philou. #10 Zukunft

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THEMA: ZUKUNFT philou . A USGA BE 10 UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN

In deinen Händen hältst du die 10. Ausgabe der philou. ! Deshalb möchten wir diesen kleinen Raum nutzen, um auf die Arbeit der letzten Jahre zurückzublicken, bevor wir einen Blick in die Zukunft werfen. // Vielen Dank an alle, die uns auf dieser Reise begleitet haben. Bildung1. Nachhaltigkeit2.& Wachstum Digitalisierung3. Zeit4. 5. Wissen und Nichtwissen Konsum6. Urbanität7. Identität8. Verantwortung9.

nach einem turbulenten Jahr, geprägt von Unsicherheit und Ungewissheit, möchten wir über die Zukunft sprechen. Oder vielmehr über Zukünfte, denn kann es die eine Zukunft ge ben? Das letzte Jahr hat uns gezeigt: Was als sicher galt, wird nun in Frage gestellt, was unmöglich erschien, können wir uns nun vorstellen, was unantastbar war, kann nun mitge staltet werden. Was bedeutet „Zukunft denken“? Augustinus (354–430) schrieb: „Ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, da ja doch die Vergangen heit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?“ Zukunft hinterfragen: Das Bedürfnis, die Zukunft vor herzusagen, steht den zahlreichen Unsicherheiten und Un gewissheiten zukünftiger Ereignisse entgegen. Kognitive Verzerrungen und Verhaltensmuster beeinflussen unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit diesen, insbeson dere im Hinblick auf Risiken. Wie gehen wir mit Risiken und seltenen Ereignissen um, die wir gar nicht vorhersehen können? (S. 8) Als zentrales globales Risiko wird der Kli mawandel angesehen, der neben zahlreichen ökologischen Auswirkungen auch gesundheitliche Folgen verursacht (S. 12). Der Umgang mit der eigenen Gesundheit ist eben falls von Risiken geprägt, die häufig gar nicht sichtbar sind. Welche Rolle spielen dabei zukünftige, von Selbstoptimie rung geprägte, Erwartungen an den menschlichen Körper? (S. 16) Der Drang nach einer Perfektionierung des mensch lichen Lebens und einer „besseren Welt“ kennzeichnet einen schmalen Grat zwischen Fortschritt und Stillstand – was bedeutet es, wenn der Mensch Dinge abschafft, die für sein Überleben notwendig sind? (S. 21) Wenn wir Zukunft nicht nur denken, sondern auch so leben, dass wir unsere eigene Zukunft damit töten? (S. 22) Und was, wenn wir eines zukünftigen Tages aufwachen und feststellen, dass wir uns einem künstlichen Leben verschrieben haben? (S. 24) Nicht nur im Sinne eines Enhancements des menschlichen Lebens, sondern auch im Hinblick auf eine Verteidigung gegenüber scheinbaren Gefahren – und wer trägt hierfür dann die Verantwortung? (S. 26) Zukunft vorstellen: „Unsere Sichtweise der Zukunft hat sich in der Vergangenheit immer wieder geändert“, wie Al Gore (2013) es ausdrückt. So gibt es verschiedene Vorstellungen und Visionen von Zukünften, die sich in der jeweiligen Zeit und Kultur unterscheiden. Gleichzeitig zeigt uns das Ent werfen von Zukunftsvisionen auch Grenzen auf (S. 32). Ein Spiegelbild verschiedener Zukunftsvisionen im Laufe der Zeit stellt die Literatur dar. Welche Utopien haben wir uns bereits vorgestellt und welche sind eingetreten? (S. 36) Hier bei ist zu beachten, dass nicht bei jedem Zukunftsentwurf das Zukünftige im Zentrum steht. Denn die Fiktion dient immer auch als Spiegel von Vergangenheit und Gegenwart und hilft, diese kritisch zu reflektieren (S. 38).

Viele Zukunftsgedanken basieren auf Künstlicher Intelligenz (KI), die unser Leben maßgeblich beeinflussen kann. Aber ist KI auch dazu in der Lage, unsere Beziehungen und Ge fühle zu verändern? (S. 41) Hat KI womöglich sogar einen Einfluss auf unser Verständnis von Kunst? (S. 44) Zukunft gestalten: Es mag einem Trugschluss ähneln – die Vorstellung, die eigene Zukunft gestalten zu können. Wenn wir die Zukunft nicht vorhersehen können, inwieweit kön nen wir diese dann gestalten? Welche Auswirkungen haben die Handlungen in der Gegenwart auf das Leben in der Zukunft? Und welche Rolle kommt dabei der Wissenschaft und Forschung zu? (S. 50) Welche kreativen und innovativen Ansätze helfen uns dabei, die Zukunft zu gestalten? (S. 54)

philou .

Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie Problem stellungen – ein Jahr später als gedacht – mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die zehnte philou. Durch den Fokus auf die Diversität und Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im Studium ge nießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die Jubiläums ausgabe genauso gefällt wie uns! Eure philou. Redaktion

ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY1900–1944

Editorial Liebe Leser_innen, Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.

VERFASST VON ANN-KRISTIN WINKENS

Schweiz

Deutschland Filderstraße

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Erfolgreiche Mitarbeiter

ZUKUNFT HINTERFRA GEN 08 Die Angst vor dem Unbekannten Ann-Kristin Winkens Wie wir mit Risiken umgehen und diese wahrnehmen 12 Gebor en während der Klimakrise –Gesundheitliche Folgen für die nächste Generation Justus Schikora Eine Darstellung der gesundheitlichen Auswirkungen der Klimakrise 16 What‘s my age again, what‘s my age again? Merle Riedemann Wie wir für immer jung und gesund bleiben –Und warum wir nicht allem trauen sollten, was in der Zeitung steht 21 AnonymBruchstücke Zwischen Fortschritt und Stillstand 22 Z ukunft töten Paula Weller Ein futuristischer Mordfall an der RWTH 24 2.0.5.0BetülHisim Aufwachen im Jahr 2050 – Gedanken zu perfektem Kaffee, Effizienz und Kriminalität der Zukunft 26 Digitale Verteidigung Julia Kasten Wie digital werden Staaten in ihrer Verteidigung und was bedeutet das auf internationaler Ebene für unsere Zukunft? 29 ZukunftszyklusSamuelPerepelitsa Zwei Versuche philou facebook.com/.rwth-aachen.dephiloumagazininfo@philou.rwth-aachen.de Inhalt ZUKUNFT GESTALTEN 50 Die As ymmetrie der Zukunft David Aldenhoven Zwischen Mensch und Digitalisierung – Über die Grenzen von Forschung und Wissenschaft 52 MaibrauchtumChristinaKrüger 54 Z ukunft des Gründertums Başak Zeynep Özen & Gernot Sümmermann Entrepreneure und Innovationen der Zukunft ZUKUNFT V ORSTELLEN 32 Z ukünfte: Gestern - Heute - Morgen Sofia Eleftheriadi-Zacharaki Zukunftsvisionen im Wandel der Zeit 36 Utopie und D ystopie Yvonne Schneider Zukunftsvorstellungen und Literatur – Die Geschichte der Utopie als Gattung 38 To boldly go where no man has gone Thomasbefore Sojer Star Trek – Eine Kultserie als Stimmungsbild für eine positive Zukunft 41 F uture love: am I in love with my Nuralrobot?Janho & Dennis Kremiec Die Zukunft der Liebe – Wie künstliche Intelligenz unsere Beziehungen verändern kann 44 Künstliche K unst Paula Weller Ein Blick in die Welt der kreativen Algorithmen 47 Kaffee am Hafen Anuscha ZUKUNFTZeighami AUSMALEN philou .

„Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Freiheit.“gegenwärtigerFeinde ALDOUS 1894–1963HUXLEY 6

Reflexionsbegriff

Wenn ‚Zukunft‘ in der Immanenz der Gegenwart selbst etwas je Gegenwärtiges darstellt, dann werden zwar vielfach geäußerte Hoffnun gen auf ein ‚echtes‘ Vorausschauen auf zukünftige Gegenwarten enttäuscht. Es gelingt aber, Zukunft als Reflexionsbegriff für gegenwärtige Einschätzungen eines zukünftig Möglichen zu konzeptualisieren, mit sehr verschiedenen Graden der Notwendigkeit bzw. Erwartbarkeit. ‚Zukunft‘ ist dann nicht eine Gegenwart mit einem gegenüber heute zeitversetztem Datum, sondern ‚Zukunft‘ meint das, was wir ge genwärtig unter Zukunft verstehen, wie wir darüber reden, denken und streiten. ‚Zukunft‘ stellt somit einen über heutige Vorstellungen von Zukünftigem dar.“ WAS IST ZUKUNFTSFORSCHUNG?EIGENTLICH

Zu den Aufgaben einer Digitalen Ethik gehört es im Besonderen, die Auswirkungen der Digitalisie rung auf die Gesellschaft und den Einzelnen zu diagnostizieren (deskriptive Funktion) und konsistente Begründungen für moralisches Handeln und norma tive Standards vernetzter Technologien zu erarbeiten (normative Funktion). Darüber hinaus kann sie als angewandte Ethik moralische Motivationspotenziale aufzeigen (volitive Funktion) – bspw. in Hinblick auf das schützenswerte Gut „Privatsphäre“ –, die insbesondere für den Bereich der Medienbildung und Medienkompetenz nutzbar gemacht werden können.

DIGITALE ETHIK Institut für Digitale Ethik (IDE)

Zukunft hinterfragen

7 philou.

Grunwald, Armin (2009): Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft? In: Popp, R. und Schüll, E. (Hg.): Zu kunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wis senschaft und Praxis. Berlin: Springer, S. 33.

„ Zukunftsforschung in dem beschriebenen Sinn ist Gegenwartsforschung. Sie widmet sich spezifi schen Fragen der Gegenwart, nämlich den in der Gegenwart erzeugten und zu begründenden Zu kunftsannahmen.

Artikel

Laut dem im Januar 2020 erschienenen World Risk Report, der zum fünfzehnten Mal vom World Economic Forum veröffentlicht wurde, betreffen erstmals alle fünf wahr scheinlichsten globalen Risiken die Umwelt (vgl. WEF 2020). Dabei werden extreme Wetterereignisse, Verlust an Biodiversität, Naturkatastrophen, versagender Klimaschutz sowie menschlich verursachte Umweltdesaster genannt. Der Bericht beinhaltet eine Liste derjenigen Gefahren, die von weltweit mehr als 1000 Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als besonders bedrohlich an gesehen werden. Dabei wird zwischen der Eintrittswahr scheinlichkeit des Risikos sowie den globalen Auswirkungen differenziert. Der Ausbruch einer weltweiten Pandemie gehörte dabei allerdings nicht zu den als am wahrschein lichsten angesehenen Risiken. Der Bericht aus dem Jahr 2021 führt infektiöse Krankheiten jedoch unter den fünf wahrscheinlichsten globalen Risiken auf (vgl. WEF 2021).

Dies veranschaulicht die Komplexität der Wahrnehmung im Umgang mit zukünftigen (unbekannten) Ereignissen und „GlobaleRisiken.Risiken“ werden definiert als unsichere Ereignisse, die im Falle eines Auftretens massive Auswirkungen für einige Länder innerhalb der nächsten zehn Jahren haben können (vgl. WEF 2020: 86). Grundsätzlich sind globale ANN-KRISTIN UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTENWINKENS

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Dabei gibt es zwei entscheidende Merkmale von Risiken: die zu erwarteten Konsequenzen einer Handlung bzw. ei nes Ereignisses sowie die Unsicherheit ihres Eintreffens (vgl. Renn et al. 2007: 20). In diesem Kontext obliegt die Bewertung, ob diese Ereignisse positiv oder negativ sind, einer subjektiven Beurteilung, was eine neutrale Beurteilung von Risiken maßgeblich erschwert. Dies äußert sich auch in unterschiedlichen Risikoanalysen, die beispielsweise so wohl technischer, psychologischer als auch soziologischer

DIE ANGST VOR DEM UN BEKANNTEN

Risiken allgegenwärtig. Dabei scheint es unmöglich, sich gegen alle globalen Risiken zu schützen, zumal mit Risiken auch Chancen verbunden sind (vgl. WBGU 1999: 28). Der amerikanische Politikwissenschaftler Aaron Wildawsky (1930–1993) hat dieses zweischneidige Schwert treffend beschrieben: „No risk is the highest risk at all“ (Wildawsky 1979: 32). Die Reflexion über Risiken impliziert jedoch die Vorstellung eines „Mindestmaß[es] an Gestaltbarkeit der Zukunft und damit Vermeidbarkeit von unerwünschten Er eignissen durch vorsorgendes Handeln“ (Renn et al. 2007: 20), womit Risiken eine zukünftige Komponente inhärent ist. Im Hinblick auf die Vermeidung unerwünschter Ereignisse beschreiben „Risiken eine Zukunft, die es zu verhindern gilt“ (Beck 1986: 44), „sie sind in einem zentralen Sinne zugleich wirklich und unwirklich.“

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Glo bale Umweltveränderungen (WBGU 1999) veranschaulicht unterschiedliche Risikotypen am Beispiel der griechischen Mythologie: Damokles, Zyklop, Pythia, Pandora, Kassand ra und Medusa (ein Überblick ist in Tabelle 1 zu finden).

Dadurch wird auch die zeitlich durchgängige Relevanz im Hinblick auf den Umgang mit Risiken verdeutlicht (vgl. Renn et al. 2007: 145). Der Zyklop wird als einäugiger Riese beschrieben, der die Welt entsprechend nur eindimensio nal wahrnehmen kann. In Bezug auf Risiken bedeutet das, dass nur eine Dimension (das Schadensausmaß) bekannt ist, wohingegen die Eintrittswahrscheinlichkeit weitestgehend ungewiss bleibt. Beispielhaft hierfür sind die zuvor beschrie benen umweltbezogenen Risiken, wie Überschwemmungen und Erdbeben. Pythia war die blinde Seherin des Orakels von Delphi. Sie machte Vorhersagen für die Zukunft, die jedoch für die Ratsuchenden häufig ungewiss blieben. Pythia wies zwar auf möglicherweise drohende Gefahren hin, sagte aber nicht, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit oder der Schaden sein werden. Die Möglichkeiten nichtlinea rer Klimaveränderung, wie beispielsweise der zunehmende Treibhauseffekt oder auch neue Gentechniken, fallen in diese Kategorie. Ähnlich verhält es sich mit Pandora und dem damit verbundenen Mythos um ihre Übel und Leid ent haltende Büchse. Sobald die Büchse geöffnet wurde, setzte sich all das in ihr enthaltene Leid frei, das sich irreversibel, persistent und ubiquitär über die Erde ausbreitete. Auch hier sind Eintrittswahrscheinlichkeit und Schaden unbekannt oder lassen sich nur vermuten. Allerdings überschreiten Risikoschäden dieser Klasse im Gegensatz zu Pythia geo grafische Grenzen, sind zeitlich stabil und können globale, irreversible Auswirkungen haben. Beispielhaft hierfür sind persistente organische Schadstoffe (POP). Allgemein basieren Katastrophen- und Risikomanagement systeme auf Wahrscheinlichkeiten. Es wird untersucht, wie wahrscheinlich es sein kann, dass ein Ereignis eintritt und infolgedessen mit welcher Wahrscheinlichkeit mit den jeweiligen Konsequenzen zu rechnen ist. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse am Ende gar nicht berechenbar ist (vgl. Taleb 2012: 26f.). Ein Jahrhunderthochwasser ist beispielswei se wesentlich folgenschwerer und seltener als ein Jahr zehnthochwasser; ebenso sind die Kenntnisse für ersteres geringer (vgl. ebd.: 27; Taleb 2007: 74). Mit abnehmender

Zukunft.“sondernderliegtRisikobewußtseinsdesnichtinGegenwart,inder

Natur sein können. Problematisch ist dabei insbesondere die Bewertung von komplexen und ungewissen zukünf tigen Konsequenzen im Hinblick auf unterschiedliche Wertvorstellungen der „Erwünschtheit“ der Ereignisse bzw. Konsequenzen (vgl. Renn/Klinke 2014: 2). Entscheidend ist es daher, Risiken als „heterogene Phänomene“ (WBGU 1999: 31) anzusehen, da es unmöglich ist, subjektive oder auch interkulturell divergierende Präferenzen adäquat ab bilden zu können. Sie sind mental konstruiert, spiegeln die menschliche Wahrnehmung unsicherer Ereignisse wider und veranschaulichen durch verschiedene Interpretationen und Reaktionen, wie diese Wahrnehmung durch soziale, kul turelle, politische oder ökonomische Kontexte beeinflusst werden (vgl. Renn/Klinke 2014: 9).

Zukunft hinterfragen „Das Zentrum

ULRICH BECK 9 philou.

Dabei werden insbesondere die Risiken überschätzt, die anthropogen verursacht sind oder als aufgezwungen emp funden werden, wohingegen natürliche Risiken, oder solche, die steuerbar erscheinen, meistens systematisch unterschätzt werden (vgl. Renn et al. 2007: 86).

Wahrscheinlichkeit erhöhen sich infolgedessen auch die Modellfehler: „Je seltener ein Ereignis ist, desto weniger ist es handhabbar, und desto weniger können wir wissen, wie häufig es auftritt“ (Taleb 2012: 27). Insbesondere die Risi koklassen Zyklop, Pythia, Pandora sind durch Unsicherheit und Ungewissheit gekennzeichnet. Dennoch hat der Mensch ein Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität. Empirisch nachgewiesen werden Verluste stärker als Gewinne gewichtet (Verlustaversion), ähnlich verhält es sich mit dem Umgang von Risiken und unvorhersehbaren Ereignissen (Kahneman/Tversky 1979, 1984). Es ist häufig festzustellen, dass Risiken fälschlicherweise von der öffent lichen Wahrnehmung systematisch überschätzt werden –wie beispielsweise ein Unfall in einem Kernkraftwerk – und gleichzeitig werden andere zu gering eingeschätzt – wie zum Beispiel ein Schlaganfall (vgl. Thaler/Sunstein 2011: 43f).

Medusa Gering Gering Ionisierende Strahlung

Grundsätzlich wird zwischen qualitativen Risikomerkmalen unterschieden, die über die zwei wesentlichen Merkmale (Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß) hinaus gehen: Risikobezogene Muster und situationsbezogene Muster. Erstere beziehen sich auf die Eigenschaften der Risikoquelle, wie beispielsweise die Gewöhnung an diese, das Katastro phenpotential oder der Eindruck der Reversibilität der Ri sikofolgen (vgl. Renn et al. 2007: 78). Beispielhaft hierfür ist die subjektive Einschätzung der Risiken im Hinblick des Autofahrens und des Fliegens in einem Flugzeug. Es ist mittlerweile bekannt und statistisch nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Autounfalls wesentlich höher ist als ein Flugzeugabsturz. Dennoch empfinden die meisten Menschen größere Angst beim Fliegen, da die wahrge nommene „Schrecklichkeit“ eines Unfalls hier größer ist (ebd.). Rationalität spielt bei der subjektiven Bewertung von Risiken entsprechend eine eher untergeordnete Rolle. Situationsbezogene Muster beziehen sich hingegen auf die Eigenschaften der riskanten Situation: Freiwilligkeit der Risikoübernahme, Kontrollmöglichkeit, Vertrauen in die öffentliche Kontrolle oder die Eindeutigkeit der Informa tionen über Gefahren sind hier unter anderem relevant (vgl. Renn et al. 2007: 79). Insbesondere der Eindruck der Kont rollfähigkeit ist im Alltag häufig präsent, wie beispielsweise Essgewohnheiten veranschaulichen. Die Entscheidung, auf ungesunde Lebensmittel, wie Süßigkeiten oder Alkohol zu verzichten, obliegt schließlich der eigenen Kontrolle und des eigenen Willens; chemische (häufig harmlose) Zusatzstoffe in Lebensmitteln werden jedoch als ernsthafte Bedrohung RisikotypvCharakterisierungSchaden

Pythia Ungewiss Ungewiss Eingriffe in FreisetzungGentechnikNeueKlimaveränderungenGeozyklenSeuchen(z.B.BSE)undInverkehrbringen transgener Pflanzen

Tabelle 1: Charakterisierung von Risiken (angelehnt an WBGU 1999, Renn et al. 2007) 10

Kassandra Hoch Hoch Mutagene LangzeitfolgenWirkungenvonKlimaveränderungen

Zyklop Hoch Ungewiss FrühwarnsystemeAIDS-InfektionVulkaneruptionenErdbebenÜberschwemmungenvon Nuklear- und ABC-Waffensystemen Resistenzen

Pandora Nur VermutungenUnbekannt Neue Chemikalien UmweltgifteOzon

WahrscheinlichkeitCharakterisierung Beispiele

Damokles Hoch Gering GroßchemischeKernenergie Anlagen MeteoriteneinschlägeStaudämme

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf den Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 23. Auflage 2016.

Zukunft hinterfragen

für die eigene Gesundheit wahrgenommen (vgl. ebd.). Gera de die Kontrolldimension hat einen maßgebenden Einfluss auf die Risikowahrnehmung, die es jedoch im Hinblick auf unvorhersehbare Ereignisse zu relativieren gilt (vgl. Schnei der/Vogt 2018: 112f.). Die individuelle Risikowahrnehmung erscheint damit äußerst komplex; insbesondere, wenn es darum geht, zu erklären, warum die einen ein Risiko als besonders schwerwiegend und andere das gleiche Risiko als harmlos oder sogar als Chance wahrnehmen (vgl. Renn/ Klinke 2014: 9). Im Hinblick auf die verzerrte Risikowahrnehmung sowie den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten können auch alle noch so guten Analysen, Berechnungen oder Bewertungen nicht mehr helfen. Hier bedarf es vielmehr einer Risikointelligenz, die der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gige renzer als die Grundvoraussetzung, sich in einer komplexen und technologischen Gesellschaft orientieren zu können, sieht. Risikokompetenz ist dann die Fähigkeit, mit Situationen umgehen zu können, die auf Unsicherheiten basieren. (vgl. Gigerenzer 2013) Ein anderer Begriff ist die Risikomündigkeit, womit jeder Bürger und jede Bürgerin basierend auf den eigenen Werten und Präferenzen Risiken beurteilen soll. Dies setzt aber auch eine Verpflichtung von Experten und Expertinnen voraus, die die Bevölkerung adäquat auf klären, Informationen nachvollziehbar aufzeigen und damit Vertrauen aufbauen. (vgl. Renn 2014: 586) Insbesondere in Krisen, wie der COVID-19-Pandemie, ist dies von ent scheidender Relevanz. Es geht dabei weniger darum, einer illusorischen Sicherheit hinterher zu jagen und zu versuchen, alle Risiken bestmöglich zu vermeiden. Es geht um den Umgang mit diesen, um Aufklärung und Reflexion. Denn die Zukunft kann nicht vorhergesagt werden, womit ein Teil von Ungewissheit in jedem Fall erhalten bleibt.

Gigerenzer, G. (2013): Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München: btb Verlag. 5. Auflage 2014. Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. In: Econometrica, 47(2). S. 263–291. Kahneman, D.; Tversky, A. (1984): Entscheidungen, Werte und Frames. In: Kahnemann, Daniel (Hrsg.) (2011): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Penguin Verlag. 11. Auflage 2012. S. 545–568. Renn, O. (2014). Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Renn O.; Klinke A. (2015): Risk Governance and Resilience: New Approaches to Cope with Uncertainty and Ambiguity. In: Fra.Paleo U. (Hg.): Risk Governance. Dordrecht: Springer. S. 19–41. Renn, O.; Schweizer, P.-J.; Dreyer, M. & Klinke, A. (2007): Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. München: oekom. Schneider, M.; Vogt, M. (2018): Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz. In: Karidi, M. et al. (Hg.): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Wiesbaden: Springer. S. 103–123. Taleb, N. N. (2007): Der Schwarze Schwan. Konsequenzen aus der Krise. München: dtv Verlagsgesellschaft. 4. Auflage 2015. Taleb, N. N. (2012): Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München: btb Verlag. 2. Auflage 2014. Thaler, R. H.; Sunstein C. R. (2011): Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin: Ullstein Buchverlage. 10. Auflage 2017. WBGU (1999): Welt im Wandel: Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken. Jahresgutachten 1998. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag. Wildawsky, A. (1979): No Risk Is the Highest Risk of All. In: American Scientist, 67(1). S. 32–37. WEF World Economic Forum (2020): The Global Risks Report 2020. Insight Report 15th Edition. WEF World Economic Forum (2021): The Global Risks Report 2021. Insight Report 16th Edition. „The dilemma of risk is the inability to distinguish between risk reduction and risk escalation. Whether there is risk of harm, how great it is, what to do about it, whether protective measures will not in fact be counterproductive are all in contention. So far the main product of the debate over risk appears to be WILDAWSKYuncertainty.“1979:34 11

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Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Verbrennung fossiler Ener gieträger zu einer Erwärmung der Erde um ein Grad Cel sius im Vergleich zu vorindustriellen Werten geführt (vgl. IPCC (Stocker et al. 2013: 193); vgl. Haustein et al. 2017).

Da viele dieser Veränderungen in ihren Anfängen längst auch auf der Nordhalbkugel erkennbar sind, lassen sich auch die gesundheitlichen Auswirkungen bereits weltweit wissenschaftlich nachweisen und durch die Auswertung die ser Effekte können Prognosen mit den unterschiedlichen Klimaprojektionen erstellt werden. So war bereits bei der Hitzewelle im Jahr 2003 in Europa ein Zusammenhang zwischen der relativen Sterberate in der Bevölkerung und der regionalen Verteilung des Ausmaßes der Hitzewelle erkenn bar (vgl. Robine et al. 2008). Dabei schlägt sich diese erhöhte Sterblichkeit unterschiedlich in den Bevölkerungsgruppen nieder. Besonders vulnerabel ist die ältere Bevölkerung. Gerade wenn bereits Vorerkrankungen wie Diabetes oder Erkrankungen des Herzens, der Lunge und der Niere vor liegen, zeigt sich die Gefährdung deutlich (vgl. Arbuthnott/ Hajat 2017). Auch in den letzten Jahren hat die allgemeine Belastung durch Hitzewellen wesentlich zugenommen (vgl. Watts et al. 2019: 1841). Interessanterweise besitzt Europa dabei aufgrund der stark alternden Bevölkerung die höchste Vulnerabilität weltweit, dazu tragen auch die hohe Urbani JUSTUS SCHIKORA MEDIZIN

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Gesundheitliche

Der globale Süden erlebt bereits eine Wandlung der Umwelt und die daraus entstehende gesundheitliche Gefährdung. Im globalen Norden hingegen werden die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit noch nicht in ihrem vollen Ausmaß wahrgenommen.

(BOCHUM)

GEBOREN WÄHRENDKLIMAKRISEDER Artikel Folgen für die nächste Generation

Deshalb hat die Menschheit in der letzten Dekade acht der zehn heißesten Jahre seit der Wetteraufzeichnung erlebt (vgl. Watts et al. 2019: 1836). Die direkten Folgen dieses Temperaturanstiegs sind wesentlicher Teil der öffentlichen Debatte: Bei unveränderter Emission von Treibhausgasen wird eine verstärkte Eisschmelze, eine Erhöhung des Mee resspiegels, ein häufigeres Auftreten von Extremwetterereig nissen wie Hitzewellen und Trockenheit, heftige Regenfälle und Überflutungen, sowie eine erhebliche Veränderung der belebten und unbelebten Natur erwartet. In der Diskussion um diese Effekte muss aber auch weitergedacht und die Fra ge beantwortet werden, was das für die Menschheit bedeutet. Bei einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Szenario des unveränderten Emissionsanstiegs und den damit ver bundenen Folgen wird die Tragweite der gesundheitlichen Auswirkungen deutlich: Ein in diesem Moment geborenes Kind wird dann eine Erwärmung um vier Grad Celsius erleben (vgl. Watts et al. 2019: 1836), die von der Kindheit an über das gesamte Leben hinweg bis ins hohe Alter die Gesundheit beeinflussen wird. Dieser Klimawandel kann sich dabei direkt über Veränderungen von Wetter- und Wit terungsverhältnissen oder indirekt über klimatische bedingte Umweltveränderungen auf die menschliche Gesundheit auswirken. Dies wird weltweit zu beobachten sein, wobei die Ausprägung der Effekte von Region zu Region variiert.

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sierungsrate und das häufigere Vorliegen der oben genannten Vorerkrankungen bei (vgl. Watts et al. 2019: 1841).

Wenn ein heute geborenes Kind im Verlauf seines Lebens dieses erhöhte Vorkommen von Hitzewellen erlebt, wird es einem erhöhten Risiko von Atemwegserkrankungen und Nierenerkrankungen ausgesetzt sein (vgl. Xu et al. 2014).

Auch die Geburt des Kindes kann durch den Klimawandel beeinflusst werden: Durch hohe Umgebungstemperaturen sind frühere Geburten wahrscheinlicher; deutlich wird dies durch eine Steigerung der Geburtenrate um fünf Prozent an Tagen mit Umgebungstemperaturen, die 32 Grad Cel sius überschreiten (vgl. Barreca/Schaller 2019). Die damit einhergehende verkürzte Schwangerschaft bedeutet für das Baby eine höhere Wahrscheinlichkeit für spätere gesund heitliche und kognitive Folgen (vgl. Barreca/Schaller 2019; vgl. Moster et al. 2008). Weitere Extremwetterereignisse wie Überschwemmung und Trockenheit erhöhen ebenfalls die Belastung. Insbe sondere durch Überschwemmungen wird die Verbreitung von Infektionskrankheiten über das Wasser wesentlich begünstigt (vgl. Smith et al. 2014). So wurde beispielswei se nach Hurrikan Katrina ein erhöhtes Vorkommen von entzündlichen Erkrankungen des Verdauungssystems und weiterer Infektionskrankheiten, die durch Organismen im Wasser übertragen werden, nachgewiesen (vgl. Karrasch et al. 2009; Ivers/Ryan 2006; Levy et al. 2017). Dazu kommt eine Belastung der mentalen Gesundheit, was sich in einem erhöhten Vorkommen von häuslicher Gewalt und posttrau matischen Belastungsstörungen äußern kann (vgl. Eis et al. 2010: 141; Levy et al. 2017). Das baut erheblichen Druck auf die Gesellschaft auf, sodass auch das zwischenmenschliche Zusammenleben beeinflusst wird. Durch die veränderten Umweltbedingungen entstehen zu dem indirekte Auswirkungen auf die Gesundheit, die sich unter anderem auch in Europa bereits zeigen und zeigen werden. So ermöglichen die höheren Temperaturen die Aus breitung von Lebensräumen unterschiedlicher Organismen weiter in Richtung Norden. Darunter sind auch sogenannte Vektoren, also Organismen, die Krankheitserreger übertragen können – auch auf den Menschen. Ein erhöhtes Vorkom men von Vektor-assoziierten Krankheiten in nördlicheren Gebieten ist jetzt schon zu verzeichnen und die Prognosen gehen von einer weiteren Ausbreitung aus (vgl. Eis et al. 2010: 204). Das West-Nil-Virus ist in diesem Fall ein gutes Beispiel für ein Virus, das eigentlich nur in Afrika, im Nahen Osten, in Indien sowie in Teilen Südostasiens, Mittel- und Nordamerikas endemisch vorkommt. 2018 wurde der erste Fall ohne Reisevorgeschichte in Deutschland dokumentiert und im Jahr darauf wurden weitere durch Mücken über tragene Fälle bekannt (vgl. Wilking et al. 2019). Für die bedeutenden Infektionskrankheiten Denguefieber, Malaria und Cholera haben sich in den letzten Jahren die Bedingun gen für eine Übertragung verbessert. Für das Denguefieber wurde für den Zeitraum von 2012 bis 2017 eine um 8,5 % erhöhte Vektorkapazität im Vergleich zu vorherigen Wer ten beschrieben, für Malaria betrug diese Erhöhung sogar 29,9 % (vgl. Watts et al. 2019: 1846).

Dass der Klimawandel die nichtatmosphärische Umwelt grundlegend verändert und dadurch das Leben der Men schen indirekt beeinflusst, wird also immer deutlicher. Zum vermehrten Auftreten von bestimmten Vektor-assoziierten Infektionskrankheiten kommen erhöhte Allergenbelastun gen und Unterernährung aufgrund von sinkenden Ernte erträgen hinzu. Die Erträge von wichtigen Nutzpflanzen wie Weizen, Reis, Mais und Soja haben mit zunehmender Durchschnittstemperatur abgenommen und werden in den globalen Erträgen pro ein Grad Temperaturzunahme weiterhin um jeweils 3 bis 7% abnehmen (vgl. Watts et al. 2019: 1847; Zhao et al. 2017). Das bedeutet in vielen Regi onen auf dieser Welt steigende Zahlen an Unterernährung von Kindern, die besonders für Kinder unter fünf Jahren schwerwiegend sein kann. Schon in der Gebärmutter wird das Wachstum gestört, was zu einer Unterentwicklung füh ren kann (vgl. Black et al. 2008). Andererseits bedeutet die zunehmende Erwärmung eine Verlängerung der Vegetationsperiode für unterschiedliche Pflanzen, da diese aufgrund der höheren Temperaturen und auch durch den steigenden CO2-Gehalt einen Düngeeffekt erfahren. Durch die längere Blüte kommt es zu einer ver stärkten und verlängerten Pollensaison. Bei den typischen Allergenen wurde bereits eine Vorverlegung der Blüte um zehn Tage festgestellt. Für eine Erwärmung um drei Grad Celsius seit 1990 wird eine um 20 Tage frühere Blüte prog nostiziert (vgl. Vliet et al. 2002). Durch die höhere Pollenbe lastung wird eine Sensibilisierung gegenüber den Allergenen begünstigt, dies kann zusätzlich noch durch eine erhöhte Dieselrußbelastung besonders in Städten verstärkt werden (vgl. D’Amato et al. 2010). Eine weitere Auswirkung der Pollenbelastung ist die dadurch geschwächte Reaktion des angeborenen Immunsystems auf Viren, die das Atmungs system angreifen (vgl. Gilles et al. 2019).

Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit werden immer deutlicher. Sie zeigten sich bisher mit stärke rer Ausprägung in Ländern des globalen Südens, doch lässt sich die Belastung für die Gesundheit auch schon eindeutig im globalen Norden zeigen. Für ein heute geborenes Kind bedeutet ein anhaltender Klimawandel in jedem Fall ein Leben, das durch die zu erwartenden klimatischen Verän derungen drastisch beeinflusst wird. Ein Leben, das „durch den Klimawandel definiert wird“ (vgl. Watts et al. 2019: 1836), ist von den physiologischen und sozialen Folgen von Hitze geprägt, durch ein erhöhtes Vorkommen von Vektorund Wasser-assoziierten Infektionskrankheiten gefährdet und wird durch Unterernährung erschwert. Die Gesamtheit der durch den Klimawandel bedingten gesundheitlichen Auswirkungen macht deutlich, wie dringend zeitnahes und zielstrebiges Handeln ist. Die Ausprägung unterschiedlicher Effekte wird von Region zu Region unterschiedlich sein und auch die Reaktion in Form von medizinischen Maßnahmen hängt von den unterschiedlichen Gesundheitssystemen ab. Dennoch werden die unveränderte Emission von Treibh ausgasen und die damit verbundenen Folgen für das Klima wesentliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Men schen auf der ganzen Welt haben. Ein weltweites aktives Engagement gegen den Klimawan del ist keine Gefährdung für den Wohlstand im Westen, sondern bedeutet, dass man sich für eine Steigerung der Lebensbedingungen einsetzt. Das sollte das Ziel sein, denn ein Leben in dieser Zukunft wäre von einer wesentlich lebensfreundlicheren Umwelt geprägt, von sauberer Luft, weniger Überschwemmungen, weniger Trockenheit, siche ren Städten und einer besseren Gesundheit. Diese Vorstel lung muss in Zukunft die Motivation für unser Handeln sein, damit allen Menschen ein Leben ermöglicht wird, das nicht vom Klimawandel, sondern von ihnen selbst bestimmt wird.

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Zukunft hinterfragen

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philou .

In Lifestyle-Magazinen jeglicher Art liest sich häufig, dass eine bestimmte Ernährung oder Sport gesünder machten –genau das Richtige, um auch in Zukunft fit zu sein! So titelte etwa die Shape im Januar 2018 „Iss dich fit, sexy, gesund!“ (vgl. Shape 2018) und auch die Zeitschrift Men’s Health verspricht im Mai 2020: „Gesünder essen; Pizza, Pasta & Co: Diese Fertiggerichte machen dich fitter“ (vgl. Men’s Health 2020). Häufig fehlen bei Artikeln dieser Art allerdings die Quellenangaben und es wird eine faktenbasierte Beratung suggeriert, obwohl es keine fundierten Erkenntnisse zu dem behandelten Thema gibt. Was die Wissenschaft von Sport, „Abnehm-Tipps“ und Wohlstand als Investition in die Zu kunft hält und warum Studien manchmal weniger verraten als auf den ersten Blick sichtbar, wird im Folgenden erläutert. Sport Sport ist gesund. Darüber sind sich die meisten Menschen einig und auch eine Studie aus Kopenhagen, in der über 8000 Menschen von 1994–2017 beobachtet wurden, fand heraus, dass Menschen, die regelmäßig Sport treiben, durch schnittlich mehrere Jahre länger leben als diejenigen, die keinen Sport machen (vgl. Schnohr et al. 2018). Dabei gab es außerdem Unterschiede zwischen den einzelnen Sportarten. So hatten Tennisspieler durchschnittlich eine 9,7 Jahre hö here Lebenserwartung als die Kontrollgruppe, wohingegen die joggenden Probanden nur 3,2 Jahre länger lebten. Die Studie ist zwar anschaulich, sie kann jedoch keinen Kausal zusammenhang zwischen bestimmten Sportarten und einem längeren Leben aufzeigen, denn Faktoren wie SurvivorshipBias (nur von vorneherein sehr gesunde Senioren spielen Tennis) oder sozioökonomische Unterschiede zwischen Tennisspielern, Joggern und Nicht-Sportlern werden nicht

WHAT’S MY AGE AGAIN,

MERLE RIEDEMANNMEDIZIN berücksichtigt. Außerdem wurden nur Menschen beobachtet, die von vorneherein Sport trieben. Die Untersuchung ist deshalb zwar sehr eindrücklich und sicherlich ein Ansporn, Tennis zu lernen, allein durch die gemachte Beobachtung ist allerdings kein Kausalzusammenhang zwischen Sport und verlängertem Leben erkennbar. Zu diesem Schluss kommen auch die Autoren der Studie. Ähnliche Beobachtungen machte eine finnische Untersu chung (vgl. Kontro et al. 2017), welche die Lebenserwar tung von 900 ehemaligen männlichen Profisportlern, mit der Lebenserwartung ihrer Brüder verglich. Sie stellten fest, dass ehemalige Ausdauersportler durchschnittlich eine 2,4 Jahre längere Lebenserwartung als ihre Brüder hatten (79,9 vs. 77,5), wohingegen es zwischen Kraftsportlern und ihren Brüdern keinen Unterschied gab. Auffällig ist vor allem, dass auch die Brüder der Ausdauersportler länger lebten als die anderen Profi-Sportler. Auch hier scheint es also abgesehen von sportlicher Aktivität noch einige Variablen mehr zu geben, die das (nicht) Alt-werden beeinflussen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass die Brüder der Ausdauersportler auch häufiger Ausdauersport betreiben, dass langlebige Menschen bessere Ausdauersportler sind oder dass ein un bekannter dritter Faktor sowohl für ein langes Leben als auch für viel Ausdauer sorgt. Das Design der Studie lässt darüber jedoch keine Auskunft zu (sog. Confounding-Bias).

Artikel

Detaillierter untersuchten Forscher aus Melbourne die Aus wirkungen von Sport auf die Gesundheit. Sie beschäftigten sich 2019 im Rahmen eines Reviews mit 24 Studien, welche den Zusammenhang von sportlicher Aktivität und chroni sche Krankheiten wie Diabetes, Krebs oder Herzinfarkten untersuchten. Inaktive Menschen haben demnach ein 31% MY AGE AGAIN?

WHAT’S

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Zukunft hinterfragen

höheres Risiko für Bluthochdruck und indische Männer, welche sich wenig bewegen, litten deutlich häufiger an Rü ckenschmerzen (vgl. Paudel et al. 2019). Auch die American Heart Association kam 2016 zu dem Schluss, dass 150 Mi nuten moderater Sport pro Woche das Risiko für Diabetes Typ2 und Herzerkrankungen senken (vgl. Wahid et al. 2016). Spanische Senioren, die drei Monate lang Sport machen mussten, fühlten sich dadurch allerdings nicht glücklicher, auch wenn sie dabei gesünder wurden (vgl. Marcos-Pardo et al. 2019). Bemerkenswert war zudem eine österreichische Studie, die Marathonläufer über 60 mit Nicht-Sportlern des gleichen Alters verglich und herausfand, dass Sportler zwar gesünder, schlanker und glücklicher sind, aber genauso häufig an Alzheimer leiden wie Nicht-Sportler (vgl. Batmy agmar et al. 2019). Auch diese Studie berücksichtigt den Survivorship-Bias allerdings nicht. Es ist also schwierig fest zustellen, ob Sport tatsächlich dafür sorgt, dass man länger lebt oder gesündere Menschen einfach wahrscheinlicher Sport machen.

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Wohlstand Wohlhabende Menschen leben länger als ihre armen Mit bürger, und das nicht nur um ein paar Monate. Zu diesem Ergebnis kam unter anderem eine Studie der Universität Washington von 2017 (vgl. Dwyer-Lindgren et al. 2017), welche alle Sterbefälle in den US zwischen 1980 und 2014 nach County (Bezirk) aufschlüsselte. Sie stellte fest, dass die Menschen in einigen wohlhabenden Counties in Colorado durchschnittlich 20 Jahre länger leben als die Einwohner be stimmter armer Counties in South und North Dakota. Diese Erkenntnis wurde durch eine ähnlich Untersuchung 2016 (vgl. Chetty et al. 2017) untermauert, die feststellte, dass das reichste Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung durchschnittlich 14,6 Jahre länger lebt als das ärmste Prozent. Nun könnte angenommen werden, dass dies vor allem mit dem amerikanischen Gesundheitssystem zusammenhängt, welches für die ärmere Bevölkerung häufig unzugänglich ist. Allerdings zeigt sich dieselbe Korrelation zwischen Wohlstand und Alter auch in Norwegen, welches für sein gut ausgebautes Sozialsystem bekannt ist (vgl. Kinge et al. 2019). In einer Untersuchung von 2005 bis 2015 mit über 3 Millionen Teilnehmern zeigte sich, dass die reichsten 1% (>530.000 Dollar Haushalteinkommen pro Jahr) der männ lichen Norweger 13,8 Jahre länger leben als die ärmsten 1%. Ärmere Menschen leiden zudem häufiger unter Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck, Rauchen öfter und machen weniger Sport (vgl. Chetty et al. 2017). Außerdem sterben sie häufiger an Herzkrankheiten, Krebs, Infektionen, Diabetes, sowie Drogenmissbrauch und Suizid (vgl. Kinge et al. 2019) als ihre reicheren Mitbürger. Den gesundheitsschädlichen Effekt von Armut kann man zudem nicht nur bei Erwach senen beobachten, sondern auch bei Kindern. So sind Kinder aus ärmeren Haushalten durchschnittlich kränker als ihre wohlhabenderen Altersgenossen und verletzten sich auch häufiger (vgl. Chen et al. 2002). Aber warum ist das so? Das ist kompliziert, multifaktoriell und noch nicht vollständig geklärt. Ein wichtiger Faktor scheint allerdings die Armut selbst zu sein (vgl. Wadsworth et al. 2012), welche zu chro nischem Stress bei den Betroffenen führt. Neben Geldsorgen triggert Armut eine ganze Reihe von zusätzlichen Stressoren, wie etwa Angst vor Obdachlosigkeit, Konflikte innerhalb der Familie oder häufigere negative Lebensereignisse (vgl. Wadsworth et al. 2012). Dauerhafter Stress ist wiederum schädlich für die körperliche Gesundheit (vgl. Russ et al. 2012) und führt zu einer Zunahme von tödlichen Herz kreislauf- und Krebserkrankungen.

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Surivorship Bias Eine Form des Selection Bias. Es werden nur Probanden betrachtet, die einen gewissen Selektionsprozess hinter sich haben. Zum Beispiel die Annahme, dass alte Gebäude stabiler gebaut sind als neuere Gebäude. Nur besonders robuste Gebäude schaffen es Jahrhunderte lang stehen zu bleiben. Die instabilen alten Gebäude wurden abgerissen und durch neuere ersetzt. Alle alten Gebäude, die heute noch stehen, sind deshalb stabil, aber nicht alle Gebäude, die früher gebaut wurden, waren stabil.

Confounding Bias: Ein dritter Einflussfaktor ist die Ursache für die zwei gemessen Größen. Zum Beispiel die statistische Korrelation zwischen dem jährlichen Schokoladenkonsum pro Kopf und den Nobelpreisen pro 10 Millionen Einwohnern eines Landes (Messerli 2012). In reichen Industrieländern wird viel geforscht und auch mehr Schokolade konsumiert als in ärmeren Ländern. Die Ursache für viele Nobelpreise pro Kopf ist deshalb nicht der Schokoladenkonsum der Bevölkerung, sondern der Wohlstand eines Landes, welcher zu mehr Forschung führt.

Verschiedene Bias

Übergewicht

Die „Brigitte-Diät“ gibt es schon seit 1969 und sie ist ei nes der bekanntesten Diätkonzepte in Deutschland. Die namensgebende Zeitung „Brigitte“ wirbt dabei unter an derem damit, dass man mit Gurken-Zitronen-Wasser ein Kilo pro Tag abnehmen könne (vgl. Brigitte 2020a) und dass die kalorienreduzierten Diät-Rezepte der Brigitte für ein „gesünderes und schlankeres Leben“ sorgen (vgl. Bri gitte 2020b). Aber stimmt das wirklich? Leben schlanke Menschen tatsächlich länger? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Forschung schon sehr lange und ist zu unterschied lichen Ergebnissen gekommen. Eine frühe großangelegte Analyse von 1995 (vgl. Manson et al. 1995), welche über 100.000 US-Amerikanerinnen 16 Jahre lang begleitete, kam etwa zu dem Schluss, dass die dicksten nicht-rauchenden Teilnehmerinnen (BMI>32) ein 220% erhöhtes Risiko hatten im Versuchszeitraum zu sterben, als die schlankes ten nicht-rauchenden Teilnehmerinnen (BMI<19), deren Sterblichkeit am geringsten war. Diese Studie ist vor allem deshalb kritisch einzuschätzen, weil ein BMI<19 heutzutage als Untergewicht bewertet wird. Neuere Studien mit mehr Teilnehmern konnten zwar nicht bestätigen, dass ein BMI von <19 optimal ist, zeigten aber auch, dass Übergewicht einen negativen Einfluss auf die Lebenserwartung hat. Eine Studie von 2008, die über 350.000 Teilnehmer knapp 10 Jahre begleitete, befand etwa, dass der optimale BMI für Frauen bei 24,3 und für Männer bei 25,3 läge (vgl. Pischon et al. 2008) und dass sowohl ein Gewicht darunter als auch darüber, dass Risiko zu sterben erhöht. Ganz genau wollte es 2016 die Universität Cambridge wissen. Sie untersuch te die Daten von über 10 Millionen Menschen aus Asien, Australien, Neu Seeland, Europa und Nordamerika und stellte fest: Menschen mit Normalgewicht (BMI 20–25) leben am längsten. Darunter und darüber steigt die Morta lität. Eine ebenfalls britische Studie aus dem gleichen Jahr mit 30 Millionen Teilnehmern kam zu einem ähnlichen Ergebnis (vgl. Aune et al. 2016). Verhilft einem jetzt eine Diät zu einem gesünderen Leben? Ja und nein. Nur wenn dadurch ein Normalgewicht erreicht wird und man nicht zu sehr abnimmt, denn auch Untergewicht kann mit negativen Folgen wie etwa Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode) und Osteoporose einhergehen (vgl. Gusainye et al. 1993). Die Zukunft des Anti-Agings? Eine weitere Möglichkeit wäre natürlich, dass die Forschung uns in Zukunft gänzlich von den Lastern des Alters befreit. Ansätze dafür, die schon jetzt erforscht werden, gibt es einige. So stellte etwa eine Studie aus dem Jahr 2016 fest, dass Mäu se deren seneszente Zellen (Zellen im „Stand-by-Modus“) gentechnisch dezimiert wurden, etwa ein Viertel länger leben als Kontroll-Mäuse (vgl. Baker et al. 2016). Eine andere Studie fand heraus, dass Mäuse denen spezielle Stammzellen von Baby-Mäusen in den Hypothalamus (ein Teil des Ge hirns) injiziert wurden, etwa 100 Tage länger leben als nicht behandelte Mäuse (vgl. Zhang et al. 2017). Beweise dafür, dass diese Methoden auch am Menschen funktionieren, gibt es bisher aber nicht. Und wie bereitet man sich nun körperlich optimal auf die Zukunft vor? Aus wissenschaftlicher Perspektive begünsti gen vermutlich sowohl Sport, Wohlstand als auch Normal gewicht ein langes gesundes Leben. Ein gesunder Lebensstil setzt sich allerdings aus einer Vielzahl unterschiedlicher Komponenten zusammen. Außerdem sollten Artikel und Studien zu dem Thema mit Vorsicht behandelt werden, denn oft werden die Ergebnisse dieser Studien in LifestyleMagazinen zu vereinfacht dargestellt und Schlüsse gezo gen, die nicht sicher erwiesen sind. Häufig handelt es sich auch nicht um randomisierte kontrollierte Studien, die den Schluss auf einen Kausalzusammenhang zulassen würden, sondern um Querschnittsstudien oder quasi-experimentelle Studien, die nur Hinweise auf einen Zusammenhang geben können. Selection Bias Es werden nur Probanden für die Studie ausgewählt, die eine oder mehrere Eigenschaften gemeinsam haben, welche das Studienergebnis verzerren. Zum Beispiel wenn Probanden für eine Studie zum Thema Bluthochdruck aus den Patienten einer Arztpraxis rekrutiert werden.

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Brigitte (2020a): 3 Kilo in 3 Tagen – mit diesem Trick soll’s klappen! Online verfügbar unter: pen–10137286.htmlgesund/abnehmen/schlankwasser-diaet–3-https://www.brigitte.de/kilo-in-3-tagen—mit-diesem-trick-soll-s-klap-[Zugriff:11.02.2021].

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Darüber hinaus zertifizieren wir fertig installierte Raumlufttechnische Anlagen und dezentrale Befeuchter als VDI-geprüfte Fachingenieure RLQ gemäß der Richtlinien VDI 6022 Blatt 1 und Blatt 6. Bei erfolgreicher Prüfung erhält die Anlage einen VDI-Prüfaufkleber, der diesen Erfolg belegt, aber auch die nächsten notwendigen Hygieneinspektionen terminiert. R

Die Menschheit hat die Freiheit des Weltalls entdeckt, aber sich selbst verloren. „Sieht so dein Fortschritt aus?“, Kavan blickt Vincent tief in die Augen.

ANONYM„Ich liebe dieses satte Grün der Bäume. Und die Tiere – all die wunderschönen Tiere. Fürchterlich, dass es zukünftig keine mehr geben wird. Du hast Glück, die Natur in all ihren Facetten bestaunen zu können.“ Kavan schaut Vincent an, der an seinem Lieblingsort – dem Kelley Park im Silicon Valley – seinen Ideen nachhängt. Die Aussage des Fremden verwundert Vincent. Aber hier trifft man oft seltsame Men schen. Er schmunzelt. „Ja, Tiere sind toll.“ Er mustert ihn. Irgendetwas an diesem Mann irritiert Vincent tiefergehend. Er ist groß, hat kurzgeschorene Haare und eine seltsame Art sich zu bewegen. Sein Blick durchdringt ihn. „Dieses Streben nach Kontrolle, nach Steuerung wird nur dazu führen, dass wir uns voneinander entfernen.“ Er ist definitiv seltsam. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, Vincent lä chelt. Er packt seinen Laptop, seine Skizze sowie seinen Taschenrechner in seinen Rucksack – er muss zu einem Meeting. Er arbeitet momentan an einem sowohl sehr wichtigen als auch geheimen Projekt. „Du solltest dir Ge danken über deine Wünsche und Erwartungen machen. Das Projekt wird ungeahnte Folgen haben. Fortschritt ist nicht immer etwas Gutes.“ Vincent ist über diese Worte verärgert. Woher weiß er von seinem Projekt? „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, aber die Forschung schreitet weiter voran und sie bietet so viele Möglichkeiten. So viel, was wir noch erreichen und verändern können. Fortschritt ist immer gut. Stillstand ist fatal.“ Sein Herz pocht. Wer ist dieser Fremde? Was will er von ihm? „Am Ende bleibt die Frage, was der Mensch noch wert ist, wenn er Dinge erschafft, die über seine Fähigkeiten hinaus gehen. Wenn er Dinge abschafft, die für sein Überleben notwendig sind. Ist das die wünschenswerte Vision, die du hast?“ „Ich will die Welt nur besser machen.“, bringt Vincent Kavan erneut mit scharfem Ton entgegen. Worauf lässt er sich hier überhaupt ein? Trotzdem hallen die Wor te nach. Er versucht Bilder hervorzurufen. Sich eine Welt ohne Natur und Tiere vorzustellen. Soll das die Konsequenz seines Projekts sein? Die Vorstellung macht ihm aber keine Angst, vielmehr fasziniert sie ihn. „Ich zeige es dir.“ Kavan reicht ihm die Hand. Vincent zögert einen Moment, bis er schließlich dem Fremden seine Hand reicht. Seine Neugier ist stärker als seine Skepsis.

Vincent erstarrt: Menschen in der leblosen Weite des Welt alls. Eintritt nur für Auserwählte, die alle auf die Erlösung warten. Keine Nähe, keine Liebe. Abgezählte Kinder aus Reagenzgläsern. Es gibt keine Namen – nur Nummern. War mes Sonnenlicht, nur eine Erinnerung. Kälte. Angst. Leere.

Kreativ Zukunft hinterfragen 21 philou .

ZUKUNFT TÖTEN PAULA MATHEMATIKWELLER(HELSINKI)

Conrad hat sogar im Büro übernachtet, um Diana so intensiv wie möglich betreuen zu können. Besonders wenn sie so jung sind, ist es wichtig, ihnen genug Aufmerksamkeit zu geben, wissen Sie?“ Lisa putzt sich lautstark die Nase, dann hält sie plötzlich inne. „Naja, seine Frau Klara fand das sicher nicht so toll, dass er so viel gearbeitet hat. Sie ist nicht an dem Projekt beteiligt, da kann es schwer sein, zu verstehen, wie viel Arbeit das ist.“

Kreativ 22

Eine der Mitarbeiterinnen wirkt besonders mitgenommen: Lisa Hermann, eine Promotionsstudentin. Sie ist auch die jenige, die das Unglück entdeckt hat. Alma beschließt, sie als erstes zu befragen. Lisa schluchzt herzzerreißend, Strähnen ihres blonden Haares kleben an ihren feuchten Wangen.

Alma tauscht einen Blick mit ihren Kollegen. Ist das etwa ein Motiv für die Tat? Eifersucht?

Schon fast kunstvoll ist ihr graziler Körper über den Tisch drapiert. Wie eine Schlafende ruht sie auf dem Podest, die filigranen Glieder weit von sich gereckt. Ein schmales Bein chen baumelt an der Seite herunter. Zartes, weißes Tuch bedeckt die Reste dessen, was einst ihre Mitte war, hier und da glänzen Überreste der silbrigen Innereien. Kabel ragen überall hervor, rot, gelb, grün. Die fröhlichen Farben passen ganz und gar nicht zu der Stimmung, die im Raum herrscht. Schluchzen und gedämpftes Gemurmel sind zu hören, die Anwesenden halten sich tröstend im Arm oder starren mit bleichen Gesichtern Löcher in die Luft. Diana hieß das Geschöpf, nach einer ermordeten Zoologin. Ein Mord, der nie aufgeklärt wurde. Kommissarin Alma fühlt sich fehl am Platz. Diana hat in den vergangenen Wochen für großen Aufruhr gesorgt – von ihren Schöpfern liebevoll als „menschliche Intelligenz“ bezeichnet, bezweifelte so manch einer, dass sie tatsächlich mehr war als ein gewöhnlicher KI-Roboter. Die RWTH, der das verantwortliche Forschungsinstitut angehört, versprach sich jedenfalls viel von ihr: „Diana ist der Beweis dafür, dass wir Zukunft nicht nur denken, wie unser Motto behauptet, sondern dass wir sie auch leben!“, verkündete der Rektor Albert Schnabel stolz während einer Pressekonferenz. Zukunft denken, Zukunft leben, Zukunft töten, führt Alma die Folgerung in ihren Gedanken zu Ende. Dazu ist es jetzt gekommen. Und da Diana „getötet“ wurde, bevor sich die Forschungswelt auf ein Urteil einigen konnte, hatte man das Ganze vorsichtshalber als Mord eingestuft – und nicht als Sachbeschädigung.

Doch Klara Liebig macht nicht den Eindruck einer Mör derin.

„Ich weiß wirklich nicht, wer so etwas Furchtbares tun würde. Wir haben Diana alle geliebt.“ Sie schnieft leise. „Einige von uns haben praktisch im Büro gelebt. Ich muss regelmäßig nach meinem Krümel sehen, wissen Sie, er ist noch ein Wel pe, darum bin ich nie zu lange geblieben. Aber mein Kollege

Alma will sich gerade dem nächsten Mitarbeiter zuwenden, als gedämpftes Winseln zu hören ist, dann ein Bellen. Alma spitzt ihre Ohren. Ist das etwa ein Hund? Sie lässt ihren Blick auf der Suche nach der Geräuschquelle durch den Raum wandern. Lisa Hermann ist plötzlich noch blasser als zuvor. Alma muss insgeheim schmunzeln. Ein ungewöhnlicher Mordfall erfordert wohl einen unge wöhnlichen Mörder.

Zukunft hinterfragen 23 philou.

„Ihr habt die Schöpfung von Diana bestimmt ausführlich protokolliert. Könnt ihr nicht einfach eine neue Diana er Conradschaffen?“schüttelt bedauernd den Kopf. „Das ist wie bei einem Menschen: Wir können zwar ihre maschinelle Grundlage neu bauen und programmieren, aber das System, auf dem ihre Persönlichkeit basiert, ist selbstlernend. Wenn ein Mensch verstirbt, kann man auch einen neuen erschaffen – aber der individuelle Erfahrungsschatz des Verstorbenen ist für immer verloren, und damit auch seine Persönlichkeit. Wir werden niemals eine zweite Diana schaffen. Eine zweite menschliche Intelligenz – vielleicht, das wird sich zeigen. Aber keine Diana.“

„Mein Mann Conrad hat alles für das Projekt gegeben, das ist richtig. Tagelang kam er nicht nach Hause! Ich war manchmal schon fast eifersüchtig auf Diana, weil sie so viel mehr von ihm hatte als ich. Aber so ist das eben, die Forschung ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Diana war wie eine Tochter für ihn, und damit auch für mich.“ Sie lächelt melancholisch. „Ich war sogar dabei, als sie ihr erstes Wort sprach. Hallo Welt hat sie gesagt, und hatte danach wochenlang diesen süßen Bug, dass alle Leute Welt genannt wurden. Hallo Welt, wie geht es dir, Welt? Möchtest du einen Kaffee, Welt? Entschuldige Welt, ich muss mich jetzt aufladen gehen.“ Klara seufzt. „Ich kann gar nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.“ Sie schüttelt traurig den Kopf. Auch ihr Ehemann Conrad, ein Assistenzwissenschaftler, ist „Ichratlos.kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Dia na Schaden zufügen wollen würde! Sie war unser kleines Wunder. Auch ihre Kritiker würden ihr nichts antun wollen – sie wollten schließlich unsere Theorie widerlegen, und wie sollten sie das ohne Diana tun? Mit Dianas Tod haben beide Seiten verloren.“

„Ach… E.V.A., lass mich doch noch fünf Minuten weiter schlafen…! – Kurz darauf wurde ich intelligenterweise von meiner Matratze mit einem Ruck aus dem Bett gestoßen. Manchmal tut das gut... und manchmal tut es einfach nur weh! Auch wenn ich E.V.A., ein Humanoid, der für das Monitoring meiner ganzen Haushaltsgeräte zuständig ist, damit beauftragt habe, mich jeden Tag um 7 Uhr aufzuwe cken und bloß nicht auf mich zu hören – selbst wenn ich Sie bitte mich fünf Minuten weiterschlafen zu lassen, war ich aufgebracht darüber, gegen meinen Willen aus meinem eigenen Bett rausgeworfen worden zu sein. „Man kann ja nicht mal so leben, wie man es möchte!“, rief ich ihr zu. Ist Sie überhaupt eine Sie? Oh, ich meine ist Es eine Sie? Warum muss Sie denn unbedingt ein Geschlecht haben – oh schon wieder Sie!? Na ja, selbst wenn ich mich oft über die Erbarmungslosigkeit von E.V.A. aufrege, macht Sie eigentlich nur das, was ich von ihr will. Da ich morgens bloß nicht zu spät zu Arbeit kommen will, habe ich Sie so programmiert, dass sie dafür sorgt, dass ich morgens um 7 Uhr aus dem Bett bin und das, wenn es sein muss, auch gegen meinen Willen…! Hab ich schon wieder Sie ge sagt?! Aber wie komme ich ei gentlich darauf…? Die Stimme hat einen weiblichen Klang, vielleicht liegt es daran. Zu Beginn hatte ich die Möglichkeit mich zwischen unter schiedlichen Stimmlagen zu entscheiden. Es gab eine männ liche, weibliche und eine kindlich klingende Stimme und dazu auch noch unterschiedliche Sprachen mit exotischen Akzenten.DieAuswahl ist unendlich…, auch optisch kann man beispielsweise die Körpergröße, die Körpermaße und die Hautfarbe auswählen. Somit werden humanoide Roboter leider von manchen auch für - nun ja – besondere Zwe cke verwendet. Wie richtig das ist…? Na ja – verboten ist es zumindest nicht…! Schließlich ist es kein autonomer Mensch, sondern ein Roboter und seine Rechte unterliegen allein dem Eigentümer! Mittlerweile gibt es viele Aufruhen in dieser Hinsicht, doch es hat sich gesetzlich noch nichts bewegt! Roboter sind zwar keine Menschen, doch das heißt lange nicht, dass es okay ist, unmenschlich mit ihnen um zugehen. Nicht alles, was moralisch falsch ist, braucht ein gesetzliches Verbot oder eine Strafe…oder?!

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Von diesen trübseligen Gedanken begleitet, trinke ich mei nen morgendlichen Kaffee, den mir E.V.A. in der von mir personalisierten Intensität bringt. „Hmm… ganz genau nach meinem Geschmack!“ Somit schmeckt der Kaffee jeden Tag genauso, wie ich ihn haben will, ohne böse Überraschun gen der menschlichen Fehl barkeit! Während ich meinen morgendlichen Kaffee genie ße, wird mir das Badewasser aufgewärmt, natürlich damit ich auch hier Zeit spare… warte mal, wofür spare ich ei gentlich diese ganze Zeit…?! Nach dem Bad fahre ich mit meinem autonomen Hybrid fahrzeug zur Arbeit, oh nein, falsch formuliert, …ich werde von meinem Fahrzeug zur Arbeit gefahren. Eigentlich ist es ein Firmenwagen und gehört nicht mir, deshalb fährt es auch strikt nur die Route zwischen meinem Zuhause und der Arbeit, dabei nimmt er auch nur die kürzeste Route, um so wohl an Energie als auch – natürlich wie immer, ihr könnt‘s schon raten – an nichts anderem als an Zeit zu sparen…!

Nicht nur Firmenwagen, auch private Fahrzeuge sind dazu verpflichtet sich an die Vorschriften bezüglich Energieef fizienz zu halten. Die ganze Stadt ist im Hinblick auf den Klimaschutz umstrukturiert wurden. Durch die Stadt mit dem Auto herumfahren, wie man will, spontane Roadtrips etc., das gibt’s schon lange nicht mehr! Die Fahrzeiten und Strecken werden alle von der Stadtverwaltung reguliert und überwacht. Wer sich nicht daran hält, kann mit hohen Strafen rechnen! Da alles größtenteils verfolgbar ist und die Einhaltung der Vorschriften und Gesetze von Algo rithmen überwacht wird, hat sich viel in der kriminellen Welt Kleinkriminalitätgeändert. wie Diebstahl oder Kavaliersdelikte sind zur Seltenheit geworden. Aber schwere Taten wie Mord oder GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTENHISIM

2.0.5.0 BETÜL

Vergewaltigung, die oft im Affekt geschehen, können selbst durch die intelligentesten Algorithmen nicht prognostiziert werden. In diesem Bereich bleibt die Undurchschaubarkeit menschlichen Handelns bestehen. Das zeigt auch die Grenzen der Manipulierbarkeit menschlichen Handelns durch Kontrolle und Überwachung. Nicht nur die Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung und Einhaltung der Gesetze geschieht durch Algorithmen, auch das Urteil über deren Übertretung wird von Algorithmen ge troffen. Es gab zunächst eine Studie über mehrere Jahre, die die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Gesetzesur teile zwischen menschlichen und algorithmischen Richtern verglichen hat. Da sich die Algorithmen als deutlich objek tiver und rechtstreuer erwiesen, fühlte sich die Regierung verpflichtet in diesem Bereich zwischen menschlicher Arbeit und der Maximierung der Gerechtigkeit zu entscheiden. Die Entscheidung können Sie sich erschließen. Ok, wir scheinen angekommen zu sein! Das ist das Gute an diesen Fahrten, ich kann mir die Zeit nehmen lange über Dinge nachzudenken, ohne dabei auf den Straßenverkehr achten zu müssen, darf ich das eigentlich...? – Naja, das ist so eine Grauzone, wie bei dem Umgang mit den Robotern…! Aber dafür ist doch dieses ganze Zeitsparen oder...? Damit wir unsere wertvolle Zeit geistigen Tätigkeiten und Denk arbeit widmen können. Ob jeder es auch so verwendet, naja das können sie jedenfalls noch nicht kontrollieren, soweit ist die Technik noch nicht! An der Arbeitsstelle angekommen, werde ich von unserem Aufsichtspersonal an der Tür freundlich begrüßt. Marvin empfängt einen immer so herzlich, er kennt unsere Ge sichter und spricht uns auch direkt mit dem Namen an. Er kann sogar Witze machen, aber sein Repertoire ist natürlich begrenzt, irgendwann wiederholen sie sich ja… Aber das ist doch auch beim Menschen so, oder? Nur weil wir sie mögen, nehmen wir es ihnen nicht übel… Eigentlich mag ich auch Marvin, aber irgendwie fühlt es sich so komisch an, also er macht ja nur das, was ihm einprogrammiert wurde… Nicht weil er mich gerne hat oder so…? Das ist auch wieder so eine Sache, irgendwo werden wir mit sympathischem Auftreten und Gesten empfangen, die ziemlich persönlich sind und für ein Wohlempfinden sor gen. Andererseits kann man diesen recht realitätsnahen und teils intimen Interaktionen nicht so begegnen, wie man es normalerweise tun würde. Dieser Austausch, der bei zwi schenmenschlichen Beziehungen für Nähe sorgt, zeigt sich bei Robotern nicht. Die regelmäßige Kommunikation und diese meilenweite Distanz zwischen Mensch und Roboter, die sich trotz alldem nicht aufzuheben scheint! Dies hat vieles in unserer Gesellschaft tiefgehend verän dert. Denn mittlerweile kommunizieren Menschen mehr mit Robotern oder auch anderen Formen von künstlichen Intelligenzen als mit… Menschen. Daher sind wir unmit telbar stark davon betroffen. Dieser Wandel hat sich zwar schleichend, aber dauerhaft etablieren können. Als die Ent scheidung getroffen wurde, die komplette Stadt im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz infrastrukturell um zugestalten, schien der Einsatz von intelligenten Systemen die perfekte Lösung zu sein, um den Plan konsequent durch zusetzen. So kam es, dass in Kürze der flächendeckende Einsatz von künstlichen Intelligenzen zum Alltag gehörte… Anfangs als ziemlich ungewöhnlich oder gar unheimlich empfunden, viele kritische Stimmen gab es zu hören, aber der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. Gestern war es ungewöhnlich, heute können wir nicht mehr ohne…!

Sie ist äußerst penetrant, aber dennoch bleibt Sie höflich... – oh schon wieder Sie…?!?

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Das Faszinierende an diesen intelligenten Maschinen ist, dass sie kontinuierlich dazu lernen und somit zunehmend menschlicher wurden. Die Roboter wurden immer mehr dem Menschen ähnlich, und die Menschen dem Ro „Pieps!“,boter… meine Smartglass schickt mir die erste Warnung, nach meinem IhrenFenster,träumerischen60-sekundigenBlickausdem„SchauenSiebitteaufBildschirm.“

Die Aufgabe der NATO-Gruppe bestand darin, das Völker recht auf den digitalen Raum anzuwenden, um zu klären, wie die Rechtslage in Bezug auf Selbstverteidigung aussieht. Im ausgearbeiteten „Tallinn Manual“ wird darauf hingewiesen, dass falls ein Cyberangriff die Stärke eines bewaffneten An griffs annimmt, der angegriffene Staat in Verhältnismäßig keit und unmittelbar im Zuge eines Gegenangriffs reagieren darf (vgl. Schaller 2014: 20). Dieser Fall ist allerdings noch nicht eingetreten und realistisch gesehen nicht umsetzbar, denn Cyberangriffe müssen aufwendig geplant werden. Ihre Ausmaße lassen sich nicht unfehlbar abschätzen und bei der Suche des zu Adressierenden gibt es häufig Schwierigkeiten der EinDetektion.andererVersuch internationale Regeln zu etablie ren, wurde von der UN-Group of Governmental Experts (GGE) unternommen. Sie arbeitete insgesamt elf Jahre an einer gemeinsamen Einigung, die im Endeffekt scheiterte (vgl. UNIDIR 2017: 24). Die einzige Errungenschaft nach den Verhandlungen war die Etablierung des Hoheitsrechts. Dieses besagt, dass unabhängig davon, ob ein Cyberangriff staatlich oder nichtstaatlich organisiert ist, der Staat als sol cher in der Verantwortung steht. Damit soll eine Sorgfalts pflicht der Staaten etabliert werden, die zur Überwachung und Intervention von Cyberangriffen führen soll, da das Territorium schließlich entscheidend für die Rechtslage ist (vgl. Schaller 2014: 24). Artikel 26

Vorab: Ein Cyberkrieg stellt keine realistische Kriegsbedro hung dar, aber in hybrider Kriegsführung ist ein Cyberan griff, als strategische Komponente, längst etabliert (vgl. Gray 2013: 44f., vgl. Schulze 2020: 5).

Digitale Innovationen finden in schneller Taktung Einzug in den Alltag der Gesellschaft, sie optimieren Arbeitsabläufe und gehören zur strategischen Regierungsarbeit. Die Proble matik des Cyberraums besteht darin, dass die „terra nullius“ nicht nur ein undefinierter Raum, sondern auch, dass sie für jeden zugänglich ist. Der Zugriff existierte, bevor Regeln für die Nutzung erarbeitet wurden. Heute stehen wir vor der Herausforderung, digitale Innovationen mit ihrem bedroh lichen Potential zu begreifen, denn ein verantwortungsvoller Umgang mit der neuen Technik droht unter dem Druck des Mithaltens, der Optimierung und der Neuentwicklung zu entgleiten. Ethische Fragen sind bei Innovationen immer zu stellen und es gilt einen Missbrauch zu verhindern, um verantwortungsvoll Zukunft zu gestalten. Der Cyberraum wurde längst militarisiert. Zum einen, weil die NATO versucht Regeln und Normen aufzusetzen, zum anderen, weil das Militär, beginnend mit der elektronischen Kampfführung, diesen Raum nutzt. Welche Vor- und Nach teile ergeben sich bei digitaler Verteidigung und welche Konsequenzen hat dies für unsere Zukunft global gesehen?

DIGITALE VERTEIDIGUNG

JULIA POLITIKWISSENSCHAFTKASTEN

Zunächst einmal muss die Ausgangslage verdeutlicht werden: Auf internationaler Ebene variieren strategische Cyberangriffe und die Durchführung hochpotenter Cy beroperationen werden unterschiedlich verantwortungsvoll gehandhabt. Dadurch wird deutlich, dass der Umgang mit dem Cyberraum nicht nur einer nationalen Strategie bedarf, sondern einer internationalen Einigung.

Erstmals versuchte der von der NATO zusammengestell te Hub Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence (CCDCE) 2010 eine allgemeine Regelung auszuarbeiten. Zur Handlung wurden sie 2007 bewegt, als die estnische Regierungs- und Unternehmensarbeit in der Hauptstadt Tallinn durch einen Cyberangriff gestört wurde. Dieses Ereignis ließ weltweit begreifen, welches zerstörerische Potential Cyberangriffe bergen. Auswirkungen können über Netzwerkinfizierung, Spionage und Datenklau hinaus gehen und indirekte Schäden sowie Kollateralschäden anrichten.

Abschreckung gilt als Verteidigung in einer unsicheren Lage. Die USA fühlt sich durch regelmäßige Cyberspionage ver unsichert und versucht durch Informationen und Überle genheit diese Unsicherheit zu bewältigen und vielmehr noch, selbst Unsicherheit zu verursachen. Sobald die Unsicherheit, in idealistischer Betrachtung, nicht immanent ist, ist der Zwang der Abschreckung obsolet.

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Cyberangriffe sind nur in einem eingebetteten Kontext, mit einem strategischen Ziel oder in Kombination mit einem militärischen Einsatz sinnvoll. Bis jetzt verliefen Cyberan griffe unter einer gewissen Intensivitätsschwelle ab. Erklä rungsansätze sind dafür, dass zum einen Auswirkungen der Cyberangriffe nicht absehbar sind und zum anderen ein Rückschlageffekt durch ungewollte Provokation ausgelöst werden kann, daher gilt es das richtige Maß an „Pain and Anger“ zu finden. Zur Themenkomplexität kommt hinzu, dass die einzel nen Staaten unterschiedliche Cyberstrategien haben und Cyberangriffe nutzen, um nationale Ziele und Zwecke zu erreichen. Taktische Unterschiede können besonders zwi schen den USA, China und Deutschland beobachtet wer den. Sicherlich nutzen alle drei Staaten die Cyberwaffe als Spionagemethode, doch im Vergleich der drei Staaten zählt die USA zu den strategisch offensiveren Kandidaten, da sie auch ihre Verteidigung offensiv gestaltet. Ihre „Persistant Engagement Strategy“ lässt sich in puncto Verteidigung vor Cyberangriffen in drei Schwerpunkte teilen. Zum einen gehört dazu die „Persistant Threat“. Durch kontinuierliche Angriffe auf den Gegner ist dieser mit der Verteidigung beschäftigt und kommt nicht zum Handeln. „Defend For ward“ beinhaltet Spionage, durch die gegnerische Angriffe detektiert und im besten Falle direkt verhindert werden sol len. Zum dritten Punkt gehört das „Prepairing Battlefield“. Damit ist gemeint, dass sich Hacker in gegnerische kritische Infrastruktur setzen und im Falle eines Angriffs dort direkt den Gegenangriff auslösen können. Inwieweit die Folgen verhältnismäßig (laut Tallinn Manual) ausfallen, unterliegt dem Willen der Abschreckung. (vgl. Lindsey 2019) China hingegen nutzt die Cyberwaffe im Verständnis eines „Information War“. Sie versuchen, ebenso wie Russland, durch Spionage und Beeinflussung von Medien, das Geg nerland zu irritieren, sowie Informationen zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass China die Cyberspionage auch aus wirt schaftlichen Gründen nutzt, um Knowhow abzutragen, da mit konkurrenzfähige digitale Technologie und Infrastruktur generiert werden kann (vgl. Jinghua 2019). Deutschland steht durch China und USA unter Druck und hat demnach 2016 eine Cybersicherheitsstrategie ausgear beitet, mit welcher es versucht Privatpersonen, wie auch Un ternehmen, vor Cyberangriffen zu schützen. Eine verstärkte digitale Ausrüstung ist daher wichtig, um nicht abgehängt zu werden. Das bedeutet nicht nur technische Akquise, mehr Forschung und ein kritisches Bewusstsein gegenüber durch Cyberangriffe generierte Propaganda mittels Fake News (vgl. BMI 2016). Zusätzlich muss der Spagat zwischen In novationsförderung und gleichzeitiger Verhinderung von technischem Missbrauch umgesetzt werden. Um durch die Großmächte nicht in Zugzwang zu geraten, wodurch auch die Zivilgesellschaft wegen verstärkter Preisgabe ihrer Privatsphäre leiden würde, heißt es Vertrauen aufzubauen.

Schaller, C. (2014): Internationale Sicherheit und Völkerrecht im Cyberspace. Für klarere Regeln und mehr Verantwortung. Berlin: SWP. Schulze, M. (2020): Militärische CyberOperationen. Nutzen, Limitierungen und Lehren für Deutschland. Berlin: SWP. UNIDIR (2017): The united nations, cyberspace and international Peace and security. Responding to complexity in the 21st century. UNIDIR Resources. 28

Rechtsverbindliche Normen zu finden erweist sich als schwierig, wenn Russland und China durch die wirtschaftlich motivierten Cybermanöver des Westens, Cyber-Sicherheit in Form von erhöhter Resilienz wie die Abwehr von Cybe rangriffen anstreben. Und der Westen wiederum durch den ausgeführten „Information War“ des Ostens verstärkt CyberSicherheit im Sinne von Informationsfreiheit achten will. Die Entwicklung scheint zu einer zwei-Seiten (Ost-West) Lösung zu tendieren, was allerdings keine geeignete globale Lösung darstellt, aber wiederum Deutschland mehr Sicher heit verspricht. Denn bereits praktizierte Bestrebungen, bei spielsweise mit China, durch wirtschaftliche Beziehungen, liberale und demokratische Werte zu vermitteln und gemein sam auszuüben (Wandel durch Handel), haben sich nicht als wirksam erwiesen. Um Deutschland vor dem „Information war“ zu schützen, sollte vermehrt eine eigene nationale, be ziehungsweise gemeinsame westlich, demokratische Lösung zur Cyber-Sicherheit ausgearbeitet werden. Dazu gehört auch eine konkrete Identifizierung von Partnern, inklusive geeigneter Experten, um gemeinsam Standards zu finden und Zusätzlichfestzulegen.bleibt

Wie wird das Ziel erreicht? Durch Vertrauensaufbau mit Hilfe von diplomatischen Beziehungen. Allerdings besteht eine wiederauflebende Diskrepanz zwischen den Ost- und Weststaaten, nicht nur hinsichtlich einer Stagnation dip lomatischer Beziehungen, sondern auch in Bezug auf die Zielerreichung der jeweiligen Cyberstrategien. Die Offenlegung von Cyberstrategien wird schon praktiziert, um international Transparenz zu schaffen, allerdings ist diese Methode nicht verpflichtend und variabel in der Offenle gung, wodurch keine einheitliche Operationalisierung zur Gewährleistung von Cybersicherheit geschaffen wird.

Lindsey, N. (2019): US Cyber Command Signals more aggressive approach involving persistent engagement ahead of 2020 election. In: CPO Magazine, 16.09.2019.Vefügbar unter: cyber-security/us-cyber-command-signals-https://www.cpomagazine.com/more-aggressive-approach-involving-persis-tent-engagement-ahead-of-2020-election/.[Zugriff:17.06.2020].

es für Deutschland wichtig, verschiedene Akteure, ob Privatpersonen oder Unternehmer in die Regie rungsarbeit einzubinden, um mehr Aufklärung und Trans parenz zu schaffen. Doch welchen Schaden Fake News und gezielte Propaganda, selbst in einer sogenannten aufgeklärten Gesellschaft, anrichten können, bleibt noch ungewiss.

BMI (2016): Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland. Gray, C. (2013): Making strategic sense of cyberpower. Why the sky is not falling. SSI. Jinghua, L. (2019): What Are China’s Cyber Capabilities aand Intentions? In: Carnegie Endowment for International Peace, 01.04.2019. Verfügbar unter: carnegieendowment.org/2019/04/01/https://what-are-china-s-cyber-capabilities-and-inten-tions-pub-78734.[Zugriff:17.06.2020].

Unter der Hand kann man nicht greifen, Der Zeichensprache Rüg‘, Applaus. Vielleicht muss Zukunft in uns reifen? Und streckt die off‘ne Hand dir aus?

Zukunft hinterfragen

Saugt nicht an ihrem Daumen gern Der Mensch, wenn Zukunftsängste steigen? Doch auf dem Kampfplatz nah und fern, Kann er auch unten, oben zeigen.

Ist Zukunft nichts als Transzendenz, Die in das Faktum übergeht? Oder die Spur Ambivalenz, In der sich unser Leben dreht? Liegt sie in Ferne oder nah? Läuft sie mit uns, an uns vorbei? Ein Schatten, wähnend oder wahr? Oder ein Ziel, das sichtbar sei? Vergeht die Zukunft mit dem Denker? Oder schließt sie sich And‘ren an? Gibt es noch Raum für Richtungslenker? Oder folgt alles einem Plan? Besteht sie wohl nur aus den Plänen, Im Scheitern oder Glückes Freud? Bringt jeder Tag ein neues Wähnen, Das Zukunft mit Idee bestreut? Sind wir nicht selber Teil der Zeit? Ist künftig gleich nicht schon gescheh‘n? Bleibt Zukunft nicht Wahrscheinlichkeit? Und Zeit, s‘ Gedicht hier zu versteh‘n? Ein kleines Wort, unendlich Feld. Ein blätternd‘Buch; wer ist der Held?

Den Plänen ‚Mittelfinger zeigen‘?

Nein, auf der Hand liegt kein Voran; Doch in der Uns‘ren dann und wann!

Doch wenn die Glock‘ im Schnipps verklinge, Wird oft aus Rechtem links gemacht. Kann nicht zuweilen weit‘res Leben

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II Händelung Liegt Zukunft etwa auf der Hand? Über die Hügel, Fältchen, Finger? Kann man hier lesen, wohlverkannt, Die eig‘nen Leid-und Freudenbringer?

Als richtungsweisendkann sie gelten Und dirigiert durch Dur und Moll.

ZUKUNFTSZYKLUS Zwei Versuche SAMUEL PEREPELITSA LEHRAMT DEUTSCH/GESCHICHTE Kreativ

I Bündelung

Doch Hand-gebunden, unerhofft, Wird dessen Wicklung hoch bemessen. Wie viertem Finger blühen Ringe In Hand-versprechend voller Pracht?

Doch willder Faustschlag auch viel geben, Sobald die Klagegesten schweigen. Erscheint dem Menschen Zukunft selten, Auch wenn sie uns viel zeigen soll?

Ist Zukunft greifbar oder schwindend, In relativen Zeitkorsetts? Dem gegenwärt‘gen Geist erfindend, Ein Lebensfäden spinnend Netz?

Wird wie der ‚Klenkes‘ sie nicht oft Von vielen überspielt, vergessen?

Über die Zukunft Auskunft geben, Ist keineswegs ein leichtes Stück. Gestaltet nicht schon unser Leben Den Weg des Künftigen zurück?

ERNEST 1899–1961HEMINGWAY „Das Merkwürdige an der Zukunft ist wohl Vorstellung,die dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.“ 30

KURZDEFINITION

Die Technologiefrüherkennung ist Bestandteil des Technologiemanagements von Unternehmen. Systematisch werden Informationen über Technologie trends beschafft und bewertet. So können für das Unternehmen relevante Technologien identifiziert, um in laufenden Projekten oder für neue Produkte/Dienstleistungen genutzt zu werden. „ FRÜHERKENNUNG“TECHNOLOGIEQuelle: Deutsche geben KI eine https://de.statista.com/infografik/11969/kuenstliche-intelligenz/2017Chance

Zukunft vorstellen

In

67%

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ZUSTIMMUNG ZU AUSSAGEN ZUM EINSATZ VON KI In Deutschland wird der Einsatz von Künstlicher In telligenz (KI) in vielen Lebensbereichen als Chance betrachtet. So erwartet die Mehrheit der Befragten eine Reduzierung von Staus, eine Entlastung bei der Arbeit sowie genauere medizinische Diagnosen. Ein Teil der Befragten sieht durch KI-Einsatz sogar Potential für die Kunst und Kulturlandschaft. Im Straßenverkehr kann KI helfen, Staus zu reduzieren In der Industrie können Maschinen belastende Tätigkeiten übernehmen der Forschung erhöht KI die Innovationskraft Im Gesundheitswesen kann KI die Diagnosen verbessern In Kunst und Kultur kann KI völlig neue Dinge erschaffen 81%83% 57% 21%

Perspektiven SOFIA ELEFTHERIADI-ZACHARAKI MASTER OF EDUCATION DEUTSCH/ENGLISCH

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HEUTE – MORGEN

Max Kerner Prof. Dr. phil. Max Kerner ist emeritierter Professor am Lehr stuhl für Mittlere Geschichte des Historischen Institutes an der RWTH Aachen Betrachten wir die Vorstellung der Zukunft in der Vergan genheit, so zeichnet sich ab, dass sich diese bereits zwischen dem Mittelalter und der Vormoderne wandelt. Der moderne Entschluss zur Zukunft wird nach dem Historiker Thomas Nipperdey geprägt durch das Erbe der jüdisch-christlichen Eschatologie, das heißt der religiösen Vorstellung von den letzten Dingen. Obwohl sich die beiden Religionen unterscheiden, stehen sie gleichermaßen für eine neue Zielorientierung, die sich von der antiken Kreislaufthe orie absetzt. Beide Glaubensrichtungen vertreten die Ansicht, dass nach dem irdischen Leben das Jenseits folgt. Es macht das Europäische aus, daß der Mensch seine ei gene Welt in Gedanken und Erwartungen auf eine andere Welt hin zeitlich überschreitet und transzendiert. Dies ist die Transzendenz des europäischen Menschen. So gewiß zwischen der Ewigkeit des Mittelalters und der Zukunft der Neuzeit ein entscheidender Unterschied besteht, die se Zukunftsorientierung des Menschen, der nie ganz im Hiesigen zuhause ist, aus ihm heraussteht, dies verbindet den mittelalterlichen mit dem neuzeitlichen Menschen, sie ist eine mittelalterliche Wurzel dessen, was wir für so spezifisch neuzeitlich halten: des Entschlusses zur Zukunft, wie Hans Freyer das genannt hat. (Nipperdey, Thomas (1990): Die Aktualität des Mittelalters. Über die histori schen Grundlagen der Modernität. In: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München. S.29–30)

Den drei göttlichen Personen entsprechen drei Zeitalter bzw. Weltordnungen: die des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die der Wissenschaft, der Weisheit und der Fülle der Erkenntnis. Wir haben es demnach mit einer trinita tischen Theorie des Fortschreitens zu tun, die der Zeit vor und nach Christus, das heißt konkret dem Alten und dem Neuen Bund eine dritte irdische Epoche anfügt: das Zeitalter des Heiligen Geistes, ein drittes Reich. Die Heilsgeschichte läuft also nicht von der Schöpfung über Christus bis zum Weltende, dem Ende der irdischen Zeit und dem Anbruch der zeitlosen Ewigkeit, sondern sie wiederholt sich hier auf Erden noch einmal in einem dritten und eigenständigen Sta tus, dem des Heiligen Geistes. Joachim von Fiore hat diese dritte Epoche aus den Genealogien des Alten Testaments

Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der RWTH veranstaltete das Projekt „Leonardo“ im Wintersemester 20/21 die Veranstaltungsreihe „Die RWTH und die Zukunft – Lernen. Forschen. Machen.“ Im Rahmen der Veranstaltungsreihe hielten die Professor_innen Max Kerner, Elke Seefried und Stefan Böschen ein Gespräch zum Thema „Zukünfte: Gestern –Heute – Morgen“, in dem sie die Zukunftsvisionen und -vorstellungen der Vergangenheit und Gegenwart erörterten und die Grenzen des Zukunftentwerfens aufzeigten.

Dieser „Entschluss zur Zukunft“ ist in der mittelalterlichen Geisteswelt besonders wirkmächtig in der Zeit- und Ge schichtsvorstellung des kalabresischen Seherabtes Joachim von Fiore entwickelt worden. Aus dem theologischen Ge heimnis der Dreifaltigkeit offenbart sich für Joachim von Fiore in der Bibel eine dreistufige Ordnung des Zeitablaufs.

ZUKÜNFTE:GESTERN–

Die europäische „Hochmoderne“ – die Zeit von 1900 bis ca. 1970 – lässt sich dann geradezu als Zeit der Planungsbegeis terung lesen. Industrielle und wissenschaftlich-technische Dynamiken veränderten die Lebenswelten der Menschen tiefgreifend und beschleunigten sie, denkt man an indust rielle Massenfertigung, Verkehr und Kommunikation. Dies beförderte Vorstellungen einer steuerbaren Zukunft, die unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse geplant werden sollte. Ausfluss dessen war auch das „radikale Ordnungsdenken“ (Lutz Raphael) der Zwischenkriegszeit: Die Planwirtschaft als ökonomische Zwangswirtschaft in der Sowjetunion und die rassistische Lebensraumideologie des Nationalsozialismus lassen sich als Formen einer radi kalen Übersteigerung politischer Planung und Steuerung der Zukunft verstehen.

Zukunft vorstellen 33 philou .

und den Ahnenreihen der Evangelien auf eine Generatio nenfolge von 42 Geschlechtern zu je 30 Jahren erschlossen, was wiederum bedeutete, dass jede dieser Zeitepochen 1260 Jahre umfasst und die dritte Epoche in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnen müsse. In dieser Zeit lebte Franz von Assisi, der Gründer des Franziskanerordens. Jener wurde von der Kirche heiliggesprochen und galt durch seine große Barmherzigkeit gegenüber Armen und Kranken als Ideal hö herer Vollkommenheit. Dies stellt die erste Verwirklichung einer besseren Zukunft und einer höheren Spiritualität und höheren christlichen Verwirklichungsidee dar. In der frühen Neuzeit, während des 16.–18. Jahrhundert, verlor diese Idee einer heilsgeschichtlichen Ewigkeit und christlich-jüdischen irdischen Vollkommenheit an Bedeutung für die Vorstellung der Zukunft. Stattdessen wandelte sich die heilsgeschicht liche Ewigkeit des Mittelalters zu einer diesseitigen inner weltlichen Zukunfts- und Fortschrittsvision. Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit der neu artigen Welterfahrung in diesen Jahrhunderten, wie dem Buchdruck, der Reformation, der frühneuzeitlichen Na turwissenschaft und nicht zuletzt auch mit der Aufklärung. Diese Entwicklungen haben den göttlichen Heilsplan ver blassen lassen, die Zeitordnung – der ordo temporum – verlor ihre theologische Deutung und Bedeutung und an die Stelle dieser biblischen Ausrichtung trat zunehmend eine neuzeit liche Zukunfts- und Fortschrittsidee, eine innerweltliche Ausrichtung, die somit die nächste Stufe einleitete. Elke Seefried Prof. Dr. phil. Elke Seefried ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Neuzeit (19.–21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen an der RWTH Aachen In der europäischen „Sattelzeit“ um 1800, am Übergang zur Moderne, öffneten sich – so die einflussreiche Deutung des Historikers Reinhart Koselleck – neue Erwartungshorizonte. In der Aufklärung hatten die christliche Eschatologie, also die christliche Erwartung des Jüngsten Gerichts, und reli giöse Prophezeiungen an Deutungskraft verloren. Hingegen nährten nun wissenschaftlich-technische Entwicklungen und politische Umbrüche wie die Französische Revolution Vorstellungen von einer offenen und gestaltbaren Zukunft, die durch Pläne gelenkt und beeinflusst werden könne.

Ein anderes Beispiel für die Übersteigerung von Planung sind die 1960er Jahre, in denen die Zukunftsforschung als neue Wissenschaft von der Erforschung, Planung und Gestaltung der Zukunft große öffentliche Aufmerksam keit erregte. Die Zukunftsforschung orientierte sich dabei stark an technologischen „Fortschritten“ wie Raumfahrt und Computerisierung. Die Zukunftsbegeisterung fand sich auch in der damaligen Literatur- und Filmlandschaft wieder. Bezeichnend für diese Zeit ist die große Resonanz der Science-Fiction, welche die Serie „Raumschiff Enter prise“ verdeutlichte. Generell herrschte großes Vertrauen in Wissenschaft und Technik, die Zukunft durchdenken, planen und berechnen zu können. Mit Hilfe von Computer simulationen und Entscheidungsmodellen, so der Anspruch der Zukunftsforschung, sollten genaue Zukunftsprogno sen erstellt werden. Diese Prognosen waren dazu gedacht, politischen Akteur_innen die Planung und Gestaltung der Zukunft zu ermöglichen. Auffällig ist, dass die Planungsmodelle der 1960er Jahre die Befindlichkeiten der Bürger_innen und die demokratische Legitimation politischer Vorausschau vernachlässigten. Auch deshalb kamen politische Planungskonzepte und Zukunfts forschung in den 1970er Jahren in eine Krise: Politische Entscheidungen können nicht nur technokratisch in die Zu kunft geplant werden. Sie müssen – und das verdeutlichten die 1968er-Bewegung und die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre – auch demokratisch legitimiert und an den Bedürfnissen der Gegenwart orientiert werden. Zirkulieren de Krisenwahrnehmungen der 1970er Jahre verbreitete aber auch die Zukunftsforschung selbst: Sie ökologisierte sich in den 1970er Jahren. Dass die Zukunft der Umwelt nun zum großen öffentlichen Thema wurde, dies forcierten auch Zukunftsstudien wie „The Limits to Growth – Die Gren zen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972, eines der meist verkauften Bücher des 20. Jahrhunderts. Die Autor_innen argumentierten, dass angesichts drohender industrieller und demographischer Wachstumsgrenzen und ökologischer Pro bleme nun gehandelt werden müsse. Die Zukunftsforschung durchlief in der Folge selbst Lernprozesse. Immer erkenn barer wurde: Man kann nicht exakt prognostizieren. Nicht nur sind soziale Prozesse niemals eins zu eins voraussagbar und planbar. Auch lassen sich politische Entscheidungen nicht einfach weit in die Zukunft planen. Die Zukunft kann nicht berechnet werden, sondern sie muss vor allem aus gehandelt, diskutiert, gemeinsam entwickelt und gestaltet werden. Aus diesen Überlegungen entstanden neue Ansätze der Szenariotechnik und des Foresight, die eben mögliche Pfade in die Zukunft – „Zukünfte“ – abstecken und diese im Dialog mit den Betroffenen entwickeln. Von Seiten der Geschichtswissenschaft möchte ich betonen, dass es nicht möglich ist, vergangene Prognosen zu evaluieren – also zu prüfen, ob sie eingetroffen sind – weil jede kommunizierte Zukunftsaussage bestimmte Handlungen, Einsichten, Über legungen hervorruft. So hat die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ die moderne Umweltbewegung mit ausgelöst sowie die Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaft forciert. Verschiedene gesellschaftliche und politische Ak teur_innen reagierten auf die Warnungsprognose, und damit wandelte sich auch der Zustand der Umwelt nach 1972. Es macht also wenig Sinn zu sagen: „Die Studie ist nicht eingetroffen“, denn jede kommunizierte Prognose verändert auch die nachfolgende Zukunft. Dies ist nicht zuletzt eine Einsicht aus der Beschäftigung mit vergangenen Zukünften.

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Der Ansatz der Prevention basiert genau auf die Vorsorge vor schon erkannten, gewussten, negativen Ereignissen. In den 1970er Jahren begann man mit Precaution diesen Ansatz weiter zu entwickeln. Precaution richtet sich auf Ereignisse, deren negative Konsequenzen man noch gar nicht kennt. Pate standen hier historische Ereignisse, wie das Ozonloch, hervorgerufen durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe, eine Substanz, die schon in den 1930er Jahren entwickelt worden war, aber erst 1974 wurde die Hypothese zum stratosphä rischen Ozonabbau durch diese Stoffe formuliert und erst 1985 wiederum wurde das Ozonloch entdeckt. Die Frage nach Precaution ist letztendlich eine Frage nach: „Wie ver meiden wir zukünftige Ozonlöcher?“ Und diese Frage ist deshalb schwierig, weil sie auf Nichtwissen verweist. Ein Nichtwissen, von dem man nicht von vornherein weiß – und deshalb tauchen einige Fragen auf: Ist das jetzt systema tisch, gibt es ein Muster? Können wir das aufklären oder können wir das nicht aufklären? Welche Hilfe können uns dabei Wissenschaft, Technik oder Recht sein? Das heißt, hier gelangt das Zukunftentwerfen an eine Grenze der Erkennbarkeit. Was können wir als Menschen überhaupt erkennen? Was man deswegen vermehrt versucht, ist, sich durch Szenarien Zukunft anzueignen und letztendlich zu überlegen: Was sind denn die gewünschten Zukünfte, die wir uns vorstellen können und was können wir tun, um genau diese gewünschten Zukünfte, die wir uns so imaginieren, Wirklichkeit werden zu lassen? Aber auch hier gilt: Sozial systeme sind offen, sind selbstbezüglich. Das Angestrebte kann genau durch das Anstreben vereitelt werden. Zukunft vorstellen 35 philou

Stefan Böschen Prof. Dr. phil. Stefan Böschen ist Lehrstuhlinhaber des Lehr- und Forschungsgebiets „Technik und Gesellschaft“ am HumTec der RWTH Aachen Das Programm der innerweltlichen Deutung von Zukünften hat seinen Ausgangspunkt in der frühen Neuzeit. Man kann hier an die frühen Handelsbeziehungen der Seefahrer den ken. Dies war ein hoch riskantes Geschäft. Der Begriff des Risikos ist tatsächlich zu diesem Zeitpunkt geprägt worden. Wenn ein Schiff verloren gegangen ist, war das ein sehr großer Schaden. Somit wurde bereits bei der Planung von Reisen berücksichtigt, dass dieser Schaden – dieses unge wünschte Ereignis – eintreten kann. Interessant ist, dass die Seefernhandelsunternehmer sich untereinander versicherten: Da alle gleichsam unter diesem Problem litten, versicherten sie sich wechselseitig als Gemeinschaft. Mathematischer Ausdruck des Mechanismus wechselseitig kollektiver Versicherung ist die so genannte Versicherungs formel: Risiko = Schadenshöhe × Eintrittswahrscheinlich keit. Das Interessante am Konzept des Risikos ist, dass es erstens ein Konzept der Kalkulation möglicher künftiger unerwünschter Ereignisse ist und dass es zugleich die Zu kunft, die ja prinzipiell unvorhersehbar – also einen offenen Horizont – darstellt, durch ein rationales Verfahren zu bin den versucht. Zukunft wird kalkulierbar. Das Risikokonzept ist daher ein Kalkulationskonzept: Durch Lernen, durch Rationalität, durch entsprechendes Wissen wird die Zukunft zu einer Entscheidungsgegenwart. Wie Frau Seefried sehr schön verdeutlicht hat, gab es in den 1960er/1970er Jah ren einen Wandel, weil man erkannte, dass es Grenzen der Kalkulierbarkeit gibt. Soziale Systeme sind rückgekoppelt offene Systeme, sodass wenn eine Prognose geäußert wird, die Akteur_innen darauf reagieren können. Das Phänomen wird von Robert K. Merton unter den Stichworten der Selffulfilling und Self-destroying prophecy beschrieben: Es wer den „Prophezeiungen“ gemacht und diese können durch das Handeln der Akteur_innen entweder zerstört werden, also in dem Sinne, dass das erwartete Ereignis nicht eintritt; oder es tritt gerade deswegen ein, weil man es erwartet. Soziale Systeme sind nicht wie physikalische Systeme, die in vielen Fällen als geschlossene beschrieben werden können, sondern sie reagieren auf das, was erörtert wird. Ein Diskursereignis kann eben dann sehr wohl zu „realen Ereignissen“ führen. In den 1970er Jahren hat es wiederum einen aufschluss reichen Wechsel gegeben, nämlich von Risiko zu Nicht wissen. Zu diesem Wandel kam es, als man sich fragte, ob aus vergangenen Risikoerfahrungen, die oftmals schon vorhergesehen wurden, nicht eine andere Form der Risi kopolitik abgeleitet werden müsse. Eine wichtige Studie kam von der European Environmental Agency und lautete „Late lessons from early warnings“. So wie bei Wahrschein lichkeitsrechnungen viele Ereignisse benötigt werden, um sinnvoll Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, werden für eine präzise Risikoberechnung viele Risikoerfahrungen benötigt.

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Kreativ

YVONNE SCHNEIDER LITERATUR- UND SPRACHWISSENSCHAFTT.MORUS:

UTOPIA, 1516 Im Jahr 1516 erscheint „De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia“ von Thomas Morus (deutsche Übersetzung 1524); Morus knüpft an Platons „Politea“ an. Sein Werk bildet ein staatsphilosophisches sowie literarisches Modell, das zum Prototyp der Utopie als Gattung wird. In seinem Werk geht es um den Bericht eines Reisenden, der von der Gesellschaft auf der fernen Insel Utopia erzählt. Die Utopier leben nach ihren eigenen Gesetzen – Privateigentum gibt es nicht und jeder bekommt nur so viele materielle Güter, wie er zum Leben auch wirklich braucht.

S. MERCIER: L’AN 2440, 1771 F. BACON: NOVA ATLANTIS, 1627 H. J. C. V. GRIMMELSHAUSEN: DER ABENTHEURLICHE SIMPLICISSIMUS TEUTSCH, 1668 J. SWIFT: [GULLIVER’S] TRAVELS INTO SEVERAL REMOTE NATIONS OF THE WORLD, 1726 J. G. SCHNABEL: WUNDERLICHE FATA EINIGER SEEFAHRER, 1731–1743 F. AMERSIN: DAS LAND DER FREIHEIT, 1874 T. HERZL: ALTNEULAND, 1902 JAHR 1516 17. UND JAHRHUNDERT18. 19.JAHRHUNDERT Friedrich, H. E. (2003): Utopie. In: Reallexikon der deutschen dochDu739–743.geschichte,NeubearbeitungLiteraturwissenschaft.desReallexi-konsderdeutschenLiteratur-3.Bd.,3.Auflage.Berlin/NewYork:deGruyter.S.willstdenArtikelinvol-lerLängelesen?Dannschauaufunserer philou. Website nach: philou.rwth-aachen.de 36

Politische Tendenzen dominieren den Utopiediskurs des 19. Jahrhunderts, der auf die Industrialisierung und die daraus entstehenden gesellschaftstransformierenden Folgen und negati ven Begleiterscheinungen wie Klassenauseinandersetzungen und Verelendung vieler Menschen reagiert. Die Nähe von Utopie und Kolonie wird prägend für die Fortschrittsutopie; zeitlich parallel zu den Fortschrittsutopien entsteht der Zukunftsroman, der zwar Elemente der Utopie aufgreift und Zukunftswelten entwirft, sich jedoch weniger sozialphilosophischen Fragen verpflichtet.

UTOPIE UND DYSTOPIE

Im 17. und 18. Jahrhundert entstehen eine Reihe von Texten, die in der Tradition von Thomas Morus stehen, und weitere Werke, die utopische Modelle thematisieren. Ab dem 18. Jahrhundert wandelt sich die Utopie vom geschlossenen System auf einer Insel (Raumutopie) zur Zeitutopie (L. S. Mercier in „L’An 2440“). Das statische utopische System zergliedert sich in eine Abfolge einzelner Fortschritte; das Ideal steht an ihrem Ende. Es tritt eine Entfaltung der Naturzustands-Utopien (nach Rousseau) ein. Daraus ergibt sich eine Politisierung des Utopischen: Es stellt sich die Frage nach der Möglichkeit ihrer Realisierung.

Geschichte einer Gattung

Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts entstehen weitere Ro mane, in denen Elemente des technischen Zukunftsromans mit Utopie-Reflexionen verbunden werden. Nach 1945 werden wieder positive Utopien entworfen, die Antworten auf die neuen Problemfelder der Ökologie und Konsumgesellschaft geben. In den 1970er und 1980er Jahren entsteht durch die Einflüsse der Emanzipationsbewegungen die feministische Utopie. Diese Ro mane kommen aus dem Traditionszusammenhang der ScienceFiction und beziehen sich auf die Konzepte der feministischen Theoriebildung.

philou .

Der Umschlag der Utopie in ihr Gegenteil wird als Anti- Utopie, Dystopie oder negative bzw. schwarze Utopie bezeichnet. Zukunft vorstellen Um die Wende zum 20. Jahrhundert kommt die positive Utopie vorläufig zum Ende. H. G. Wells verbindet die beiden Gattungen der Utopie und des Zukunftsromans miteinander und thema tisiert die Konsequenzen aus der biologischen Veränderbarkeit des Menschen. Es kommt zu einer Veränderung der Tradition: Das positive Ideal der Utopie erscheint nun als totalitäre und feindliche Ordnung. Die negative Utopie oder Dystopie rückt das dem totalitären Übergriff ausgesetzte Individuum in den Vordergrund.

Utopie „Narrative Entfaltung eines idealen funktionierenden Gesellschaftsmodells; im weiteren Sinn auf Wirklichkeitsveränderung zum Idealzustand zielendes Denken.“ (Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft)

Zum Begriff Utopie: Im Jahr 1516 gebildeter Neologismus, der auf Thomas Morus zurückgeht. Die Utopie bezeichnet zunächst das literarische Werk von Thomas Morus und das von ihm entworfene Gemeinwesen. Zusammensetzung von griech. οΰ [ou] „nicht“ und τόπος [topos] „Ort“, also wörtlich ein „Nicht-Ort“. Im Deutschen erscheint das Wort erstmals 1524 (Morus-Übersetzung durch C. Cantiuncula).

M. HOUELLEBECQ: LA POSSIBILITÉ D‘ UNE ÎLE, 2005 F. SCHÄTZING: LIMIT, 2009 S. COLLINS: THE HUNGER GAMES, 2008–2010 T. V. HARBOU: METROPOLIS, 1926 F. WERFEL: STERN DER UNGEBORENEN, POSTUM 1946 F. SKINNER: WALDEN TWO, 1948 E. CALLENBACH: ECOTOPIA, 1975 K. LEGUIN: THE DISPOSSESSED, 1974 J. RUSS: THE FEMALE MAN, 1975 H. G. WELLS: THE TIME MACHINE, 1895 A. HUXLEY: BRAVE NEW WORLD, 1932 G. ORWELL: 1984, 1948 MITTE DES 20. JAHRHUNDERTS 37

21.20.JAHRHUNDERTJAHRHUNDERT

Utopien und Dystopien sind auch in der Welt des 21. Jahrhunderts ein fort bestehendes Thema in der Populärliteratur sowie in Film und Fernsehen. „La possibilité d’une île“ („Die Möglichkeit einer Insel“) ist ein Science-FictionRoman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq aus dem Jahr 2005 – der Wunsch nach einem Leben als Insulaner in einer idealen Gesellschaft gleicht dem Urgedanken der Utopie in Thomas Morus‘ „Utopia“. Der USamerikanische Schriftsteller Philip K. Dick lieferte mit seinem Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ die Vorlage für die berühmte Filmreihe „Blade Runner“. Die dystopische Welt in der Romanreihe „The Hunger Games“ (2008–2010), geschrieben von der US-amerikanischen Schriftstellerin Suzanne Collins, ist ebenfalls weltweit erfolgreich. Düstere Zukunftsvisionen und Vorstellungen idealer Welten werden also vermutlich immer eine Rolle in der Literatur spielenw und die Suche nach „Nicht-Orten“ wird wohl niemals enden.

TO BOLDLY GO WHERE NO MAN HAS GONE BEFORE 38

THOMAS THEOLOGIESOJER(GRAZ)

„Star Trek“ zählt zu den erfolgreichsten Franchises der Sci ence-Fiction. Zusammen mit dem jüngeren Erzrivalen „Star Wars“ beweist es mediale Langlebigkeit: eine Eigenschaft, die in der aktuellen Fließbandproduktion von TV-Serien selten geworden ist. Jedoch zeigt sich die Erfolgsgeschichte erst im Rückblick über mehrere Jahrzehnte hinweg: Tatsäch lich befand sich das Franchise regelmäßig vor dem Aus. Sein erstes jähes Ende drohte dem Franchise als es noch nicht einmal angelaufen war (vgl. Geraghty 2007: 2): Nach ambi valenten Jahren der ständigen Neukonzipierung verbunden mit Finanzierungsengpässen schaffte es Star Trek schließ lich 1966 ins Hauptabendprogramm des amerikanischen Senders NBC. An diesem Abend sprach William Shatner erstmals in der Rolle des Captain James T. Kirk die legendär gewordenen Worte: Space: the final frontier. These are the voyages of the star ship Enterprise. Its five-year mission: to explore strange new worlds. To seek out new life and new civilizations. To boldly go where no man has gone before! (Geraghty 2007: 40) 60 Minuten lang düste das „Raumschiff Enterprise“ wö chentlich im Zickzack über die neuen Farbbildschirme, die eine ferne Zukunft technischer Selbstbestimmung greifbar machten. Kirk, Mr. Spock und der zynische Schiffsarzt Pille adressierten in knallig bunten Uniformen ein Publikum, für das der Zukunftsoptimismus der Nachkriegszeit wieder holt zerbrechlich und illusorisch geworden war: Drohender Atomkrieg und Kubakrise (1962), Kennedyattentat (1963) und die mit Gewalt unterdrückte Bürgerrechtsbewegung (1965) sind nur einige Schlaglichter einer prekären Zeit mit düsteren Zukunftsprognosen. Gene Roddenberry (1921–1991), der Gründer von Star Trek, wollte demgegenüber ein immersives Stimmungsbild einer positiven Zukunft erschaffen und nutzte dazu als Schablone die große Unbe kannte des Alls. Nicht zufällig orientierte sich Roddenberry in seiner Kon zeption an der erfolgreichen Western-Serie „Wagon Trains“, die von den Abenteuern eines Zugs zwischen Missouri und Kalifornien im Nachbürgerkriegsamerika handelt. Im Be zwingen der fremden Welten mit Gastauftritten prominenter Persönlichkeiten inszenierte die US-Kultserie im Wilden Westen jene Ideale, auf denen das Narrativ des „American Dream“ in den 1960ern aufbaute. Roddenberry verlegte die ses mit dem Nachkriegs-Amerika der 1960er als in Erfüllung gegangen geglaubtes Stimmungsbild drei Jahrhunderte in die Zukunft (vgl. Pilkington 2010: 80). Damit installierte er auf den heimischen Farbbildschirmen eine emotionale Verschränkung zwischen dem kulturellen Gedächtnis der USA und einer unbekannten Welt mit neuen Möglichkeiten. Das erlaubte ihm, im extravaganten Design der Zukunft die amerikanische Vergangenheit der ersten Siedler positiv verstärkt und technisch verklärt im Weltraumunternehmen der U.S.S. Enterprise wiederzufinden (vgl. Reeves-Stevens 1995). Gleichzeitig verliehen der rasante technische Fort schritt und die ersten bemannten Raumflüge ab 1961 seinem futuristischen Blick ins All den Beigeschmack einer unmit telbar bevorstehenden Wirklichkeit. Damit lockte Star Trek seine Fans mit einem suggestiven Realismus, der trotz bzw. aufgrund seiner Phantasmen die Grenze zur Lebenswelt der Zuschauer_innen zu überschreiten versprach.

Nach nur drei Staffeln wurde die Produktion der Serie 1969 trotz Proteste einer kleinen Fangemeinde eingestellt, lan cierte aber in den Folgejahren international, nicht zuletzt

Artikel

vorstellen 39 philou .

Die Inszenierung dominanter wie auch alternativer Ge schichtsnarrative, Wertvorstellungen und kultureller IdentifikationeninaußerirdischenGewändernversuchte das ‚nächste Fremde‘ der Menschheit in ihrer eigenen Zukunft zu entdecken und die ame rikanische Weltsicht kritisch zu hinterfragen. Dabei be mühte das Franchise durchaus komplexe Ambiguitäten und Ambivalenzen: Beispielsweise stand den Klingonen, die als Feindbild à la futuristischer Sowjetunion inszeniert wurden, der Russe Pavel Chekov als Teil einer vereinten Menschheit auf der U.S.S. Enterprise gegenüber (vgl. Pilkington 2010: 55). In der Nachfolgeserie „Star Trek The Next Generation“, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gedreht wurde, übernahm der Klingone Worf Chekovs Position und kämpfte als Teil der intergalaktischen Sternenflotte gegen den neuen Feind: die Borg. Inspiriert von Donna Haraways „A Manifesto for Cyborgs“ (1985) konfrontierte sich das bisher technologieoptimistische Star Trek nun mit einem Gegner, der als transhumanistisches Kollektiv von Cyborgs, Selbstbestimmung und Individualität auf eine vollständige Technisierung hin zu assimilieren versuchte (vgl. Dinello 2016: 90). Seit seinen Anfängen sah sich das Franchise in seiner vi suellen Sprache als moralische und gesellschaftspolitische Avantgarde. Das liberale Ethos wurde ikonisch mit detail lierten Ansichten von Raumschiffdesigns und futuristischen Gebrauchsgegenständen untermalt, wie z.B. Tablets mit Touchscreenfunktion 30 Jahre vor dem iPad. Dennoch steht Zukunft

aufgrund der Mondlandung 1969, zur amerikanischen Kultserie der 70er Jahre. Es war dem Kassenschlager Star Wars zu verdanken, dass die Paramount Studios mit Star Trek den Sprung auf die große Leinwand wagten und ein kinematografisches Trial-and-Error Experiment auf Schiene brachten, das mit Stand 2020 bisher 13 Kinofilme und 10 Fernsehserien hervorbrachte. Da sich Star Trek, anders als Star Wars, als unsere vermeint liche Zukunft inszeniert, arbeitet das Franchise bewusst und häufig mit Rezeptionen aus der Kultur- und Ideengeschichte seines Zielpublikums, angefangen mit Referenzen aus der Antike (vgl. Wenskus 2007), Fragen aus der Philosophie geschichte und den Weltreligionen (vgl. Kraemer 2001), der Wirtschaft und den Sozialwissenschaften (vgl. Saadia 2016) sowie politischen Ereignissen und Entwicklungen (vgl. Gonzalez 2015). Star Trek provozierte oft und gerne, zum Beispiel mit dem ersten Kuss zwischen einer schwarzen Frau und einem weißen Mann im Fernsehen. Auch physikalischtechnische Grenzüberschreitungen wie zum Beispiel das Reisen mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit (Warp-Antrieb), der augenblickliche Ortswechsel zwischen großen Entfer nungen (Beamen), oder die unbegrenzte Reproduktion neuer und alter Welten mit Hologrammen (Holodecks) wurden nicht nur Teil der Popkultur, sondern zum Referenzpunkt naturwissenschaftlicher Spekulationen. Paralleluniversen und Zeitreisen entfesselten die Vorstellungskraft und erlaub ten der Serie kulturtechnisch ins Leben der Zuschauer_innen einzugreifen: Zum Beispiel reist die Raumschiffbesatzung ins San Francisco des Jahres 1986 und sucht eine im 23. Jahrhundert schon ausgestorbene Walart oder beamt sich in Talkshows, während die Schauspieler_innen mit ihren Star Trek Rollen zwischen Fakt und Fiktion spielen.

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Dinello, D. (2016): The Borg as Contagious Collectivist Techno-Totalitarian Transhumanists. In: The Ultimate Star Trek and Philosophy. The Search for Socrates. Chichester: Wiley. S. 83–95. Geraghty, L. (2007): Living with Star Trek. American Culture and the Star Trek Universe. New York: I. B. Tauris. Gonzalez, G. (2015): The Politics of Star Trek. Justic, War, and the Future. New York: Palgrave. Haraway, D. (1985): A Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s. In: Socialist Review 80. S. 65–108. Kraemer, R.; Cassidy, W.; Schwartz, S. (2001): Religions of Star Trek. Boulder: Westview Press. Pilkington, A. G. (2010): Star Trek: American Dream, Myth and Reality. In: Star Trek as Myth. Essays on Symbol and Archetype at the Final Frontier. London: McFarland. S. 54–66. Reeves-Stevens J.; Reeves-Stevens. G. (1995): The Art of Star Trek. New York: Simon and Schuster. Saadia, M. (2016): Trekonomics. The Economics of Star Trek. San Francisco: Pipertext. Wenskus, O. (2008): Umwege in die Vergangenheit: Star Trek und die griechisch-römische Antike. Innsbruck: Studienverlag. Wright P. (2009): Film and Television, 1960–1980. In: The Routledge Companion to Science Fiction. New York: Routledge. S. 90–101. Star Trek auch für eine unreflektierte Reproduktion dessen, was es ursprünglich zu überwinden versprach: Nicht selten spielte das Franchise mit rassistischen, sexistischen und ka pitalistischen Untertönen (vgl. Wright 2009: 94). Bezeich nend dafür ist in den Raumschiffen eine Gestaltungspraxis fremder Spezies und deren Modellierung an den dominan ten Körperidealen des neo-liberalen Zielpublikums. In der Außendarstellung der Raumschiffe im Weltraum fällt auf, dass diese sich größtenteils zweidimensional auf einer ein zigen horizontalen Ebene bewegen, während die Mehrzahl kinematografischer Visualisierungen im Science-Fiction gerade damit spielt, dass im schwerelosen Weltraum kein Oben und Unten existiert. All diese reproduzierenden Prak tiken dominanter Menschen- und Weltbilder entlarven „die Sternenreise zu fremden Galaxien, neuem Leben und neuen Zivilisationen“ (Geraghty 2007: 40) als eine konstruierte Absicherung der eigenen Denk- und Wahrnehmungsweise sowie Vormachtstellung im Universum. In „Star Trek Deep Space Nine“ und der jüngeren Serienex plosion neuer Star Trek Serien, unter anderem „Discovery“, „Strange New Worlds“, „Prodigy“, „Lower Decks“ und „Pi card“ wird der traditionelle Zukunftsoptimismus von Star Trek abgelegt und das Franchise zeigt ein düstereres Bild einer Menschheit im Weltraum. Jahrelang eingesperrt auf engstem Raum zwischen Maschinen, ständig dem Tod ausgeliefert und das Gewaltpotential in den Untiefen der eigenen Psyche keineswegs überwunden, zeigt sich die un endliche Weite von ihrer monströsen Seite. Die Verdüste rung veranlasste 2017 Seth MacFarlane (Family Guy) zur Serie „The Orville“, einer Hommage sowie Persiflage auf die StarStar-Trek-Serien.Trekbleibtauch in seinen neuen Formaten der origi nären Kulturtechnik treu: Mit futuristischer Imagination möchte es ein unterhaltsames Diagnoseinstrument für sei ne Zuschauer_innen anbieten, moralische Urteile zu fällen. Das Kultfranchise versucht damit ein paradox-ambivalentes Phantasma unserer alltäglichen Welt zu inszenieren, das Missstände oft eher naturalisiert als diese schonungslos aufzudecken.

Der Aspekt Verpflichtung steht vor einer besonders großen Herausforderung, da hierfür nicht nur rudimentäre Interak tion notwendig ist, sondern auch intentionales Handeln auf beiden Seiten, was mit bisheriger Technologie noch nicht machbar ist. Es gibt bereits Menschen, die eine Beziehung zu (Roboter-) Puppen als eine Substitution für menschliche Beziehungen betrachten (vgl. Gilbert et al. 2018). Was hierfür notwen dig erscheint, ist zunächst ein menschenähnliches Design.

Auch Whitby behauptet, dass sich die derzeitige Technologie lediglich darum bemüht, Liebe zu simulieren (vgl. Whitby 2011: 261). Zusammengefasst beruhen diese Beziehungen bisher auf Einseitigkeit

Artikel Zukunft vorstellen 41 philou .

FUTURE LOVE : AM I IN LOVE WITH MY ROBOT?

Andrews größter Wunsch ist es mit Portia zusammen zu sein und diese heiraten zu dürfen. Allein das Recht hierfür muss Andrew sich hart erkämpfen, denn er ist ein Roboter. Er geht vor Gericht, wo er eindringlich erklärt, dass er Gefühle empfindet und im Herzen ein Mensch sei. So wie einige Menschen durch künstliche Prothesen zum Teil Roboter seien, so sei er eben zum Teil Mensch und verdiene es als solcher anerkannt zu werden, um Portia heiraten zu können. Wie diese Szene aus dem Film „Der 200 Jahre Mann“ von Columbus (1999), greifen auch andere Filme und Bücher ähnliche Visionen auf und zeichnen das Bild einer roman tischen Liebe zwischen Mensch und Roboter nach. 21% der befragten Personen einer Umfrage im Rahmen des Projekts #KI150 aus 2019 können sich schon heute vorstellen, dass Liebe zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz (KI) zu künftig normal sein wird (vgl. Gesellschaft für Informatik 2019). Dass das Thema an Relevanz gewinnt, zeigt auch der seit 2014 jährlich stattfindende „International Congress on Love and Sex with Robots“, bei dem Wissenschaftler_innen kritisch diskutieren, ob realistische Beziehungen zu Robo tern tatsächlich möglich und wünschenswert sind. Liebe sbeziehungen zwischen Mensch und Roboter heute Erstmal jedoch stellt sich die Frage, wie eine Beziehung oder gar Liebe zwischen Mensch und Roboter aussehen kann. Konventionell wird in der Psychologie das Dreiecksmodell von Sternberg herangezogen, um den Begriff der Liebe zu fassen. Dabei spielen drei zentrale Aspekte eine wichtige Rolle: Leidenschaft (körperliche Anziehung, sexuelles Be gehren), Intimität (Gefühl von emotionaler Nähe und Ver bundenheit) und Verpflichtung (die Entscheidung, zusammen sein zu wollen). Abhängig von der Ausprägung dieser drei Faktoren ergeben sich unterschiedliche Beziehungsformen (vgl. Sternberg 1986). Inwiefern können Roboter aktuell diese Ansprüche erfüllen? Für Leidenschaft und Intimität seitens des Menschen spielt Technologie noch keine große Rolle. Jack beispielsweise ist eine reale Person, lebt mit seiner Puppe Maya zusammen und betrachtet dies als eine roman tische Beziehung: „I said I think I’m in love with her because I miss her while I’m at work, and always look forward to coming home to her after a long day.” (Knafo 2015: 486f.).

Das Unternehmen „Real Dolls“ widmet sich der Aufgabe möglichst menschenähnliche Sexroboter anzubieten, die mit den Menschen interagieren können. Diese Interaktionen beruhen aber noch zu einem großen Teil auf Zuschreibun gen und Illusionen, wie die Psychologin Knafo in einem Interview hervorhebt: They live in this in-between place between fantasy and reality – the reality that the dolls are objects, and the fantasy that they are women who care about them and have personalities and have histories. (Flynn 2018)

NURAL JANHO & DENNISSOZIOLOGIEKREMIEC

Attribute, die ein Roboter demnach für eine Mensch-Ro boter-Beziehung besitzen muss, umfassen die Fähigkeiten intentional zu handeln, Emotionen zu empfinden, und beziehungsorientierte Verpflichtungen einzugehen (vgl. ebd.: 227ff.). Diese Attribute könnten zukünftig durch die Weiterentwicklung von KI realisiert werden. Mit der Zeit werden Roboter so programmiert, dass sie Menschen ver stehen, sich unterhalten und Beziehungen aufbauen können. Die Roboter werden sich so entwickeln, dass sie emotional und kognitiv intelligent sind und Gedanken und Gefühle kommunizieren und erwidern können (vgl. Edirisinghe/ Cheo 2017: 139). Dadurch entsteht die Möglichkeit, eine Mensch-Roboter-Beziehung zu entwickeln, die nicht auf Befehlen und Handlungen, sondern auf emotionalen Bin dungen beruht, da beide Parteien Emotionen teilen und erleben (vgl. Edirisinghe/Cheo 2017: 138). Außerdem wird bereits dahingehend geforscht, Roboter mit einem kom plexen Hormonsystem auszustatten, welches dazu dient, S timmungslagen von Menschen beispielsweise anhand von Mimik zu analysieren und daraus eigene Gefühlsla gen herstellen und wiedergeben zu können (vgl. Lovotics 2020). In zwischenmenschlichen Beziehungen werden viele Informationen nonverbal über Mimik und Gestik vermit telt. Über das Design können Roboter auch diese Dinge 42

Liebe sbeziehungen zwischen Mensch und Roboter morgen Fortschreitende Technologien können aber diese Grenze zwischen Illusionen, Zuschreibungen und Realität schritt weise verschieben und die Entwicklung von Puppen zu beziehungsfähigen Robotern ermöglichen. Der wissen schaftliche Diskurs unternimmt bereits Versuche diese Entwicklungen zu erfassen und kritisch zu hinterfragen. Es liegen diverse Meinungen vor, inwiefern eine Liebesbezie hung zwischen Mensch und Roboter möglich ist. Autoren wie Levy (2007) sind optimistisch eingestellt, es gibt aber auch Gegenstimmen, die die Herausforderungen an KI als zu hoch einschätzen, als dass in Zukunft eine wirkliche Lie besbeziehung zu Robotern überhaupt denkbar wäre. Diesen Meinungen liegen allerdings unterschiedliche Definitionen und Prämissen zugrunde. Nyholm und Frank (2017) unternehmen den Versuch, Liebe und Beziehungen aus mehreren Perspektiven her aus zu definieren und erstellen eine „Jobbeschreibung“ für beziehungsfähige Roboter (vgl. Nyholm/Frank 2017: 226f.).

Gesellschaft für Informatik (2019): Allensbach-Umfrage im Auftrag der Gesellschaft für Informatik e.V. #KI150. Online verfügbar unter: 28.06.2020].schen-menschen-und-maschinen/dezember-2019/liebesbeziehungen-zwi-jahr.de/2019/neues-aus-der-wissenschaft/https://www.wissenschafts-[Zugriff: Gilbert, M. (2018): Silicone Soul. Online verfügbar unter: https://www.siliconesoulmovie.com/ [Zugriff: 28.06.2020]. Knafo, D. (2015): Guys and Dolls: Relational Life in the Technological Era. In: Psychoanalytic Dialogues, The International Journal of Relational Perspectives 25(4). S. 481–502. Levy, D. (2007): Love and Sex with Robots: The Evolution of Human-Robot Relationships. Harper Perennial: New York. Nyholm, S.; Frank, L. (2017): From Sex Robots to Love Robots: Is Mutual Love with a Robot Possible? In: Danaher, J.; McArthur, N. (Hg.): Robot Sex: Social Implications and Ethical. Cambridge, MA: MIT Press (forthcoming). S. 219–242. Samani, H. (2020): Lovotics. Online verfügbar unter: http://www.lovotics.com/ [Zugriff: 26.06.2020]. Sternberg, R. (1986): Triangular theory of love. In: Psychological Review, 93(2). S. 119–135. Whitby, B. (2011): Do You Want a Robot Lover? In: Lin, P., Keith, A., Bekey, G.A. (Hg.): The Ethics of Caring Technologies. Robot Ethics: The Ethical and Social Implications of Robotics. Cambridge, MA: MIT Press. S. 233. Zukunft vorstellen simulieren, indem menschenähnliche Mimik und Gestik nachgeahmt werden. Das Design dient somit als eine Art Interface, wodurch es dem Roboter möglich wird, besser mit dem Menschen zu kommunizieren.

43 philou .

Betrachten wir die hier genannten Anforderungen an eine Liebesbeziehung, scheint es, als wären Roboter in der Lage diesen potenziell gerecht zu werden. KI, komplexe Hormon systeme und ein interaktives menschenähnliches Design ma chen diese realisierbar. Aus zuvor einseitigen Beziehungen werden zunehmend wechselseitige Beziehungen. Es ist schwierig Prognosen darüber zu stellen, ob und wie eine Beziehung zwischen Mensch und Roboter zukünftig gestaltet wird. Festzuhalten bleibt, dass bereits heute Ansät ze verfolgt werden, um solche Beziehungen realisierbar zu machen und dass KI uns mit Herausforderungen konfron tiert, die einen interdisziplinären Diskurs erfordern. Sowohl Liebesbeziehungen als auch Robotik bilden ein komplexes Geflecht, das unser Verständnis von Liebe und Beziehung in einen neuen Aushandlungsprozess stellt. Einige Fragen sind dabei in ferner Zukunft zu adressieren: Wie könnte die Reproduktion von Mensch und Roboter aussehen? Könnten Roboter ihr Wissen als eine Form von Erbgut an den eigenen Nachwuchs weitergeben? Wollen und können wir Gleichbe rechtigung in einer Mensch-Roboter-Beziehung umsetzen? Wie verhindern wir sexuelle Übergriffe an Robotern? Sollen Robotern soziale Geschlechterrollen und biologische Merk male künstlich eingeschrieben werden? Es ist unabdingbar, dass parallel zum technischen Fortschritt ethische, rechtliche und soziale Implikationen behandelt werden, damit Herausforderungen vorzeitig identifiziert und bearbeitet werden können.

Columbus, C. (1999): Der 200 Jahre Mann. Edirisinghe, C.; Cheok, A. D. (2017): Robots and Intimacies: A Preliminary Study of Perceptions, and Intimacies with Robots. In: Cheok A., Devlin K., Levy D. (Hg.): Love and Sex with Robots. LSR 2016. Lecture Notes in Computer Science. Springer. Flynn, S. (2018): The men in love with $7,000 sex dolls: Subculture of ‚iDollators‘ who marry and develop romances with inanimate partners after swearing off ‚flesh and blood‘ woman. In: Dailymail, 09.11.2018. Online verfügbar unter: [Zugriff:vealed-new-documentary-Silicone-Soul.htmlMen-love-sex-dolls-Subculture-iDollators-re-www.dailymail.co.uk/news/article-6372217/https://27.06.2020].

Das Denken übernehmen Computer in unserer Gesellschaft schon seit langer Zeit. Die Zukunft könnte ihnen jedoch eine Aufgabe in die Hände legen, die bisher nur dem Men schen vorbehalten war: das Kreativsein. Neben intelligenten Suchmaschinen und medizinischen Diagnosetools sind das neueste Spielzeug der KI-Branche nämlich Systeme, die Musik, Kunst und Lyrik erschaffen. Oder erzeugen? Können Maschinen überhaupt kreativ sein? Und noch viel wichtiger: Dürfen sie es? Kreativ zu sein, das bedeutet, etwas noch nie Dagewesenes zu erschaffen – in der Kunst genauso wie in der Wissenschaft. Um einen Algorithmus zu bauen, der dazu fähig ist, muss zunächst einmal der zugrundeliegende Prozess verstanden werden. Der Mathematiker und Philosoph Henri Poincaré (1854–1912) formulierte seine Ansicht folgendermaßen: „To create consists of making new combinations of associative elements which are useful.“ Der Unterschied zwischen Ori ginalität und Kreativität ist demnach der Nutzen, den eine Kreation besitzt (vgl. Mednick 1962: 220f.). Dieser Nutzen kann in der Ästhetik des Objektes liegen, zum Beispiel bei einem Kunstwerk. Er kann sich auch daraus ergeben, dass wir das Objekt interessant finden, beispielsweise im Hinblick auf neue Erkenntnisse. Um solche Eigenschaften in einem Computerprogramm zu verwenden, benötigen wir eine ma thematisch korrekte Formulierung für sie. Eine Möglichkeit dafür bietet die „Formale Theorie der Kreativität“, die auf den 1963 geborenen deutschen Professor der Informatik Jürgen Schmidhuber zurückgeht (vgl. Schmidhuber 2012: 1). Seiner Theorie zufolge empfinden wir etwas als ästhetisch oder interessant, wenn es Daten auf eine für uns neuartige Weise darstellt. Wenn ein Kunstwerk eine bisher unbekann te Verbindung in unserem Weltmodell erschafft, wie zum Beispiel ein kubistisches Gemälde die Wirklichkeit mit geo metrischen Formen verknüpft, dann haben wir an diesem Kunstwerk Freude, da wir etwas gelernt haben. Wenn ein Gesicht Symmetrien aufweist, gibt es darin wiederkehrende Muster, die das Abspeichern der Bilddaten im Gehirn er leichtern – also finden wir es ästhetisch. Schönheit bedeutet in diesem Zusammenhang also Eleganz und Simplizität, nicht auf der visuellen Ebene, sondern auf der informativen: Die Freude, man könnte auch sagen intrinsische Belohnung, die wir beim Anblick eines Kunstwerkes verspüren, ist also direkt mit dem Lernprozess verbunden, den das Werk in uns auslöst. Die grundlegende Idee der Formalen Theorie der Kreativität liegt nun darin, dass der Künstler durch sein Schaffen diese intrinsische Belohnung, modelliert durch eine mathematische Funktion, maximieren möchte. Sie hängt di rekt von seinem Fortschritt in der Datenverarbeitung ab – je kompakter er Informationen im Vergleich zur Vergangenheit speichern kann oder je besser sein Modell der Wirklichkeit wird, desto größer die Belohnung. Diese Theorie ist mathematisch genug, um sie in Formeln darzustellen: r(t) bezeichnet die Belohnungsfunktion zum Zeitpunkt t. Der Agent versucht nun zu jedem Zeitpunkt j mit seiner Handlung die erwartete Summe aller zukünf tigen r(t), also für alle t > j, zu maximieren. Das Modell konkretisiert die Berechnung dieses Wertes anhand von statistischen Methoden und einer individuell wählbaren Be lohnungsfunktion (zum Beispiel bei digitalen Kunstwerken eingesparte Bits an Speicherplatz).

Artikel

PAULA MATHEMATIKWELLER(HELSINKI)

KÜNSTLICHE

KUNST

Mithilfe einer Methode aus der Künstlichen Intelligenz, dem Reinforcement Learning, kann nun statt einem Men schen auch ein Computer diesen Wert für sich maximieren. Dazu benötigt er lediglich vier Komponenten: Ein Weltmo

The value of an aesthetic experience is not defined by the created or observed object per se, but by the algo rithmic compression progress (or prediction progress) of the subjective, learning observer. (Schmidhuber 2012: 4) 44

Schmidhubers Algorithmus ist ein vergleichsweise simpler Ansatz zum künstlichen Erzeugen von Kreativität. Andere Methoden sind sogar so aufgebaut, dass nicht einmal der Konstrukteur weiß, was im Inneren seines Modelles vor geht (vgl. Miller 2020: 247). Diese sogenannten Generative Adversarial Networks (GAN) haben noch viel raffiniertere Werke hervorgebracht als Schmidhubers Methode. Trotz dem wird auch bei ihrem Betrachten offensichtlich, dass Algorithmen in dieser Hinsicht allenfalls ein Werkzeug für den Menschen sind – oft müssen die ausgegebenen Bil der sorgfältig selektiert werden, um brauchbare Werke zu erhalten. Schmidhuber argumentiert an der Stelle jedoch, dass dieser Unterschied zwischen Mensch und Maschine nicht qualitativ bedingt ist, sondern vielmehr quantitativ: Das menschliche Gehirn besitzt aktuell trotz des rasenden

dell, das anpassbar ist und seinen aktuellen Wissensstand widerspiegelt. Einen Lernalgorithmus, der laufend neue Informationen erkennt und das Weltmodell anpasst. Eine intrinsische Belohnungsfunktion, die die Verbesserungen des Weltmodells misst. Und zuletzt den Reinforcement Learner, einen Optimierungsalgorithmus, der anhand der Belohnungsfunktion entscheidet, welche Handlungen die Belohnung in der Zukunft maximieren. (vgl. Schmidhuber 2012: Schmidhuber8) zeigt an mehreren Beispielen, dass mit die sen Zutaten auch ein Programm zum kreativen Agenten werden kann – wenn auch zugegebenermaßen nach einem langen, oft frustrierenden Prozess (Schmidhuber 2012: 11). Wer das Ergebnis betrachtet, könnte einerseits überrascht sein, denn tatsächlich kann das Werk des Algorithmus als ästhetisch und kreativ bezeichnet werden, und andererseits enttäuscht: Was für den Algorithmus mit seinem einge schränkten Wissen neu und interessant erscheinen mag, ist für einen Menschen mit einem weitaus umfassenderen Weltbild eventuell reizlos.

Zukunft vorstellen 45 philou .

46

Christie’s (2018): Is artificial intelligence set to become art’s next medium? In: www. christies.com, 12.12.2018. Online verfügbar unter: 02.07.2020].man-one-a-machine-9332-1.aspxA-collaboration-between-two-artists-one-hu-https://www.christies.com/features/[Zugriff: Levy, S. (2015): Inside Deep Dreams: How Google Made Its Computers Go Crazy. In: www.wired.com, 12.11.2015. Online verfügbar unter: griff:google-made-its-computers-go-crazy/com/2015/12/inside-deep-dreams-how-https://www.wired.[Zu-03.07.2020]. Mednick, S. A. (1962): The Associative Basis of the Creative Process. In: Psychological review, 69(3). S. 220–232. Miller, A. (2020): Can AI Be Truly Creative? In: American Scientist, 108(4). S. 244. Schmidhuber, J. (2012): A Formal Theory of Creativity to Model the Creation of Art. In: Computers and Creativity. MIT Press. S. 323. technischen Fortschritts noch erheblich mehr Speicherund Rechenkapazitäten als jeder Computer, es kann auf jahrzehntelanges Training zurückgreifen und bedient sich kognitiver Lernprozesse, die sich über Jahrtausende hinweg optimiert haben (vgl. Schmidhuber 2012: 9f.).

Dementsprechend ist es gut möglich, dass mit fortschreiten den technischen Möglichkeiten ein Computer eines Tages genauso kreativ sein kann wie ein Mensch. Computergra fik-Spezialist Karl Stiefvater sieht in der Modellierung der menschlichen Kreativität ohnehin nur ein mathematisches Problem: „I like artistic creativity, [but] I am not of the belief that [that creation] is supernatural. It’s a mechanism – a cogwork.” (Levy 2015) Tatsächlich ist es bereits heute so, dass wir nicht immer zwischen menschlicher und maschi neller Kunst unterscheiden können: In einem Blindversuch zogen menschliche Tester sogar die Bilder der Künstlichen Intelligenz AICAN den menschengemachten der Baseler Kunstmesse 2016 vor (vgl. Miller 2020: 248). In jedem Fall wird deutlich, dass ein Algorithmus prinzipiell dazu fähig ist, neue, kreative Inhalte hervorzubringen. Das zeigt sich zusätzlich durch das zunehmende Erscheinen von KI-Bildern auf dem Kunstmarkt: Im Jahr 2018 versteigerte das Auktionshaus Christie’s das KI-Gemälde „Edmond de Belamy“ für 432.500 US-Dollar. Jenes Gemälde ist mit der algebraischen Formel signiert, deren Wert für seine Ent stehung optimiert wurde – ein klares Signal, wer hier als Künstler gewürdigt werden soll. Richard Lloyd, der den Verkauf organisierte, äußerte sich dazu mit den Worten: „It may not have been painted by a man with a powdered wig, but it is exactly the kind of artwork we have been selling for 250 years.” (Christie’s 2018). Das legt die Frage nahe, was uns in den nächsten 250 Jahren erwartet. Dass die Künstliche Intelligenz die Berufsgruppe der Künstler ersetzen wird, gilt inzwischen als unwahrschein lich (vgl. Christie’s 2018): Die Kunst, die von KIs stammt, kann zwar ästhetischen oder informativen Standards genü gen und sogar Gefühle in uns hervorrufen. Sie ist jedoch kein Medium und kann nicht der zwischenmenschlichen Kommunikation von Eindrücken dienen, wie es manche menschliche Kunstwerke tun. Wie Schmidhuber bereits selbst erkannt hat, lauert eine Gefahr an ganz anderer Stelle: „Some say one should not try to nail them down formally“, räumt er über die Begriffe Schönheit und ästhetische Freude ein. Der Versuch, etwas so Vielfältiges und Freies wie Kreativität einzufangen in einem Käfig der Mathematik und Rationalität ist genauso verlockend und gleichzeitig verhängnisvoll, wie einen Blick auf das Christkind erhaschen zu wollen. Jede Theorie über Kreativität, die mehr sein will als nur eine Ergänzung des Begriffes, droht, den Zauber zu zerstören. Denn am inte ressantesten ist und bleibt auch in Zukunft das, was eben nicht erklärt werden kann.

Oben fließt ein schwarzes Königreich der Möglichkeiten, wo du wohl bist? Der du in denselben Himmel siehst wie ich? Wo du wohl lächelst und wer wohl versucht es zu begreifen, deinen Mut zu lächeln, obwohles dein Leid versiegeln könnte.

Der Himmel seufzt rot. Du und ich, wir sind wehmütige Menschen, mutig zu leiden, also stehst du auf, die lechzende Parkbank unterbricht unsere Stille. Meine Seele empört sich – was kann ich tun? Du harrst aus, willst mir Zeit schenken, doch meine Zunge lahm, überlässt Furcht den Sieg, und ein Augenblick später, als deine Beine dir wieder gehorchen, gehst du.

Der Himmel wacht auf, eine goldene Sicht. Du schläfst? Ich nicht. Ich sitze wach auf meinem Vordach, ein Irrsinn hat sich in mein Herz eingefangen, quält rasend die Nacht.

Der Himmel strahlt unverschämt hellblau, keine Wolke wagt zu existieren. Du setzt dich neben mich auf die Parkbank, lehnst dich an, als würde es nichts bedeuten. Ein leises Lächeln sieht mich nicht an, hältststattdessen,dudeinen Ellenbogen hoch, wenn du aus deiner Tasse trinkst, dein Arm sehnt sich schließlich, nach nichts auf der Welt so sehr wie nach mir. Dein Duft kommt von weit her, aus dem stürmischen Meer, aus seltsamen Ländern, vermischt sich mit Kaffeeluft, verdreht meinen Magen, verbietet meinen Atem.

Nämlich dies: Du denkst an mich und schläfst auch nicht.

Der Himmel verliert sich in Dunkelheit. Ich blicke hinauf und bemerke: Es war vorgestern, da hat es zum ersten Mal nach Sommer gerochen.

KAFFEE AM HAFEN

Erlösung wird kommen: ein Himmel glänzt pink! Ein müder Mittag und Tagträumerein, ein seltsamer Hafen und wartend auf mich, gütiges, furchtloses Kaffeelicht.

Zukunft vorstellen ANUSCHA NACHHALTIGEZEIGHAMIROHSTOFF- UND ENERGIEVERSORGUNG Kreativ 47 philou .

Jede Parkbank der Stadt willst du neben mir entdecken, du möchtest sogar den Herbstduft mit mir schmecken.

„Der beste Weg, die vorauszusagen,Zukunftist,siezugestalten.“ WILLY 1913–1992BRANDT 48

Der von der 1983 gegründeten Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen („Brundtland Kommission“) veröffentlichte Bericht „Our Common Future“ gilt weitläufig als Geburts urkunde des modernen, globalen Nachhaltigkeits diskurses. Unser heutiges Leitbild von nachhaltiger Entwicklung ist geprägt von der im Brundtland Be richt formulierten Definition: „ Sustainable deve lopment meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“

OUR COMMON FUTURE, BRUNDTLAND BERICHT 1987 Die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung wurde beim UNO Nachhaltigkeitsgipfel 2015 ver abschiedet und stellt einen Meilenstein der internati onalen Zusammenarbeit dar. Mit den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) hat sich die Weltgemein schaft erstmals auf einen universalen und alle drei Nachhaltigkeitsdimensionen (Ökologie, Ökonomie und Soziales) einschließenden Katalog von festen Zeitzielen geeinigt.

Partnership (Partnerschaft) – Die für diese Agenda benötigten Mittel durch eine mit neuem Leben erfüllte Globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mobilisieren, die auf einem Geist verstärkter globaler Solidarität gründet und an der sich alle Länder und alle Menschen beteiligen.

Planet – Den Planeten vor Schädigung zu schützen, damit die Erde die Bedürfnisse der heutigen und der kommenden Generationen decken kann.

5 KERNBOTSCHAFTEN 49 philou .

Peace (Frieden) – Friedliche, gerechte und inklusive Gesellschaften fördern, die frei von Furcht und Gewalt sind. Ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben und ohne nachhaltige Entwicklung keinen Frieden.

SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS (SDGS)

Zukunft gestalten

People (Menschen) – Armut und Hunger in allen ihren Formen ein Ende setzen und sicherstellen, dass alle Menschen ihr Potential in Würde und Gleichheit und voll entfalten können.

Prosperity (Wohlstand) – Dafür sorgen, dass alle Menschen ein von Wohlstand geprägtes und erfülltes Leben genießen können und dass sich der wirtschaftliche, soziale und technische Fortschritt in Harmonie mit der Natur vollzieht.

Das bekannteste Akronym der Aachener Region feiert Jubiläum. Die RWTH Aachen wird 150 Jahre alt. Unter dem Motto Lernen.Forschen.Machen blickt die größte deut sche Technische Universität gleichzeitig zurück und richtet den Blick in die Zukunft. Forschung und Lehre sollen als Eckpfeiler der Universität sichtbar, erfahrbar und machbar bleiben und gestaltet werden. „Im Mittelpunkt unseres Han delns steht der Mensch“ ist der erste verpflichtende Wert der Hochschule. Die Zukunft gestalten steht also im Dienste der Menschen. Wissenschaft betreiben, um die Menschheit voran zu bringen. „Nach vorne“ ist die Devise, denn die Zukunft lässt sich nicht aus der Vergangenheit erfinden. Forschung und Fortschritt sind die Macher der Zukunft. Die Rolle der Wissenschaft dabei? Ein intelligenter Heils bringer in kompostierbarer Leichtmetallrüstung mit einem Solar-Schild vielleicht? Oder wird die Zukunft wie in einem Laborexperiment erforscht? Gütekriterien der Messung? Check. Validität? Check. Im Feld aber nicht reproduzierbar, weil die Forschung unter eingeschränkten Rahmenbedin gungen stattfindet. Forschung für den Menschen machen bedeutet den Kontext, in dem sie stattfindet, einzubeziehen. Nicht losgelöst technische Teildisziplinen anzutreiben, zu fördern und auszubauen, während die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stillstehen. Die Tatsache, dass wie derkehrend die gleichen schrillen Töne von Nationalismus, Rassismus und die Instrumentalisierung von Feindbildern aufkeimen, lässt erahnen, dass zumindest ein Teil der Ge schichte von Morgen vertraut ist. Der Teil, der nicht durch Technology Assessment und das Programmieren von inter aktiven Design-Systemen Ressentiments beseitigt, sondern auf Ungleichheitserfahrungen und relativer Deprivation aufbaut. Auf Statusverlust, fehlende Vertrautheit oder Zu gehörigkeit. Die innere Entfremdung zwischen dem was war, dem was ist, und den Dingen, die noch werden spiegelt sich an den Entwicklungstendenzen gesellschaftlichen Lebens. Unvereinbar und doch als Teil der Gesamtentwicklung er scheinen die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der Datenübertragung, während uns soziostrukturelle Probleme der Vergangenheit und Gegenwart weiter begleiten.

Die Uhr ist das epochenübergreifende Symbol für die Syn chronisation der Zeit. Ein „gemeinsamer Nenner“, wenn man so will, eine allgemein verbindliche Orientierungshilfe, die für jeden gleich taktet und niemanden zurücklässt. Er neut ist eine Synchronisierung geboten und gefordert. Eine Aufforderung zur Synchronisation der gesellschaftlichen Entwicklung zwischen Technologien und sozialen Ideen sowie Ängsten, die sich in Ideologien niederlegen. Denn ein Einklang kann nicht gefunden werden, solange Herz und Verstand sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln.

Kreativ

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DIE ASYMMETRIE DER ZUKUNFT

Ein Kommentar

DAVID GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTENALDENHOVEN

Harari konstatiert am Ende seines Buches „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, dass die Zukunft von der Frage „Was wollen wir?“ abhängt. Nicht „Was können wir?“. Ein Plädoyer, die Grenzen des Machbaren nicht technisch, sondern ethisch abzustecken. Aber warum eigentlich? Die Definitionsmacht der Zukunft liegt in den Händen der technischen und medizinischen Forschung. Glauben Sie nicht? Dann geben Sie einmal die Schlagwörter Zukunft und Visionen in Ihre LieblingsSuchmaschine ein. Legen Sie diesen Artikel beiseite und fragen Ihren Nächsten: „Was fällt Ihnen als Erstes bei dem Wort Zukunft ein?“ Autonomes Fahren, Nachhaltigkeit, Blockchain, Immuntherapie, Robotik und Kernfusion. Die Einseitigkeit futuristischer Vorstellungen unterstützt die Forderung nach einer Anpassung sozialen und technischen Fortschritts. Beispiele dafür liefert die Populärkultur. Egal wie entwickelt Technologien in der Science-Fiction Welt sind, soziale Missstände bestehen fort. Die dystopisch anmu tende Serie „Black Mirror“, Hollywoodfilme wie „In-Time“, und Kultromane à la „Brave New World“ halten an sozialen Klassen und der anti-individualistischen und anti-egalitären Wertigkeit des Lebens fest. Alles Beispiele, in denen Gesell schaften sich einseitig technologisch entwickeln, ohne dass inklusiv-soziale Visionen Schritt halten. Die Asymmetrie zwischen Technik und Gesellschaft wandelt die Rolle des Menschen vom Subjekt der Forschung zum Objekt, welches sich seinerseits anpassen muss. Ein Gebiet, auf dem ein Ausgleich zwischen Sozialem und Technologie gesucht wird, ist soziale Innovation – die Grundidee, gesellschaftliche Herausforderungen durch ein offenes Innovationssystem anzugehen. Soziale Innovationen können durch neue Technik hervorgerufen werden (Wandel des Arbeitsmarktes durch Automatisierung), ergänzt werden (politische Partizipation durch Online-Plattformen), aber auch unabhängig von Technologien funktionieren (Eltern zeit). Es sind Ideen, welche die gesellschaftliche Gestaltung der Zukunft kontextbezogen und an die Rahmenbedingun gen an(ge)passt, entwerfen. In dieser Reihe sind sicherlich auch digitale Bildungsangebote und E-Learning zu nennen; zugängliche innovative Inhalte, die Bildungs- und Aufklä rungsarbeit leisten und Ängsten vor Multikulturalität und Statusverlust entgegenwirken.

Zager und Evans’ „In the Year 2525“ zeichnet zu Beginn der Post-Moderne die Dystopie einer Zukunftsprognose, die einer über-technologisierten Lebenspraxis entspringt und mit dem Verlust der Erfahrungsfähigkeit des Men schen einhergeht. Eine Entfremdung zwischen techno logischem Fortschritt und authentischer Menschlichkeit. Einer Menschlichkeit, die nur dann bewahrt wird, wenn Zukunft nicht spaltet, sondern zusammenführt. Das gilt auch für die Forschung und Wissenschaft. Das Zukunfts konzept RWTH 2020: Meeting Global Challenges hat den Anspruch, die großen Forschungsfragen unserer Zeit zu beantworten. Dafür steht der integrative und interdis ziplinäre Ansatz der RWTH, der an Einrichtungen wie dem Human-Technology Center vorgelebt wird. Es bleibt die Aufgabe und Verantwortung der nächsten 150 Jahre RWTH, den Menschen als Mittelpunkt der Forschung und Wissenschaft in alle Forschungsdisziplinen zu integrieren, und die Gesellschaft durch soziale Innovationen mit in die Zukunft zu nehmen. Die Zukunft mag dem digitalen Kos mopoliten in einem digitalen Kapitalismus gehören. Doch auch das dynamischste System wird von Ideen getragen, die nicht losgelöst von Ideologien, Lebensgefühlen und Werten existieren. Eben weil es Menschen sind, die es tragen. Wir denken, die Zukunft ist technisch und digital. Die Zukunft ist aber auch Mensch, und dort stößt sie auf die größte Herausforderung.

Wissenschaft will bewegen, aufklären und beschreibt ihren eigentlichen Zweck selbst: Wissenschaft schafft Wissen. Sie strebt danach, Krankheiten zu heilen, gigantische Da tenmengen zu transportieren und Mensch (und Natur?) zu retten. Sie ist der Weg des Gilgamesch. Sie ist die Suche nach dem ewigen Leben. Sie ist teleologisch und ziellos zugleich. Angetrieben von der Sehnsucht des Menschen, sich als göttliche Rasse über die an Naturgesetze gebun denen Spezies zu erheben und gleichzeitig von Angst vor der Verantwortung(-slosigkeit).

Zukunft gestalten 51 philou .

In edlem Zwirn und langem Kleid Wird nächtelang gelacht und getanzt, voll Eleganz.

Und stehen zwei Sterne am hohen Himmel, die heller leuchten als der Mond, Dann fühlt ein jeder dieses Glück, Das die Tradition uns schenkt, seit nunmehr 400 Jahr, In Vergangenheit wie in Zukunft, denn ja, es ist wahr: Ist Kirmes im Dorf, kommen alle nach Hause zurück.

CHRISTINA KRÜGER SOZIOLOGIE

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Öm de Uest’re jönt sich de Faaste uus, Und der Zauber fängt in der Mainacht an: Die Maijungen ziehen von Haus zu Haus Und singen die unverheirateten Mädchen aus. Ein jeder so schön, wie er es nur kann. Sie singen von der Liebe, wie die Nachtigall einst Und laden die Mädchen zu Spiel und Tanz Mit Familie, Freunden und Fremden, die kommen von nah und weit.

MAIBRAUCHTUMKreativ

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BWL steckt in überall mit drin, in jeder Gründung. Spezifisch finden sich in Konzernen viele repetitive Prozesse, welche standardisiert werden könnten.

JOLANDA MÜLLER (JURA)

Europa ist weltweit abgehängt im Softwarebereich. Spotify zeigt jedoch, dass auch junge Startups zu großer Bekanntheit kommen können. Mehr davon!

Perspektiven

NIELS ROHMERT (BWL) 10 Jahre Studium und Menschlichkeit ersetzen? Noch lange nicht. Aber neue Geschäftsmodelle für Anwälte revolutionieren schon heute die Branche.

Die Gesundheits- und Fitnessbranche boomt. Die Welt braucht drin gend Innovationen im Gesundheits- und Bildungswesen, um die Be dürfnisse der Menschen zu unterstützen, die sich in einem schlechten Gesundheitszustand befinden. Die Regierungen können nicht schnell genug handeln und haben alte Gesetze. Deshalb müssen Entrepreneure große und mutige Innovationen schaffen, die die Menschen tatsächlich erreichen und ihnen helfen, ihr Leben zu verbessern.

MANUEL WESSELY (INFORMATIK)

KASPER VAN DER MEULEN (BIOLOGIE)

AC.E AACHENER ENTREPRENEURSHIP TEAM E.V. Was hat in deinem Fachgebiet das Gründertum für eine Bedeutung in der Zukunft? 54

ZUKUNFT DES GRÜNDERTUMS

BAŞAK ZEYNEP ÖZEN & GERNOT SÜMMERMANN

GERNOT SÜMMERMANN (MASCHINENBAU) Hologramme oder Displays in Kontaktlinsen und damit die Abschaffung von Smartphones.

Zukunft gestalten

Das Stoppen des Klimawandels durch Um wandlung von Kohlenstoffdioxid zu chemi schen Roh- und Treibstoffen.

KEYANOUSH RAZAVIDINANI (ELEKTROTECHNIK)

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PROF. MOOSDORF (MARKETING)

Auf revolutionäre Art und Weise bessere Rahmenbedingungen für junge Gründer schaffen. Damit meine ich zum einen finanzielle und strategische Unterstützung von Leuten mit guten Ideen. Zum anderen aber auch ein Umdenken in der Gesellschaft zum Thema Misserfolg. Ich spreche mit vielen potenziellen Gründern, die aus Angst um ihren Lebenslauf im Falle eines Misserfolgs die Gründung absagen. Man muss auch Dinge, deren Erfolg man nicht durchkalkulieren kann, ausprobieren dürfen, ohne Angst zu haben, zukünftig von Personalern abgestempelt zu werden. Wer nie scheitert, ist wahrscheinlich zu risikoscheu. Das zu begreifen ist – gerade für uns Deutsche – eine mentale Herausforderung.

Start-ups bewegen schon heute die rasante digitale Welt. Mit unserer Initiative AC.E Aachener Entrepreneurship Team e.V. bringen wir Gründer_innen und Studierende in Aachen zusammen. Kommt gerne zu unseren Events, wie unserem Stawmmtisch oder der TechNight, an welcher wir spannende Hardware-Ideen an einem Abend umsetzen. Um zu erfahren, was die Zukunft im Bereich von Gründungen heißen kann, haben wir Gründer_innen, Studierende und Professor_innen nach ihrer Meinung gefragt: Centibots: Eine größere Variante von Nanobots. Jedes Problem der Welt könnte durch atomar winzige Roboter (Nanobots) gelöst werden: Hunger, Armut, Krieg oder Klimawandel.Im Centi-Maßstab können wir bereits jetzt Probleme lösen und so die Zukunft von Morgen bauen.

MADLEN MERKLINGER (CHEMIE)

Was wäre die weltbewegendste Idee , vielleicht sogar eine eigene?

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THEMA: FREIHEIT UND GRENZEN philou . A USGA BE 11 UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN Hast du dir bereits Gedanken über die Zukunft gemacht? Du hast nun die Möglichkeit, dir die Zukunft auszumalen. Reiche uns deine Idee gerne via Mail an info@philou.rwth-aachen.de ein oder verlinke unseren Instagram Account @philou.magazin Zukunft ausmalen 57 philou.

*Alle in dieser Ausgabe veröffentlichten Beiträge wurden bereits im Sommer 2020 verfasst. 58

Texturen: texturefabrik.com & Kiwihug via Unsplash V.i.S.d.P Ann-Kristin StudierendenmagazinWinkens

Impressum philou . Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin an der RWTH Aachen Ausgabe 10, 2021* Auflage: 1.500 Mitwirkende Ausgabe #10 AUSBLICK: AUSGABE 11 FREIHEIT UND GRENZEN Freiheit und Grenzen – so alt dieser Gedanke auch sein mag, er stellt jede menschliche Generation vor neue Herausforderungen.

Philou. e.V. Rehmplatz 7 52070 Aachen Heinrichs, Katja Korr, Lentzen,Jan Nina Neu, Winkens,Weller,Roppelt,SabrinaReginaSchneider,YvonnePaulaAnn-Kristin

Die Bedeutung der Frage nach Freiheit und Grenzen zeigt sich schon in der Vielfältigkeit, mit der sich diese stellen lässt. Gibt es grenzenlose Freiheit? Was bedeutet Freiheit für den Menschen als Individuum? Ist Gesellschaft eine Begrenzung der Freiheit oder macht sie uns erst frei? Wie wird sich unsere Freiheit verändern im Hinblick auf Klimawandel und Umweltzerstörung?

Welche Grenzen werden uns dadurch aufgezeigt? Was haben wir für Freiheiten über den eigenen Körper? Sollte Selbstoptimierung Grenzen haben? Was bedeutet es, um seine Freiheit kämpfen zu müssen? Mit diesen und vielen weiteren Aspekten soll sich die nächste Ausgabe beschäftigen – dabei geht es um einen interdisziplinären und inneruniversitären Diskurs. Hast du Lust zu schreiben, wissenschaftlich zu arbeiten und zu publizieren? Dann schreibe doch einen Artikel für uns oder sende uns einen kreativen Beitrag! Melde dich unter lektorat@philou.rwth-aachen.de

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Du willst selbst redaktionelle Luft schnuppern? Du hast Ideen oder Kritik? Du hast Fragen, Anmerkungen oder Vorschläge? Du möchtest mit uns zusammenarbeiten oder uns kennenlernen? Deine Anfragen nehmen wir gern entgegen. Darüber hinaus sind wir immer auf der Suche nach Studierenden aller Fachrichtungen, die bei philou.  mitwirken möchten. Egal, ob im Layout, im Lektorat, in der Öffentlichkeitsarbeit oder in der Organisation: Tatkräftige Unterstützung ist zu jeder Zeit willkommen! Melde Dich unter instagram.com/philou.magazinfacebook.com/philoumagazinphilou.rwth-aachen.deinfo@philou.rwth-aachen.deinfo@philou.rwth-aachen.de Bendler, Karl Bresser, Malou Dogan, Eleftheriadi-Z.,Döring,CanerLuca Sofia Erel, Funke,DefneFriederikeGarcíaMata,CristinaGörtz,Antonia Layout Döring, Luca Funke, Friederike García Mata, Cristina Credits S.6: Originalbild Sylas Boesten via Unsplash S.8/9: Originalbild (verändert) Stormseeker via Unsplash S.13: Originalbild (verändert) Sebastiano via IG:diractazeno S.17: Originalbild (verändert) via old book illustrations S.21: Originalbild (verändert) Levi Meir Clancy via Unsplash S.27: Originalbild (verändert) Henrique Alvim Corrêa via old book illustrations S.30: Originalbild Maximalfocus via Unsplash S.39: Originalbild (verändert) via space.nss.org S.42: Originalbild (verändert) Trollinho via Unsplash S.45: Originalbild Jürgen Schmidhuber via people.idsia.ch S.47: Originalbild (verändert) Tyler Nix via Unsplash S.48: Originalbild djedj via Pixabay S.50/51: Originalbild (verändert) starline via freepik.com S.52: Originalbild (verändert) Volodymyr Tokar via Unsplash

Die Redaktion behält sich das Recht vor, Artikel redaktionell zu bearbeiten. Eine Abdruckpflicht für eingereichte Beiträge gibt es nicht. Die in der philou. veröffentlichten, namentlich gezeichneten Beiträge geben die Meinungen der Autoren wieder und stellen nicht zwangsläufig die Position der Redaktion dar. Nachdruck und Wiedergabe von Beiträgen aus der philou. sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion erlaubt.

Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlichst bei Stefan Böschen, Max Kerner, Elke Seefried, Sarah Hilker und allen anderen Mitwirkenden, die Zeit, Rat und Geld zur Verfügung gestellt haben. Diese Ausgabe und die vorigen Ausgaben der philou. können auch online unter philou.rwth-aachen.de eingesehen werden.

Weil’s um mehr als Geld geht. Seit unserer Gründung prägt ein Prinzip unser Handeln: Wir machen uns stark für das, was wirklich zählt. Für eine Gesellschaft mit Chancen für alle. Für eine ressourcenschonende Zukunft. Für die Regionen, in denen wir zu Hause sind. Mehr sparkasse-aachen.de/mehralsgeldauf Zuversicht FortschrittMiteinanderChancenFreiraum Stabilität Anzeige

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