philou.
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Thema: Konsum
Was darfs sein? Was darf’s sein?
UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN UNIVERSITY
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WISSEN SCHAFT APP-TO-DATE MIT DER FLAPP AUF TOUR DURCH AACHEN
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Mit freundlicher Unterstützung von
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Konsum Was darf’s sein?
Liebe Leser_innen, Konsum wird allgemein als Verbrauch oder Verzehr von Gütern definiert, bedeutet darüber hinaus jedoch deutlich mehr. Der Schriftsteller Ilija Trojanow schreibt: „Wir verbrauchen so viel wie keine Gesellschaft vor uns und empfinden doch überwiegend Krise“ – ausgehend von einem Zwang, unentwegt zu konsumieren und funktionieren. Wir leben in einer Welt, die geprägt ist von Ressourcenverknappung, Umweltverschmutzung, Hunger, Armut und Krieg, und damit gekennzeichnet durch eine Dichotomie von Verzicht und Verschwendung: Ein Leben im Überfluss steht einem Leben der Armut gegenüber – was darf ’s sein?
ein ständiges Gefühl von Hunger, aber gehört dieser nicht zur menschlichen Bedingtheit und verbindet uns alle als Menschen? (S. 33) Weil Sie es sich wert sind: Das Leben in Zeiten des Klimawandels und der Umweltverschmutzung erfordert nachhaltiges Denken und Handeln. Wie können wir unseren Konsum mit Hilfe eines Schubsers nachhaltiger gestalten? (S. 38) Welche Möglichkeiten und Perspektiven haben wir für einen bewussten Konsum? (S. 43) Und sind effiziente Lösungen immer die besseren? (S. 46) The art of performance: Massenware, Massenmedien, Massengesellschaft – kann Kunst die Konsumkritik neu definieren? (S. 50) Neben dem Verbrauch und Verzehr von Stoffen, Dingen und Gefühlen können wir auch Kunst und Kultur konsumieren: Musik als Konsumgut kennzeichnet das veränderte Bewusstsein für den Augenblick. Hauptsache kaufen, haben oder hören – was darf ’s sein? (S. 53)
Nichts ist unmöglich: Bestimmt durch den Zwang zur Selbstoptimierung werden zunehmend leistungssteigernde Mittel eingesetzt – sowohl Drogen als auch Medikamente oder Kaffee (S. 8ff.). Zwischen Hunger, Belohnung und Vergnügen erfährt das Gehirn die Botschaft, nicht alleine funktionieren zu können und es entwickelt sich eine Sucht nach Mehr. (S. 15) Diese Sucht kann jedoch sowohl neurophysiologisch als auch psychologisch begründet sein.
Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie Problemstellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die sechste philou. Durch den Fokus auf die Diversität und Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die sechste Ausgabe genauso gefällt wie uns!
Das einzig Wahre: Das Bedürfnis nach Liebe, Zuneigung und Bestätigung prägt unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir konsumieren mit Begeisterung die Geschichten anderer, das Leben und Leiden anderer, sodass sie zu unserer Geschichte werden. (S. 20) Dabei vergessen wir unser eigenes Glück und unsere Zufriedenheit: Wie sehr definieren wir uns über die Dinge, die wir konsumieren und besitzen? Eignen wir sie uns jemals an oder bleiben sie uns immer fremd? (S. 23) Die heutige Wegwerfgesellschaft ist gekennzeichnet von Kurzlebigkeit – Gegenstände sowie Beziehungen erfahren eine geplante Obsoleszenz (S. 26). Denn nicht nur Dinge werden konsumiert, sondern auch Menschen und Gefühle – hierfür sind wir sogar bereit, Geld zu zahlen (S. 29). Wir erleben
Eure philou. Redaktion
verfasst von Ann-Kristin Winkens
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philou.
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Erfolgreiche Mitarbeiter sind kein Zufall! Ein Einstellungsprozess ist eine komplexe Angelegenheit, und zwar für beide Parteien. Arbeitgeber suchen nach Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen perfekt in das gesuchte Profil passen, während Arbeitsuchende bestrebt sind eine Tätigkeit zu finden, die ihrer Persönlichkeit entspricht. Doch diese Idealkonstellation zu finden ist eine sehr aufwendige Angelegenheit. Es sei denn, man baut auf die onlinebasierten Services von e-stimate, dem Pionier im Bereich webbasierter Analyse-Tools für das Personalwesen.
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inhalt
inhalt
Nichts ist unmöglich
weil sie es sich wert sind
08 guter stoff, böser stoff
38 Nudging
von nils honkomp und cristina garcía mata
Nachhaltiger Konsum: zwischen Entscheidungsfreiheit und zwingender Notwendigkeit.
Alltägliche Drogen. Wie wir Grenzen zwischen guten und bösen Substanzen ziehen. 11 Caffeine Connection
43 Monopoly vs. Weconomy
von Barabara Bong
Faszination Kaffee – über das Lieblingsgetränk der Deutschen.
46 Der Rebound-Effekt
von Merle Riedemann
Hunger, Vergnügen und Sucht: die Mechanismen der Nahrungsaufnahme.
von Malte Giesenow
Effizienz als Allheilmittel im Umweltschutz? Warum besser manchmal doch nicht besser ist.
Das einzig wahre
The art of performance
20 We L < 3ve to Entertain You von Nina Lentzen, Caner Dogan und Sofia Eleftheriadi-Z.
50 Eine Ästhetisierung des konsums von Sofia Eleftheriadi-Z.
Authentizität und Product-Placements im Influencer-Marketing.
Zwischen Kunst und Konsum: Pop-Art als eine subtile Kritik des Konsumismus.
23 Zwischen Haben und Sein
53 Music Overkill
von Ann-Kristin Winkens
Eine unglückliche Liebesgeschichte.
von Tobias Kelliger
Streaming killed the video star: Wie sich das Konsumgut Musik durch die Digitalisierung verändert.
26 Wa(h)re Liebe
von Moritz Hirmer und Katrin Klubert
Überforderung und Perspektive: eine Reflexion über die Möglichkeiten eines bewussten Konsums.
15 Sweet Sweet Lovin'
von Ann-Kristin Winkens
von Cristina García Mata
Über eine veränderte Liebeskultur und die Flüchtigkeit von Beziehungen.
janus kopf
29 Intime Investition
56 Kein richtiges Leben im falschen... ...Tu trotzdem das Richtige!
von Svenja Blömeke
Sex for Sale: ein Dienstleistungssektor der anderen Art.
von thomas ruddigkeit
33 Entschleierung der Verwundbarkeit
philou.rwth-aachen.de facebook.com/philoumagazin info@philou.rwth-aachen.de
von Thomas Sojer
Das Gefühl des Hungers: ein Appell an die Natürlichkeit des Konsums.
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daten
KONSUM Bildungswesen
Post und Telek.
Andere Waren
Bekleidung
beherbergungs.
HaushaltsgerÄte
Verkehr
Nahrungsmittel
Wohnen
verkehr 13,5%
gesundhei Kultur, Fre
NAHRUNG 13,8%
ANTEILE DER KONSUMWohnen 35,3%
AUSGABEN
IN ZAHLEN
freizeit & kultur 10,4%
Durschnittliche monatliche
HAUSHALT 6,1%
konsumausgaben pro haushalt
2.480 €
hotel 6,1%
Ventas
bildung 0,7%
kommunikation 2,5%
Bekleidung & schuhe 4,4% gesundheit 4%
sonstiges 3,6%
Wichtigste Qualitätsmerkmale von Produkten: DESIGN
Jährliche Gesamtausgaben für privaten konsum in deutschland:
1.674,39 Milliarden euro
WISSENSCHAFTLICHE GRUNDLAGE KUNDENSERVICE NACHHALTIGKEIT WERTIGKEIT
7% 9% 12% 25% 28%
ZUVERLÄSSIGKEIT
29%
GARANTIE
29%
GUTES PREISVERHÄLTNIS SICHERHEIT LANGLEBIGKEIT
40% 47% 60%
Quelle: Statista, 2018. Angaben beziehen sich auf Deutschland (2016). 6
Für eine Gesellschaft, die die Zufriedenheit der Kunden zu ihrem einzigen Motiv und wichtigsten Ziel erklärt, ist ein zufriedener (wunschlos glücklicher) Kunde weder ein Motiv noch ein Ziel, sondern die furchteinflößendste aller Bedrohungen. ZYGMUNT BAUMAN, LEBEN ALS KONSUM
Take Your Pills (2018) Ob Studenten, Sportler oder Programmierer – der N e t f l i x - D o k u m e n t a r f i l m Ta k e Yo u r P i l l s z e i g t , dass im heutigen Amerika der Wettkampf schon in der Schule beginnt und bis zum Arbeitsleben reicht. Die Geheimwaffe ist das leistungssteigernde Medikament Adderall, ein Arzneimittel aus der Gruppe der Amphetamine. Die Dokumentation hat viele Kontroversen ausgelöst, da sie den Konsum des Präparates verharmlost und herunterspielt.
SUPERSIZE ME (2004) Der Filmemacher Morgan Spurlock setzte sich einem ungewöhnlichen Selbstversuch aus: 30 Tage lang verzehrte er nichts anderes als Produkte von McDonald’s. Die freundliche Frage vom Personal, ob er seine Portion größer als normal, also super-sized, haben wollte, musste er immer bejahen. Außerdem wird in diesem Dokumentarfilm sowohl über die gesundheitlichen als auch gesellschaftlichen Folgen des übermäßigen Fast-Food-Konsums berichtet.
nic hts ist
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philou.
opener
guter stoff, böser stoff, von nils honkomp (politikwissenschaft) und cristina garcía mata (technik-kommunikation)
pings anwenden wollen. Zur hinreichend genauen Unterscheidung des ersten Begriffspaars ist ein Merkmal besonders hervorzuheben: die Frage nach dem zugrunde liegenden Zweck. Wird das Mittel zur Linderung eines Leidens verabreicht und verfolgt damit gezielt therapeutische Zwecke oder steht die sedierende respektive euphorisierende Wirkung im Vordergrund; wird es zum Spaß bzw. zur Gestaltung der Freizeit eingesetzt? Wie anfangs schon angemerkt, lässt sich dieses Unterscheidungsmerkmal nur bedingt auf das Neuro-Enhancement und Hirndoping anwenden, was nahelegt, anhand des eingenommenen Mittels zu unterscheiden. Wenn es sich um verschreibungspflichtige Medikamente oder illegale Drogen handelt, würde man im Alltagsverständnis wohl von Hirndoping sprechen. Doch ist der morgendliche Kaffee, die Vitamintablette oder gar Apfel, Banane und Co schon Neuro-Enhancement? Obwohl sich unser Alltagsverstand stark dagegen wehrt, ist dies streng genommen der Fall. Zur präzisen Bestimmung sollten deshalb weitere Merkmale angeführt werden, wie beispielsweise die relative Intensität des zugeführten Mittels. Das hätte einerseits den Vorteil, dass stark konzentrierte Stoffe wie Koffein in Tablettenform gegenüber Genussmitteln wie Kaffee oder üblichen Nahrungsmitteln abgrenzbar wären. Letztlich können solche Definitionsversuche der realen Praxis nur nacheifern. Denn was für unsere Gesellschaft als Droge, was als Medikament zählt, ist unweigerlich von politischen Debatten abhängig, die oftmals weniger rational, sondern eher willkürlich geführt werden. Man denke nur an die Aussage der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler, die in einem Interview auf die Frage
Im Profisport ist der Einsatz verschiedener Dopingmittel zur optimierten Leistungssteigerung des Körpers kein Geheimnis. Zur Verfügung steht eine Reihe sowohl legaler als auch illegaler Mittel, die beispielsweise Auswirkungen auf die Ausdauer, Kraft oder auf die Wahrnehmung haben. Beim Neuro-Enhancement (oder allg. Hirndoping) ist das Ziel nicht wesentlich anders: psychoaktive Substanzen, wir beziehen uns hier ausschließlich auf Koffeine, Amphetamine, Methylphenidate (Ritalin) oder Modafinil, werden zur vermeintlichen geistigen Leistungssteigerung eingenommen. Ob gesunde Menschen solche Mittel langfristig ohne unerwünschte Nebenwirkungen konsumieren können, ist nach wie vor ungeklärt. Obwohl im Profisport oftmals auf illegale Dopingmittel getestet wird und Sportler bei Verstoß von Wettkämpfen ausgeschlossen werden können, sind durch das Neuro-Enhancement bewirkte Wettbewerbsvorteile im Alltag kaum sanktionierbar. Eine effektive Regulierung des sogenannten Hirndopings stellt sich zugegebenermaßen auch sehr schwierig dar: Erstens wie sollen Menschen daran gehindert werden, Stimulanzien oder Medikamente zur Verbesserung der kognitiven Leistungen in Prüfungssituationen oder bei der Arbeit zu nehmen? Hirndopingkontrollen – analog zu Dopingkontrollen im Profisport – ließen sich nur unter schweren Eingriffen in die persönliche Freiheit realisieren. Zweitens die Frage nach der Trennschärfe der Begriffe wie Droge und Medikament, die wir im nächsten Schritt auf die Begriffe des Neuro-Enhancements und Hirndo-
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nichts ist unmöglich
Anteil der von Studierenden verwendeten Substanzen zur eigenen Leistungssteigerung (Hirndoping) und/oder zur Beruhigung*
nach der Legalität von Alkohol und der Illegalität von Cannabis nur antwortete: „Weil Cannabis eine illegale Droge ist. Punkt.“ Obwohl in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema des Neuro-Enhancements bzw. Hirndopings die Validität der zugrunde liegenden Studien – unter anderem wird von einer Phantomdebatte gesprochen – angezweifelt wird, ergeben sich weiterhin nicht unerhebliche moralische Konsequenzen: Wenn Konsumenten sich einen Vorteil durch verschiedene Mittel verschaffen, setzen sie damit gleichzeitig andere Menschen, die die Einnahme verweigern, unter Druck. Der Konkurrenzdruck zwingt also indirekt zur Einnahme. Ferner umfasst die Thematik auch gesellschaftspolitische Dimensionen. Was für eine Leistung soll durch die genannten Präparate gefördert werden? Eine Pille zur Steigerung der Kreativität gibt es bisher nicht, aber in einem Bildungssystem, welches fast ausschließlich auf die penible Reproduktion von Wissen ausgerichtet ist, repräsentiert der Drang zur Wunderpille nur die neue Religion der Selbstoptimierung.
35% 30% 25% 20% 15% 10% 5%
Gründe für die Nutzung von leistungssteigernden substanzen unter Studierenden*
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In der Alltagssprache werden mit Drogen vor allem unerlaubte Substanzen assoziiert; die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung teilt sie jedoch ein in Alkohol, Nikotin und illegale Drogen.
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Schiffmann, I. (2011): Mit Pillen gegen die Prüfungsangst. In: Frankfurter Allgemeine, 02.04.2011.
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Glaeske, G. et al. (2015): Medikamentenabhängigkeit. In: Suchtmedizinische Reihe, Band 5. Hamm: Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
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weiterführende Literatur
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*Quelle: Statista, 2011
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philou.
Koffein
Amphetamine
Koffein ist wohl eine der bekanntesten und weltweit am häufigsten konsumierten psychoaktiven Substanzen. Oftmals ist es Bestandteil von Genussmitteln wie Kaffee, Cola, Tee, Mate und Energy-Drinks. Grundlegend führt Koffeinkonsum in geringen Mengen zur Steigerung der Aufmerksamkeit, zur Verbesserung des Konzentrationsvermögens sowie zur Beseitigung von Müdigkeitserscheinungen. Bei starker Einnahme über mehrere Tage entwickelt sich eine körperliche Toleranz, die wiederum für die Betroffenen nur durch einen vermehrten Konsum ausgeglichen werden kann. Wenn der Koffeinkonsum plötzlich stark eingeschränkt wird, können sogar Entzugserscheinungen wie Kopfschmerzen, Energieverlust und Schläfrigkeit auftreten, welche aber kurzfristig wieder abklingen. Des Weiteren können bei Dosen von mehr als einem Gramm Erregungserscheinungen, ein stark erhöhter Puls sowie Herzrhythmusstörungen auftreten.
Medizinisch werden Amphetamine eingesetzt als Mittel bei Narkolepsie und ADHS – die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, welche insbesondere bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen auftritt. Bei den meisten Menschen löst Amphetamin Euphorie aus, erhöhte Wachheit und Konzentrationsfähigkeit, gekoppelt mit Appetitlosigkeit. Sechs bis acht Stunden nach dem Gebrauch kommt es zum sogenannten Abturn; Nervosität, Schwitzen, Kopfschmerzen und sogar depressive Symptome sind üblich. Die abwechselnde Einnahme von Uppern (Stimulanzien wie die Amphetamine) und Downern (Beruhigungsmittel wie z.B. Cannabis) kann schnell in eine Suchtspirale führen. Regelmäßiger Konsum erhöht zusätzlich die Reizbarkeit und Aggressivität. In Deutschland sind alle amphetaminhaltigen Arzneimittel rezeptpflichtig und müssen auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet werden. Sie werden nur verschrieben, sofern Methylphenidat und Atomoxetin zuvor keine oder unzureichende Wirkung zeigten. Amphetamine sind auch in der Drogenszene beliebt und unter Bezeichnungen wie Pep oder Speed bekannt.
Methylphenidat Methylphenidat (Handelsname Ritalin) ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Amphetamine mit stimulierender Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Es wird auch zur Behandlung bei ADHS und Narkolepsie eingesetzt, bei letzterer jedoch eher selten. Methylphenidat wird als sogenannte Smart Drug zur kognitiven Leistungsförderung auch von Studierenden missbraucht, um die akademischen Leistungen zu verbessern. Durch die Freisetzung von Dopamin sind die Effekte ähnlich wie bei Kokain. Wie bei den Amphetaminen führt die Einnahme von Methylphenidat zu einem High, verbunden mit einer erhöhten Leistungsfähigkeit. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Schlaflosigkeit, Krämpfe, Ticks, Übelkeit und Gelenkschmerzen.
Modafinil Modafinil ist in erster Linie ein Arzneimittel zur Behandlung von Narkolepsie und fällt in Deutschland unter die normale Verschreibungspflicht – formal zählt es damit nicht zu den Betäubungsmitteln. Es gehört zur Gruppe der wachhaltenden, psychostimulierenden Substanzen, hat aber keine strukturellen Ähnlichkeiten mit den Amphetaminen. Modafinil fördert zentral die Wachheit und die Aufmerksamkeit und steigert die motorische Aktivität. Ob es die Stimmung beeinflusst und euphorisiert, ist umstritten. Der genaue Wirkungsmechanismus dieser Substanz ist zwar nicht bekannt, bei einer Vergleichsstudie konnte jedoch aufgezeigt werden, dass sich die Wirkung erst bei komplexen Aufgaben richtig entfaltet: Es verbesserte die Entscheidungsfähigkeit und das strategische Denken. Modafinil kann sowohl als Smart Drug als auch als Dopingmittel im Wettkampf verwendet werden. Daher steht es auf der Verbotsliste der Anti Doping Agentur Deutschland.
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artikel
nichts ist unmöglich
Caffeine C o n n e cti o n VON Barbara bong, Chemie
Ein Molekül für Hausarbeiten, Klausurphasen und schlaflose Nächte
In jeder frühen Vorlesung, wenn ich mich mit meinem geliebten Coffee-to-go auf die Hörsaalbank zwänge, beschwert sich mein bester Freund über den Kaffeegeruch. Jedoch gehört er als bekennender Nicht-Kaffee-Trinker zu einer Minderheit in Deutschland, denn die Deutschen zählen zu den Top Five der europäischen Kaffeekonsumenten. Außerdem trinken sie sogar größere Mengen Kaffee als Bier oder Wasser. Das bedeutet, dass in Deutschland jährlich etwa 650 Tassen Kaffee pro Person konsumiert werden, wovon jede circa 90 Milligramm Koffein enthält (vgl. Warnecke 2018). Aber was genau ist das für eine Substanz, die wir als Wachmacher schätzen? Was bewirkt das Koffein in unserem Körper? Und bleiben Teetrinker von diesem Stoff verschont?
Um zu verstehen, warum das Koffein als Wachmacher bekannt ist, soll zunächst das Müdigkeitsgefühl betrachtet werden: Unser Körper verbraucht ständig Energie, egal ob wir schlafen, die Nacht zum Lernen nutzen oder Sport treiben. Bei den energieverbrauchenden Prozessen entsteht in den Körperzellen die Substanz Adenosin. Diese Adenosin-Moleküle docken an Rezeptoren an. Bei einer hohen Konzentration an Adenosin wird hierdurch dem Körper „Müdigkeit“ signalisiert und es folgt eine Beruhigungsphase der Zelle. Doch Koffein kann diese Rezeptoren austricksen: Da die chemische Struktur von Koffein sehr ähnlich zu der des Adenosins ist, können auch Koffeinmoleküle die Adenosinrezeptoren besetzten. Entsprechend kann an diesen blockierten Rezeptoren dann kein Adenosin mehr andocken und es kommt nicht zur Entspannungsphase. Somit wird kein Müdigkeitsgefühl vermittelt (vgl. Fredholm 1995: 93ff.).
Natürlicher Ursprung – wirkungsvolle Chemie Koffein ist eine natürliche Substanz, die in der Kaffeebohne vorkommt. Weiterhin findet sie sich auch in zahlreichen anderen Pflanzen, wie Tee, Mate oder der Kolanuss. Lange Zeit wurde vermutet, dass in Tee eine andere Substanz, Teein, enthalten ist. Allerdings ist heute bekannt, dass es sich auch hierbei um Koffein handelt, wobei in einer Tasse Tee nur etwa halb so viel Koffein enthalten ist wie in einer Tasse Kaffee (vgl. European Food Safety Authority 2017: 1ff.).
Weiterhin wird durch das Koffein die Ausschüttung von Stresshormonen, zum Beispiel Adrenalin und Cortisol, angeregt. Dies führt zu einer Erhöhung von Puls und Blutdruck. Diese Effekte werden bei mäßigem Koffeinkonsum als anregend empfunden, da Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit erhöht werden. Bei sehr hohen Koffein-Dosen können unerwünschte Wirkungen, wie Zittrigkeit oder Herzrasen auftreten. Für eine toxische Wirkung würde allerdings eine Menge von über 500 Milligramm Koffein benötigt und selbst die größten Kaffeeliebhaber trinken die hierfür benötigten acht Tassen Kaffee nicht schnell genug hintereinander (vgl. Fredholm 1995: 93ff.; European Food Safety Authority 2017: 1ff.).
Aus chemischer Sicht gehört Koffein zu den Alkaloiden. Das heißt, es ist eine Base, bestehend aus einem Kohlenstoffring, in dem auch Stickstoff eingebunden ist. Die Einnahme von Alkaloiden verursacht häufig starke körperliche Reaktionen. Bekannte Alkaloide sind beispielsweise Nikotin, Kokain oder Morphin (vgl. Mortimer et al. 2014: 585). 11
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Außerdem variiert die Wirkung des Koffeins bei jedem Menschen, abhängig beispielsweise vom persönlichen Stoffwechsel. Etwa 15 bis 120 Minuten nach dem Konsum von einer Tasse Kaffee wird ein Maximum von 0,5 bis 3 Milligramm pro Liter Koffein in den Körperflüssigkeiten erreicht (vgl. Bayer et al.: 20f.; Fredholm 1995: 93ff.). Um diese hohe Koffeinkonzentration für den Start in den Tag auszunutzen, erscheint es sinnvoll, nach dem Aufstehen als erstes Kaffee zu trinken. Doch wissenschaftliche Studien kommen zu anderen Ergebnissen:
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Die beste Methode, das Leben angenehm zu verbringen, ist, guten Kaffee zu trinken. Und wenn man keinen haben kann, so soll man versuchen, so heiter und gelassen zu sein, als hätte man guten Kaffee getrunken.
Nach dem Aufstehen wird vom Körper automatisch eine große Menge Cortisol ausgeschüttet, sodass etwa eine halbe Stunde nach dem Wachwerden ein Konzentrationsmaximum an Cortisol vorzufinden ist. Dies sorgt für ein „Wach-Gefühl-Maximum“, welches durch die Koffeineinnahme nahezu nicht mehr erhöht werden kann. Somit wird die gewünschte wachmachende Wirkung durch den Kaffee nicht ausgenutzt. Daher ist es sinnvoller, den morgendlichen Kaffee später zu trinken, nämlich erst eine Stunde nach dem Aufwachen. Denn dann kann das Koffein zusätzlich zu dem körpereigenen Wachmacher, dessen Konzentration sodann schon gesunken ist, wirken. Durch diese Kombination wird ein optimaler anregender Effekt erzielt (vgl. Lovallo et al. 2005: 734ff.).
Jonathan Swift
<< Verwendet wird der Samen der Kaffeepflanze: die Kaffeebohne. Die rohe, getrocknete Bohne enthält zwar Koffein, allerdings nahezu keine Aromastoffe und schmeckt demnach nicht. Daher muss die grüne Kaffeebohne geröstet werden: Die Bohnen werden auf Temperaturen von 250 °C erhitzt, wodurch wichtige chemischen Reaktionen zur Bildung der Aromastoffe ablaufen (vgl. Bayer et al. 1997: 11f.).
Natürlich zeichnet sich ein guter Kaffee neben der Wirkung auch durch das Aroma aus. Lange Zeit wurde vermutet, dass das Kaffeearoma durch eine bestimmte Substanz verursacht wird. Jedoch ist seit 1995 bekannt, dass es sich um über 1000 Aromastoffe handelt. Hiermit ist Kaffee sogar eines der aromareichsten Nahrungsmittel. Allerdings wird das typische Empfinden nur von circa 25 Aromasubstanzen beeinflusst. Diese variieren je nach Sorte und Röstung und sind somit das Geheimnis eines jeden Kaffeeherstellers (vgl. Bayer et al. 1997: 16).
O H3C N O
Während des Röstvorgangs sinkt das Gewicht der Bohne, allerdings nimmt ihr Volumen deutlich zu. Die Gewichtsabnahme kann auf das Verdampfen einiger Substanzen, wie zum Beispiel Wasser zurückgeführt werden. Um die Volumenzunahme zu erklären, lohnt sich eine Betrachtung des Bohneninnenraums. Hier findet sich ein Zellverband, in dem Zellwände die Zellen voneinander abtrennen. Somit kann jede Zelle als ein kleines Chemielabor betrachtet werden. In diesem Labor laufen durch die Wärmezufuhr Reaktionen ab. Schon ab einer Temperatur von 60 °C beginnen sich Inhaltsstoffe aus der Zellwand zu lösen, sodass die Wand im Verlauf des Röstens durchlässig wird. Bei 100 °C bilden sich Gase, beispielsweise verdampft das Wasser. Außerdem laufen Prozesse ab, die auch beim Backen oder Braten relevant sind: die sogenannte Maillard-Reaktion. Hierbei werden aus Aminosäuren und Zuckern Stoffe gebildet, die für das Aroma und die braune Färbung verantwortlich sind (vgl. Mottram et al. 2002: 448).
CH3 N
N CH3
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Ab ca. 150 °C entstehen Säuren, die für den typischen Kaffeegeschmack wichtig sind. Außerdem haben sich durch die fortlaufenden Reaktionen größere Mengen zweier Gase gebildet: Kohlenstoffmonoxid und Kohlenstoffdioxid.
KoffeinMolekül
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Aufgrund dieser Gase erhöht sich der Druck in der Bohne auf bis zu 20 bar. Manche Zellen platzen, wenn sie diesen hohen Druck nicht mehr aushalten können. Dies ist als Knacken hörbar. Allerdings laufen durch die Druckerhöhung auch die erwünschten chemischen Reaktionen schneller ab, sodass das typische Aroma entsteht. Wenn die Bohnen eine Temperatur von 200 °C erreicht haben, sind ihre Wände so durchlässig geworden, dass Kaffeeöle austreten können. Bei Erreichen von 250 °C werden die Bohnen möglichst schnell abgekühlt, wodurch sich die laufenden chemischen Reaktionen verlangsamen und schließlich ganz stoppen. Bei einer zu starken Erhitzung würden bereits gebildete Aromastoffe durch weitere Reaktionen zerstört. Somit ist auch das Abkühlen wichtig, um einen entsprechend guten Geschmack zu gewährleisten (vgl. Bayer et al. 1997: 16; Matissek/ Baltes 2016: 558ff.).
Bewusster Konsum? Neben dem Genuss des erwünschten Geschmacks, konsumieren die meisten Menschen Koffein im Kampf gegen die Müdigkeit. Die Aufnahme dieses anregenden Alkaloids kann hierbei durch Kaffee erfolgen, jedoch gibt es auch zahlreiche andere Lebensmittel, die Koffein enthalten. Ein regelmäßiger oder erhöhter Konsum kann aber unerwünschte körperliche Auswirkungen haben, beispielsweise wenn Betroffene nach Koffeinentzug Beschwerden verspüren. Allerdings handelt es sich hierbei meist um harmlosere Leiden, wie zum Beispiel Kopfschmerzen, die zeitlich begrenzt sind. Eine toxische Wirkung tritt bei einem gesunden Menschen durch konsumübliche Mengen nicht auf (vgl. Juliano/ Griffiths 2004: 1ff.). Doch gibt es abseits hiervon nicht noch weitere Gründe, die den Kaffeekonsum so populär machen? Das Zusammensitzen mit Freunden erscheint mit einer Tasse Kaffee gemütlicher, genauso wie das sonntägliche Kaffeetrinken mit der Familie vom Röcheln der Kaffeemaschine geprägt ist. Und auch die Frage „Hast du Lust ein Wasser mit mir trinken zu gehen?“ ist selbst für Teetrinker selten eine reizvolle Einladung zum Kennenlernen. Aufgrund der verschiedenen Bedürfnisse werden unterschiedlichste Kaffeegetränke konsumiert. Somit ist eine Variation der genauen Bedingungen des Röstens wichtig, um die unterschiedlichen Aromen und Eigenschaften des Kaffees zu beeinflussen. Doch der hohe Kaffeekonsum hat darüber hinaus weitreichende Auswirkungen: Weltweit arbeiten etwa 25 Millionen Menschen dafür, dass der fertige Kaffee den Konsumenten erreicht, von Anpflanzung 13
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KAFFEE
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Pro-Kopf-Konsum von Getränken in Deutschland im Jahr 2016*
und Ernte über die Röstung bis hin zum Vertrieb. Häufig ist jedoch der Weg der Kaffeebohne mit Ausbeutung der Natur und des Menschen verbunden. Insbesondere die Kaffeebauern erhalten meist sehr geringe Löhne. Weiterhin wirkt sich der Anbau negativ auf die Natur aus. Beispielsweise durch Rodungen von Waldstücken, wenn neue Plantagen angelegt werden oder durch den Einsatz von Pestiziden (vgl. Eicheler 1938: 2ff.). Somit sollte sich der Konsument seiner Verantwortung bewusst sein und auf die Handlungs- und Anbaubedingungen des Kaffes achten, da hier bedeutende Unterschiede bestehen.
* Quelle: Statista, 2017
Literatur Bayer, J. et al. (1997): Faszination Kaffee. Köln: Quarks Skript. Eicheler, O. (1938): Kaffee und Koffein. Berlin, Heidelberg. Springer Berlin Heidelberg. European Food Safety Authority (Hg.) (2017): Koffein. Parma: Amit für Veröffentlichungen. Fredholm, B. (1995): Adenosine, Adenosine Receptors and the Actions of Caffeine. In: Pharmacology & Toxicology. 76. Jg. 1995/2. S. 93–101.
Doch kennen die meisten Studenten die Erfahrung, dass lange Tage in der Bibliothek während der Klausurphase sich besser ertragen lassen, wenn sie von Kaffeepausen durchbrochen sind. Diese lassen sich jetzt versüßen, indem man die Kommilitonen währenddessen mit Kaffeehintergrundwissen versorgt.
Juliano, L./ Griffiths, R. (2004): A critical review of caffeine withdrawal: Empirical validation of symptoms and signs, incidence, severity, and associated features. In: Psychopharmacology. 176. Jg. 2004/1. S. 1–29. Lovallo, W. R. et al. (2005): Caffeine Stimulation of Cortisol Secretion Across the Waking Hours in Relation to Caffeine Intake Levels. In: Psychosom Med. 67. Jg. 2005/5. S. 734–739. Matissek, R./ Baltes, W. (2016): Lebensmittelchemie. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. Mortimer, C. et al. (2003): Chemie: Das Basiswissen der Chemie. Stuttgart: Thieme. 11. Auflage 2014. Mottram, D. et al. (2002): Acrylamide is formed in the Maillard reaction. In: Nature. Jg. 419. 2002/6906. S. 448–449. Warnecke, B. (2018): Kaffeewissen. In: Deutscher Kaffeeverband. Online verfügbar unter: www.kaffeeverband.de/de/kaffeewissen [Zugriff: 25.04.2018].
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nichts ist unmöglichch
Sw e e t s w e e t L o vi n ‘ VON merle riedemann, MEDIZIN
regulation der nahrungsaufnahme
Klößchen Meier erschrickt, als er von der Waage im Badezimmer steigt. Ganze zehn Kilo hat er in seinem ersten Jahr als Student an der RWTH zugelegt, dabei war er doch immer schlank. Als Klößchen seiner Mitbewohnerin Lisa, einer eingefleischten Veganerin, sein Leid über die verlorene Strandfigur klagt, glaubt sie, auch schnell die Ursache zu erkennen: Klößchens Lieblingstag ist nämlich der Dienstag. Da gibt es Schnitzel in der Mensa. Aber warum schmeckt das Klößchen so gut? Hilft seine Thermo-Frustschokolade ihm wirklich oder sorgt sie nur für seine bessere Isolierung? Und ist seine Vorliebe für Pizza und Gummibärchen gar krankhaft, wie Lisa meint?
Die vegetativen (unbewussten) Regulationszentren der Nahrungsaufnahme liegen hauptsächlich im Hypothalamus und bestehen aus vier Kompartimenten. 1. Das Sattheitszentrum im Nucleus paraventricularis 2. Das Hungerzentrum im lateralen Hypothalamus 3. Nucleus arcuatus 4. Nucleus tractus solitarius in der Medulla oblongata Hunger- und Sattheitszentrum bekommen sowohl Informationen aus der Peripherie, zum Beispiel über den Füllstand von Klößchens Magen, durch sogenannte Neuronen erster Ordnung, als auch durch Nerven, welche zwischen den beiden Zentren verlaufen (Neuronen zweiter Ordnung).
Sturm und Drang Grundsätzlich lässt sich Motivation in homöostatisch und nicht-homöostatisch aufteilen. Der Körper ist stets bemüht, einen konstanten Zustand herzustellen, die sogenannte Homöostase. Darunter fällt zum Beispiel Klößchens Körpertemperatur, aber auch sein Blutzuckerspiegel. Sackt dieser während der Zwölf-Uhr-Vorlesung ab, verspürt er „Hunger“ und dieser zieht ihn in die Mensa – sein Körper hat durch Nahrungszufuhr den Ausgleich des Blutzuckerspiegels veranlasst (homöostatischer Trieb). Klößchen strebt aber auch nach anderen Dingen, zum Beispiel nach guten Noten und Harmonie in seiner WG. Diese Motivationen bezeichnet man als „nicht homöostatisch“, da sie nicht rein körperlich bzw. direkt überlebensnotwenig sind. „Und warum esse ich gerne Schokolade zum Nachtisch, wenn ich eigentlich längst satt bin?“, fragt Klößchen. Das liegt an der Überschneidung von homöostatischer und nicht-homöostatischer Motivation beim Essen. Um diese zu verstehen, müssen wir uns erst mit der Regulation der Nahrungsaufnahme und dann mit dem Belohnungssystem auseinandersetzen.
Die Aktivität der Nerven wird durch Botenstoffe reguliert. „Orexigene“ hemmen das Sattheitszentrum, stimulieren das Hungerzentrum und sorgen so für Nahrungsaufnahme. „Anorexigene“ haben einen gegenteiligen Effekt: Diese Botenstoffe werden vom Körper als Reaktion auf Nahrungsmangel bzw. -aufnahme gebildet. Der Nucleus arcuatus ist ein weiteres wichtiges Zentrum in der Regulation der Nahrungsaufnahme. Diese Nerven haben Rezeptoren für Leptin, ein Hormon, dessen Konzentration vom Fettgehalt des Körpers abhängt. So bekommen sie direkt Informationen über den Zustand des Körpers, die sie über Transmitter an das Hunger- oder Sattheitszentrum weitergeben. Da Klößchen zehn Kilogramm zugenommen und jetzt nicht mehr ganz Normalgewicht hat, kommt es zu einem erhöhten 15
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Körperfettgehalt, in Folge zu einem erhöhten Leptinspiegel, sodass im Nucleus arcuatus Anorexine ausgeschüttet werden, welche die Nahrungsaufnahme drosseln. Der finale Teil der Regulation findet im Nucleus tractus solitarius statt, der sowohl Informationen aus dem Hunger- und Sattheitszentrum als auch aus der Peripherie zum Beispiel über den Geschmack erhält. Die unterschiedlichen Reize werden verarbeitet und von der unbewussten Ebene auf die bewusste Empfindungsebene weitergeleitet. Klößchen verspürt „Hunger“ oder „Sattheit“. In der Regulation der Nahrungsaufnahme muss zwischen Kurzzeit- und Langzeitregulation unterschieden werden: Klößchens Fettreserven beeinflussen die Langzeitregulation, sie soll dafür sorgen, dass sein Ernährungszustand langfristig ausgeglichen ist und agiert eher als Hintergrundtendenz. Die Kurzzeitregulation kümmert sich hingegen um Klößchens aktuelle Versorgungslage und schnell schwankende Parameter. Ist sein Magen leer und der Blutzuckerspiegel niedrig, wird sofort Alarm geschlagen und Klößchen solange von Hunger geplagt, bis er isst. So wird die tägliche Nahrungsaufnahme über „Sattheit“ und „Hunger“ reguliert. Kurzzeitregulation
Der Schokoladenkonsum erhöht den Blutzuckerspiegel und das wird von Glucosesensitive-Nerven, auch „Glucostaten“ genannt, im Hunger- und Sattheitszentrum sowie im Nucleus tractus solitarius registriert. Als Folge dessen hemmen sie die Orexinfreisetzung („Hunger-Botenstoffe“) und stimulieren das Sattheitszentrum.
In der Kurzzeitregulation sind Nucleus tractus solitarius, Hypothalamus und Nucleus arcuatus die hauptsächlich agierenden Elemente. Der grundlegende Ablauf ist folgendermaßen: Während und nachdem Klößchen sein heiß geliebtes Schnitzel vertilgt hat, werden Dehnungs- und chemische Signale aus dem Magen-Darm-Trakt an den Nucleus tractus solitarius und zum Hypothalamus weitergeleitet. Das Hungerzentrum wird gehemmt und Klößchen fühlt sich wohlig satt und zufrieden.
Bei einer Unterzuckerung läuft dieser Prozess umgekehrt ab. Die Glucostaten messen eine geringe Konzentration von Glucose und regen die Produktion von Orexinen an, sodass sich ein Hungergefühl einstellt. „Schokolade hilft mir also gegen mein Mittagstief, aber warum macht sie mich glücklicher?“ will Klößchen wissen. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zuerst das Belohnungssystem anschauen:
„Das erklärt jetzt aber noch nicht, wieso ich gerne Pizza mag und warum Lisa so viel Salat essen muss, um satt zu werden“, wirft Klößchen ein. Eine äußerst berechtigte Frage, denn die chemischen Signale lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden:
Belohnungssystem
1. Botenstoffe, die als Folge der Nahrungsaufnahme freigesetzt werden. In diese Kategorie fallen verschiedene Botenstoffe und Signale, von Geruchs- und Geschmackssinn bis hin zur Verdauung. Einer der einflussreichsten ist das Peptid YY, isst Klößchen etwas Fettiges, etwa eine Portion Pommes, so wird das Anorexin PYY im Dünndarm ausgeschüttet und hemmt sein Hungergefühl.
Die dopaminergen Nerven des Mittelhirns sind für die positive Verstärkung verantwortlich, sie leiten Signale hauptsächlich zum Nucleus accumbens. Zusammen mit weiteren Gebieten im Hirn bezeichnet man sie als „Mesolimbisches Dopaminsystem“. Gemein ist all diesen Nerven, dass sie den Botenstoff Dopamin sowohl produzieren als auch für ihn empfänglich sind. Wird er ausgeschüttet bzw. die entsprechenden Nerven aktiviert, empfindet Klößchen „Freude“.
2. Nahrungsbestandteile selbst. Einige Nahrungsbestandteile können auch selbst als Signal dienen, darunter fällt zum Beispiel Glucose (Zucker).
Diese Nerven können aber nicht nur natürlich stimuliert werden, sondern auch künstlich, etwa wenn Klößchen das Ritalin seiner kleinen Schwester nimmt, um länger wach zu bleiben (Methylphenidat oder allgemein Amphetamin
An manchen Tagen als von HöMa geplagter Ersti hilft Klößchen nur eins: Ein Abstecher zu Lindt mit anschließender Verkostung. 16
nichts ist unmöglich Als Folge dessen wird zunehmend mehr Suchtmittel benötigt und es kommt zu Entzugserscheinungen durch Dopaminmangel, wenn die Droge nicht eingenommen wird. „Da siehst du es, davor habe ich dich doch schon immer gewarnt.“, empört sich Lisa, „Ein bisschen Kiffen meinetwegen, aber du solltest wirklich aufhören diese Pillen einzuschmeißen. Versuch es doch lieber mal mit Lavendel, das soll ja auch ganz hervorragend gegen Konzentrationsschwäche helfen“ schlägt sie vor. „Ok, ok, meinetwegen, aber was hat das ganze überhaupt mit Essen zu tun?“ fragt Klößchen konsterniert. Nahrungsaufnahme als Suchtmittel Das Hungerzentrum liegt im lateralen Hypothalamus und ist mit dem Nucleus accumbens (Teil des mesolimbischen Dopaminsystems) verbunden (s. Abb.). Deshalb ist für Klößchen ein leerer Magen eine Plage und er nach dem Essen „satt und zufrieden“. „Essen“ ist ein natürlicher Anreiz und Belohnung, der vor dem Verhungern durch Gleichgültigkeit schützt. Auch wenn Komponenten wie Geruch, Geschmack, Aussehen, soziale Komponenten und Vorhersagewert eine Rolle spielen, lässt sich grob sagen:
hemmt den Dopaminabbau) oder mit seinen Freunden kifft (THC fördert die Dopaminausschüttung), dann fühlt er sich richtig gut.
Je fettiger und süßer unsere Nahrung, desto höher die Stimulation des „Ernährungszentrums“ und desto höher die Dopaminausschüttung. Das hat Klößchen nicht gewusst und kann es nicht ganz glauben. „Ist das denn überhaupt gesichert?“
Sucht „Dass man sich durch Drogen glücklicher fühlt, wusste ich doch schon vorher, aber wieso sollte das denn gefährlich sein?“ hakt Klößchen nach. Wird das mesolimbische System nicht natürlich, zum Beispiel durch Medikamentenmissbrauch, sehr stark gereizt oder der Dopaminabbau gehemmt, so steht eine unphysiologisch hohe Menge Dopamin zur Verfügung („Kick“) und eine damit verbundene Euphorie entsteht. Das ist genau der Zustand, den Klößchen und alle anderen Drogenkonsumenten erreichen wollen. Übertreibt man es jedoch, etwa durch wiederholten Drogenkonsum in kurzen Abständen hintereinander, kommt es zu einer Gewöhnung und eine Sucht kann sich entwickeln. Je größer die ausgeschüttete Dopaminmenge, respektive je stärker die Droge, desto höher ist dabei das Suchtpotential.
In wie weit man von Nahrungsmitteln und insbesondere Zucker süchtig werden kann und ob es sich dabei um eine rein psychische oder tatsächlich körperliche Sucht handelt, ist weiterhin strittig. Fest steht, dass Nahrung einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden hat und die Nahrungsaufnahme generell Freude bereitet. So korreliert etwa die Dopaminausschüttung nach der Nahrungsaufnahme proportional zum dabei empfundenen Vergnügen und bei stark Übergewichtigen misst man einen verminderten Dopaminspiegel, welcher auch bei Drogensüchtigen festgestellt werden kann. Sehr eindrücklich ist auch, dass DD-Mäuse (dopamine-deficient), welche kein Dopamin produzieren, nicht nur unter völliger Antriebslosigkeit leiden, sondern nach kurzer Zeit verhungern. Weiterhin hat die Glucoselösung, neben ihrer Funktion als Energielieferant, als wirksames Beruhigungsund Schmerzmittel für Neugeborene Einzug in Arztpraxen und Krankenhäuser erhalten und kann signifikant, quasi nebenwirkungsfrei, Schmerzen reduzieren.
Hierbei ist es wichtig, zu verstehen, dass die betreffende Person süchtig nach der starken Dopaminausschüttung bzw. der verstärkten Aktivität dopaminerger Nerven ist, nicht primär nach der Substanz (Suchtmittel).
„Fazit: ich bin def initiv die gesündere, schlankere, unabhängigere, schlichtweg einfach bessere Person von uns beiden“, stichelt Lisa. „Fragt sich nur, ob du auch die glücklichere bist.“
Im Verlauf einer Sucht lässt sich weiterhin beobachten, dass das Verlangen kontinuierlich zu- und das Gefühl der Euphorie nach Einnahme stetig abnimmt. Ursache hierfür ist, dass die natürlich vom Körper produzierte Menge Dopamin durch Anpassungsmechanismen unter Drogenkonsum abnimmt, ebenso wie die Empfindlichkeit der Nerven für Dopamin.
* Anm. d. Verf.: Dieser Beitrag soll keineswegs eine Ernährungsempfehlung darstellen.
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literatur Dilen, B. et al. (2010): Oral glucose solution as pain relief in newborns: results of a clinical trial. In: Birth Issues in perinatal care. 37. Jg. 2010/2. S. 98–105. Marck, B. et al. (2001): Dopamine production in the caudate putamen restores feeding in dopamine-deficient mice. In: Neuron. 30. Jg. 2001/3. S. 819–828.
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Coccurello, R./ Maccarrone, M. (2018): Hedonic Eating and the “Delicious Circle”: From Lipid-Derived Mediators to Brain Dopamine and Back. In: Frontiers in Neuroscience. Vol. 9.
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Pape, H.-C. et al. (Hg.) (2014): Physiologie. Georg Thieme Verlag. Schmidt, R. et al. (Hg.) (2010): Physiologie des Menschen. Springer. An zeig e
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Die großen Leute lieben nämlich Zahlen. Wenn ihr euch über einen neuen Freund unterhaltet, wollen sie nie das Wesentliche wissen. Sie fragen dich nie: „Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge?“ Sie wollen lieber wissen: „Wie alt ist er? Wie viele Brüder hat er? Wieviel wiegt er? Wieviel verdient sein Vater?“ Erst dann werden sie glauben, ihn zu kennen. Und wenn ihr den großen Leuten erzählt: „Ich habe ein sehr schönes Haus mit roten Ziegeln gesehen, mit Geranien vor den Fenstern und Tauben auf dem Dach …“ werden sie sich das Haus nicht vorstellen können. Ihr müsst vielmehr sagen: „Ich habe ein Haus gesehen, das hunderttausend Franken wert ist.“ Dann kreischen sie gleich: „Oh, wie schön!“ Bedürfnis
Antoine de Saint-Exupéry, der kleine Prinz
Subjektiv empfundenes Mangelgefühl, welches durch Konsum oder andere Aktivität behoben werden kann. Beispiele: Nahrung, Sicherheit, soziale Anerkennung.
Are these things really better than the things I already have? Or am I just trained to be dissatisfied with what I have now?
Nutzen Fähigkeit eines Gutes, Bedürfnisse zu befriedigen. Beispiel: Brot befriedigt Nahrungsbedürfnis.
Chuck Palahniuk, Lullaby
das einzig
wahre 19
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opener
W e l <3 v e t o e n t e rt a i n y o u
VON nina lentzen (poLITIKWISSENSCHAFT), caner dogan (gesellschaftswissenschaften) und Sofia eleftheriadi-z. (lEHRAMT GERMANISTIK/ANGLISTIK)
Instadies, Instadas
Facebook, Instagram, Tinder, Snapchat – die Liste der Social-Media-Kanäle kann beinahe nach Belieben erweitert werden. Die Form der Selbstdarstellung in den Weiten des Internets ist nicht wirklich neu, ziemlich neu hingegen ist die Dimension, die sie zuletzt beim Anbieter Instagram annimmt. Eine neue Ära wurde eingeleitet: Die sogenannten Influencer. Das Wort leitet sich vom englischen Verb to influence ab, was im Deutschen mit beeinflussen übersetzt wird. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich vor allem über die Portale Instagram und die Video-Plattform YouTube regelrecht vermarkten. Ob Modetipps, Schminkkurse, Infos zum richtigen Haareglätten, (vermeintliche) Hilfestellungen zur Ernährung oder Sportübungen – es handelt sich um eine schier endlose Liste. Das Angebot bei Instagram ist groß und nahezu für jede Nutzergruppe ist etwas dabei. Influencer sind mittlerweile regelrecht ins kollektive Bewusstsein einer neuen Generation gerückt, in deren Zentrum die Kommunikation über Social Media steht. Inzwischen werden auch sie auf Covern von Magazinen abgelichtet. Sogar eine Preisverleihung für die einflussreichsten Beeinflusser_innen Deutschlands gibt es – quasi die Oscars der Influencer, die live und zur besten Sendezeit am Abend im Fernsehen übertragen wird. Doch worum geht es eigentlich genau? Influencer bilden einen Nexus von Interessen. Das erste ist der bereits genannte Drang nach Selbstdarstellung der Influencer. Darüber hinaus gibt es von Seiten der Konsument_innen das Bedürfnis nach authentischen Produktempfehlungen sowie vermeintlich intimen Beziehungen. Zuletzt erhoffen sich Unternehmen einen profitablen Gewinn durch die Vermarktung ihrer Produkte.
Da wäre zum Beispiel die Facebook-Tochter Instagram. Dabei handelt es sich um einen kostenfreien Online-Dienst, über den Nutzer_innen Fotos und Videos verbreiten können. Ob dies öffentlich oder privat, also nur mit gewählten Personen, geschehen soll, können die Nutzer_innen selbst entscheiden. Influencer, egal ob selbsternannt oder nicht, wählen entsprechend ein öffentliches Teilen ihrer Inhalte. Schließlich soll Aufmerksamkeit generiert werden und das geht nun mal am besten mit möglichst vielen Followern (deutsch: Folgende). Was letztendlich gepostet wird, entscheiden die jeweiligen Profilinhaber_innen selbst und ist eng daran geknüpft, wie sie sich selbst darstellen möchten. Als Beispiele für die einflussreichsten Influencer in Deutschland gelten unter anderem Bianca Heinicke, besser bekannt unter dem Namen Bibi oder Bibis Beauty Palace, die zunächst mit Hilfe von Videos mit Schminktipps auf YouTube bekannt wurde, bevor ihr Instagram-Profil nun von knapp sechs Millionen Menschen abonniert wird. Ihr Freund Julian Claßen ist hauptberuflich ebenfalls Instagram-Influencer, sodass die gemeinsame Schwangerschaft selbstverständlich für alle Interessierten mit Hilfe von Videos und Fotos zugänglich gemacht wird. Über das „Bibi-Baby” freuen sich sicherlich nicht nur die werdenden Eltern und deren treue Follower, sondern auch Unternehmen, die babybezogene Produkte verkaufen. Influencer-Expert_innen gehen davon aus, dass Bianca Heinickes Verkaufswert als Influencerin um fünf Prozent steigen wird, da ihr Baby und ihr baldiges Mamablogger-Dasein auch eine neue Zielgruppe eröffnet. 20
DAS EINZIG WAHRE
wie Star-Wars-Robotern. Dabei werden ihm die Produkte mitunter auf Initiative von den Unternehmen zugesandt, damit er ihnen eine entsprechende Plattform bieten kann. Für Unternehmen scheint sich diese Art des Marketings durchaus zu lohnen. Die Digitalagentur Tamba gibt beispielsweise an, dass Unternehmen im Schnitt 6,50$ für jeden im Influencer-Marketing ausgegebenen US-Dollar verdienen. An der chinesischen Universität Yiwu Industrial & Commercial College wird währenddessen ein Studiengang angeboten, in dem Studierende alles Nötige lernen sollen, um letzten Endes ein erfolgreicher Influencer zu werden.
Dagi Bee, die mit Comedy-Videos auf YouTube berühmt geworden ist und derzeit von knapp über fünf Millionen Abonnent_innen auf Instagram täglich begleitet wird, bezeichnet sich in einem Zeit Interview als „das neue Fernsehen für die Jugendlichen da draußen”, aber gleichzeitig auch als eine Freundin, die ihre Zuschauer_innen bei typischen Teenager-Themen unterstützt. Auch die erst 16-jährigen Zwillinge Lisa und Lena sind nicht nur deutschlandweit mit ihren Musik- und Tanzvideos bekannt geworden. Sie verzeichnen aktuell 13 Millionen Follower auf Instagram.
Influencer Marketing scheint für eine Win-win-Situation prädestiniert zu sein: Influencer wittern das große Geld und Unternehmen die enorme Reichweite. Trotzdem hat diese Form der Werbung gewisse Regeln: Es muss auf den ersten Blick ersichtlich sein, dass es sich bei diesem Post um Werbung handelt. Das klappt zumeist schon ganz gut, in anderen Fällen weniger. Beispielsweise wenn Produkte ungeschickt platziert werden oder wenn sie von einer Person beworben werden, deren Profil nicht mit dem der Marke übereinstimmen. Solche Authentizitätsmängel können im Internet schnell mit Spott und Hohn abgestraft
Influencer goes Marketing Soweit so gut. Jetzt könnte man sich die Frage stellen, wozu das Influencer-Dasein denn eigentlich gut ist – abgesehen von Aufmerksamkeit. Die Antwort: als Marketinginstrument. In einer Zeit, in der sich junge Kunden und Kundinnen zunehmend von der bisher üblichen Werbewelt des Fernsehens, der Zeitschriften und Großflächenplakate abgewandt und dem Internet zugewandt hatten, stand das Marketing vor einer neuen Herausforderung. Käufer_innen sollten nun online erreicht werden. Da allerdings Adblocker diese Online Werbung wieder zunichtemachten, kamen den Marketingunternehmen die jungen Menschen, die auf ihren Social-Media-Kanälen immer mehr an Aufmerksamkeit und Followern gewannen, gerade gelegen. Immer mehr Unternehmen setzen nun auf die einflussreichen Instagramnutzer_innen, um ihre Reichweite für den unternehmerischen Erfolg zu nutzen: Bibi wurde beispielsweise vom Reiseanbieter Neckermann eingesetzt. Sie zeigt sich in Videos mit dem neuen Neckermannkatalog und schwärmt von den verschiedenen Angeboten des Anbieters. Der Instagram-Star Caro Daur führt Kooperationen mit den Größen der Modewelt: Dolce & Gabbana, MAC (Make-Up Art Cosmetics), Cartier. In ihren Posts setzt sie sich elegant in Pose und versieht sie mit kaum dezent platzierten Product-Placements. Andere berichten ganz im Sinne des Blogs über ihre Erfahrungen mit Produkten, so z. B. Carsten Hard, besser bekannt unter Technikfaultier. Hard führt Testberichte mit technischen Geräten auf YouTube durch: mit Handys, Computern und allerlei technischem Schnickschnack, 21
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>> Influencer Marketing scheint
werden. Auch wenn die Follower den Kaufempfehlungen der Influencer gerne nachgehen, werden nicht deutlich gekennzeichnete Product Placements den Influencern zunehmend übel genommen. So häufen sich Kommentare wie „geldgeil“ oder „Hast du das wirklich nötig?“ unter den Posts vieler Influencer.
für eine Win-win-Situation prädestiniert zu sein: Influencer wittern das große Geld und Unternehmen die enorme
Spätestens an dieser Stelle stellt man sich als Leser oder Leserin die Frage: Aber warum funktioniert das eigentlich? Zur Beantwortung dieser Frage sollten diverse Komponenten herangezogen werden. Zum einen benötigt man eine Person, die sich gerne öffentlich zeigt; keine Scheu hat, fremden Menschen permanent Einblick in ihr Privatleben zu geben; über die Geduld und Motivation verfügt, regelmäßig neue Inhalte hochzuladen und die vor allem Spaß daran hat, sich selbst darzustellen und die eigene Person zu inszenieren. Aber viel wichtiger sind die Follower, die Konsument_innen der Influencer und damit auch die potenzielle Konsument_innenmasse der ins Spiel gebrachten Produkte. Ohne die Menschen, die täglich die Profile ihrer Lieblingsinfluencer regelrecht abklappern und sich alle Fotos und Videos ansehen, bevor sie diese mühsam einzeln kommentieren, um die Inhalte und Personen dann letzten Endes nachzunahmen, ohne diese Menschen würde das Modell des Influencers schlichtweg nicht funktionieren.
Reichweite. << Produkte den Erwartungen ihrer Follower nicht gerecht werden. Denn sie stehen nun einmal mit ihrem Namen für die Produkte und haben einen Ruf zu verlieren. Auf der anderen Seite sind es die Konsument_innen, deren Bedürfnis nach Filterung von Informationen in der Produktflut einen fruchtbaren Boden für das „Influencertum“ geschaffen hat. Dabei ist es eigentlich keine neue Sache, dass „Autoritäten” aus dem kulturellen Leben Produkte bewerben. Klassische Werbestrategien haben immer mit Stars zusammengearbeitet. David Beckham posiert für Calvin Klein in Unterwäsche, Heidi Klum beteuert, dass die Süßigkeiten von Katjes mit einer Modelfigur völlig d’accord gehen. Doch fehlt in klassischer Werbung die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Konsument_in und Werbenden (oder zumindest der Glaube daran). Darüber hinaus rücken die Unternehmen durch die Influencer in den Hintergrund. Mit herkömmlicher Werbung ist es völlig offen, dass die Unternehmen durch jegliche Maßnahmen versuchen, ihr Produkt unter die Menschen zu bringen. Influencer beteuern die Echtheit, die Qualität des Produkts ohne primär im Verdacht zu stehen, ihre Follower bloß instrumentell als Konsummasse zu begreifen. Influencer Marketing ist eine Art von Mundpropaganda bzw. Word of Mouth Marketing, bei dem Produkte durch eine vertrauenswürdige Person weiterempfohlen werden. Influencer agieren heute als virtuelle Freunde, deren Meinung und Stil gerne adaptiert wird, da sie, wie bisher Schauspieler_innen, Musiker_innen und weitere Personen des öffentlichen Lebens, neue Trends vorleben. Im Gegensatz zu solchen Berühmtheiten wirken Influencer gleichzeitig noch authentisch und nahbar. So liegt es nun nicht mehr in der Verantwortung der Unternehmen, sich als gutes Unternehmen, das nur den Bedürfnissen seiner Konsument_innen dienlich ist, zu verkaufen, sie setzen auf Influencer, die durch ihre Authentizität und scheinbare Nähe zum Erwerb und Konsum von Produkten anregen.
Mit den Influencern reagieren Unternehmen auf neue Entwicklungen innerhalb der spätmodernen Konsumkultur. Der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich nahm in seinem Buch Habenwollen noch an, dass Unternehmen darauf setzen, ihre Marken möglichst unbestimmt zu präsentieren (man denke hier zum Beispiel an nichts und alles sagende Zigarettenwerbungen). Das verwirkliche eine möglichst breite Anschlussfähigkeit zu ihren Konsument_innen und deren je eigenen Projektionen. Abstrakte Produktpräsentationen ermöglichen einer breiten Masse die individuelle Identifikation mit den entsprechenden Produkten. Bei Influencern liegt es ganz gegensätzlich: Sie schaffen gerade eine authentische Beziehung zu den Konsument_innen. Sie erlangen ihr Vertrauen und können sich kaum leisten, dass die von ihnen beworbenen
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DAS EINZIG WAHRE
Z wi s c h e n H a b e n und Sein ich k o ns u m i e r e , a l s o b i n i ch ?
VON Ann-Kristin Winkens, Umweltingenieurwissenschaften
„Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“, lautet der allgegenwärtige Werbeslogan des Drogeriemarktes dm. Basierend auf Goethes zentralem Freiheitsgedanken in Faust („Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“) wurde somit das Sein durch das Konsumieren ersetzt. Identifizieren wir uns also tatsächlich mehr durch das Haben als durch das Sein? Oder basiert unser Sein letztlich nur auf dem Haben?
erhielten. Ausgehend von der Annahme, dass wir unsere Socken, Computer oder Autos jahrelang benutzen bzw. behalten – bis sie irgendwann kaputt gehen – erscheint es naheliegend, dass sie ein Teil von uns werden, denn wir haben sie individualisiert und verinnerlicht (vgl. Rosa 2013: 125). Aber die einst vorherrschende Bindung an den Besitz (kaufen, um zu behalten) ist heute kaum noch festzustellen. Bereits in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die Einstellung zu dem eigenen Besitz und es entwickelten sich zunehmend auf den Verbrauch ausgerichtete Konsummuster (kaufen, um wegzuwerfen). (vgl. Fromm: 75) Die Art der Beziehung zu den Dingen hat sich einhergehend mit der erhöhten Geschwindigkeit ihrer Austauschraten verändert (vgl. Rosa 2013: 125). Zahlreiche Produkte sind heute darauf ausgelegt, sie nicht lange verwenden zu können, denn „neu ist besser“, wie es beispielsweise der Konsum von Smartphones verdeutlicht. Bevor wir eine Beziehung zu der neuen Kleidung, zu dem geleasten Auto oder dem neuen Smartphone aufbauen können, trennen wir uns wieder von ihnen. Auf diese Art können diese Dinge jedoch keinesfalls ein Teil von uns werden und sie bleiben uns fremd (vgl. ebd.: 126).
Der Philosoph Erich Fromm bietet eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen dem Haben und Sein zu erklären. Nach Fromm ist der moderne Konsument dadurch gekennzeichnet, dass er ist, was er hat und was er konsumiert (Fromm 1976: 36). Konsum sei eine Form des Habens, des Besitzes. Konsumieren kann – nach Fromm – zweideutig aufgefasst werden: Das bereits Konsumierte kann nicht wieder entzogen werden. Es ist ein abgeschlossener Akt. Dennoch ist dieser Akt Teil eines Prozesses, denn es hinterlässt ein Bedürfnis nach mehr. Die Befriedigung durch den Konsum ist lediglich temporär und muss, um aufrechterhalten zu werden, wiederholt werden. Fromms Aussage „Ich (Subjekt) habe O (Objekt)“ (ebd.: 80) drückt die Definition des Seins durch den Besitz aus. Demnach bin nicht ich selbst das Subjekt, sondern ich bin, was ich habe (vgl. ebd.). Die Dinge, die wir besitzen, mit denen wir arbeiten und leben, beeinflussen das Sein und unsere Identität – aber wie sieht die Beziehung zu diesen Dingen aus?
Festzustellen ist weiterhin ein Wandel des Konsums im 21. Jahrhundert – soziale Konsummuster wie Sharing und Prosuming scheinen zunehmend dem kapitalistisch orientierten Besitzdenken entgegenzuwirken und ein „postmoderner Konsument“ scheint sich hervorzuheben: Ich bin, was ich nicht habe und nicht konsumiere. Entgegengesetzt der Logik der Wachstumsgesellschaft geht es heute immer häufiger darum, Dinge nicht zu besitzen, sie zu teilen oder wegzugeben. Streaminganbieter wie Spotify, Amazon
Früher wurde alles, was man besaß, gepflegt; der Besitz wurde solange benutzt, wie es nur irgendwie möglich war – heute besitzen die Großeltern häufig noch Gegenstände von ihren Eltern, die sie wiederum von ihren Eltern 23
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Prime oder Netflix ermöglichen den zeitweisen Zugang zu von anderen geschaffenen Medien, ohne dass diese in den eigenen Besitz übergehen (wie einst die klassische DVD oder CD). Wohnungen werden lieber gemietet, als gekauft – obwohl dies langfristig nicht zwangsläufig günstiger ist. Spätestens seit Beginn des übergreifenden Diskurses über Ressourcenverknappung, Klimawandel sowie Umweltverschmutzung, hat der Besitzende ein Problem mit seinem Image: Es gehört sich nicht, viel mehr zu besitzen, als man eigentlich braucht – zu viel Besitz geht zunehmend mit dem Vorwurf von Verantwortungslosigkeit einher (vgl. Oberhuber 2016). Beispielhaft hierfür sind Bill Gates‘ und Mark Zuckerbergs großzügige Spenden in Milliardenhöhe. Wären diese nicht in der Öffentlichkeit kommuniziert worden, hätte es sich tatsächlich um altruistische Gesten gehandelt – aber die Handlung des Weggebens erhöht das Image und wertet das Sein auf. Dennoch geht es neben den eher eigennützigen Antrieben auch zunehmend um das ökologische Gewissen: In der Wahrnehmung vieler Konsumenten impliziert Teilen („Sharing“) die Vorstellung eines nachhaltigen Konsums und eines umweltverträglichen Verbrauchs von Ressourcen („Sharing is caring“) (vgl. Leitherer 2018). Sharing wird gleichzeitig als ein Schritt Richtung einer „Glücksökonomie“ gesehen: Geld und Besitz führen nur begrenzt zu einer Steigerung des Wohlbefindens, Teilen und Kooperation machen deutlich glücklicher als das Streben nach Status (vgl. Bala/ Schuldzinski 2016: 7ff.).
>> Es gehört sich nicht, viel mehr zu besitzen, als man eigentlich braucht. << zwangsläufig glücklicher, wenn sie noch reicher werden. Es setzt ein Gewöhnungseffekt ein, der die Befriedigung von materiellen Gütern schnell vergehen lässt (vgl. Ruckriegel 2007: 3). Das sogenannte Easterlin-Paradoxon beschreibt den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück: Basierend auf den Forschungen des Ökonomen Richard Easterlin (1974) wurde festgestellt, dass trotz eines Anstiegs des Lebensstandards durch den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere in den USA, die Bürger nicht glücklicher wurden. Easterlins Erkenntnis ist ein entscheidendes Problem für die gängige Mikroökonomie, denn hier ist „mehr ist besser als weniger“ eines der grundlegenden Prinzipien der Konsumententheorie (vgl. Ruckriegel 2007: 5; Easterlin 1974: 89ff.). Gewöhnung und Vergleich werden jedoch nicht berücksichtigt – dabei sind gerade diese Faktoren die Ursachen für das Paradoxon. Ausgehend davon, dass die materielle Existenz gesichert ist, ist weniger das tatsächliche Einkommen, sondern vielmehr das relative Einkommen von Bedeutung: Geld per se kann durchaus glücklich machen, aber nur dann, wenn der Einzelne mehr davon hat, als der Andere. Würden alle Menschen gleichzeitig wohlhabender werden, bliebe auch die Lebenszufriedenheit gleich (vgl. Easterlin 1974: 118ff.). Ebenso passt sich das Individuum an die materiellen Güter an, sodass sich mit steigendem Einkommen auch die Ansprüche erhöhen – wodurch letztlich keine größere Zufriedenheit erwachsen kann (vgl. ebd.). Einkommenssteigerungen, die das Wohlergehen der Bevölkerung durch eine Erhöhung der Konsummöglichkeiten erhöhen sollen, können demnach kaum eine nachhaltige Wirkung haben, da der Konsum materieller Güter nur geringe Auswirkungen auf das Wohlbefinden oberhalb eines be-
Dass Reichtum allein das seelische Wohlbefinden und Glücksempfinden nicht ausmacht, ist mittlerweile basierend auf jahrelanger Glücksforschung bekannt – entgegengesetzt der Fokussierung auf das Wirtschaftswachstum einer Nation, gemessen durch die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts. Reiche Nationen werden nicht
GLUECK G L Ü C K
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stimmten Verbrauchsniveaus hat – hier spricht man auch von einer „hedonistischen Tretmühle“ (Ruckriegel 2007: 7). Vielmehr gehen Glück und Zufriedenheit mit Erfahrungen und Erlebnissen einher, insbesondere mit anderen Menschen (vgl. Kahnemann et al. 2006: 2f.).
Literatur
Unabhängig davon, ob wir uns durch Besitz oder Nicht-Besitz definieren, scheinen die Befriedigung und das damit einhergehende Glücksgefühl ständig abzunehmen. Der Soziologe Hartmut Rosa äußerte sich in einem Interview mit der ZEIT dazu: „Je mehr ich mir kaufen kann, umso kürzer hält die Befriedigung“ (Radisch 2007) – und wir kaufen immer mehr. Häufig geht es dabei jedoch nur um die Steigerung von Optionen – wir geben immer mehr Geld für Dinge aus, die wir theoretisch nutzen könnten, der tatsächliche Verbrauch ist jedoch gering. Wie viele der Millionen Titel des Streaminganbieters Spotify werden wirklich gehört? Wie viele der heruntergeladenen E-Books werden gelesen? Insbesondere Flatrates suggerieren einen nahezu unbegrenzten Verbrauch, ob Internet, Telefonie oder Strom, alles kann jederzeit abgerufen werden – dabei vergessen wir jedoch häufig den Preis, den wir regelmäßig zahlen und damit auch die Tatsache, dass wir rund um die Uhr konsumieren. Wir wollen nichts wirklich besitzen, aber auch auf nichts verzichten. Letztlich „wissen [wir] nicht mehr, was wir alles haben, […], die Waren bleiben uns fremd. Wir eignen sie uns nicht an“. (Radisch 2007) Um Glück und Zufriedenheit erfahren zu können, müssen wir uns die Dinge, die wir konsumieren, wieder aneignen, sie müssen ein Teil von uns werden, sie müssen erlebt werden.
Easterlin, R. A. (1974): Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence. In: Nations and Households in Economic Growth. New York: Academic Press. S. 89–125.
Bala, C./ Schuldzinski, W. (2016): Neuer sozialer Konsum? Sharing Economy und Peer-Produktion. In: Prosuming und Sharing – neuer sozialer Konsum. Aspekte kollaborativer Formen von Konsumtion und Produktion. Verbraucherzentrale NRW. Düsseldorf.
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artikel
Wa(h)re Liebe
VON cristina garcía mata, technik-Kommunikation
LIQUID LOVE
Like, Like, Nope, Super Like, Like, It’s a match, Keep sliding. Unsere Liebeskultur hat sich verändert – und dies erkennt man vor allem, wenn man die heutigen Partnerbiografien mit denen vorheriger Generationen vergleicht. Beziehungen sind nicht nur flüchtiger geworden, sondern auch seriell (vgl. Dekker/ Matthiesen 2004: 52f ). In manchen Lebensmomenten treten sogar Mehrfachbeziehungen auf. Warum also sind Partnerschaften zerbrechlicher geworden?
Mit dem Wandel der Beziehungsformen haben sich verschiedene Soziologen und Psychologen beschäftigt, unter anderem Zygmunt Bauman, der die Schnelllebigkeit heutiger Beziehungen mit der Metapher Liquid Love, das heißt die Verflüssigung unserer Liebeskultur, beschreibt. Grund für dieses Phänomen sei die aktuelle Tendenz zum Konsumdenken und die damit zusammenhängende sofortige Befriedigung unserer Bedürfnisse (vgl. Bauman 2007: 156). Wenn etwas nicht mehr wie vorher funktioniert, ist es einfacher und schneller, etwas Neues zu kaufen, als das Alte zu reparieren. Wenn ein Liebesverhältnis nicht mehr funktioniert, ist es einfacher, die Beziehung abzubrechen, als das tatsächliche Problem zu lösen. „Bei Konsum geht es nicht um die Anhäufung von [Liebesaffären], sondern um ihre Verwendung und Entsorgung nach dem Gebrauch, so dass Raum für neue [Abenteuer] geschaffen werden kann“ (Bauman 2003: 12, 49). Das Leben eines Konsumenten
Bevor man sich mit dieser Frage auseinandersetzen kann, muss zunächst verstanden werden, welche Faktoren zu der Zufriedenheit und Stabilität einer Beziehung beitragen. Laut Rusbults Investitionsmodell existieren drei Faktoren, die Partnerschaften beeinflussen: das Verhältnis von Kosten und Belohnungen, die Anzahl (und Qualität) der Alternativen und die Investitionen in die Beziehung (vgl. Rusbult 1983: 45, 101ff.). Je höher Zufriedenheit und Investitionen und je geringer die Alternativen sind, desto stärker ist die Festlegung bzw. Stabilität der Partnerschaft.
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DAS EINZIG WAHRE
Da Beziehungen eindeutig Verbundenheit und Verpflichtungen erfordern, müssen diese flüchtiger werden, sodass man ein Gleichgewicht zwischen dem tief-menschlichen Verlangen nach Zugehörigkeit und dem Bestreben nach Freiheit finden kann (vgl. Bauman 2007: 139). Wegen dieses gesellschaftlichen Wertewandels sind „Selbstentfaltungswerte bedeutsamer geworden, Pflicht- und Akzeptanzwerte haben sich jedoch gleichzeitig verringert“ (Peuckert 1991: 192f ). Beck/ Beck-Gernsheim (1995: 168ff.) behaupten, dass dies nicht nur mit dem Individualisierungstrend, sondern auch mit der Idealisierung des Konzepts Liebe verbunden ist. Die Ideen der Romantik aus dem 18. Jahrhundert prägen demnach weiterhin unsere Vorstellung von Beziehungen: Wahre Liebe soll die Antwort auf alle Einsamkeitsgefühle sein und mit der gegenseitigen, vollständigen Annahme aller Eigenschaften (unter ihnen natürlich auch Mängel) unseres Partners gleichgesetzt werden. Diese „gestiegenen affektiv-emotionalen Ansprüche an eine bestimmte Qualität der […] Partnerschaft“ (Peuckert 1991: 193) bringen das Verhältnis von Belohnungen und Kosten in der Beziehung aus dem Gleichgewicht. Demzufolge vergrö>> ßert sich die Instabilität der Liebesver- When the quality lets you hältnisse.
dreht sich darum, in Bewegung zu sein; deshalb werden Leichtigkeit und Geschwindigkeit, Neuheit und Vielfalt bevorzugt (vgl. Bauman 2003: 49). LIEBE IN ZEITEN DER INDIVIDUALISIERUNG Die kurze Lebenserwartung der Beziehungen und ihr prädestiniertes Ende werden jedoch vom Verbraucher erwartet und sogar akzeptiert (vgl. Bauman 2007: 113). Demzufolge investieren Menschen weniger in Beziehungen, was gleichzeitig zu einer mangelnden Qualität der Verhältnisse führt (vgl. Bauman 2003: 13ff; Beck/ Beck-Gernsheim 1995: 45ff.). „When the quality lets you down, you seek salvation in quantity. When duration is not on, it is the rapidity of change that may redeem you”. (Bauman 2013: 58). Außerdem haben zunehmend individualistisch ausgeprägte Tendenzen einen bedeutenden Einfluss hierauf, da die eigenen Wünsche vorrangig betrachtet werden: „Die Moderne hat ein Kräftefeld aufgebaut, das alle Gegenstände, Verhältnisse und Verbindlichkeiten destruiert, transformiert und optioniert“ (Schimank/ Volkmann 2008: 98). Die Individualisierung bringt Freiheit mit sich, aber auch eine komplette Ablehnung gegen jegliche Art von Freiheitseinschränkung (vgl. Bauman 2007: 139). Pflichten werden in einer individualistischen Gesellschaft als Last betrachtet, sich so viele Optionen wie möglich freizuhalten hingegen als Erfolg (vgl. Bauman 2003: 58).
down, you seek salvation
in quantity. When duration is not on, it is the rapidity of change that may redeem you. Zygmunt Bauman
<<
partnerschaftsbiographien 1930 - 1970
partnerschaftsbiographien 1970 - heute
Quelle: Future Love, M. Horx
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Auf der Suche nach dem verlorenen Match Hinzu kommen nach Bauman die sozialen Netzwerke, die „symptomatisch für die Verflüssigung der Liebe“ sind (Bauman 2003: 58ff.). Die heutige Gesellschaft hat dort ein Weg gefunden, neue Möglichkeiten für den sexuellen Trieb der Menschen zu erschließen, was am Beispiel der Dating-App Tinder zu erkennen ist. Im Vergleich zu Beziehungen „erfordern Kontakte weniger Zeit und Aufwand, erstellt zu werden, und weniger Zeit und Aufwand, beendet zu werden“ (Bauman 2003: 62). Somit verwandelt sich die Partnersuche in eine Freizeitbeschäftigung, in der Menschen als „weitgehend verfügbar“ gesehen werden, da man immer die „Löschtaste drücken kann […] und zurück in den Marktplatz für eine neue Einkaufsrunde gehen kann“ (Bauman 2003: 65). Die neuen Technologien bieten nicht nur eine Risikoreduktion und ein breites Spektrum an menschlichen Angeboten, sondern vermeiden auch, andere Optionen zu verpassen – obwohl sie auch unsere Partnerschaftskultur fragiler machen. Für Bauman wird diese Realität zum Teufelskreis: „Je flüchtiger [das] Lebensumfeld, desto mehr potentielle Konsumobjekte brauchen die Akteure“, um unerwartete
Folgen zu vermeiden (vgl. Bauman 2007: 114). Folglich wird Liebe zu einer „endlosen Abfolge von Versuch und Irrtum“ (Bauman, 2007, S. 114), zur „unentwegten Suche nach dem Höheren“ (Horx 2017: 114, 143), nach dem perfekten Partner. In einer Welt, in der man das Handy in zwei oder drei Jahreszyklen wechselt und es jede Saison einen neuen Modetrend gibt, überrascht es nicht, dass selbst menschliche Beziehungen, in unserer Tendenz zum Konsumdenken, untergegangen sind. Eine Gesellschaft, in der Neuartigkeit und Vergänglichkeit überwiegen, schafft unvermeidlich ein flüchtiges Lebensumfeld für den Verbraucher. Dies wiederum führt dazu, dass zunehmend mehrere Konsumobjekte benötigt werden, sodass man kein unnötiges Risiko eingehen muss (vgl. Bauman 2003: 114). Die Liebesbiografie eines Konsumenten muss darum eine endlose Abfolge von Versuch und Irrtum sein: ein Leben mit andauerndem Experimentieren, mit der ewigen Hoffnung auf ein überzeugendes Ergebnis.
„Neben dem materiellen unterliegt die Maschine aber auch einem
Literatur
sozusagen moralischen Verschließ. Sie verliert Tauschwert im Maße,
Bauman, Z. (2003): Liquid Love: On the Fragility of Human Bonds. Cambridge: Polity.
worin entweder Maschinen
Bauman, Z. (2007): Consuming Life. Cambridge: Polity Press.
derselben Konstruktion wohlfeiler
Beck, U./ Beck-Gernsheim, E. (1995): The Normal Chaos of Love. Cambridge: Polity.
reproduziert werden können oder beßre Maschinen
Dekker, A./ Matthiesen, S. (2004): Beziehungsformen im Lebensverlauf dreier Generationen: Sequenzmusteranalyse von Beziehungsbiographien 30-, 45- und 60-jähriger Männer und Frauen in Hamburg und Leipzig. In: Zeitschrift für Familienforschung, 16. Jg. 2004/01. S. 38-55.
konkurrierend neben sie treten. In beiden Fällen ist ihr Wert, so jung und lebenskräftig sie
Horx, M. (2017): Future Love. Die Zukunft von Liebe, Sex und Familie. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
sonst noch sein mag, nicht mehr bestimmt durch die tatsächlich
Peuckert, R. (1991): Familienformen im sozialen Wandel. Opladen: Leske+ Budrich.
in ihr selbst vergegenständlichte, sondern durch die zu ihrer eignen
Rusbult, C. E. (1983). A longitudinal test of the investment model: The development (and deterioration) of satisfaction and commitment in heterosexual involvements. In: Journal of Personality and Social Psychology. 45. Jg 1983/01. S. 101-117.
Reproduktion oder zur Reproduktion der beßren Maschine notwendige Arbeitszeit. Sie ist daher mehr oder
Schimank, U./ Volkmann, U. (2008): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I: Eine Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Springer-Verlag.
minder entwertet." Karl Marx Das Kapital (Band 1)
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artikel
DAS EINZIG WAHRE
I n ti m e I n v e s titi o n VON Svenja Blömeke, Lehr- und Forschungslogopädie
„Prostituierte“, „Escort“, „Nutte“, „Callboy“. Eine Vielfalt an Begrifflichkeiten, die eine Tätigkeit beschreibt: Körperliche Intimität gegen Bezahlung. „Sex ist auch nur eine Dienstleistung“ (Elmenthaler 2015), „Wer nicht vögelt, fliegt“ (Furios Magazin 2016), „Großrazzia gegen Bordellnetzwerk“ (DPA 2018). Diese Auswahl an aufgeladenen Schlagzeilen deutet bereits an, wie schwierig es sich erweist, einen sachlichen Bezug zur Thematik herzustellen. Ist es möglich, sich dieser Materie auf einer wissenschaftlichen Ebene zu nähern? In seinem Buch „Sex for Sale“ diskutiert der Soziologe Ronald Weitzer (2010), dass sich wissenschaftliche Arbeiten zur Thematik zu häufig auf Negativbeispiele und extreme Randgruppen beziehen und diese dann als Vertretung für die gesamte Branche stehen. Selbstverständlich dürfen Themen wie Zwangsprostitution und eine hohe Kriminalitätsrate in diesem Bereich nicht ignoriert werden. Menschen als „Ware“ zu behandeln und die Regeln unseres Finanzsystems zu missachten, sind eine klare Problematik, die in unserer Gesellschaft nicht zu tolerieren ist. Dennoch sei es schwierig, der Vielfalt der Sexarbeit in empirischen Studien gerecht zu werden, da die überwiegende Anzahl der Dienstleistenden, Agenturen und Kund_innen kaum bis gar nicht bereit ist, offen über den Konsum von Sexualität sprechen oder gar Teil einer Forschungsarbeit zu sein. Fest steht, dass das Angebot sexueller Dienstleistungen inhärent durch die Nachfrage nach selbigen getrieben wird. Die Zahlen sprechen für sich. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes liegt der (offizielle) Jahresumsatz mit Sexarbeit bei rund 14,6 Millionen Euro. Zudem kursiert in den Medien seit einigen Jahren die Zahl von 400.000 Prostituierten in Deutschland. Laut eines Plenarprotokolls des Deutschen Bundestages stammt sie von der Prostituierten-Interessenvertretung Hydra e.V. 29
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thematisiert und ihre unterschiedlichen Gründe und Bedürfnisse bei Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen dargestellt. Katy Pilcher (2016: 85) betont, dass dringender Bedarf nach Forschungsarbeiten bestünde, welche sich mit der Klientel von Sexarbeiter_innen im Allgemeinen auseinandersetzen und die Motive und Umweltfaktoren von Frauen wie Männern gleichermaßen dokumentieren.
Fest steht: Sexarbeit ist Arbeit. Und diese Dienstleistung wird von vielen Menschen angeboten und in Anspruch genommen. Doch was genau bewegt jemanden dazu, sich beispielsweise eine Escort Dame zu buchen? In diesem Artikel soll weniger die Perspektive der Sexarbeiter_innen eingenommen, sondern vielmehr hinterfragt werden, welche unterschiedlichen Personengruppen aus welchen Gründen sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Nach Giorgia Serughetti (2013: 38ff.) beschäftigen sich seit den 80er Jahren vor allem die Sozialwissenschaften mit der Frage, warum vor allem Männer sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Dabei standen sich anfangs zwei Paradigmen gegenüber: Das natürliche Verlangen nach Sexualität sowie die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen als Ausdruck einer ernsthaften psychischen Störung (vgl. Winick 1962: 289ff.). Seither würden sich Forschungsarbeiten stärker von einer überwiegend negativen Sichtweise bezüglich Moral und Verantwortung distanzieren. Vielmehr steht die Erhebung von Daten zu demographischen und psychologischen Aspekten als Schwerpunkt für ihre Untersuchungen im Vordergrund (vgl. Wilcox et al. 2009).
Dabei sei zu erwähnen, dass die Perspektive der Klient_innen deutlich weniger Aufmerksamkeit in der Forschung erfährt als Studien über sozialwissenschaftliche, historische oder gesundheitliche Fragestellungen von Seiten der Sexarbeiter_innen (vgl. Vanwesenbeeck 2013). In der Folge wird deshalb auch auf die Beschränkungen der bisherigen Forschung zum angesprochenen Thema eingegangen und Ansätze für eine differenziertere Analyse erarbeitet. Sexarbeit definiert sich als Tätigkeit, bei der eine sexuelle Dienstleistung mit Geld entlohnt wird. Zu dieser Tätigkeit gehören sowohl die Sexarbeiter_innen als auch die Klient_innen. Hinter dieser vermeintlich einfachen Definition verbirgt sich ein großes Spektrum, wie diese Art von Arbeit geleistet wird. Tabelle 1 zeigt unterschiedliche Formen der Sexarbeit.
Ein weiterer Ansatz zur Auswertung des Konsumverhaltens von käuflichem Sex ist eine genauere Einordnung des Klientels. So nennt der Sozialwissenschaftler Udo Gerheim (2014) drei unterschiedliche Typen von Konsumenten. Der „romantische[…] Sex-Käufer“ sehnt sich nach Authentizität und wahrer Nähe. Er möchte Vertrauen
So vielfältig wie das Angebot der Dienstleistung, ist auch die Klientel, welche diese in Anspruch nimmt. Dabei werden sowohl Frauen als auch Männer als Konsument_innen
CALL GIRL
BUSINESS LOCATION
PRICES CHARGED
EXPLOITATION BY THIRD PARTIES
Independent operator,
High
Low to none
High
Moderate
Brothel
Moderate
Moderate
Massage parlor
Moderate
Moderate
Bar/casino contact;
Low to moderate
Low to moderate
Low
High
private premises/hotels
ESCORT
Escort agency private premises/hotels
BROTHEL WORKER
MASSAGE PARLOR WORKER
BAR/CASINO WORKER
sex elsewhere
STREETWALKER
Street contact: sex in parks, alleys, etc.
Tab. 1: Formen der Sexarbeit (Weitzer 2010: 8) 30
DAS EINZIG WAHRE
>> Wer nicht vögelt, fliegt.
So vielfältig wie das Angebot an Sexarbeit, Agenturen und Internetplattformen, erscheint auch das Klientel bezogen auf Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad und sexuelle Vorlieben. Sehen einige Forscher_innen in der Sexarbeit vor allem Unterdrückung durch das Ausleben sexueller Macht der Kund_innen, zeigen viele Studien mittlerweile ein wesentlich differenzierteres Bild (vgl. Weitzer 2010: 30ff.). Für einige Autor_innen besteht in dieser Betrachtungsweise die Chance, vor allem die Perspektive der Klient_innen stärker zu erforschen und so einen sensibleren Blick auf die gesamte Branche zu ermöglichen (vgl. Kingston 2016; Serughetti 2013: 45). Interessant erscheint im Kontext der Sexarbeit, die Grundlage für die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen stärker zu beleuchten: das Verlangen des Menschen nach sexueller Interaktion. Ein diverses Bild drückt sich auch durch den Versuch der Typologisierung von Klient_innen aus (vgl. Gerheim 2014; Sanders et al. 2009). Kritisch zu erwähnen sei hier, dass als Form der Datenerhebung häufig freie Interviews gewählt werden, sodass die befragten Personen aufgrund „sozialer Erwünschtheit“ möglicherweise sehr relevante Aspekte unerwähnt lassen. Vor allem bei der Beschäftigung mit weiblicher Klientel besteht noch hoher Bedarf an aussagekräftigen Studien (vgl. Pilcher 2016). Die Literatur beschränkt sich hier vor allem auf Erfahrungsberichte, Kommentare oder Gastbeiträge von Personen, welche zur Sexarbeit im Allgemeinen forschen.
Furios (2016)
<< zu seinem Gegenüber aufbauen und die Privatperson hinter der Sexarbeiterin kennenlernen. Der „lebensfrohe Hedonist“ hingegen möchte konkrete erotische Phantasien ausleben. Zuletzt gebe es den „sexuell Enttäuschten“, der in bezahlten Sexualkontakten eine Kompensation seiner tatsächlichen sexuellen Bedürfnisse sehe. Ähnliches versucht die Soziologin Teela Sanders. Sanders geht davon aus, dass Männer sexuelle Dienstleistungen von Frauen in Anspruch nehmen, um nicht nur ihre sexuellen, sondern auch emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Konversation, Ehrlichkeit und Vertrauen seien ebenso wichtig wie körperliche Begierde (vgl. Sanders et al. 2009). Die Datenlage zu Klient_innen wie Frauen, Queeren oder Paaren ist wesentlich kleiner verglichen mit der Anzahl an Studien, die sich mit Männern als Kunden auseinandersetzen (Pilcher 2016: 83ff.). Allerdings zeigt sie auf, dass es allein in Australien diverse Agenturen gibt, die mit ihrem Service exklusiv Frauen als Kundinnen adressieren. Auch Sarah Kingston von der Lancaster University beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Sexarbeit und hat das Projekt „Women Who Buy Sex“ gegründet, um die mangelnde Quellenlage in diesem Bereich zu füllen und ein diverseres Bild dieser Branche schaffen zu können. Sie fand heraus, dass Klientinnen sich bei ihren männlichen Dienstleistern vor allem nach Erfahrungen von Intimität, freundschaftlicher Verbundenheit und lockerem Vergnügen sehnten. Die britische Journalistin Clarissa Sebag-Montefiore (2014) geht davon aus, dass mit der Veränderung des Frauenbildes in den letzten Jahrzehnten auch eine Veränderung des Umgangs von Frauen mit ihrer Sexualität stattfindet. So könnten diese heutzutage stärker ihre sexuellen Phantasien kommunizieren und ausleben, auch gegen Bezahlung. In ihrem Artikel schreibt sie:
Gibt es sie schlussendlich, die „typischen“ Konsument_innen? Ein so intimes Thema wie die eigene Sexualität und das Verlangen nach Intimität zu kategorisieren, erscheint kaum möglich. Es mag sie geben, die Menschen, die Gefallen daran haben, für einen gewissen Zeitraum einen anderen Menschen zu „besitzen“ und Macht zu erleben. Und es mag Personen geben, die dies zulassen. Doch erscheint die Thematik zu vielschichtig für eine Stigmatisierung, wie sie häufig von der Gesellschaft betrieben wird. Suchen einige die kurze Begegnung, um für einen Moment Alltag und Realität hinter sich zu lassen, wollen andere neben körperlicher Nähe auch eine emotionale Ebene aufbauen. Reden. Lachen. Eine gute Zeit haben. Phantasien leben können mit jemandem, der nicht darüber urteilt und so heimlich verschwindet, wie er aufgetaucht ist. Der Soziologe Richard Tewksbury nennt es die „girlfriend“- bzw. „boyfriend experience“ (Tewksbury/ Lapsey 2017). Ob Escort, Saunaclub oder virtuell – die Nachfrage dafür besteht, bei Frauen und Männern jeglicher sexueller Orientierung. Sexarbeit ist eine Dienstleistung, deren Vielfalt noch viel Grundlage für weiterführende Forschung und kritische Auseinandersetzung liefert. Sie ist eine intime Investition.
“So what do male escorts tell us about an underlying shift in female sexuality? Western women today have more freedom, money and power than at any point in history. Yet for many, like Louise […], the decision to buy sex goes beyond financial independence: it marks a brave new world of go-getting female sexuality, in which women can be as assertive as men in pursuing what they want.” – Sebag-Montefiore 2014
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An zeig e
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artikel
DAS EINZIG WAHRE
Entschleierung d e r V e rw u n db a rk e it VON Thomas Sojer, Kulturgeschichte (Antwerpen)
Vor 75 Jahren, am 24. August 1943, stirbt Simone Weil (1909–1943). Als Sozialistin, Freiheitskämpferin, (unfreiwillige) Mystikerin und immerwährende Außenseiterin, arbeitet sie ein Menschenbild heraus, das in der Bedürftigkeit des verwundbaren Subjekts seinen denkerischen Angelpunkt erhält. In die Pariser Bourgeoisie hineingeboren zählt sie zu den ersten Frauen an einer Eliteuniversität in Frankreich. Unberührt von ihren Erfolgen entscheidet sich Weil gegen ihre Herkunft. Sie wählt ein Leben an der Seite der von der Gesellschaft Geächteten und Ausgegrenzten. Schlag- und Schicksalswort ihrer Lebensgeschichte wird der Hunger. Dieser wird für sie zur Sprache der bedingungslosen Solidarität und bringt ihr schließlich mit 34 Jahren den Tod. Der Öffentlichkeit bleibt sie größtenteils unbekannt, bis Albert Camus sie wiederentdeckt. (vgl. Pétrement 1997)
SIMONE WEIL
Paradigmatisch für Weils Konsumverständnis erweist sich ein kurzer Wortwechsel zwischen Simone de Beauvoir und Weil am Campus der Sorbonne 1930 (vgl. Beauvoir 1968: 229): Während die Existentialistin Beauvoir den zentralen Gehalt des menschlichen Lebens in der frei zu wählenden Sinngebung verortet, mahnt Weil die Verantwortung gegenüber den lebensnotwendigen Bedürfnissen aller Menschen ein. Sie warnt vor einem Freiheitsverständnis, das zum Konsum jenseits aller Bedürftigkeit einlädt: „si l'on devait entendre par liberté la simple absence de toute nécessité, ce mot serait vide de toute signification concrète ; mais il ne représenterait pas alors pour nous ce dont la privation ôte à la vie sa valeur.“ [verstünde man Freiheit als bloße Abwesenheit aller Notwendigkeit, verliere dieses Wort seine konkrete Bedeutung; es würde für uns nicht mehr die Entbehrungen repräsentieren, die uns das Leben abverlangt] (Weil 1955: 59) Nicht grundlos zeichnen geistesgeschichtliche Untersuchungen der letzten
Jahre eine gedankliche Nähe zwischen der Freiheitsliebe des französischen Existentialismus und der Logik der zügellosen Finanzmärkte – exklusive der humanitären Praxis seiner Hauptvertreter_innen in den 70er Jahren (vgl. Irwin 2015: 33f.). Weil stellt der Idee der hedonistischen Freiheit die nécessité gegenüber, die soziale Abhängigkeiten und die natürliche Bedürftigkeit jedes Menschen zum Ausdruck bringen will, wie auch die egoistischen Tendenzen dahinter entlarvt: „la nécessité est une ennemie pour l'homme tant qu'il pense, à la première personne“. [solange der Mensch in der ersten Person denkt, ist ihm die Notwendigkeit ein Feind] (Weil 1951: 124) Als weltweite Gemeinschaft der von der nécessité Betroffenen obliegt es somit jedem Menschen, das Not-wendende (Notwendige) zu tun. Die nécessité ist damit Kontingenzerfahrung und ethischer Apell zugleich. 33
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parce que la vulnérabilité est une marque d'existence.“ [die Verwundbarkeit der kostbaren Dinge ist schön, weil die Verwundbarkeit ein Merkmal der Existenz ist] (Weil 1947: 126) In dieser Erfahrung des Fragilen erahnt der Mensch seine wahre Existenz als Nichtseiender und bekommt die Möglichkeit, sein unglückliches Streben nach vergeblicher Erfüllung zu überwinden. Hier sind wir alle als gleichsam ontologische Waisenkinder aufeinander als Verwundbare verwiesen, denn der Berührungspunkt zum wahren Sein liegt im Leiden des Gegenübers. Im Anblick des Leidens, mit anderen Worten des ontologischen Mangels des Anderen, vermögen wir im Fußabdruck den Fuß zu erkennen, ohne beide wieder zu verwechseln. Präsenz in der Absenz zu erfahren ist für Weil eine Qualität, die solipsistisch nicht möglich ist. Teilhabe am wahren Sein erhalten wir erst, indem wir aufhören, uns als homines incurvati in se ipsos [in sich selbst gekrümmte Menschen] auf unsere eigene Leere zu fokussieren und beginnen, die Andern zu erfüllen – und uns damit selbst dekreieren. Ihre soziale Verwirklichung erfährt die décréation im Equilibrium von Produktionsleistung und Konsumbedürfnis: „l‘homme est plus ou moins contraint, à chaque moment de son existence, de se tourner vers autrui pour avoir les moyens de consommer, les moyens de produire.“ [der Mensch ist mehr oder weniger gezwungen, sich in jedem Augenblick seiner Existenz an andere zu wenden, um die Fähigkeit des Konsums, die Fähigkeit der Produktion zu erlangen] (Weil 1955: 75)
Die menschliche Verpflichtung der Solidarität begründet Weil im Rahmen einer neuplatonischen Ontologie: Alles (für uns augenscheinlich) Seiende ist eine Spielart des Nichtseins. Im Unterschied zu Platon versteht Weil unsere Welt nicht als verringerten Abglanz einer perfekten Ideenwelt, sondern als Negativ des Seins: als Facetten des Nichts. Sie spricht deshalb im Kontrast zum biblischen Schöpfungsbegriffs von einer dé-création [Ent-schaffung] im Sinne einer Entäußerung des Seins und einer Verwirklichung des Mangels (vgl. Weil 1956: 139). Der Mensch müsse lernen, sich in der Abwesenheit des Seins als ontologisches Mangelwesen zu erkennen – anders als Gehlen, der den Begriff des Mangelwesens biologisch und soziologisch argumentierte – sozusagen als ein wandelnder Nichtseiender unter Nichtseienden. Dessen blind, versuche der Mensch die latent spürbare Leere mit vermeintlichem „Sein“ zu füllen. Weil definiert menschliche Existenz, auf individueller Ebene, aber auch auf kollektiver Ebene als Versuche den horror vacui [die Angst vor der Leere] zu verhandeln.
Weil kritisiert dabei die marxistische Naivität der 1930er Jahre, die Konsum als mal nécessaire (Weil 1955: 39) verballhornt und zum Ausdruck des bourgeoisen Wohlbefindens reduziert: „si, du point de vue de la consommation, il n'y a que passage à un peu plus de bien-être, la production, qui est le facteur décisif, se transforme, elle, dans son essence même.“ [wenn die Betrachtungsweise des Konsums nur den Eintritt in etwas mehr Wohlstand beinhaltet, wird Produktion, die den entscheidenden Faktor darstellt, in ihrem Wesen verkehrt] (Weil 1955: 33-34) Sie schält mit Marx das originär kommunistisch-naturalistische Menschenbild heraus, das die Ursache der Unterdrückung nicht im Konsum, sondern in der Verkehrung von Konsum und einer allen Menschen dienlichen Produktion erkennt: „Car Marx a bien montré que la véritable raison de l'exploitation des travailleurs [… est] la nécessité d'agrandir
Konsum bildet folglich nicht eine Lebenswelt unter vielen, sondern erweist sich als den grundlegendsten und natürlichsten menschlichen Vollzug von allen. Der Mensch erlebt und fühlt seine existentielle Leere jedoch trotz der vorherrschenden ontologischen Kontrastlosigkeit: denn nichts, was ihn umgibt beinhaltet für sich genommen wahres Sein, erscheint ihm aber als vermeintliches Sein. Zu leicht wird Fußabdruck und der längst schon abwesende Fuß verwechselt. Dass sich alles, was existiert, schließlich dennoch als Nichtseiendes entpuppt, erkenne der Mensch erst in der Verwundbarkeit des Kostbaren, die Weil als Erfahrung einer zerbrechlichen Schönheit beschreibt: „la vulnérabilité des choses précieuses est belle 34
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l'entreprise le plus rapidement possible afin de la rendre plus puissante que ses concurrentes.“ [so hat Marx deutlich gezeigt, dass der wahre Grund für die Ausbeutung der Arbeiter [....] die Notwendigkeit ist, das Unternehmen so schnell wie möglich zu expandieren, um es stärker als seine Konkurrenten zu machen] (Weil 1955: 11)
imaginierten Einzigartigkeit des Konsumguts, das ein Monopol auf Erfüllung verspricht. Simone Weil fordert einen Konsum gemäß unserer Leiblichkeit jenseits der imaginären und abstrakten Wirtschaftslogik; eine Produktion, die dem Gefühl des eigenen Hungers und nicht der Begierde nach dem Glück des Anderen antwortet. So paradox es im Angesicht ihres Hungertodes klingen mag, Weils Wirtschaftsethik ist ein Aufruf, sich selbst wieder spüren zu lernen, anstatt auf den Besitz des anderen zu schielen, wieder das Gefühl des natürlichen Hungers zuzulassen – mag er physisch, psychisch oder seelisch sein.
Für Weil ist der Welthunger der abstrakten Logik des Geldes geschuldet, die Produktion zum gefährlichen Selbstläufer und Konsum zum Wohlstandskriterium werden lässt. Dies wird möglich, weil das Medium zum Kontrollmechanismus seines Inhalts wird: „en raison de l'extension formidable des échanges, la plupart des hommes ne peuvent atteindre la plupart des choses qu’ils consomment que par l'intermédiaire de la société et contre de l'argent.“ [aufgrund der enormen Ausweitung des Handels, kann die Mehrheit der Menschen das Gros an dem, was sie konsumieren, ausschließlich über den Zwischenhändler in der Gesellschaft und im Tausch gegen Geld erlangen] (Weil 1955: 85) Durch die Einführung des Geldhandels verliert die Dichotomie von Produktion und Konsum die Berührung mit der Wirklichkeit. Ein losgelöster Konsum entfesselt schließlich eine Produktion des endlosen Hinarbeitens auf ein Nichts. Er unterwirft das menschliche Leben der Herrschaft des Geldes, das ironischerweise als sozial konstruierter Wert den Inbegriff allen Nichtseins repräsentiert: „la chose qui met en rapport production et consommation et qui règle l'échange des produits, c'est la monnaie.“ [das, was Produktion und Konsum verkettet und den Handel von Produkten kontrolliert, ist das Geld] (Weil 1955: 84).
Literatur Betz, O. (2009): Schönheit spricht zu allen Herzen. Das Simone-Weil-Lesebuch. München: Kösel. De Beauvoir, S. (1968): Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Hamburg: Rowohlt. Dumouchel, P./ Dupuy, J.-P. (1998): Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie. Wien: Lit. Irwin, W. (2015): The Free Market Existentialist: Capitalism without Consumerism. Sussex: Willey. Palaver, W. (2010): Die Frage des Opfers im Spannungsfeldvon West und Ost. René Girard, Simone Weil und Mahatma Gandhi über Gewalt und Gewaltfreiheit. In: Zeitschrift für Katholische Theologie. 132. Jg. 2010/1. S.462–481.
Die Mimetische Theorie des Kreises um den Weilrezipienten Réne Girard (vgl. Palaver 2010: 469) beschreibt wie Ressourcenknappheit jenseits der physischen Vorkommnisse durch die Finanzmärkte konstruiert wird. Mechanismen der Finanzmärkte instrumentalisieren gezielt den horror vacui des Menschen: Es geht nicht mehr darum, Wasser zu haben, sondern eine bestimmte Sorte von Wasser, die wir in der Hand eines beliebigen Vorbilds gesehen haben und mit dem Gefühl der existentiellen Erfüllung verbinden (vgl. Dumouchel/ Dupuy 1998: 176f.). Die Knappheit ergibt sich folgend aus einer
Pétrement, S. (1997): La vie de Simone Weil. Avec des lettres et d'autres textes inédits de Simone Weil Broché. Paris: Fayard. Weil, S. (1947): La Pesanteur et la Grâce. Paris: Librairie Plon. Weil, S. (1951): Intuitions Pré-chrétiennes. La Colombe: Éditions du Vieux Colombier. Weil, S. (1955): Réflexions sur les causes de la liberté et de l’oppression sociale. Paris: Gallimard. Weil, S. (1956): The notebooks of Simone Weil. London: Routledge.
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Externe Effekte Durch die Herstellung oder den Verbrauch von Waren oder Leistungen entstehen der Gesellschaft oder Dritten zusätzliche Kosten (Schäden), ohne dass diese vom Verbraucher kompensiert werden. Beispiel: Ein Heizkraftwerk belastet durch Abgase die Umwelt. Den Anwohnern entstehen Kosten in Form von Erkrankungen oder durch Staubniederschlägen auf Häusern und Autos. Diese Kosten der Luftverschmutzung werden nicht vom Unternehmen kalkuliert und sind deshalb nicht im Strompreis enthalten.
Big-Mac-Index Der Big-Mac-Index beschreibt seit 1986 die Kaufkraft von Währungen. Da der Big Mac von McDonald's ein nahezu weltweilt verkauftes und verfügbares Produkt ist, können dessen nationale Preise miteinander verglichen werden.
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N u dgi n g ei n kle ine r S c h u b s i n R i c h t u n g Nachha l t i gk e i t
von ann-Kristin winkens, Umweltingenieurwissenschaften
Fair-Trade-Kaffe, Bio-Gemüse, regionales Obst, Ökostrom, fair produzierte Kleidung – Produkte, die mit einem nachhaltigen Konsum assoziiert werden. Die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein für umweltrelevante Probleme sind in den letzten Jahren enorm gestiegen, ebenso die Wertschätzung für nachhaltige Produkte. Weltweit bemühen sich Regierungen, energische Schritte gegen die Umweltverschmutzung einzuleiten: Die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre soll stabilisiert werden und die Erderwärmung bis zum Jahr 2050 auf maximal zwei Grad beschränkt werden. Für Deutschland bedeutet diese Grenze eine Verringerung der Treibhausgase von 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Jahr 1990. Weiterhin ist der private Konsum in Deutschland für mehr als ein Viertel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich – demnach liegt in einer Veränderung der gegenwärtigen Konsummuster ein bedeutendes Potenzial, um dem Klimawandel und anderen Umweltbeeinträchtigungen entgegenwirken zu können.
gering: Eine grundsätzlich positive Einstellung zum Kauf nachhaltiger Produkte spiegelt nämlich nicht zwangsläufig das tatsächliche Konsumverhalten wider. Warum brauchen wir einen Nudge? Entgegengesetzt zu dem idealisierten Homo oeconomicus – ein Marktteilnehmer, der ausnahmslos rational denkt, handelt und entscheidet – müssen neben wirtschaftlichen Werten gleichermaßen die Berücksichtigung anderer Aspekte wie Emotionen, Erfahrungen und Intuition erfolgen. Das Handeln der Verbraucher unterliegt häufig nicht direkt ihren Präferenzen, sondern ist zahlreichen Einflüssen ausgesetzt, die ihre Entscheidungssituation beeinflussen. Das menschliche Entscheidungsverhalten ist häufig fehlerhaft und wird von zahlreichen kognitiven Verzerrungen beeinflusst. Heuristiken und Biases sind keine Ausnahmen, sondern charakteristisch für menschliche Entscheidungen.
Bisher bemühte sich die ökologische Verbraucherpolitik in Deutschland weitestgehend um weiche Instrumente, wie beispielsweise eine Kennzeichnung durch Siegel, Beratung und Bildung, sowie teilweise auch um regulative Instrumente, wie Emissionsgrenzwerte oder Subventionen. Ausgehend von der Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte kann jedoch festgestellt werden, dass diese Ansätze nicht genügen, um nachhaltige Konsummuster in privaten Haushalten ausreichend und langfristig zu initiieren. Der Marktanteil nachhaltiger Produkte und Dienstleistungen wächst in Deutschland trotz positiver Einstellung der Deutschen zu einem nachhaltigen Lebensstil bloß langsam und ist, in absoluten Zahlen gemessen, vergleichsweise
Im Rahmen der Regulierungsdebatte haben verhaltensökonomische Erkenntnisse in den vergangenen Jahren bedeutenden Einfluss gewonnen. In vielen Ländern, wie beispielsweise Großbritannien, Singapur, Deutschland oder den USA, werden mittlerweile verhaltenswissenschaftlich basierte Forschungen über Verhaltenstendenzen von Bürgern und Konsumenten systematisch genutzt, um die Politik effizienter gestalten zu können. Die Attraktivität einer verhaltensbasierten Regulierung liegt insbesondere darin begründet, dass die Wahlfreiheit der Menschen nicht eingeschränkt wird und keine Anordnungen oder Verbote erteilt werden. 38
WEIL SIE ES SICH WERT SIND
Thaler und Sunstein (2003, 2011) entwickelten eine Politik des libertären Paternalismus, wodurch Verhaltensänderungen mit Hilfe von Nudges bewirkt werden sollen, ohne dass die Entscheidungsfreiheit dabei beeinträchtigt werden soll. Nudges sind als „Anstupser“ oder Entscheidungshilfen zu verstehen – sie stellen keinen Zwang oder Verbote dar. Mit Hilfe einer gezielten Entscheidungsarchitektur sollen Menschen in eine Richtung gelenkt werden, in der sie die wohlfahrtssteigernde Alternative nahezu von selbst wählen würden. Menschen reagieren schnell auf irrelevante Einflüsse innerhalb eines Entscheidungskontextes und weichen damit vom klassischen Verhaltensmodell des Homo oeconomicus ab – Nudges machen sich dies zunutze.
>> Nudges können die klassischen Regulierungsinstrumente unmittelbar
Libertärer Paternalismus – ein Widerspruch?
ergänzen, ausbauen und
Kombiniert in einem Konzept, scheinen die Begriffe libertär und Paternalismus einem Oxymoron nahezukommen. Die Vorstellung der menschlichen Rationalität ist stark verknüpft mit einer Ideologie, die es als nicht notwendig und sogar unmoralisch auffasst, Menschen vor ihren Entscheidungen zu schützen. Entscheidet ein Motorradfahrer, ohne Helm zu fahren, könnte er dies nach libertärer Anschauung tun. Der libertäre Aspekt in Thalers und Sunsteins Konzept basiert auf dem Beharren darauf, dass Menschen uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit zugesichert werden muss. Jede Person muss die Möglichkeit haben, sich in einer Situation mit mehreren Optionen frei und zwanglos entscheiden zu können.
wirksamer gestalten. <<
Eine Architektur der Wahl Das Konzept des libertären Paternalismus basiert auf Entscheidungsfreiheit. Es geht darum, Politikrichtlinien zu entwickeln, die die Entscheidungsfreiheit gewährleisten und gegebenenfalls vergrößern können. Sogenannte Entscheidungsarchitekten haben die Aufgabe, Alternativen zur Entscheidungsfindung zu gestalten und zu organisieren. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Cafeteria-Szenario von Thaler und Sunstein:
Der paternalistische Aspekt basiert auf der Behauptung, dass es für private und öffentliche Institutionen legitim ist, zu versuchen, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen. Demnach sei eine Politik dann paternalistisch, wenn sie versucht, die Wahlmöglichkeiten so zu beeinflussen, dass die Wahlentscheidung für die Betroffenen letztlich verbessert werden kann. Motiviert durch das nachgewiesene verzerrte Entscheidungsverhalten, braucht es deshalb einen Nudge, nämlich „alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern.“ Basierend auf diesem Verständnis beschreiben Nudges somit die grundlegende Idee des libertären Paternalismus: Sie sollen als Anstoß und nicht als Anordnung fungieren und gleichzeitig sollen menschliche Entscheidungen so gelenkt werden, dass daraus letztlich ein positives Ergebnis – gemessen an den individuellen Maßstäben – resultiert.
Carolyn ist ausgebildete Ernährungswissenschaftlerin und ist in einer Stadt für die Verpflegung in zahlreichen Schulen verantwortlich. Sie möchte untersuchen, inwieweit die Art und Weise der Anordnung von Speisen in der Schulcafeteria einen Einfluss darauf hat, welches Essen gewählt wird – ohne dabei das Angebot zu verändern oder zu reduzieren. Die daraus resultierenden Auswirkungen sind enorm: Ausschließlich aufgrund einer veränderten Positionierung kann Carolyn den Kauf vieler Gerichte um 25 Prozent senken oder erhöhen. Diese Erkenntnis kann sowohl Gutes als auch Schlechtes bewirken: Auf diese Art kann der Konsum nachhaltiger gestaltet oder der Verzehr von ungesundem Essen verstärkt werden. Einige von Carolyns Freunden schlagen ihr folgende Möglichkeiten vor, die Ernährung der Schüler zu beeinflussen: 39
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1. Positioniere die Speisen so, dass es den Schülern den größten Nutzen bringt. 2. Arrangiere die Speisen nach dem Zufallsprinzip.
3. Bemühe dich um eine Gestaltung des Angebots so, dass die Kinder sich letztlich für die Speisen entscheiden, die sie von sich aus gewählt hätten.
Eine derartige Architektur der Wahl kann vor allem dann wirksam sein, wenn klassische Regulierungsinstrumente versagen oder einfach nur geringfügig nutzen: Sie erreichen beispielsweise die Zielgruppe nicht, Verbote und Anordnungen können als zu starke Eingriffe in die eigene Freiheit wahrgenommen werden oder finanzielle Anreize wie Subventionen oder Steuern weisen gegebenenfalls nicht die notwendige Wirkung auf.
4. Steigere den Umsatz der Produkte, deren Lieferanten die höchsten Bestechungsgelder zahlen. 5. Maximiere einfach den Gewinn.
Die Vorteile der ersten Alternative sind offensichtlich. Allerdings könnte man hier von Paternalismus sprechen, da die Kinder quasi bevormundet werden würden. Aber sind die anderen Alternativen nicht viel schlimmer? Variante 2 könnte man als neutral und fair bezeichnen – aber dann würde alles dem Zufall überlassen werden und Kinder in den einen Schulen würden sich gesünder ernähren als in anderen. Soll Carolyn neutral bleiben, auch wenn sie den Schülern etwas Gutes tun und ihre Gesundheit verbessern könnte? Vorschlag 3 kennzeichnet einen würdigen Versuch, jegliche Einmischung zu vermeiden – ist aber gar nicht zu realisieren. Der Versuch hat veranschaulicht, dass die Wahl der Kinder davon abhängt, wie die Speisen angeboten werden. Was sind also ihre „echten“ Vorlieben? Welche Speisen würden sie „von sich aus“ wählen? Demnach scheint es unmöglich, das Angebot in einer Cafeteria nicht auf irgendeine Weise zu arrangieren. Ratschlag 4 würde Carolyn wählen, wenn sie korrupt wäre und den Markt missbrauchen wollte – in diesem Beispiel gehen wir jedoch davon aus, sie ist ehrlich und denkt über diese Option gar nicht erst nach. Alternative 5 würde sie wählen, wenn Carolyn diejenige Cafeteria für die beste hielte, die am meisten Gewinn macht. Das hieße, sie würde versuchen, den Gewinn zu maximieren, mit der Konsequenz, dass sich die Kinder gegebenenfalls ungesünder ernähren. Ihr Arbeitgeber ist jedoch der Schulbezirk.
Make it easy – die Macht der Trägheit Allgemein sind ein einfacher Zugang und leicht verständliche Informationen besonders wirksame Nudges. Insbesondere Voreinstellungen oder Defaults zählen zu den effektivsten und weit verbreiteten Anwendungen. Menschen weisen grundsätzlich die Tendenz auf, am Bestehenden festzuhalten. Dieses Phänomen wird als Status Quo Bias bezeichnet. Der Status Quo Bias liegt weitestgehend in einer ausgeprägten Trägheit sowie einem Mangel an Aufmerksamkeit begründet. Viele Unternehmen profitieren davon und haben die Bedeutung von Standardvorgaben verstanden. Ein repräsentatives Beispiel sei die Verlängerung von Verträgen oder Zeitschriftenabonnements. Würden Kunden aktiv dazu aufgefordert werden, die Vertragsverlängerung selbst zu initiieren, würden deutlich weniger Abos verkauft werden. Auch wenn der Aufwand einer Verhaltensänderung oder der Wechsel eines Produktes nur geringfügig sind – der Nutzen aber deutlich größer sein könnte – neigen Menschen dazu, bei dem ursprünglichen Zustand oder Produkt zu bleiben. Je komplexer die Entscheidung ist, desto stärker ist der Status Quo Bias ausgeprägt.
Carolyn ist eine Entscheidungsarchitektin – sie ist in der Position, das Umfeld zu organisieren, in dem Menschen Entscheidungen treffen (müssen). Viele Menschen sind Entscheidungsarchitekten, häufig sind sie sich dessen jedoch gar nicht bewusst. Wichtig ist, dass eine Architektur der Wahl es möglichst einfach machen muss, die von dem Entscheidungsarchitekten bevorzugte Option zu umgehen – ansonsten strebt die Entscheidungsarchitektur mit zunehmend unattraktiven Alternativen zu paternalistisch ausgeprägte Tendenzen an. Die Anordnung von Speisen zu verändern, kann ein Nudge sein, Speisen aus dem Angebot zu entfernen, jedoch nicht.
Hinsichtlich der Förderung eines nachhaltigeren Konsums könnte beispielsweise Obst und Gemüse im Supermarkt frei ausgelegt werden, während ungesündere Lebensmittel aus einem Schrank genommen werden müssten. Allein aus Bequemlichkeit greift der Mensch zu dem, was leicht verfügbar ist. Anders könnte man dies jedoch auch negativ auslegen, wenn es wie in Carolyns Beispiel um die bloße Gewinnmaximierung eines Unternehmens geht. An den Kassen von Supermärkten sind nicht rein zufällig Süßigkeiten aller Art positioniert. Ein weiteres Beispiel für 40
WEIL SIE ES SICH WERT SIND
Paternalismus ausgeschlossen. Nudges sind jedoch per Definition transparent und sollten in der Öffentlichkeit debattiert werden. Selbst wenn Menschen wissen, dass eine Standardvorgabe gezielt eingestellt ist, hat dies keinen bedeutenden Einfluss auf ihr Entscheidungsverhalten. Außerdem besteht innerhalb der Kritik von Nudging die Vorstellung, dass es möglich sei, Entscheidungen nicht zu beeinflussen – das Cafeteria-Beispiel hat jedoch veranschaulicht, dass dies nur eine Illusion ist. Weiterhin könnte ein Arbeitgeber beispielsweise entscheiden, in welchem Zeitraum die Angestellten ihr Gehalt erhalten – monatlich oder wöchentlich. Dabei wird er wahrscheinlich keine gezielte Einflussnahme intendieren, aber eine beispielsweise zweiwöchentliche Zahlung führt erfahrungsgemäß zu höheren Sparquoten der Angestellten. Weiterhin hat das Cafeteria-Beispiel gezeigt, dass Nudges nicht als Zwangsmaßnahme zu verstehen sind – sie sind keine Befehle, Anordnungen oder Verbote, sondern sollen motivierend instrumentalisieren. Die ausschließliche Veränderung der Anordnung der Speisen impliziert keine aufgezwungene alternative Ernährungswiese. Durch eine gezielte Anordnung der Speisen kann die Ernährung verändert werden – von Bedeutung wäre dies, um einen nachhaltigen Konsum zu fördern. Ein weiteres Beispiel: Je größer die Teller und Verpackungen sind, desto mehr wird auch gegessen. Nahezu zwei Drittel der Amerikaner sind übergewichtig und fettleibig – hier könnte ein entsprechender Nudge ebenfalls hilfreich sein. In Zusammenhang mit mangelnder Selbstkontrolle und
Defaults ist die Verringerung des Papierverbrauchs beim Drucken: Durch voreingestelltes doppelseitiges Drucken kann der Verbrauch enorm reduziert werden. Schubs‘ mich nicht Trotz allem wird das Konzept des libertären Paternalismus stark kritisiert und es gibt intensive Debatten darüber, inwieweit Nudging – ähnlich wie Marketing – einfach nur eine weitere Art von Manipulation ist. Letztlich sind weiche Formen von Manipulation im gesellschaftlichen Zusammenleben und in der Wirtschaft allgegenwärtig, häufig wohlfahrtssteigernd und je nach Situation auch ethisch vertretbar. Problematisch ist jedoch die Manipulation im politischen Kontext – und theoretisch auch grundsätzlich abzulehnen. Regierungen bestehen ebenfalls aus Menschen, die nicht rational denken und handeln, das heißt ihr Verhalten kann ebenfalls fehlerhaft und voreingenommen sein. Außerdem ist fraglich, inwieweit die Akteure im ausschließlichen Interesse der Betroffenen handeln. Nach Thaler und Sunstein ist deshalb jegliche Form von staatlicher Manipulation zu verbieten; Intransparenz und Manipulation sind im Konzept des libertären
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die 10 wichtigsten nudges 01 Standardvorgaben
Der wirksamste Nudge. Wenn keine aktive Entscheidung gefordert wird, die zu aufwendig oder zeitintensiv ist, sind Defaults unverzichtbar (z.B. Erhöhung der Organspender durch Widerspruchslösung, Reduzierung des Papierverbrauchs durch doppelseitiges Drucken als Voreinstellung).
Verantwortungslosigkeit bezüglich gesundheitsschädigenden Verhaltens, wie beispielsweise Zigaretten- und Alkoholkonsum sowie einer ungesunden Ernährung, kann davon ausgegangen werden, dass Menschen von einer gezielten Einflussnahme profitieren könnten.
02 Vereinfachung
Komplexität schafft Verwirrung und führt zu hohen, unnötige Kosten. Programme sollten leicht und intuitiv zu bedienen sein.
Hinsichtlich der Umweltprobleme ist klar, dass ein kleiner sanfter Schubs dem Versuch, einen Löwen mit einer Mausefalle zu fangen, nahekommt. Allerdings können Märkte allein nicht immer ausreichende Regulierungskräfte aufbringen, wenn es um die Reduzierung externer Effekte geht. Die Verursacher, Verschmutzer und Verbraucher – also wir alle – zahlen letztlich nicht den vollen Preis dafür; diejenigen, die unter den Folgen der Umweltverschmutzung leiden – ebenso wir alle – haben jedoch häufig kaum Möglichkeiten, eine direkte Verbesserung zu bewirken. Anreize werden häufig falsch gewichtet und Verbraucher erhalten für ihren Konsum kein Feedback. Nudges können die klassischen Regulierungsinstrumente unmittelbar ergänzen, ausbauen und wirksamer gestalten, insbesondere mittels Standardeinstellungen. Eine prinzipiell positive Einstellung zu nachhaltigen Konsummustern mag zwar löblich sein, aber „sie haben sich stets bemüht“ reicht nicht aus, um das Konsumverhalten tatsächlich zu ändern – warum also nicht mit einem kleinen Schubs nachhelfen?
03 Soziale Normen
Betonen, wie sich die Mehrheit – in positiven Fällen – verhält. Besonders wirksam ist der Nudge, wenn er sich auf lokale Vergleichsgruppen bezieht (z.B. „Die meisten gehen wählen“, „die meisten zahlen ihre Steuern pünktlich“ oder „neun von zehn Hotelgästen benutzen ihre Handtücher“).
04 Einfachheit und Bequemlichkeit
„Make it easy“-Prinzip (z.B. kostengünstige Optionen oder gesunde und nachhaltige Lebensmittel sichtbar machen).
05 Transparenz von Informationen
Offenlegung von Informationen, vor allem Kosten, für interessierte Konsumenten (z.B. Energieverbrauch, Kreditkarten, Daten).
06 Warnhinweise
Aufmerksamkeit steigern durch grafische Elemente (z.B. Zigarettenpackungen).
07 Strategien zur Selbstverpflichtung
weiterführende LITERATUR
Menschen haben häufig Probleme, ihre eigenen Ziele zu erreichen (z.B. Reduzierung des Alkoholkonsums, produktive Tätigkeiten ausüben, Geld sparen). Durch eine Verpflichtung an diese Ziele, z.B. mit der Teilnahme an einem öffentlichen Programm, gelingt dies eher.
Kahnemann, D. (2011): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Penguin Verlag. 11. Auflage 2012. Sunstein, C. (2014): Nudging. A very short guide. Thaler, R. H./Sunstein, C. R. (2003): Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron, University of Chicago Public Law & Legal. Theory Working Paper No. 43.
08 Erinnerungen
Menschen sind vergesslich und faul. Erinnerungen durch Benachrichtigungen (Rechnung bezahlt? Arzttermin gemacht? Anhang der Mail hinzugefügt?) können zum Handeln anregen.
Thaler, R./ Sunstein C. (2011): Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin: Ullstein Buchverlage. 10. Auflage 2017.
09 Handlungsabsichten auslösen
Umweltbundesamt (2017): Nudge-Ansätze beim nachhaltigen Konsum: Ermittlung und Entwicklung von Maßnahmen zum „Anstoßen“ nachhaltiger Konsummuster.
Menschen werden eher aktiv, wenn Handlungsabsichten hervorgerufen werden (z.B. Gehen Sie wählen? Sind Sie Organspender? Welches Energiesparprogramm nutzen Sie? Trennen Sie Ihren Müll?).
10 Informationen über vergangenes Verhalten
Private und öffentliche Einrichtungen verfügen über persönliche Daten und über vergangene Entscheidungen. Das Offenlegen dieser Informationen kann den Verbrauchern helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und dadurch auch Geld zu sparen (z.B. Feedback zur eigenen Energienutzung).
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WEIL SIE ES SICH WERT SIND
M o n o p o ly vs. Weconomy Si nn u nd U ns inn a l t e r n a t i v e r K o n su mk o n ze p t e
VON Katrin klubert (Gesellschaftswissenschaften) und Moritz Hirmer (Kulturwissenschaften, Frankfurt/Oder)
Im März 1903 erschien die 37-jährige Lizzie Magie Phillips vor dem US-Patentamt, um ihre neueste Erfindung patentieren zu lassen: ein Brettspiel namens „Landlord’s Game“ mit politischem Bildungsauftrag. Das Spiel verläuft immer gleich: Am Ende gewinnt der Spieler, der Besitz durch Miet- und Grundeinnahmen anhäufen kann; alle anderen gehen leer aus. Ihre Idee sollte den Spieler_innen zeigen, dass ein gänzlich freier Markt zum Monopol führt. Sie bot allerdings auch eine alternative Spielform an: Die Spieler konnten kooperieren und das Land gemeinsam mieten. Lizzies Erfindung hatte jedoch zunächst keinen Erfolg. Erst ab 1935 sollte es bekannt werden – jedoch ohne eine politische Botschaft. Der Heizgeräte-Verkäufer Charles Darrow nannte es „Monopoly“, ließ es patentieren und wurde der erste Millionär der Spiele-Branche. Lizzie bekam 500 Dollar (vgl. Pilon 2015: o.S.).
die globalen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten wird diese Verknüpfung immer deutlicher: die immense Umweltbelastung, der unverhältnismäßige Ressourcenverbrauch, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern oder die amoralischen Verhältnisse in der Massentierhaltung – der globale Kapitalismus als derzeitiges Wirtschaftssystem reproduziert diese Verhältnisse kontinuierlich weiter. Demgegenüber steht jedoch in verschiedenen Formen und Handlungsebenen eine Vielzahl von alternativen Entwürfen. Diese sind als Versuche einzustufen, die negativen Auswirkungen des zeitgenössischen Konsums in Bezug auf ökologische, arbeitsrechtliche oder lebensweltliche Dimensionen zu verringern. Sie implizieren dabei eine Abkehr vom rein individuellen Konsum ohne Bezugnahme auf andere Dimensionen des Konsums.
Konsum wird gemeinhin vom Privaten und Individuellen her gedacht. Lizzie Magie Phillips protestierte dagegen. Immer häufiger entstehen auch heute Ideen, gemeinschaftlich neue Formen des Konsums zu organisieren. Dahinter steckt die Annahme, dass Konsum in gesellschaftliche Bezüge eingebettet ist. Florence Kelley, Mitgründerin der National Consumers League in den USA, brachte diese Ansicht auf den Punkt: „To live means to buy, to buy means to have power, to have power means to have responsibility.“ (vgl. National Consumers League) Konsum hat damit sowohl politische als auch moralische Dimensionen. In Hinblick auf die gegenwärtigen Zustände und
Wir unterteilen die Entwicklungen, Konsum kooperativ zu gestalten, analytisch in drei Kategorien: individuelle und gemeinschaftlich organisierte politische Konsumhandlungen sowie die Etablierung eines Wirtschaftssystems basierend auf einem neuen Konsumverständnis. Die individuelle politische Konsumhandlung entspricht oftmals in erster Linie einem Verzicht auf bestimmte Konsumgüter unter Prämissen eines ökologisch, moralisch vertretbaren Produktionsprozesses. Einem bewussten Konsumverhalten ist meist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit einem Produkt und dessen 43
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und wahrnehmbarer für die Öffentlichkeit. Die Akteure sind dabei nicht nur Konsumierende, sondern können sich auch vor Ort beteiligen. Die Produktion, Verteilung und Bezahlung des Essens wird in diesem Beispiel also durch den gemeinschaftlichen Zusammenschluss der Teilnehmer_innen übernommen. Im Gegensatz zum Wettbewerbs- und Konkurrenzcharakter kapitalistischen Wirtschaftens spiegeln Formen solidarischer Ökonomien also ein wechselseitiges Handeln zwischen den Menschen wider, welches sich demzufolge durch einen sozialen Sinn auszeichnet (vgl. Exner/ Kratzwald 2012: 23, 31). Das Politische ist das Zwischenmenschliche.
globalem Herstellungseffekt vorausgesetzt. Der Markt hat natürlicherweise auf diese neue Nachfrage reagiert – mit teils paradoxen Folgen: Bio-Produkte sind als neuer Absatzmarkt auch in Discounter eingekehrt. Grün wurde als Marke etabliert. Die Vielzahl an ökologischen Prüfsiegeln, mit mal mehr, mal weniger Aussagekraft, suggerieren eine neue Nachhaltigkeit großer Unternehmen und Konzerne. Weiterhin bleiben die Verkettungen, bezüglich der Zwischenhändler_innen, Lebensrealitäten und Herstellungsprozesse, weitestgehend intransparent.
Konsumierende, die sich die Folgen ihres Konsums bewusst machen, sehen sich jedoch einer Menge Widersprüche – auch sie selbst betreffend – gegenüber. Wie konsequent ist ein alternatives Konsumverhalten tatsächlich in das eigene Leben zu integrieren? Reicht die eigene Verhaltensänderung? Am Ende bleibt häufig die Erkenntnis, dass die aktuelle Form der Marktwirtschaft auf Prämissen beruht, die inhärent zu Ressourcenverknappung, Umweltverschmutzung und sozialer Ungleichheit führen. Mit Ansätzen wie der Postwachstums- und der Gemeinwohlökonomie (vgl. Adler/Schachtschneider 2017; Felber 2014) versucht man diesem Problem – zumindest auf theoretischer Ebene – zu begegnen. Ein Wandel auf der praktischen Ebene bleibt herausfordernd. Denn: Ein Konsumbegriff, der isoliert von sozialen, moralischen oder politischen Bezügen verstanden wird, hat den Vorteil, dass er das hochkomplexe, oft frustrierende Aushandeln von Verantwortlichkeit im Zwischen der Menschen ausspart. Mit der Berücksichtigung des Anderen in der eigenen Konsumentscheidung wird das Leben ungleich komplizierter. Das Nachdenken über Produktionsbedingungen, Transportwege, Umweltfolgen und soziale Verhältnisse, die mit dem Konsum verknüpft sind, strengt an. Ebenso stellt es eine Herausforderung dar, den Wert der individuellen Freiheit positiv in neue Formen des Wirtschaftens mit moralischer Dimension zu integrieren. Im Zeitalter der Globalisierung bleiben Produktions- und Konsumprozesse
Auf individueller Ebene entsteht also ein Bewusstsein für die eigene Konsumentscheidung, allerdings wird nicht selten eine Lücke zwischen Anspruch und realem Einfluss bleiben müssen. Gerade prekäre Lebensumstände und soziale Ungleichheit hemmen die Bereitschaft zu bewusstem Konsum. Existentielle Probleme lassen oftmals wenige Spielräume für eine nachhaltige Praxis. Berthold Brecht brachte es in der Dreigroschenoper auf den Punkt: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ (Brecht 1928: 67) Der nächste Schritt ist es, auf kleinem Raum engere Bezüge zwischen Produzierenden und Konsumierenden herzustellen. Gemeinwohlorientierte Kollektive bieten alternative Modelle neben dem freien Markt an: Second-Hand Läden, Repair Cafés oder Foodsharing-Modelle sind gegenwärtige Beispiele. Vor allem das Konzept der solidarischen Landwirtschaft illustriert im Besonderen die Möglichkeit, in einen kleineren, für den Einzelnen überprüfbaren Produktionsablauf überzugehen und regionale Produkte vom direkten Erzeuger zu erwerben. Städte sind vor diesem Hintergrund von zentraler Bedeutung, neben ihrer entgegenstehenden Funktion als Konsumfabrik. Produziert und gemeinschaftlich verwaltet in ländlichen Regionen, finden die erzielten Erträge durch Sammelstellen in Cafés, sozialen Einrichtungen und sonstigen gemeinschaftlichen Orten ihren Weg in die Stadt und zu ihren Bewohner_innen. Alternative Konzepte werden durch diese institutionelle Einbindung damit sozial zugänglicher
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komplex und resultieren in nicht-intendierten Folgen. Dennoch ist es sinnvoll, über Alternativen nachzudenken und nicht in Perspektivlosigkeit und konstruierte Dichotomien nach dem Prinzip Radikalveränderung/ Status quo zu verfallen. Sowohl das Konsumerlebnis als auch die neoliberale Perspektive sind derart prägend für unsere Kultur, dass es manchmal so scheint, als wären sie ohne Alternative.
>> To live means to buy, to buy means to have power, to have power means to have responsibility.
Gerade aber wegen der vielen gravierenden Konsequenzen sind Bemühungen um einen transparenten und an die Konsumierenden rückgekoppelten Produktionsprozess sinnvoll. Auch auf globaler Ebene gibt es Möglichkeiten, produzierte Güter aus anderen Ländern und Regionen ökologisch nachhaltig und unter Einhaltung arbeitsrechtlicher Grundsätze wie einer angemessenen Bezahlung zu erwerben. Eine Möglichkeit wären zum Beispiel Organisationen, die durch den direkten Kontakt mit den Erzeuger_innen und Arbeiter_innen Kooperationsverträge ohne Zwischenhändler_innen abschließen. Oftmals überzeugen sich diese Organisationen selbst von den Arbeitsbedingungen vor Ort, der Qualität der Produkte und der nachhaltigen Produktion und veröffentlichen transparente Berichte über ihre Besuche.
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LITERATUR Adler, F./ Schachtschneider, U. (Hg.) (2017): Postwachstumspolitiken. Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft. München: oekom-Verlag. Brecht, B. (1928): Die Dreigroschenoper – der Erstdruck 1928. Mit einem Kommentar von Joachim Lucchesi, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2004. Exner, A./ Kratzwald, B. (2012): Solidarische Ökonomie und Commons. INTRO. Eine Einführung. Wien: Mandelbaum-Verlag.
Transformationen leben sowohl von Grassroots‑Bewegungen als auch vom Wandel auf größerer organisationaler Ebene (vgl. Welzer/ Sommer 2017: 34). Gewiss verlaufen solche Wandlungsprozesse in ernüchternder, aber auch behutsamer Langsamkeit. Dennoch: Dass das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer solchen Transformation überhaupt vorhanden ist, ist bereits eine positive Entwicklung.
Felber, C. (2014): Die Gemeinwohlökonomie ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft. Wien: Paul Zsolnay Verlag Deuticke Verlag. 3. Auflage. 2018. National Consumers League (Hg.) (o.J.): History. A Look Back on 100+ Years on Advocacy. Online verfügbar unter: http://www. nclnet.org/history [Zugriff: 11.05.2018]. Pilon, M. (2015): Monopoly’s Inventor: The Progressive who didn’t pass ‘Go’. In: New York Times, 15.02.2015. Online verfügbar unter: https://www.nytimes.com/2015/02/15/business/behind-monopolyan-inventor-who-didnt-pass-go.html [Zugriff: 11.05.2018]. Sommer, B./ Welzer, H. (2017): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom-Verlag.
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Der Rebound-Effekt S tö re nde s Phä n om e n b e i d e r S te ige ru ng d e r E n e r g i e e f f i zi e n z
Von malte Giesenow, Georessourcenmanagement
Sparsamere Autos fahren und trotzdem mehr Sprit konsumieren – wie kann das sein?
Der absolute Rebound-Effekt liegt in der Regel allerdings noch höher, als der direkte Rebound-Effekt alleine, denn die absolute Energieeinsparung wird außerdem durch den indirekten Rebound-Effekt reduziert: Hat die Studentin es geschafft, weniger Strom verbrauchen, bleibt am Ende des Jahres mehr Geld übrig für andere Sachen – zum Beispiel für eine Flugreise nach Spanien. Dieser Urlaub führt zu Energieverbrauch im Sinne von Kerosin-Verbrauch (vgl. Madlener/ Alcott 2011: 8).
In den letzten Jahrzehnten gab es große Fortschritte bei der technischen Entwicklung im Hinblick auf Energieeffizienz. So verbrauchen Autos heute deutlich weniger Benzin, unsere Häuser sind zunehmend besser isoliert und im Vergleich zu 1990 benötigen Flugzeuge circa 40% weniger Kerosin pro Passagier (vgl. Flugrevue 2015). Trotz dieser Fortschritte, verbrauchten die Deutschen im Jahr 2015 mehr Kraftstoffe als zehn Jahre zuvor (vgl. Umweltbundesamt 2018).
Wie stark der Rebound ausgeprägt ist, hängt von vielen Faktoren ab und ist nicht selten schwierig zu quantifizieren. Der indirekte Rebound-Effekt tritt besonders stark auf, wenn ungesättigte Bedürfnisse bestehen. Dies könnte zum Beispiel der Wunsch nach einem Fernseher, einer größeren Wohnung oder einem eigenen Auto sein. Neben einkommensschwachen Gruppen, wie der Studentin in Deutschland, haben insbesondere Bürger in Entwicklungsund Schwellenländern viele ungesättigte Bedürfnisse – man kann daher davon ausgehen, dass zusätzlich verfügbares Einkommen in diesen Ländern zum großen Teil in Konsumgüter fließt, die direkt oder indirekt zu erhöhtem Energieverbrauch führen (vgl. Madlener/ Alcott 2011: 43).
In der Energieökonomik spricht man vom Rebound-Effekt, wenn erhöhte Effizienz nicht im selben Maße zu absoluten Einsparungen von Energie führt. Dieser Effekt kann in allen Bereichen des Lebens auftreten und wird häufig vernachlässigt, wenn abgeschätzt wird, wie stark moderne Technologien zu sinkendem Energieverbrauch führen sollen. In der Literatur wird meistens zwischen direktem und indirektem Rebound-Effekt sowie dem makroökonomischem Rebound-Effekt unterschieden (vgl. Madlener/ Alcott 2011: 4)
Zuletzt gibt es den makroökonomischen Rebound-Effekt, da eine reduzierte Nachfrage zu niedrigeren Preisen führt. Würden alle Deutschen Strom sparen, könnten die Strompreise, gemäß der Theorie von Nachfrage und Angebot, sinken und aufgrund des niedrigeren Preises würde wieder mehr davon konsumiert (vgl. Madlener/ Alcott 2011: 20).
Der direkte Rebound Effekt lässt sich am folgenden Beispiel erklären: Eine Studentin ersetzt ihre Glühlampen durch sparsame LED-Birnen, um Energie zu sparen. Weil sie es als angenehmer empfindet und durch die moderne Technologie schließlich weniger Strom verbraucht wird, entscheidet sie sich direkt mehrere neue Lampen zu installieren und diese abends nicht immer auszuschalten. Statt der erwarteten 80% Einsparung durch die effizientere Technologie, spart sie am Ende nur 50% Strom ein.
Aus den genannten Beispielen wird offensichtlich, dass steigende Effizienz weniger zu einem absolut sinkenden Verbrauch beiträgt, als zu einem verbesserten Lebens46
WEIL SIE ES SICH WERT SIND
standard. Die Studentin aus dem genannten Beispiel hat möglicherweise am Ende wenig Energie eingespart, allerdings ist es in ihrer Wohnung heller und gemütlicher und nicht zuletzt hat sie sich durch ihren Urlaub für das kommende Semester erholt. Aber was kann aus der Erkenntnis gewonnen werden, dass eine Effizienzsteigerung nicht zu gleichwertiger Energieeinsparung führt? Zunächst ist es wichtig, den Rebound-Effekt beim Abschätzen zum Effekt von Maßnahmen zur Steigerung von Energieeffizienz oder bei der CO2-Reduktion zu berücksichtigen. Selbst renommierte Studien, wie der Stern-Report, sowie Berichte der Internationalen Energie Agentur oder den Vereinten Nationen berücksichtigen den Rebound-Effekt nur unzureichend oder überhaupt nicht. Daher sind beispielsweise Klimaschutzmaßnahmen oft weniger effektiv als erhofft (vgl. Madlener/ Alcott 2011: 8). Um den Energie- und Ressourcenverbrauch und dadurch verursachte Emissionen insgesamt zu senken, sind, zusätzlich zu Effizienzsteigerungen, andere Maßnahmen erforderlich. Man kann beispielsweise die Steuern eines Produkts soweit erhöhen, dass der Preis trotz Effizienzsteigerung nicht sinkt. Die EEG-Umlage – eine Verbraucherabgabe zur Förderung von Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen – weist diesen Effekt zum Beispiel beim Strom auf. Durch die dadurch steigenden Strompreise muss die bereits erwähnte Studentin tatsächlich Energie einsparen, damit ihre Lebenshaltungskosten konstant bleiben. Bewusst eingesetzt werden solche Maßnahmen beispielsweise außerdem bei der Besteuerung von Benzin, wo die sogenannte Ökosteuer eine Lenkungswirkung erzielen soll. Außerdem kann ein Strukturwandel in Richtung Dienstleistungssektor helfen, den Ressourcenverbrauch nachhaltig zu reduzieren – genauso wie der Einsatz erneuerbarer Energien.
Literatur Flugrevue (Hg.) (2015): Deutsche Airlines verbrauchen 3,64 Liter pro Passagier und 100 Kilometer. In: Flugrevue, 29.07.2015. Online verfügbar unter: https://www.flugrevue.de/zivilluftfahrt/airlines/ deutsche-airlines-verbrauchen-364-liter-pro-passagier-und-100-kilometer/639698 [Zugriff: 10.06.2018]. Madlener, R./ Alcott, B. (2011): Herausforderungen für eine Technisch-Ökonomische Entkopplung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum. Unter besonderer Berücksichtigung der Systematisierung von Rebound-Effekten und Problemverschiebungen. Berlin: Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages (Hg.).
Die zweifellos effektivste Maßnahme ist jedoch Suffizienz, also der Verzicht auf Konsum. Dass eine nachhaltige Entwicklung mit Wohlstandsverlusten einhergehen kann, wird in der politischen Debatte allerdings nur selten offen ausgesprochen.
Umweltbundesamt (Hg.) (2018): Endenergieverbrauch und Energieeffizienz des Verkehrs. In: Umweltbundesamt, 14.05.2018. Online verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/endenergieverbrauch-energieeffizienz-des-verkehrs [Zugriff: 10.06.2018].
Eine der wichtigsten aktuellen Fragen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung lautet daher: Lassen sich Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum voneinander entkoppeln? Der Rebound Effekt trägt jedenfalls seinen Anteil dazu bei, dass an dieser Aussage gezweifelt werden kann.
Weiterführende Literatur Santarius, T. (2012): Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energieeffizienz. Wuppertal: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH (Hg.).
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The Art Of
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P o p - Art E ine Ä s th e ti s i e r u n g d e s K o n su m s
von sofia eleftheriadi-zacharaki, Lehramt germanistik/anglistik
Im Oktober 1964 öffnete „The American Supermarket“ in Paul Bianchinis Upper East Side Gallery seine Türen. Zu sehen war ein blendendes Spektakel des Überflusses. Was auf den ersten Blick wie ein amerikanischer Supermarkt aussah, war in Wirklichkeit eine Ausstellung. Beim Betreten wirkte die Galerie wie ein Walmart oder eine andere beliebige Supermarktkette der 1960er in Amerika. Mit nur einem Unterschied: die für den Verkauf ausgelegten Produkte waren Kunstwerke – was sie wesentlich teurer und zum Verzehr völlig ungenießbar machte. In den vollen Regalen standen Produkte aller Art zum Verkauf: Gemüse, Früchte und Eier aus Chromstahl wie auch Gips-Pumpernickel von Robert Watts; Kuchen, Kekse und weiteres Gebäck von Claes Oldenburg, ein riesiger Plastik-Truthahn und handbemalte Wachssteaks von Tom Wesselmann wie auch eine bemalte bronzene Wassermelone von Billy Apple. Andy Warhols nachgebaute Brillo-Waschseifekartons und signierte Campbell’s Suppendosen wurden ebenfalls angeboten. Die Wände waren mit Werbepostern mit Werken Roy Lichtensteins und Andy Warhols plakatiert. Kurz: Massenware und Konsumgüter ästhetisiert in Kunst. Ganz nach Marcel Duchamp, der bereits 1913 sagte: „Kunst liegt auf der Straße, und sie steht in den Regalen der Kaufhäuser.“ Diese Ausstellung war eine der ersten Massenveranstaltungen, die die Öffentlichkeit gleichzeitig mit der Pop-Art als solche und der ewigen Frage konfrontierte, was Kunst sei und was nicht. Mitten im Wirtschaftswachstum der 50er Jahre entwickelte sich die Pop-Art als Kunstbewegung erst in England und wenig später auch in den USA.
Indem sie banale Alltagsgegenstände in den Mittelpunkt ihrer Kunst rückte und somit jedem Objekt ermöglichte zur Skulptur zu werden, legte sie alles ab, was bislang Teil des allgemein gültigen Kunstbegriffs war. Sie distanzierte sich stark von den vorherrschenden Kunstbewegungen und ihrem grundlegenden Streben nach Authentizität, Komplexität, Originalität, Schönheit und Tiefe. Vor allem kontrastierte sie sich stark von dem in der Nachkriegszeit entstandenen Abstrakten Expressionismus, der die Abbildung von Gegenständlichem aus ihren Werken verbannt hatte. Pop-Art-Künstler wie die Amerikaner Jasper Johns und Robert Rauschenberg standen dieser Abstraktion kritisch gegenüber. Nach ihnen war sie zum einen elitär und hermetisch, zum anderen sinnentleert und realitätsfern. Die Pop-Art hingegen zielte durch den Einbezug von alltäglichen Gegenständen auf eine Zusammenführung von Kunst- und Lebenswirklichkeit. Sie hatte zum Ziel, das veränderte und moderne Lebensgefühl in ihren Werken widerzuspiegeln. Mit dem Beginn der 60er-Jahre wuchs die Anzahl der angebotenen Waren in der Großstadt. Die Wirtschaft boomte, die Löhne stiegen und der Konsum nahm ein nie da gewesenes Ausmaß an. In diesem Zuge buhlten Medien und Werbung immer aggressiver um Aufmerksamkeit. Die modernen Pop-Art-Künstler_innen knüpften an diesen nachkriegszeitlichen Umschwung an und begegneten der Entwicklung der populären Massenkultur, der Massenmedien, Presse und Werbung wie auch Comics, Musik und Film, indem sie die medialen Bilderfluten und deren ästhetische Reize in ihre eigenen Werke integrierten. Damit machten sie das Medium der Kunstwerke ebenso wichtig wie dessen Inhalt. Im Gegensatz zu der abstrakten
the art of performance
Kunst begeisterte diese Kunstrichtung aufgrund ihrer Verständlichkeit und ihres typisch plakativen Stils sowie der wenigen aber knalligen Farben eine breitere Masse an Menschen, die auch ohne kunsthistorisches Vorwissen die Werke genießen konnten. Indem sie Banales – insbesondere Alltägliches wie auch Konsum- und Massenware – in ihren Mittelpunkt setzte, erhob sie das Massentaugliche zu Kunst. Somit stellte sie die gesellschaftliche Vorstellung von Kunst und ihrer Einzigartigkeit auf den Kopf und machte eine Definition ihres Kunstbegriffs zu einer Herausforderung. Der englische Künstler und Vorreiter der Pop-Art, Richard Hamilton, listete in einem Brief an seine Freunde, Peter und Alison Smithson in 1957, Charakteristika auf, die eine mögliche neue Kunstrichtung beschreiben sollten: „Pop Art is: Popular (designed for a mass audience), Transient (short-term solution), Expendable (easily forgotten), Low cost, Mass produced, Young (aimed at youth), Witty, Sexy, Gimmicky, Glamorous, Big business.“ Obwohl diese wenig gehaltvolle Aussage moderne Kunstkritiker erschütterte, fand Pop-Art ihren Weg in die Kunstgeschichte. Ob humorvoll-ironisch, bissig oder kritisch, sie erfasste den Zeitgeist der späten 1950er und 1960er Jahre. Pop-Art kann daher als eine der ersten Manifestationen der Postmoderne gesehen werden. Auch wenn sich sowohl die amerikanische als auch die britische Popkultur als Reaktion auf den zu intellektuell angesehenen Abstrakten Expressionismus etablierten, sind sie dennoch differenziert voneinander zu betrachten. Während Pop-Art-Künstler_innen Großbritanniens die amerikanische Popkultur aus der Ferne kritisch betrachteten, bildeten amerikanische Pop-Art-Künstler_innen die Kultur ab, deren Teil sie waren. Die amerikanischen Künstler_innen, wie Pop-Art-Größen Andy Warhol und Roy Lichtenstein, verarbeiteten die optimistische Kennedy-Zeit und den „American Way of Life“ indem sie massentaugliche Waren in den Mittelpunkt ihrer Werke stellten und diese zugleich zu verherrlichen wie auch sie zu kritisieren schienen. Campbell’s Suppendosen haben durch Andy Warhols Siebdrucke einen ikonenhaften Status erlangt, doch die endlos scheinende Reproduzierbarkeit der Werke scheint die Massenproduktion des Wirtschaftswachstums zu parodieren. Ähnliches
no hold your hats... It’s an art gallery * *Headline zur Ausstellung aus der amerikanischen Zeitschrift LIFE im Oktober 1964.
gilt für Roy Lichtensteins Comic-Strips, deren berühmte Rastertechnik, die sogenannten Benday Dots, wie sehr kenntlich gemachte Pixel wirken und so an die industrielle Herstellung von Werbung und Massenmedien erinnern – dabei ist jeder Punkt von Lichtenstein mithilfe einer Schablone per Hand gemalt.
Unter Pop-Art ist daher mehr als nur Kunst zu verstehen, vielmehr ist es eine Bewegung, die mit ihren Kunstwerken zum Nachdenken anregte, provozierte und Diskussionen auslöste. Eine Kunst, die zugleich verliebt war in die Ephemera der Konsumkultur, und diese kritisierte. Einerseits greift Pop-Art triviale Motive auf, feiert den wirtschaftlichen Aufschwung, die Stars und die Medien. Ande- rerseits zeigt sie die Schattenseiten der Massenproduktion, des Massenkonsums und der Massengesellschaft.
Die britische Kunstbewegung ging distanzierter vor, indem sie den amerikanischen Pop und dessen Macht, Menschen zu manipulieren, parodierte. Kern der britischen Bewegung war die Künstlergruppe The Independent Group, der auch Richard Hamilton angehörte. Seines war zudem das erste und berühmteste Werk der Pop-Art: Die Collage „Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?“ von 1956. Das Werk, das anfangs gar nicht als Kunstwerk gedacht war, sondern als Plakat für einen Ausstellungskatalog, erscheint rückblickend regelrecht zukunftweisend für die spätere Pop-Ikonografie.
Schon gewusst? Das Ludwig Museum Köln beherbergt die
Abgebildet scheinen die zeitgenössischen Verkörperungen von Adam und Eva zu sein, inmitten materieller Versuchungen des nachkriegszeitlichen Konsumbooms. Alle Klischeebilder der Wohlstandsbürger_innen sind hier vereint: Unterhaltungselektronik, Fertiggerichte in Konservendosen, Filmindustrie, Comics, Haushaltsangestellte, Sex und lauter Prestigeobjekte. Für dieses Urbild der Pop-Art klebte Hamilton Ausschnitte aus amerikanischen Lifestylemagazinen zusammen. Dieses wirkte auf die englische Bevölkerung, die noch unter der langsamen Nachkriegswirtschaft litt, als Parodie des amerikanischen Materialismus und der modernen Werbung, die diese materiellen Wünsche und Konsumlust auslöste.
umfangreichste Pop-Art Sammlung außerhalb den USA. Zahlreiche Hauptwerke von Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Claes Oldenburg, James Rosenquist, Robert Rauschenberg und Jasper Johns sind dort zu sehen.
Weiterführende Literatur Hecken, T. (2009): Pop: Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld: Transcript. Lüthy, M. (2002): Das Konsumgut in der Kunstwelt – Zur ParaÖkonomie der amerikanischen Pop Art. In: Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum.
Wirkt die Pop-Art auf den ersten Blick trivial, offenbart eine nähere Betrachtung, dass sie eine tiefgründige Kritik an der Konsumgesellschaft ausübt, sowie Lust am Skandal zeigt. Die gesellschaftliche Kritik bestand darin, in der Nachkriegszeit und zu Zeiten des Vietnamkriegs auf die Verwundbarkeit einer scheinbar perfekten Wohlstandsund Konsumgesellschaft aufmerksam zu machen. 52
artikel
the art of performance
m u s ic o v e r k i l l Der We g de s Mu si kh ör e n s v om N o t e n d r u c k b is z u m S t r e am i n g
von Tobias Kelliger, Produktionstechnik
Grammophon, Radio, Schallplatte, CD, Digitalisierung und Streaming – nicht nur die Musik selbst hat sich in den letzten 100 Jahren grundlegend weiterentwickelt, insbesondere die Abspielmedien haben sich kontinuierlich verändert und damit das Hörverhalten nachhaltig beeinflusst. Die umsatzgetriebene Musikindustrie reagiert auf die veränderten Konsummuster – für Musikliebhaber nicht immer in positivem Sinne.
Die Erfindung des MP3-Formats beendete den Siegeszug der analogen Abspielmedien und machte Musik zum digitalen Gut. Damit änderte sich auch das Konsummuster drastisch. Wurde Musik bis dahin in überschaubaren Mengen verschenkt, getauscht und überspielt, konnten Musikstücke nun in nahezu unbegrenzter Anzahl beispielsweise über die Filesharing Plattform Napster (ab 1999) kostenlos und meist illegal ausgetauscht und heruntergeladen werden. Der Musikkonsum nahm drastisch zu – die Kaufbereitschaft ging aber genauso drastisch zurück. Darunter litten vor allem Künstler und Labels, die deutlich weniger Tonträger verkaufen konnten. Napster musste nach nur anderthalb Jahren vom Netz gehen, hatte den Musikkonsum aber bereits nachhaltig verändert. Die Musik hatte einen großen Teil ihrer „Besonderheit“ verloren, die sich für den Konsumenten in Form von hohen Preisen, geringer Quantität und hoher Qualität bemerkbar machte und ihn im Idealfall an den künstlerischen Wert einer Musikproduktion erinnerte. Durch die Digitalisierung der Musik war der Besitz tausender Musikstücke plötzlich problemlos möglich und die Beschaffung stellte keine Hürde mehr dar; Musik war nun beliebig vervielfältig- und austauschbar, es mussten keine teuren CDs mehr gekauft werden und man konnte sich die Musik problemlos von seinen Freunden oder auf illegalem Wege besorgen. Die durch die Komprimierung leidende Soundqualität und die fehlende Wertschätzung des Künstlers waren dabei zweitrangig.
Ohne Frage ist Musik heute ein in nahezu allen Gesellschaften für fast alle Menschen verfügbares Konsumgut, hinter dem eine milliardenschwere Industrie steht. Das war nicht immer so. Erst mit der Erfindung des Grammofons 1887 konnte sich Musik vom dynamischen, interaktiven Unterhaltungserlebnis, also von dem aktiven Hören während einer real anwesenden Kapelle, eines Orchesters, eines Instruments oder einer Stimme, zum statischen Produkt wandeln (vgl. Deutsches Patent- und Markenamt 2017; vgl. Kusek/ Leonhard 2006: 12). Den Einzug ins Wohnzimmer schaffte die Musik mit der Verbreitung des Radios während des Zweiten Weltkriegs. Musikstücke privat und kostengünstig zu besitzen wurde anschließend mit Hilfe der langspielenden Vinyl-Schallplatte ab den 1950er Jahren für die breite Masse möglich (Hübner 2009: 32). In den Alltag wurde Musik schließlich durch Kassette und Walkman getragen, neben dem mobilen Abspielen war nun auch die selbstständige Aufzeichnung möglich. Ab 1982 konnte die CD wegen der hohen Klangqualität und des geringen Volumens sowohl die Schallplatte als auch die Kassette nach und nach fast vollständig verdrängen (Endres/ Ziegler 2018). Durch stetig steigende Verkaufszahlen insbesondere der CD wuchs der Umsatz der Musikindustrie konstant und erreichte im Jahr 1997 mit über 2 Milliarden Euro allein in Deutschland sein Maximum (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017: 5).
Wirtschaftlich profitabel wurde die digitale Musik erst mit Einführung der Plattform iTunes 2003, auf der Musik kostenpflichtig und legal zum Download angeboten wurde. Der Umsatzrückgang konnte jedoch auch durch Download-Portale nicht aufgehalten werden. Als Beispiel: 2010 wurden in Deutschland zwei Drittel aller 53
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7,4% Premium Audio-Streaming
8,1% Kostenloses Audio-Streaming
Alben, umgerechnet etwa 900 Millionen Songs, illegal heruntergeladen (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2012: 8). Plattformen wie YouTube ermöglichten den Musikkonsum auch in abgelegenen Orten der Erde, Musikvideos wurden von einigen Künstlern mehr und mehr dazu genutzt, sich zu vermarkten, ins Gespräch zu kommen oder Produkte zu platzieren. Die eigentliche Musik, Produktion und Kreativität, geriet zunehmend in den Hintergrund.
10,3% Online-Radio
Die Bereitschaft, wieder für den Musikkonsum zu zahlen, änderte sich erst mit der Verbreitung von Streamingdiensten wie Spotify, Deezer und Co. ab dem Jahr 2006. Ob die Wertschätzung der Musik durch das Streaming steigt, bleibt aber fraglich. Eine Bezahlung von ca. 0,007 $ an den Rechteinhaber der Musik pro abgespieltem Song spricht dagegen (Grundberg 2013).
16,1% Physische Tonträger
Die Art, Musik zu konsumieren, verändert in gleichem Maße die Art, Musik zu machen. Eine Studie zeigt, dass beim Streaming fast 25 % aller gespielten Songs in den ersten fünf Sekunden abgebrochen werden. Lediglich die Hälfte der Nutzer hört den Song bis ans Ende. Für die Musikproduktion heißt das: sofort zur Sache kommen, kein unnötiges Intro, in den ersten 15 Sekunden muss die Melodie im Kopf des Hörers angekommen sein. Künstler verzichten auf das Albumformat und veröffentlichen stattdessen regelmäßig Singles, um in den wichtigsten Playlists zu landen, das Intro eines Songs verkürzt sich stetig. Solange ein Interpret bzw. ein Plattenlabel mit Musik Geld verdienen möchte, ist die Musik zunehmend weniger Ausdruck künstlerischen Schaffens als Mittel zur Gewinnmaximierung. (vgl. Lamere 2014; vgl. Léveillé Gauvin 2017)
Nach der ersten großen „Revolution“, der Digitalisierung der Musik, kann im Musikstreaming der zweite große Umbruch gesehen werden. Die Konsumenten bestehen nicht mehr darauf, die Musik zu besitzen, sie erwarten jedoch Zugang zu allen existierenden Musikstücken (aktuell 35 Millionen Songs allein auf Spotify). Musik ist immer weniger als ein geschätztes „Kulturgut“ zu sehen, sondern vielmehr ein konstantes Hintergrundrauschen oder ein Mittel zur Langeweile-Bewältigung. So wurden allein in Deutschland im Jahr 2017 56,4 Milliarden Songs gestreamt (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017: 15). Das Musikstreaming führt also endgültig zum Music Overkill und verändert das Hörverhalten vom emotionalen, sentimentalen, assoziativen und distanziertem zum diffusen und passiven Hören.
Musik zu entdecken, wird für den Konsumenten immer schwieriger. Der Algorithmus sammelt Daten (Tipp: Eigenes Hörverhalten unter spotify.me kennenlernen) und schlägt auf dieser Grundlage für uns unbekannte Musik des gleichen und für uns bekannten Genres vor. Da es oft aber auch nicht mehr um die Qualität oder den Textinhalt geht, wird der Versuch des „Ausbruchs“ aus dem einmal festgelegten Konsum- bzw. Genremuster erst gar nicht unternommen. Die Varietät der Musik und das damit verbundene Erlebnis neuer Klangmuster und -formen geht oftmals verloren.
>> Das Musikstreaming verändert das Hörverhalten vom emotionalen, sentimentalen, assoziativen und distanziertem zum diffusen und passiven Hören.
Neben dem Streaming spielt jedoch auch das Radio noch immer eine zentrale Rolle: Mit 37 % macht es für die meisten den größten Anteil der Gesamtzeit des Musikhörens
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12,9% Video-Streaming
Literatur
18,2% Musikdateien
Bundesband Musikindustrie e.V./ PhonoNet GmbH (Hg.) (2017): Musikindustrie in Zahlen 2017. Berlin. Bundesverband Musikindustrie e. V./ PhonoNet Gmbh (Hg.) (2012): Musik im digitalen Wandel. Eine Bilanz aus zehn Jahren Brennerstudie. Berlin. Deutsches Patent- und Markenamt (2017): 130 Jahre Grammophon. Ein Patent begründet den Musikmarkt. In: Das DPMA, 09.05.2018. Online verfügbar unter: https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/ aktuelles/meilensteine/130jahregrammophon/index.html [Zugriff: 11.05.2018].
27% Radio
Grevener, K. (2017): Geschichte der Tonträger. Die Schallplatte. In: ARD Planet Wissen, 04.07.2017. Online verfügbar unter: https:// www.planet-wissen.de/kultur/musik/geschichte_der_tontraeger/ pwiedieschallplatte100.html [Zugriff: 11.05.2018]. Grundberg, S. (2013): Spotify Reveals the Math Behind Its Music Royalties. Streaming Service Pays Less Than a Penny for Each Use. In: The Wall Street Journal, 03.12.2013. Online verfügbar unter: https:// www.wsj.com/articles/spotify-reveals-the-math-behind-its-musicroyalties-1386116402 [Zugriff: 11.05.2018].
* Hörgewohnheiten in Deutschland: Prozentuale Anteile an der Gesamzeit des Musikhörens (Bundesverband Musikindustrie e.V., 2017)
Hübner, G. (2009): Musikindustrie und Web 2.0. Die Veränderung der Rezeption und Distribution von Musik durch das Aufkommen des "Web 2.0". Frankfurt am Main: C.H.Beck. 1. Auflage 2009.
aus (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017.: 25). Mit dem Radio erreicht das diffuse und passive Hören sein Maximum, denn oftmals hört man im Auto, in der Küche oder im Supermarkt überhaupt nicht mehr zu.
Kusek, D./ Leonhard, G. (2006): Die Zukunft der Musik. Warum die digitale Revolution die Musikindustrie retten wird. Musikmarkt Verlag. 1. Auflage 2006.
Sicherlich lässt sich die Entwicklung auch hier nicht verallgemeinern. Wer sich heute für Musik interessiert, wird sich trotzdem breit informieren und moderne Angebote wie Musikblogs, Magazine oder Facebook nutzen. Auch Konzerte, die ein nur singulär erlebbares Ereignis und damit das Gegenteil zum heutigen Musikkonsum darstellen, sind weiterhin populär. Und wie in jedem Bereich der digitalen Revolution ist ein Gegentrend auf dem Vormarsch. Mit 3,3 Millionen verkauften Tonträgern im Jahr 2017 in Deutschland ist die Schallplatte zwar immer noch ein Nischenprodukt, demonstriert aber den Willen einiger Konsumenten zurück zum emotionalen und sentimentalen Musikhören.
Lamere, Paul (2014): Music Machinery. In: The Skip, 02.05.2014. Online verfügbar unter: https://musicmachinery.com/2014/05/02/ the-skip/ [Zugriff: 11.05.2018]. Léveillé G. H. (2017): Drawing listener attention in popular music: Testing five musical features arising from the theory of attention economy. Hannover: Musicae Scientiae.
Trotzdem hat sich die Art, Musik zu erleben und zu konsumieren, nachhaltig und drastisch verändert. Musik wird nur noch selten als Genuss, authentische Erfahrung oder Erlebnis wahrgenommen, sondern vielmehr als allgegenwärtiges und immer verfügbares Konsumgut vorausgesetzt. Dies führt in letzter Instanz dazu, dass sich auch die Musikindustrie an verändertes Hörverhalten anpasst. Vielfalt, Eigenartigkeit und künstlerische Freiheit in der Musik bleiben dabei zumindest im Mainstream oft auf der Strecke. 55
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januskopf
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billigsten Herstellungsbedingungen. Doch trotzdem hält sich hartnäckig der Glaube, dass in unserer Wirtschaftsweise nachfrageorientiert nur das produziert wird, was gewünscht wird. Dem ist aber nicht so! Sollte einmal keine Nachfrage bestehen, dann wird eben durch geschicktes Marketing und Werbung der entsprechende Konsumwunsch erzeugt – es geht nicht um wirkliche Bedürfnisse, sondern um Profit! Und solange diesem zunehmend ausufernden System nicht Einhalt geboten werden kann, ist jegliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft vergebens.
Wir müssen die im Kern unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur liegenden Probleme angehen! Die ethischen und nachhaltigen Herstellungsbedingungen müssen ordnungspolitisch und kollektiv bindend etabliert werden. Man kann diese Aufgabe nicht einfach entpolitisierend ins Private der konsumierenden Masse schieben, in der Hoffnung, dass die unsichtbare Hand des Marktes schon alles richten wird. Es ist nötig, die heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Eigentumsund Machtverhältnisse grundlegend zu verändern! Beim heutigen derart ungleich verteilten Wohlstand geht die tatsächliche Verschwendungssucht nicht vom durchschnittlichen Büro- oder Fabrikarbeiter aus, sondern von der milliardenschweren Klasse der Besitzenden und ihrem heillosen Luxus. Das durch deren Profitgier nach vorne gepeitschte Wirtschaftswachstum wird auf lange Sicht den sozialen Frieden und unsere gesamte Umwelt zugrunde richten.
Diese Missstände zu lösen, bedarf politischer Lösungen! Es bringt nichts, uns ins Private zurückzuziehen und die Lösung bloß über unseren Konsum zu suchen – die Widersprüche werden uns doch immer wieder einholen: Was bringt es, regelmäßig dieselfrei in die Innenstadt zu radeln, sich aber genauso guten Gewissens halbjährlich unzählige Flugkilometer für den Urlaub auf der Südhalbkugel zu gönnen? Was bringt Veganismus, wenn die zunehmende Soja- oder Avocadonachfrage den Markt insofern beeinflusst, dass Lateinamerika immer weiter abgeholzt und ausgetrocknet wird? Was nützt ein zum bloßen Markenimage reduzierter und für das grüne Gewissen oberflächlich konsumierbarer Nachhaltigkeitsbegriff ? Für wirkliche Nachhaltigkeit müssen wir die grundlegenden Rahmenbedingungen verändern. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
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ie können und sollen wir heutzutage zwischen Verschwendung und Verzicht konsumieren? Ist kritischer Konsum der Schlüssel zu einer nachhaltigen Zukunft? Nein – das Märchen vom ethischen Einkaufen ist von den grundsätzlichen Problemen ablenkender Unfug! Es klingt bloß so schön, weil es unser Gewissen beruhigt und uns die vielen eigentlich notwendigen Veränderungen vermeintlich einfach macht. Dabei ist doch offensichtlich, wie begrenzt und widersprüchlich die tatsächliche Wirkung sowie Umsetzbarkeit solcher Maßnahmen ist. Klar, haben wir als Konsumentinnen und Konsumenten die Wahl aus einer immensen Breite an verschiedenen Waren, doch ist die Frage danach, ob man alles biologisch, unverpackt, fair gewebt und CO2-frei konsumiert letztlich keine Frage der Ethik, sondern eine Frage des Geldbeutels. Für alleinerziehende Hartz-IV-Empfangende oder mit einer verschwindend geringen Rente kämpfenden Senioren kann dadurch selbst der Bio-Apfel auf Dauer zu teuer werden. Eben jenen Menschen aber ihre Verantwortung als ethische Konsumenten zu predigen und sich dabei im schlimmsten Falle gar als besserer – weil durch höhere finanzielle Ausstattung ethisch konsumierender – Mensch zu fühlen, führt nicht nur zu mehr unnötiger sozialer Ausgrenzung, sondern ist auch einfach arrogant und zynisch. Und selbst wenn man ethisch konsumieren möchte, kann man sich nie wirklich sicher sein über die tatsächlichen Herstellungsbedingungen massentauglicher Produkte. Vor allem bei den großen Konzernen sind soziale und ökologische Standards oftmals eine öffentlich vermeintlich verantwortungsbewusste Fassade, die in einem Schleier aus Scheinfirmen, Zwischenhändlern und sonstigen Winkelzügen verpufft. Denn im Kapitalismus geht es schließlich nur darum, aus Geld mehr Geld zu machen und dafür braucht man nicht die ethischsten, sondern
K e i n ric h tig e s Leben im falschen...
. . . T u ' tr o tzd e m d a s R ic h tig e !
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Man kann diese individuelle Verantwortung nicht einfach ignorieren oder von sich weisen und vollständig auf die Politik oder die kapitalistischen Strukturen abwälzen – Politik allein reicht nicht! Es wird beispielsweise keine Agrarwende geben, solange Otto Normalverbraucher weiterhin möglichst günstig unzählige Kilo Fleisch verzehren will. Und selbst wenn die Politik – „die da oben“ – plötzlich sämtliche nachhaltigen
Angesichts der fortschreitenden Zerstörung unserer Umwelt und der zunehmenden globalen Ungerechtigkeit dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass diese Probleme zu großen Teilen von den Strukturen verursacht werden, die unseren Wohlstand generieren und sicherstellen. Doch wir können diese Strukturen auch als Konsumenten und Konsumentinnen beeinflussen. Jeder Einkauf hat einen politischen Wert und kann ein kleines bisschen zu einer erhöhten Nachfrage nach fairen Herstellungsbedingungen und verbindlichen Richtlinien für Produkte beitragen. Die fair gehandelte Kleidung oder der Bio-Apfel werden die Welt zwar nicht von heute auf morgen retten, aber langfristig können wir durch unsere Konsumentscheidungen Druck auf Unternehmen und Politik ausüben. Die Macht als einzelner Konsument mag sich dabei zwar gering anfühlen, aber verbündet mit anderen kann sie einiges bewirken. Genau deshalb sollten wir alle das kleine bisschen Macht nutzen! Das ist das Prinzip Verantwortung: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!
Verschwendung und Verzicht konsumieren? Ist kritischer Konsum der Schlüssel zu einer nachhaltigen Zukunft? Ja – unser Wohlstand ist eng mit den heutigen globalen Missständen verwoben und wir alle können durch unser Konsumverhalten einen kleinen aber entscheidenden Beitrag für den nötigen Wandel leisten, indem wir uns in Genügsamkeit und Verantwortung üben.
Wie können und sollen wir heutzutage zwischen
Die Missstände dieser Welt zu beheben, bedarf vor allem der Arbeit an uns selbst. Klar, kann es schwerfallen beim Anblick der festgefahren wirkenden kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen die Hoffnung nicht zu verlieren, aber gab es im Laufe der Menschheitsgeschichte nicht schon immer Keime des Neuen im Alten? Was auch immer nach dem Kapitalismus kommen mag, wir müssen es heute schon vorleben. Sonst könnte das Danach nie kommen. Irgendwo muss es anfangen. Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
Doch ethisch zu konsumieren ist ein anstrengender Weg. Sich umzugewöhnen ist unbequem und immer alles „richtig“ zu machen, geht kaum. Aber das ist auch gar nicht so schlimm. Es hilft niemandem, sich darauf auszuruhen, die Unmöglichkeit eines richtigen Lebens im falschen zu predigen. Die zwangsläufig aufkommenden Widersprüche sind in Ordnung. Denn ethisch zu konsumieren ist ein sich stetig entwickelnder Prozess und kein starres Korsett, in das man sich beim ersten Versuch sofort und ausnahmslos und für immer pressen muss. Niemand ist perfekt. Es ist wichtig, dass wir trotzdem den Mut haben, uns kritisch mit unseren eigenen Entscheidungen auseinanderzusetzen, zu reflektieren wie bewusstes Verhalten und unsere Gewohnheiten zusammenpassen können. Auf diese hinter unseren Konsumentscheidungen stehende Haltung, die die eigenen Bedürfnisse reflektierend Verzicht üben kann und ein Gespür für den ökologischen und sozialen Preis hinter verschiedensten Produkten hat, kommt es letztendlich an.
Rahmenbedingungen verordnen würde: Es würde unsere Lebensstile nicht unberührt lassen und eine Veränderung eben jener nicht überflüssig machen. Die Frage, ob und wie sehr wir bereit sind, uns einzuschränken, werden wir nicht ohne Weiteres einfach beiseiteschieben können. Und wer beim Gedanken sich einschränken zu müssen völlig erschaudert und um seinen Wohlstand bangt, sollte sich mal bewusst vor Augen führen, wie maßlos dieser Wohlstand – dieser Überfluss – doch zu weiten Teilen ist und wie lange dieser wohl von Bestand sein mag, wenn die derzeitige Umweltzerstörung und globale Ungleichheit sich weiter so zuspitzt wie bisher. Nicht die Abschaffung unseres Wohlstandes, sondern ein langfristig gutes Leben für alle ohne Nebenwirkungen ist das Ziel!
von thomas ruddigkeit
philou.
philou. Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University.
Urbanität
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Ausgabe 6, 2018 Auflage: 3000 Mitwirkende Bendler, Karl Dogan, Caner Eleftheriadi – Z., Sofia Falter, Frédéric García Mata, Cristina Hilker, Sarah Honkomp, Nils
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