintlichen Helden Hollywoods steht: „It could be argued that Tarantino’s violence […] is a more honest display than the bloodless punch-ups and murders we’re accustomed to on the screen,“ (Di Placido 2019). Eine Einordnung, insbesondere der letzten Szenen, wird durch mangelndes Wissen um die zugrunde liegenden, tatsächlichen Ereignisse erschwert. Was bleibt, sind Gewalt ausübende Protagonisten, mit welchen sympathisiert werden soll. Die kritische Auseinandersetzung obliegt allein den Zuschauer_innen, da sie innerhalb des Films nicht erfolgt (vgl. Chaney 2019). Der Film impliziert, dass die Gewalt aufgrund der eigentlichen Intention der Täter_innen gerechtfertigt sei: „[…] whether or not this is problematic is up to the viewer“ (Di Placido 2019). Darüber hinaus streitet Tarantino ab, das Drehbuch in Zusammenhang mit aktuellen, politischen Ereignissen in den U.S.A. geschrieben zu haben, wobei es kaum möglich erscheint, entsprechende Parallelen nicht zu sehen (vgl. Chaney 2019). Er überlässt es den Zuschauer_innen selbst, mit seiner Filmkunst das Richtige oder das Falsche anzustellen. Es wird vielmehr das Gegenteil einer kritischen Reflexion vermittelt: „The violence in this scene is played for laughs“ (Chaney 2019). Anstatt einer Hinterfragung gängiger Hollywood-Stereotype könnte ein Film wie Once Upon a Time…In Hollywood sowohl die Bilder eines heroischen Mannes, einer naiven jungen Frau und 47
Anhand des Beispiels Once Upon a Time…In Hollywood (2019) konnten mögliche Konsequenzen einer Verantwortungsabgabe des Regisseurs oder der Regisseurin an die Zuschauer_innen identifiziert werden. Als Regisseur und Drehbuchautor ist in diesem Fall Quentin Tarantino maßgeblich als Schaffender und somit als Verantwortlicher des Films zu sehen. Anstatt aber die Verantwortung zu übernehmen, wird diese an die Konsument_innen weitergereicht. Da dieser Film auch außerhalb der U.S.-amerikanischen Kultur Zuschauer_innen findet, erscheinen negative Folgen der Verantwortungsabgabe wahrscheinlich. Durch die Untermauerung der Hollywood-Stereotype durch Tarantinos fehlenden, letzten Schritt der Gesellschaftskritik, bleibt diese lediglich eine vage Vermutung, anstatt ein Anlass zum Nachdenken zu sein. Potentielle Negativfolgen dessen reichen von der Reproduktion und damit Untermauerung von Stereotypen in der Gesellschaft bis hin zu einer gesteiger-
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Anderson, C. A.; Gentile, D. A.; Buckley, K. E. (2007): Violent Video Game Effects on Children and Adolescents: Theory, Research, and Public Policy. New York: Oxford University Press. Bandura, A. (2000): Die sozial-kognitive Theorie der Massenkommunikation. In: Schorr, A. (Hg.): Publikums- und Wirkungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 441. Blass, T. (1999): Obedience to Authority: Current Perspectives on the Milgram Paradigm. Mahwa, New Jersey: Psychology Press. Chaney, J. (2019): On the Troubling Subtext of Once Upon a Time in Hollywood. In: Vulture, 09.08.2019. Online verfügbar unter: https:// www.vulture.com/2019/08/once-upon-a-time-inhollywood-and-its-troubling-subtext.html [Zugriff: 18.11.2019].
ten Wahrscheinlichkeit von aggressivem oder gewaltsamem Verhalten. Dies sollte einem Regisseur mit der Reichweite Tarantinos bewusst sein. Infolgedessen muss im Zuge eines verantwortungsvollen Handelns in der Filmkunst und -branche beachtet werden, dass die eigene Intention vermittelt wird, ohne die aktive Auseinandersetzung und Autonomie der Konsument_innen zu unterwandern. Im Rahmen dessen sollten sich insbesondere Regisseur_innen und Drehbuchautor_innen mit möglichen Konsequenzen einer konträren Interpretation seitens der Zuschauer_innen auseinandersetzen und deren bewusst sein. Möchte sich ein_e Regiesseur_in kritisch mit einem gesellschaftlich relevanten Thema auseinandersetzen, sollte dies auch tatsächlich erkennbar im Rahmen des Films passieren. Insbesondere glorifizierte (und übertriebene) Darstellungen ohne beispielsweise negative Konsequenzen für die Protagonist_innen könnten eher die Interpretation hervorrufen, dass das Glorifizierte auch zu dem von den Protagonist_innen gewünschten Erfolg führt. Wenn dies wiederum von den Zuschauer_innen bedenkenlos übernommen wird, werden gesellschaftlich relevante Themen nicht kritisch hinterfragt, sondern verfestigt. Daher ist es unabdingbar, dass die Verantwortung in der Filmkunst der Gesellschaft gegenüber auch von den Filmschaffenden selbst übernommen wird.
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Di Placido, D. (2019): The Many Controversies Of ‘Once Upon A Time In Hollywood,’ Explained. In: Forbes, 23.08.2019. Online verfügbar unter: https://www.forbes.com/sites/ danidiplacido/2019/08/23/the-many-controversies-of-once-upon-a-time-in-hollywood-brokendown/ [Zugriff: 18.11.2019]. GLAAD (2018): 2018 GLAAD Studio Responsibility Index. In: GLAAD. Online verfügbar unter: https://www.glaad.org/sri/2018 [Zugriff: 26.11.2019]. Milgram, S. (1964): Group pressure and action against a person. In: Journal of Abnormal Psychology. 69. Jg. 1964/02. S. 137–143. Schorr, A. (2000): Publikums- und Wirkungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Tarantino, Q. (2019): Once Upon a Time…In Hollywood [Kino]. United States, United Kingdom: Columbia Pictures, Bona Film Group, Heyday Films, Visiona Romantica. Zimbardo, P. G; Maslach, C.; Haney, C. (1999): Reflections on the Stanford Prison Experiment: Genesis, transformation and consequences. In: Blass, T. (Hg:), Obedience to Authority: Current Perspectives on the Milgram Paradigm. Mahwa, New Jersey: Psychology Press.
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Wa(h)re Verantwortung Thomas sojer
Theologie (Graz)
Ist Verantwortung käuflich? Ärzt_innen, Pilot_innen, Re- und ‚nicht selbstverständlichen‘ Übermaß an Verantworgierungsmitglieder, Richter_innen und CEOs in Lei- tung: Diese von Berufs wegen notwendige Übernahme von tungsfunktionen beziehen ein höheres Gehalt als ihre Verantwortung, die nicht zu unserem natürlichen SelbstMitarbeiter_innen in untergeordneten Positionen. Weit- verständnis als Person gehören, begründet eine Ökonomihin gilt, dass mehr Verantwortung im Job ein höheres Ge- sierung von professionsbezogenen Entscheidungspositionen. halt verlangt und dieses in der öffentlichen Wahrnehmung (vgl. Blümle 1975: 67) Kurzum: Wer mehr Verantwortung auch rechtfertigt. (vgl. Preisendörfer 1988: 78) Der Beitrag trägt, soll und darf besser verdienen. Diese Form der arwirft deshalb Fragen auf, welche Logiken hinter dem di- beitsvertraglich vereinbarten Verantwortungsfunktionen rekten Verhältnis von berufsbezogener Verantwortung und entsteht aus im Einzelfall nicht frei gewählten EntscheiGehaltseinstufung stehen, und diskutiert mögliche Konse- dungssituationen und damit einhergehend einer außergequenzen, die derartige Kurzschlüsse mit sich bringen. Ist für wöhnlichen Entscheidungspflicht und Zusatzbelastungen, eine Übernahme beruflicher Verantwortung der finanzielle die alltägliche Formen der Verantwortung und das eigene Faktor einmal zum vorrangigen Kriterium geworden, so die Selbstverständnis als Teil der Gesellschaft im Regelfall weit These des Beitrags, verkommen öffentliche Vertrauensstruk- überschreiten: Ärzt_innen, Pilot_innen, Regierungsmitglieturen zur Frage des Preises: Dann müssen wir uns fragen, der, Richter_innen und CEOs tragen aufgrund ihrer Profesob wir uns mehr auf jene Verantwortungsträger_innen ver- sion erhöhte Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit lassen können, deren Arbeit finanziell besser vergütet wird. und den ihnen Anvertrauten und finden sich mit einem Gleichzeitig birgt dieser Primat des Geldes Gefahren, Ver- viel größeren Haftungspotential konfrontiert als Mitarbeiantwortung nicht nur zu einer bezahlbaren Handelsware ter_innen in untergeordneten Positionen. zu etablieren, sondern im Umkehrschluss auch Verantwortungsmissbrauch und Korruption als lukrative Kaufoption Beispielsweise häufen sich seit Jahrzehnten Fälle, in denen einzuführen. Innerhalb eines solchen Szenarios folgt das lei- Mediziner_innen von Patient_innen und Angehörigen für tende Prinzip der Verantwortungsfunktion nicht mehr vor- misslungene Behandlungen bzw. vermeintliche Fehlentranging einer ethischen, sondern einer finanziellen Maxime. scheidungen gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. (vgl. Bergmann/Wever 1999: 2) Zur Feststellung, ob strafbare Behandlungsfehler vorliegen, müssen die MediVerantwortung, die etwas wert ist ziner_innen nachweisen, durchgehend das standardmäßige medizinische Protokoll und die vorgegebenen Maßnahmen Im Kontext von Gehaltseinstufungen meint Verantwor- leitliniengerecht befolgt zu haben. (vgl. Tombrink 2006: tungsfunktion eine professionsbezogene Entscheidungs- 137) Die zunehmend strengeren Regulierungen im medivollmacht. Diese unterscheidet sich von der Fülle alltäglicher zinischen Bereich werfen dann aber wiederum die Frage ‚selbstverständlicher‘ Verantwortungsrollen: Als Staatsbür- auf, ob diese zusätzliche ‚Entscheidungsgewalt‘ letztlich gar ger_innen, als Familienmitglieder, im Sportverein, im ge- nicht aktiver Natur ist und die Institutionalisierung finanmeinsam benützten Stiegenhaus oder in der U-Bahn. Wir ziell abgegoltener Verantwortungspositionen in Wahrheit versuchen diesen Verantwortungsrollen ohne finanzielle Ver- eine Distribution von Haftung darstellt, die zur Identifigütung nachzukommen, weil wir sie als ‚selbstverständlich‘ zierbarkeit gesellschaftlicher Sündenböcke dient. annehmen, mit anderen Worten, weil sie natürlicher Teil unseres Selbstverständnisses als Staatsbürger_innen, Fami- Schließlich stehen wir als Gesellschaft vor der Frage, ob lienmitglieder und U-Bahn-Fahrer_innen, etc. sind. An- dieses reziproke Verhältnis von finanzieller Vergütung und ders gestaltet sich das mit dem durch den Job erzeugten Entscheidungsvollmacht auf einem Konzept von Verant49
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Die Gefahr der Ökonomisierung von professionsbezogenen Verantwortungsfunktionen besteht schließlich darin, dass der alles vergleichbar und austauschbar machende Wert ‚Geld‘ in beide Richtungen Wert zu- und abzusprechen vermag: Urwortung oder einem Konzept von Haftung aufbauen soll. sache und Wirkung können sich austauschen. Dann kommt Ein Konzept der Haftung definiert sich nämlich ausschließ- es zur Rückkopplung im öffentlichen Diskurs, nämlich, dass lich darüber, beim Versagen einer vereinbarten Verantwor- Verantwortungsträger_innen, eben, weil diese besser bezahlt tung Schuld eindeutig zuordnen zu können. Wer ist am werden, mit höherer Haftbarkeit und Schuldanfälligkeit beEnde verantwortlich für die beiden Flugzeugabstürze der laden werden müssen. Boeing 737 Max? Die Piloten? Die CEOs von Boeing? Wer ist verantwortlich für die Herztransplantation mit tödlichem Ausgang? Der leitende Operateur oder die diesem über- Eine neue Kultur der Verantwortung als geordnete Klinikdirektorin? Das Konzept ‚Haftung‘ birgt erweitertes Selbstverständnis dabei eine nicht sofort erkennbare Gefahr, weil sie das Gegenteil zu den ‚selbstverständlichen‘ Verantwortungsfunktio- Demgegenüber – so der Appell dieses Beitrags – benötigen nen im privaten Raum darstellt: Unsere ‚selbstverständlichen‘ wir als Gesellschaft ein Bewusstsein, wie professionsbezoVerantwortungsrollen, z.B. als Elternteil gegenüber unseren gene Verantwortungsfunktionen ‚selbstverständliche‘ VerKindern, als Ersthelfer am Unfallsort, oder als ökologische antwortungsrollen im Alltag notwendig erweitern. Dieser Fußgänger auf unserem Planeten, suchen primär keine Sün- darf jedoch in keiner Weise dazu dienen, die Pathologien denböcke, sondern verstehen Verantwortung als die notwen- ökonomisierter Verantwortungsfunktionen, z.B. astronodige und fundamentale Grundhaltung des menschlichen misch anmutende CEO-Gehälter, in irgendeiner Weise zu Zusammenlebens. Kurzum: Sie sind wesentlicher Teil un- legitimieren. Vielmehr kann eine wirksame Kritik der besteseres Selbstverständnisses als Menschen. Wenige Menschen henden Missstände allein in einer Rückbesinnung auf Verwerden im Ernstfall nur aus Angst, wegen unterlassener Hil- antwortung als Frage des eigenen Selbstverständnisses, privat feleistung strafrechtlich verfolgt werden zu können, Erste und im Job, bestehen. Unser öffentliches Bewusstsein für Hilfe leisten. Das Konzept der Haftung als alleinigen Hand- professionsbezogene Verantwortung muss sich daher wieder lungsmotor – wer muss zum Schluss den Kopf hinhalten? auf die Übernahme eines erweiterten Verantwortungsho– pervertiert den Grundsatz der Verantwortung als wesentli- rizonts einzelner für die Gemeinschaft richten. Diese zucher Teil des eigenen Selbstverständnisses innerhalb der Ge- sätzliche ‚Bürde‘ darf und soll dann auch zusätzlich vergütet sellschaft. Haftbarkeit wird dann nicht mehr vom sozialen werden, denn allein aufgrund dieser VerantwortungsüberFundament einer jedem Menschen obliegenden ‚Pflicht für nahme Einzelner im Bereich des Allgemeinwesens kann den Anderen‘, sondern vom Risiko der Strafe im Fall des Gesellschaft als solche überhaupt existieren. Versagens her gedacht. Deshalb plädiert dieser Beitrag für die zivilgesellschaftliche Notwendigkeit, professionsbezogene Entscheidungsgewalt als eine Erweiterung der ‚selbstverständlichen‘ Verantwortung zu denken und eine finanzielle Besservergütung als den symbolischen Ausdruck eines erweiterten ‚Selbstverständnisses‘ innerhalb der Gesellschaft zu lesen. Dazu dient als konkretes, geläufiges Beispiel: Die Öffentlichkeit erwartet von einer Lehrperson, dass diese während eines Schulausflugs nicht nur auf eigene Schulkinder, sondern als eine Person mit öffentlicher Verantwortung, d.h. mit einem erweiterten Selbstverständnis als Verantwortungsträger_in, gegebenenfalls ebenso auf fremde Kinder achtet. Evolutionsbiologisch stellt ebendiese Erweiterung von Fürsorge vom eigenen, unmittelbaren ‚Stammeskreis‘ und ‚Rudel‘ auf die anderen einer erweiterten Gruppe den Grundstein komplexer, sozialer Lebensformen und Entwicklungen dar (vgl. Sumser 2016: 120f.). 50
Bergmann, K. O.; Wever, C. (1999): Die Arzthaftung: Ein Leitfaden für Ärzte und Juristen. Berlin: Springer. Blümle, G. (1975): Theorie der Einkommensverteilung. Eine Einführung. Berlin: Springer. Preisendörfer, P. (1988): Die schwere Last der Verantwortung – Ideologie oder Realität? In: Pragmatische Soziologie: Beiträge zur wissenschaftlichen Diagnose und praktischen Lösung gesellschaftlicher Gegenwartsprobleme. Wiesbaden: Springer VS. S. 77–81. Sumser, E. (2016): Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie. Berlin: De Gruyter. Tombrink, C. (2006): Die Arzthaftung für schwere („grobe“) Behandlungsfehler. In: Arzthaftungsrecht – Rechtspraxis und Perspektiven. Berlin: Springer. S. 115–138.
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Glaube, Hoffnung, Liebe Über Hiob, Nihilismus und Verantwortung
Caner dogan
Soziologie (Heidelberg)
Wir Modernen haben den Sinn für den Sinn verloren. Die großen Erzählungen sowie Gott haben ihre Kraft, uns zu leiten, uns zu halten, verloren. Spätestens seit der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der industriellen Vernichtung von Menschen in der Schoah, muss man davon ausgehen, dass jegliche Moral, jegliche Ethik und jede ernstzunehmende Theologie sich gehörig fragen muss, was eigentlich noch ihr Gegenstand ist. Wozu irgendetwas tun, wenn die Geschichte uns mit unschlagbarer Beweiskraft zeigt, dass das Menschliche durch menschliches Handeln mit einem Mal aus der Welt geschaffen werden kann? Die klassische Antwort der Theodizee, dass alles seinen Zweck hat, dass Gottes Wege unergründlich sind und letztlich alles dem Guten, der Heilsgeschichte diene, ist schlichtweg zynisch geworden. Was also können wir uns in einer scheinbar von Gott verlassenen Welt noch erhoffen? Wofür sollten wir uns in einer Welt, die sich immerzu unserer Verfügung entzieht, verantwortlich zeigen? Sollten wir nicht hoffen dürfen können, damit uns der Funke der Hoffnung zur Verantwortung bewegen kann? Nur bleibt die Frage: was hoffen? Einen Hinweis auf die Antwort zu diesen Fragen finden wir, wenn wir uns der Geschichte von Hiob zuwenden. Hiob ist uns ein unzeitgemäßer Zeitgenosse, der geradezu modern anmutet, weil er den Abgrund des Nihilismus, die „vollendete Sinnlosigkeit“ (Hannah Arendt), erfährt. Hiob, ein rechtschaffener und frommer Mann in einem fremden Lande namens Uz, erfährt eine kaum vorstellbare Prüfung Gottes. Zerstört wird ihm all sein Besitz, seine Kinder holt der Tod und zuletzt überkommt unsägliche Krankheit seinen Körper. Hiob wirft sich zu Boden und antwortet: „Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. / Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen; / gelobt sei der Name des HERRN.“ (Hi 1, 21) Einzig seine Frau bleibt ihm und spricht: „Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit? 51
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Segne Gott und stirb!“ (Hi 2, 9) Wie recht sie doch hat. Das Prüfung: seine Schuld am eigenen Leid. Es war Kant, der Leben des Hiob ist offensichtlich aussichtslos. Gott scheint darauf hinwies, dass der Verdienst Hiobs darin liegt, dass ihn verlassen zu haben und er will ihn noch segnen. Hiob er wahrhaftig spricht: reagiert wütend: „Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann auch nicht „Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der das Böse annehmen?“ (Hi 2, 10) Befremdlich klingt die Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gesteAntwort eines Frommen, der im Moment zuvor Gott gehen, und der Abscheu, Überzeugungen zu heucheln, wo man segnet hat. Sollen wir denn das Böse in Gott annehmen? Im sie doch nicht fühlt, vornehmlich vor Gott.“ (Kant 1966: 119) theologischen Diskurs wurde diese Frage unter anderem mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang (Klaus Koch) verhan- Hiob ist unschuldig. Seine Freunde, die ja durchaus gute delt. Klaus Koch kommt aufgrund philologischer Untersu- Absichten hegen, sind im Grunde Ideologen, die aus der chungen zu alttestamentarischen Schriften zu dem Schluss, Allmacht und Allwissenheit Gottes Hiobs Unzulänglichdass Gott weniger als richtende Instanz verstanden werden keit ableiten. Nicht zu klagen und alles so hinzunehmen sollte, sondern die Handlungen der Menschen bloß voll- wie es einem geschieht, das ist die eigentliche Sünde, weil endet und sich die Menschen dann gewissermaßen in ihrer man so Gott aus der Welt befördert. In der Fremde haben Tat befinden (vgl. Koch 1991: 81). Damit zieht Schlechtes, die Freunde den Gott Israels vergessen, nämlich Jahwe, den Schlechtes mit sich und Gutes wiederum Gutes. Jede Tat Befreier und Bundesgenossen Israels, zugunsten eines Gotwird so zum Schicksal und das, was auf die Tat folgt, ist kein tes, der herrschend und allmächtig über den Menschen walErgehen, keine Strafe, keine Belohnung. Dieses Schicksal tet. Im Prolog der Geschichte wird aber deutlich, dass sie und seine Ursachen zu erkennen, ist uns nicht immer mög- gar nicht von der Allmacht Gottes handelt. Ganz im Gelich, da Gottes Weisheit die unsere weit übersteigt (vgl. Koch genteil wird Gott von Satan, einem der „Gottessöhne“ (Hi 1991: 98). Damit endet aber die Geschichte Hiobs nicht 1, 6) herausgefordert, Hiob zu prüfen, ob er wirklich fromm und es ist geradezu vermessen, sie zu lesen als sei er verant- sei oder nicht doch nur Götzen folge, die ihm geben, was wortlich für sein Leid. Was kann Verantwortung für Hiob ihm guttue. Die Klage Hiobs ist eben die Bekräftigung des also noch heißen? Bundes, der in dem Glauben an die Güte Gottes gründet. Diese Welt kann nicht Gottes Wille sein. In Hiobs Klage Nach sieben Tagen des Leids zieht er Gott vor den Ge- offenbart sich so die Abhängigkeit Gottes von seinem Gerichtshof, wohlwissend, dass es keinen Schiedsrichter, kei- genüber als Bundesgenossen. Dass Gott anwesend sein kann, nen Dritten, zwischen ihnen geben kann (vgl. Hi 9, 32–33). wird abhängig von der Kraft derjenigen, die an ihn glauben. Er erkennt die Sinnlosigkeit seines Leids, bleibt sich sei- Gott wird durch sie in die Anwesenheit gerufen. Hiobs Klaner Unschuld sicher und verlangt eine Anklageschrift. Wel- ge findet einen bemerkenswerten Nachklang bei Jesus, desche Hoffnung soll man mit Gott noch haben, wenn er uns sen letzte Worte am Kreuz waren: „Mein Gott, mein Gott, doch offensichtlich aufgegeben hat? „Wozu Licht für den warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15, 34) Die Klage ist Mann auf verborgenem Weg, / den Gott von allen Seiten die Erinnerung an den ursprünglichen Bund mit Gott im einschließt?“ (Hi 3, 23) Wesentlich nun in unserem Zu- Einklang mit dem eigenen Gewissen. sammenhang ist, dass sich Hiob nicht von Gott abwendet, obwohl Gott ihn scheinbar fallen lassen hat. Hiobs Klage Nach Nietzsche ist gerade dieses Gewissen eine Fehlentist kein Bruch. Ganz anders seine Freunde, die ihm tröstend wicklung des Menschen. Das Gewissen wendet sich gegen zur Seite stehen wollen, aber ihm seine eigene Sündhaftig- das Leben, indem es unseren „Instinkt der Freiheit“ (Nietzkeit und Unwissenheit vor Gott vorwerfen: „Wer Unrecht sche 1999: 132), unseren „Willen zur Macht“ unterdrückt. pflügt, / wer Unheil sät, der erntet es auch… Ist wohl ein Bedingung für das Gewissen ist das Gedächtnis. ZivilisaMensch vor Gott gerecht, / ein Mann vor seinem Schöpfer tionsgeschichtlich ist das Gedächtnis maßgeblich in dem rein?“ (Hi 4, 7; 17) Wenn er nur einsähe, dass er unrecht- Sinne, dass es Versprechen möglich macht und dadurch Bemäßig gehandelt hat, dann sähe er auch den Sinn seiner dingung für Bündnisse und Verträge ist. Im Rahmen dieser 52
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erinnerten Bindungen können wir verantwortlich gemacht werden, nämlich als diejenigen, die ein Versprechen eingegangen sind. Nach Nietzsche ist gerade aber das Gedächtnis nihilistisch, weil es sich gegen das Leben wendet und im Grunde „Willen zum Nichts“ (ebd.) ist. Nietzsches freier Mensch ist ein von jeglicher Bindung befreiter Mensch, der Kraft seines Willens heute dies, morgen jenes tut und sich nicht von den Ketten seines Gewissens zurückhalten lässt. Wesentlich für ihn ist das Vergessen. Wesentlich aber für Verantwortung ist die Erinnerung an das Versprechen. Verantwortung ist immer eine Antwort auf eine Anklage. Dabei geht es viel weniger um die eigentliche Tat, sondern um die Person, die klagt und damit das Versprechen aktualisiert. Sie betrifft die Beziehung, die ich zu meinen Mitmenschen habe. Wir werden verantwortlich nicht dafür, was wir tun, sondern dafür, den Faden der Beziehung zum Anderen nicht reißen zu lassen. Versprechen, Wahrhaftigkeit und Verantwortung gehören damit zusammen. Verantwortung ist nun wesentlich: dem Anderen Treue halten; Treue ist das Festhalten an der Wahrheit einer Beziehung. „[W]enn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand, ganz und gar wesenlos.“ (Arendt 2002: 39) Und die Möglichkeit zur Beziehungsstiftung wäre suspendiert.
Adorno, T. W. (1980): Gesammelte Schriften. Band 4. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Arendt, H. (2002): Denktagebuch. 1950 bis 1973. Erster Band. München: Piper. Arendt, H. (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper. 11. Auflage 2016. Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Stuttgart: Herder 2016. Kant, I. (1966): Werke VI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Koch, K. (1991): Spuren hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. Nietzsche, F. (1999): Sämtliche Werke. Band 6. Stuttgart: Mundus Verlag.
Somit wird Verantwortung Bedingung dafür, dass wir uns die Welt zur Heimat machen und in ihr „Wurzeln schlagen“ (Arendt 2016: 85) können. Das bedeutet auch, dass unsere Klage, unser Rechtsanspruch unerfüllt bleiben kann. Menschliche Beziehungen sind kein Geben und Nehmen, kein Geschäftsverhältnis, sondern freie Stiftungen. Menschlichkeit zeigt sich dann, wenn wir im Verhältnis zum Anderen auf unseren Rechtsanspruch verzichten. Gerade der, dem Leid zugefügt wurde, sieht sich dieser Entscheidung ausgesetzt. Adorno bemerkte einmal über den leidenden Liebenden: „Ihm geschah unrecht; daraus leitet er den Anspruch des Rechts ab und muß ihn zugleich verwerfen, denn was er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen. In solcher Not wird der Verstoßene zum Menschen.“ (Adorno 1980: 185) Am Ende der Geschichte Hiobs tritt Gott auf. Er wird sich nicht rechtfertigen für das, was er zugelassen hat. Aber Hiob fordert auch nicht mehr sein Recht ein. Es reicht ihm die Gewissheit der Anwesenheit des Anderen. Was bleibt, ist nicht Wahrheit, nicht Wissen, sondern Sinn.
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zukunft Wir feiern in diesem Jahr nicht nur das 150-jährige Jubiläum der RWTH, sondern auch die zehnte Ausgabe der philou.! Unter dem Motto „Thinking the Future“ wurde das Zukunftskonzept der Universität formuliert: „RWTH 2020: Meeting Global Challenges. The Integrated Interdisciplinary University of Technology“. Weiterhin verpflichtet sich die Universität zu verschiedenen Werten – einer der Grundsteine dieser Werte ist die Wissenschaft: „Sie ist das Werkzeug, die Welt zu verstehen und zu erklären sowie die Herausforderungen der Zukunft zu gestalten“. In Anlehnung daran möchten auch wir Zukunftsfragen stellen:
Ausgabe 9, 2020 Auflage: 3.000 Mitwirkende Bendler, Karl Hilker, Sarah Dogan, Caner Korr, Jan Eleftheriadi-Z., Sofia Lentzen, Nina Erel, Defne Neu, Sabrina García Mata, Cristina Weller, Paula Görtz, Antonia Winkens, Ann-Kristin Heinrichs, Katja
Was sind globale und zukünftige Herausforderungen unserer Zeit? Welche Auswirkungen haben die Handlungen im 21. Jahrhundert auf das Leben in der Zukunft? Unter welchen Bedingungen kann es eine lebenswerte Zukunft geben? Was bedeutet Zukunft denken? Und was ist überhaupt Zukunft?
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