AUSGABE 3
philou. THEMA: SCHÖNE NEUE WELT?
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MENSCH UND MASCHINE IM DIGITALEN ZEITALTER Unabhängiges Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University
FÜR STUDENTEN
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EDITORIAL
SCHÖNE NEUE WELT?
Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter „O Wunder! Was gibt‘s für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! Schöne neue Welt, Die solche Bürger trägt!“ – Shakespeare, Der Sturm
Liebe Leser_innen, Schlagwörter wie Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Selbstfahrende Autos oder 3D-Druck prägen derzeit die Medien: Technische Entwicklungen verändern unsere Art zu leben oder zu arbeiten essenziell. Geprägt wird der Wandel von einer rapiden und systematischen Verschmelzung von Technologien, die die Grenzen zwischen der physischen menschlichen und digitalen Welt immer stärker durchbrechen.
mit sich? Wie prägen öffentlicher und wissenschaftlicher Diskurs unser Denken in Bezug auf Hochtechnologien, wie z.B. autonomes Fahren? Verdrängt der Mensch sich schließlich selbst? Die Interdisziplinarität ist für philou. das Elementarste an unserer Arbeit. Die Angehörigkeit zu der forschungsstarken und international renommierten RWTH Aachen University bestärkt uns in der Sichtweise, dass das interuniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten genießen muss. Um als Studierende und somit als Teil des öffentlichen Diskurses der Verantwortung gerecht zu werden, die Ansätze der Industrie 4.0 und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen vorausschauend und kritisch zu untersuchen, fokussieren wir in dieser Ausgabe die Beziehung zwischen Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter. Es handelt sich um ein multidimensionales Problem. Deshalb müssen wir zusammen denken, hinterfragen, wissenschaftlich diskutieren und versuchen, differenzierte Ansätze, Systemzusammenhänge und Argumente zu erarbeiten und erkennen.
In Anlehnung an Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ bedarf es einer Reflexion des derzeitigen Paradigmenwechsels; Zukunfts- und Fortschrittsfragen müssen gestellt werden. Huxley ging von einer Utopie aus, das heißt der Annahme einer vollkommenen Gesellschaft. So widerspräche der Utopiebegriff jedoch dem Fortschrittsbegriff, der a priori von einem kontinuierlichen Prozess des „Bessermachens“ ausgeht. Die Gesellschaft der Gegenwart strebt einen solchen Fortschritt an, der zahlreiche Fragen, Probleme und Ängste auslöst. Nach einschlägigem Erfolg der ersten und zweiten Ausgabe präsentieren wir euch nun die dritte philou. Das Thema Schöne neue Welt? Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter soll den aktuellen gesellschaftlichen und medialen Diskurs rund um Automatisierung und Digitalisierung aufgreifen. Wir möchten mit euch Fragen und Probleme diskutieren, die sich hier ergeben: Wie kam es überhaupt zu dieser Entwicklung? Wie kann die Mystifizierung der Digitalisierung aufgehoben werden? Wie sieht der Mensch der Zukunft aus und was macht er beruflich? Wie werden politische Entscheidungen durch Social Media beeinflusst? Welche kulturellen Implikationen führen Technologietransfers
Umso mehr freuen wir uns, dass ihr nun eben diesen Versuch vor euch liegen habt. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass die dritte Ausgabe euch genauso gefällt wie uns! Eure philou. Redaktion
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philou.
A N ZE IG E
INHALT
WI S SENS CH A F T
FE UILLE TON
8 Race against the Machine
32 German Angst vs. Aachen Mut
von Thomas Ruddigkeit
12 Der überflüssige Mensch?
36 Global Health
von Ann-Kristin Winkens
15 Die politische Versuchung des
von Matthias Dorgeist
Nachhaltiges Cloud Computing? von K. K.
Trial and Error. Ein Interview mit Prof. Ingrid Isenhardt
52 Januskopf
Technikoptimismus vs. Technikpessimismus
25 Vernetzte Öffentlichkeit
Selbstfahrende Autos heute und morgen
48 Künstliche Intelligenz
von Thomas Bausch
22 Digitaler Müll
Technisch machbar für alle?
42 Autonomobil
digitalen Profilings
18 Sozialpolitik aus dem Drucker
Entmystifizierung der Digitalisierung? philou. bei Aachen 2025
Politischer Diskurs im Zeitalter der Digitaliserung von Magnus Tappert
54 Schöne neue Welt?
Prof. Dr.-Ing. Schmachtenberg beantwortet unsere Fragen
NEUE KÖP FE DAHINTE R
Vincent
Jenny
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philou.
Nach einer Oxford-Studie werden Computer in den nächsten zwei Jahrzehnten fast 50% der heutigen Berufe ersetzen: Beispielsweise Kassierer zu 98% und Köche zu 96%. Deutlich widerstandsfähiger sind kreative Berufe; Architekten, Designer oder Fotografen müssen nur 1% ihrer Berufe aufgeben. Auch Wissenschaftler, Musiker und Ingenieure werden mit 1,5% nicht schnell ersetzt werden. Ebenfalls immun sind Tätigkeiten, die soziale Kompetenzen erfordern, wie Lehrer, Krankenschwestern oder Gebrauchtwarenhändler (1%). (Frey/Osborne 2013: The Future of Employment)
IFR – International Federation of Robotics
Soziotechnisches System
Die IFR wurde 1987 als eine gemeinnützige Organisation von Robotik-Organisationen aus über 15 Ländern gegründet. Ziel ist es, die Robotik-Industrie weltweit zu fördern und zu stärken, ihre geschäftlichen Interessen zu schützen und die Öffentlichkeit für RobotikTechnologien zu sensibilisieren.
Zusammenwirken von sozialen und technischen Elementen innerhalb eines komplexen, dynamischen Systems. Hier: Mensch und Maschine, die in Wechselwirkung treten – das reicht von Energiesystemen bis hin zum automatisierten Fahren.
Die weltweite Anzahl der Haushaltsroboter wird zwischen 2016 und 2019 auf 31 Millionen steigen. (IFR 2016)
WISSEN
Transhumanismus
Zusammengesetzt aus lateinisch „trans“ (jenseits, über) und „humanus“ (menschlich) beschreibt der Begriff die Erweiterung des Menschlichen um technische Prozesse. Auch: „Human Enhancement“ – die Verbesserung des Menschen durch den Einsatz technologischer Eingriffe in den Körper durch beispielsweise Implantate, Pharmaka oder Biotechnologien. Ein künstliches Auge könnte das Sehvermögen steigern, ein künstliches Ohr bisher nicht wahrnehmbare Schwingungen hören lassen, durch Präimplantationsdiagnostik (PID) und veränderbare DNA können Designerbabys zur Welt gebracht werden... Ein implantierter neuer Mensch wird zum Cyborg, ein Hybrid aus Mensch und Maschine.
Die deutsche Robotik- und Automationsbranche erwirtschaftete im Jahr 2015 einen Umsatz von rund 12,5 Milliarden Euro im In- und Ausland. Davon erwirtschaftete der Bereich der Robotik ca. 3,4 Milliarden Euro. Die größten Unternehmen der Automatisierungsbranche sind die Konzerne Siemens, ABB, Emerson sowie Rockwell Automation. (Statista 2016)
In den letzten sechs Jahren (2010 bis 2015) hat die US-Industrie rund 135.000 neue Industrieroboter eingesetzt. Die wichtigste ist hier die Automobilindustrie. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Beschäftigten im Automobilsektor um 230.000 an. (IFR 2016)
„In world terms three to five million of jobs would not exist if automation and robotics had not been developed to enable cost effective production of millions of electronic products, from Phones to Playstations.“ („Positive Impact of Industrial Robots on Employment“ by Metra Martech November 2011)
Industrie 4.0
Der Begriff steht für die vierte industrielle Revolution. Bei der ersten industriellen Revolution prägte die Erfindung der Dampfmaschine die Produktionsweise. Mit der zweiten industriellen Revolution bezeichnet man die Einführung des Fließbandes. Die dritte industrielle Revolution wurde durch die Einführung der Automatisierung in Fabriken gekennzeichnet. Die Industrie 4.0 steht nun für die vernetzte, digitale Transformation: Mensch und Maschine kommunizieren miteinander.
SCHAFT Internet of Things (IoT)
Künstliche Dummheit (KD)
KD kann definiert werden als der Versuch von Computerwissenschaftlern, Computerprogramme zu erstellen, die Probleme einer Art verursachen, wie man sie gewöhnlich mit dem menschlichen Denken in Verbindung bringt. (Wallace Marshall)
Die Bezeichnung steht für den Trend, dass der PC immer mehr in den Hintergrund rückt und durch „smarte Geräte" ergänzt wird. Nicht nur durch mobile Geräte, wie Smartphones und Tablets, sondern auch durch Alltagsgegenstände, die mit eingebetteten Prozessoren, Sensoren und Netzwerktechnik ausgerüstet werden. Hier gibt es zahlreiche Variationen: Von einer ferngesteuerten smart factory bis hin zum mobil gesteuerten Kühlschrank. Das Ziel ist immer das gleiche: Den Alltag des Menschen zu erleichtern.
„Es ist durchaus möglich, eine Operation, die das Gehirn durchführt, mit Hilfe eines maschinellen Mechanismus zu charakterisieren [...]. Wenn man aber die metaphorische Beziehung umkehrt und sagt: So wie diese Maschine, so funktioniert auch das Gehirn, dann wird es gefährlich; man glaubt, das Gehirn zu verstehen, weil man den maschinellen Mechanismus begriffen hat, von dem man ausgeht. Man meint, das Gedächtnis zu begreifen, wenn man es als Speichermechanismus metaphorisiert – und beginnt vielleicht nach dem Ort zu suchen, an dem eine bestimmte Information „gespeichert“ sein soll. Die Folge ist: Blindheit gegenüber dem Wunder des Gehirns.“ (Heinz Foerster/Bernhard Pörksen 1998: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners)
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ARTIKEL
RACE AGAINST THE MACHINE Wir sind inmitten einer technologischen Revolution, die unsere Gesellschaft um einiges schneller als z.B. die industrielle Revolution umwälzt. Eckpfeiler dieser Entwicklungen sind die stetig voranschreitende Computerisierung, Digitalisierung und Automatisierung. Dabei droht die Technik, die Fähigkeiten des einzelnen Menschen derart zu überflügeln, dass er sich in immer mehr Bereichen als überflüssig wahrnimmt. Wir scheinen uns in einem Rennen gegen die Maschinen zu befinden. Doch was sind die ideengeschichtlichen Bedingungen und Ursprünge der Automatisierung? Wann fiel der Startschuss?
VON THOMAS RUDDIGKEIT Zu Zeiten des digitalen Wandels wird die Beziehung zwischen Mensch und Maschine wieder ein zunehmend zentrales Thema, wenn es um den stetig voranschreitenden technischen Fortschritt und seinen Auswirkungen auf die Zukunft unserer Gesellschaft geht. Der Mensch hat seit Anbeginn seiner Geschichte durch Technik die ihn umgebende Natur gebändigt und durch verschiedenste Erfindungen, wie der Dampfmaschine, der Luftfahrt oder der Telekommunikation, seine Handlungsmöglichkeiten ins Unermessliche gesteigert. Gleichzeitig haben diese Fortschritte, z.B. während der industriellen Revolution, zahlreiche Arbeitsfelder und -methoden derart verändert, dass die Arbeitskraft von Millionen von Menschen durch die zunehmende Mechanisierung der 8
Arbeitsabläufe nicht mehr in althergebrachter Form vonnöten war. Die Menschen konkurrieren seitdem mit immer geringeren Löhnen gegen zunehmend billiger und effizienter arbeitende Maschinen. Mittlerweile haben menschliche Technologien, vor allem in Form von modernen Computern und der Robotik, eine Stufe erreicht, die durch die Möglichkeit vollständiger Automatisierung – wie vielerseits befürchtet – drohen, den Menschen bzw. seine Arbeitskraft in vielen Arbeitsfeldern obsolet zu machen. So wickeln z.B. Finanz-Algorithmen in Sekundenbruchteilen eine Anzahl von Kalkulationen und Transaktionen ab, die außerhalb der Möglichkeiten menschlicher Broker stehen würde, was den Menschen auf den digitalisierten Finanzmärkten des 21. Jahrhunderts
weitestgehend überflüssig macht. Parallel dazu ersetzen immer mehr Roboter und vollautomatisierte Systeme menschliche Arbeiter nicht nur in Fabriken oder in der Logistik, sondern zunehmend auch im Dienstleistungsbereich, wodurch z.B. in den USA laut einer vielzitierten Studie nahezu die Hälfte aller Jobs zu verschwinden droht (vgl. Frey/ Osborne 2013). Die anfänglich auf mechanische Arbeitsabläufe beschränkte Automatisierung fasst durch die Möglichkeiten der Computerisierung zunehmend Fuß im Bereich der Denkarbeiten: Das Übersetzen, Ordnen und Schreiben von Texten, das Berechnen von Bilanzen oder das Heraussuchen des günstigsten Flugs zum nächsten Urlaubsziel sind mittlerweile keine ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Tätigkeiten mehr.
lungsformen in Handwerksbetrieben und Manufakturen. Bis dahin führte der einzelne Arbeiter in der Regel auch einen Großteil der jeweiligen zur Herstellung eines Produkts gehörenden Teilschritte von Anfang bis Ende in aktiver Auseinandersetzung mit dem Produktionsprozess selbst durch. Allmählich fand eine zunehmend auf innerbetriebliche Arbeitsteilung und Maschinennutzung setzende instrumentelle Arbeitshaltung Einzug in die Produktionsstätten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Im Laufe des darauffolgenden Jahrhunderts reduzierte sich in vielen Branchen und Produktionsprozessen die Arbeit der Menschen zunehmend darauf, anhand vorgegebener Regeln und Teilschritte standardisierte Probleme zu lösen.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Wann fiel der Startschuss für das Rennen gegen die Maschine, oder präziser: Gegen den Computer in seiner heutigen Form? Lässt er sich auf den Tag der Inbetriebnahme des ersten Computers datieren? Oder doch eher bereits auf die Erfindung der Dampfmaschine? Es ist schwierig, einen konkreten Zeitpunkt für diesen Startschuss zu nennen, aber es gab während der industriellen Revolution am Anfang des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Phase ideengeschichtlicher Entwicklungen, die der Computerisierung bedeutende Denkgrundlagen geliefert haben. Auch für die Soziologin Bettina Heintz stellt die Computerisierung nicht den Anfang dar, sondern den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die schon lange vor dem Einsatz des ersten Computers begonnen hat (vgl. Heintz 1991). Im Folgenden soll diese ideengeschichtliche Entwicklung im Groben nachgezeichnet werden.
Diese Entwicklung entsprach auch dem von damaligen Soziologen, wie Georg Simmel oder Max Weber, diagnostizierten Grundmerkmal des modernen Rationalismus durch Zergliederung und Berechnung, eine Beherrschbarkeit der Welt anzustreben. Diese Grundtendenzen innerhalb der Organisation von Arbeits- und Produktionsabläufen trieben schließlich Frederick W. Taylor und Henry Ford an die Spitze. Im von Taylor im Rahmen seines wohl einflussreichsten Werks „The Principles of Scientific Management“ entwickelten Taylorismus geht es um die Optimierung des einzelnen menschlichen Arbeiters. Die menschliche Arbeitsleistung wird einer exakten Kalkulation unterzogen, zum Zwecke der maximalen Steigerung von Produktivität und Rentabilität. Die Strukturmerkmale der modernen Gesellschaft – Differenzierung und Rationalisierung – werden darin vereint: Arbeitstätigkeiten werden in ihre Bestandteile zerlegt, ausgemessen und nach Effizienzkriterien resynthetisiert. Dabei wird jeglicher als überflüssig bewertete Handgriff wegrationalisiert und für jeden Teilschritt ein optimales Zeitlimit zur Durchführung gemessen. Dadurch wird jeder Arbeitsschritt zu einer routinehaft durchführbaren Anwendung bloßer Regeln, die weder ein tieferes Verständnis für den gesamten
Schon ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdrängte die industrielle Produktionsweise nach und nach die durch die Erfindung der Dampfmaschine oder des mechanischen Webstuhls überkommenen Herstel9
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Produktionsablauf, noch für die Bedeutung des eigenen Handelns darin voraussetzt. Darauf aufbauend nahm Henry Ford die durch den Taylorismus nahezu zu bloßen Zahnrädchen rationalisierten menschlichen Arbeiter und fügte sie schließlich in Kombination mit dem Fließband als Taktgeber zu einer größeren Produktionsmaschinerie zusammen – die massenhafte Fließbandfertigung und der Fordismus waren geboren.
nicht nur mechanische Operationen, sondern auch jede gedankliche Operation tatsächlich von einer Maschine ausgeführt werden kann, solange die Operation klaren Regeln folgt und die bearbeiteten Gegenstände sich in Termini mathematischer Symbole formalisieren lassen, wie es z.B. beim Schachspiel der Fall ist. Damit hat Turing den Ansatz Taylors radikal zu Ende gedacht: Jede Handlung, ob mechanisch oder mental, lässt sich in ihre Einzelteile aufspalten und anschließend mechanisieren! So gesehen legte die Maschinenwerdung des Menschen im Taylorismus nicht nur den Grundstein für die in den Folgejahrzehnten stetig zunehmende Automatisierung mechanischer Handlungen, sondern letztlich auch für die Menschwerdung der Maschine und der damit einhergehenden Automatisierung mentaler Handlungen – der Computerisierung.
Taylor und Ford haben damit jedoch nicht nur die Fabrikhallen und die darin arbeitenden Menschen verändert, sondern auch das Denken ihrer Zeit. Sie demonstrierten eindrucksvoll, dass sich menschliches Handeln in Kleinstelemente zergliedern lässt, die dann beliebig auf Menschen oder Maschinen verteilbar sind. Diese Formalisierung menschlicher Arbeit in berechenbare und regelhafte Routinehandlungen war die grundlegende Voraussetzung für die Möglichkeit menschliche Arbeiter durch mechanische Vollautomaten zu ersetzen. Zwar beschränkte sich diese Möglichkeit zunächst auf mechanische Handlungen und den Menschen blieben zum Broterwerb noch vergleichsweise komplexere Tätigkeiten, bei denen Denkarbeit nötig war. Doch Alan M. Turing hat schließlich auf mentale Prozesse übertragen, was sich in der klassischen Rationalisierung noch ausschließlich auf Körperbewegung bezog. Er schuf bereits in den 1930ern die theoretischen Grundlagen für den erst Jahre später folgenden Computer in seiner heutigen Form. Er stellte die These auf und arbeitete theoretisch aus, dass
Mittlerweile sind wir am Anfang des 21. Jahrhunderts in einem nie gekannten Ausmaß mit den Möglichkeiten und Auswirkungen der Computerisierung konfrontiert. Wie tiefgreifend diese für die Arbeitswelt sind lässt sich anhand der Lagerwirtschaft und Logistik z.B. in Versandhäusern veranschaulichen: Zwar können viele komplexe organisatorische Aufgaben, wie die Berechnung optimaler Laufwege für Lagerarbeiter mittlerweile durch Software in bisher ungekannter Effizienz übernommen werden, jedoch werden genau jene Arbeiter dabei zu bloßen Zahnrädchen in einem System, welches ihnen durch ihre Handscanner den Weg und den Takt vorgibt. Zusätzlich erlauben die in vielen Fällen
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mit Kameras und Mikrofonen ausgestatteten Handscanner eine permanente Erfassung von Daten zu Laufwegen und Lieferzeiten. Diese datenschutzrechtlich bedenkliche Überwachung der jeweiligen Arbeitsleistung ermöglicht einen exakten Vergleich mit den restlichen Arbeitskräften, was nicht nur einen immensen Wettbewerbs- und Leistungsdruck ausübt, sondern letztendlich auch nichts Geringeres ist als eine Art digitalisierter Taylorismus (vgl. Staab/ Nachtwey 2016: 27f.). Wer nicht Schritt hält wird wegrationalisiert und wer es trotzdem schafft, sieht sich noch immer der Gefahr ausgesetzt das Rennen gegen die Maschine zu verlieren und früher oder später von einem Roboter ersetzt werden zu können, wie es in zahlreichen Lagerhäusern und Logistikbetrieben bereits geschehen ist. In diesem Spannungsfeld zwischen Technik als einerseits tatkräftiger Unterstützung und andererseits knallharter Konkurrenz stellen sich zahlreiche Fragen: Wie sollen die Segnungen der Digitalisierung und Automatisierung genutzt werden? Wo liegen die Grenzen des stetigen Fortschritts und seiner Nutzung? Wird der Mensch bzw. seine Arbeitskraft wirklich überflüssig werden? Welche Schlüsse müssen wir für uns als Individuen und als Gesellschaft aus den bisherigen Entwicklungen ziehen? Die aktive Auseinandersetzung mit diesen Fragen bildet einen grundlegenden Ausgangspunkt für die Bewältigung potentieller zukünftiger Probleme. Denn was man bei der Technik niemals vergessen sollte, ist die Tatsache, dass es sich bei ihr immer um ein Mittel zum Zweck handelt – und diesen Zweck bestimmen wir. Ob Flugzeuge zu ziviler Luftfahrt oder bewaffneten Bombern, die Kernspaltung zu Atomkraft oder Nuklearwaffen oder die Automatisierung zu unserer Befreiung von oder zu unserer Verdrängung aus der Arbeit führen, sollten noch immer wir als Gesellschaft entscheiden und gestalten. Wir mögen uns beim Rennen gegen die Maschine vielleicht im Endspurt befinden, aber was uns an der Ziellinie erwartet bestimmen wir – auch ob wir sie als Gewinner bzw. Verlierer gegen die Maschine überschreiten oder mit ihr, als ein uns konstruktiv ergänzender Partner. Grundbedingung dafür ist, dass wir diesen Prozess aktiv mitgestalten und uns nicht von einem in unkontrollierter Eigendynamik immer schneller voranschreitenden technischen Fortschritt überrumpeln lassen.
Frey, Carl Benedikt/ Osborne, Michael A. (2013): The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation? Online verfügbar unter: www.oxfordmartin. ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_ of_Employment.pdf [Zugriff: 07.12.2016]. Heintz, Bettina (1991): Regelwerke. Von der Maschinenwerdung des Menschen und der Menschwerdung der Maschine. In: Henke, Silvia und Mohler, Sabina (Hrsg.): Wie es ihr gefällt VII. Freiburg: Kore. S 5–21. Staab, Philipp/ Nachtwey, Oliver (2016): Die Digitalisierung der Dienstleistungsarbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 66. Jahrgang. 18–19/2016. 2. Mai 2016. S. 25-31. Online verfügbar unter: http://www.bpb. de/apuz/225683/arbeit-und-digitalisierung [Zugriff: 07.12.2016]. Außerdem: Brynjolfsson, Erik; McAfee, Andrew (2011). Race Against The Machine: How the Digital Revolution is Accelerating Innovation, Driving Productivity, and Irreversibly Transforming Employment and the Economy. Lexington, Massachusetts: Digital Frontier Press.
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ARTIKEL
DER ÜBERFLÜSSIGE MENSCH? VON ANN-KRISTIN WINKENS „Wir haben [die MASCHINE] erschaffen, uns zu dienen, aber sie dient uns nicht mehr. Die MASCHINE entwickelt sich weiter – aber nicht in unserem Sinn. Die MASCHINE macht Fortschritte – aber nicht zu unserem Nutzen.“ – Forster, Die Maschine steht still (1928)
Es gab einen Malocher zu Beginn der digitalen Revolution, dessen Arbeitsplatz im Laufe des 21. Jahrhunderts verschwand: Der Mensch. (vgl. Trojanow 2013: 59) Das wohl am häufigsten verwendete und plakativste Dogma der zeitgenössischen Debatte um Digitalisierung und Automatisierung ist es, den Menschen zu verdrängen. Allerdings ist hier eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig. Einerseits gilt es, die „Störquelle Mensch“ durch Überwindung der menschlichen Fehlerhaftigkeit, mangelnder Produktivität und Effizienz zu beseitigen, andererseits wurden bereits die 1950er und 1960er Jahre von der Idee der Befreiung des Menschen von monotoner und unangenehmer körperlicher Arbeit geprägt. In der Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) 1956 wurde betont, dass jeglicher technische Fortschritt eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen impliziere; dem Menschen „zu mehr Muße zu verhelfen“ und auf diese Weise seinen Lebensstandard hebe (vgl. Steeger 1956: 1401). Die mechanische Bearbeitung sollte vereinfacht und beschleunigt werden, insbesondere durch die Vermeidung menschlichen Versagens: „Die begrenzte Reaktionsgeschwindigkeit des Menschen konnte mit der Arbeitsgeschwindigkeit der Maschinen häufig nicht mehr Schritt halten.“ (vgl. Steeger 1956: 1400) Durch den Einsatz von Technik wird der Mensch also zum begrenzenden Faktor der Perfektion. Bild: Original von Eos Maia / flickr.com/photos/eosmaiajohanna (CC BY 2.0)
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Fraglich ist, worin in der heutigen Zeit das Selbstverständnis des Menschen liegt. Wie kann der Mensch seine Existenz sichern und sich gleichzeitig gesellschaftlich integrieren, wenn nicht durch Arbeit? „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ (Arendt 1981: 13)
Mensch als Maß aller Dinge? Schon in der griechischen Antike wurde der Mensch als Maß aller Dinge betrachtet. Ein von Protagoras überlieferter Satz, der sogenannte Homo-Mensura-Satz, gilt als die bekannteste sophistische Lehraussage: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ (Rehfus 2003) Wenn wir in der heutigen Zeit nach wie vor Wert darauf legen, den Mensch als Maß aller Dinge aufzufassen: Wie käme er dazu, sich selbst zu verdrängen, vielleicht auch ganz zu ersetzen? Gleichzeitig ist es fraglich, inwieweit es vertretbar ist, dem Menschen eine stupide und monotone Tätigkeit als Existenzsicherung zuzumuten. Wer hat schon Lust, acht Stunden täglich, fünf Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr, einzelne Münzen in Automaten zu werfen, um dessen Funktionsfähigkeit zu testen? Hier wäre es naheliegend, eine Maschine diese Arbeit verrichten zu lassen, billiger, effizienter und den Menschen entlastend; seiner „Würde“ entsprechend. Das Prinzip der Nützlichkeit Ursprünglich wurden Gegenstände erfunden und entwickelt, um dem Menschen zu nützen und sein Leben zu erleichtern. Allerdings verliert das Prinzip der Nützlichkeit im Rahmen der Automatisierung seine Essenz: Die menschlichen Bedürfnisse erscheinen langfristig betrachtet sekundär, der Mensch ist nur noch der Hersteller seiner eigenen Kontingenz. Dies geschieht beispielsweise genau dann, wenn wir eine Intelligenz entwickeln, die den Menschen in seiner Position als Arbeiter, Handwerker und vielleicht zukünftig auch als Denker ersetzen oder aber auch befreien kann; eine Intelligenz, die intelligenter zu sein scheint als wir selbst.
Durch den Entschluss, die Welt anhand von Wissenschaft und analytischen Erkenntnissen und deren technologischer Anwendung, zu verändern, wird die natürliche Welt auf Distanz gehalten. Hannah Arendt zufolge erschaffen wir einen archimedischen Punkt, einen Dreh-und Angelpunkt außerhalb unserer Welt (vgl. Arendt: 334ff.). Eben durch die Entfaltung grenzenlos erscheinender mentaler wie materieller Technologie verschwindet der Mensch hinter einer künstlichen Welt, aus der er sich selbst vertreibt. (vgl. Baudrillard 2007: 6f.) Die ideale Spinne Dabei verfolgt der Mensch keinen Todesdrang, im Gegenteil, er unterliegt einem Fortschrittszwang, schließlich bis zur Abschaffung der menschlichen Sterblichkeit. Man beachte nur diese Ironie! Baudrillard veranschaulicht diese Diskrepanz anhand eines sehr eingängigen Vergleichs: „[Das] Symbol einer lebendigen Zerstreuung, die ideale Spinne, die ihr Netz spinnt, während sie von ihrem Netz gesponnen wird. Noch besser: ‚Ich bin weder die Fliege, die sich im Netz verfängt noch die Spinne, die das Netz spinnt, ich bin das Netz selbst, in alle Richtungen ausstrahlend, ohne Zentrum ohne irgend etwas, das meinem eigenen Wesen ähneln würde.‘“ (Baudrillard 2007: 46)
Hier wird das Dilemma deutlich: Der Mensch ist eher das Opfer seiner eigenen Tat als ihr Schöpfer. Nicht einmal bei der Arbeit, die man als Lebensnotwendigkeit unterstellen könnte, scheint er weniger frei zu sein als genau in der handwerklichen Begabung, die eigentlich seine Freiheit garantieren sollte. Und eben genau in dem Bereich, der ausschließlich durch den Menschen selbst erzeugt ist. (vgl. Arendt 1981: 298) Homo sapiens reduziert sich damit selbst in seinem ursprünglichen Dasein als homo faber zum bloßen Antreiber des universellen Fortschritts, der eigene Regeln erfordert und nach gewisser Zeit seinen „Schöpfer“ zum Zuschauer einer sich autonom fortsetzenden Evolution machen wird. Das gravierende Problem dabei ist, dass der Mensch nicht reflektiert, dass die „MASCHINEN“ von ihm entwickelt wurden; von dem eigentlichen Erfinder über den Techniker, bis hin zu ihren „Usern“ und zu den Lesern dieses Textes. 13
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Denn wir akzeptieren grundsätzlich die innere Notwendigkeit der technischen Entwicklung. Was machbar ist, wird auch realisiert. Unser Denken ist rückläufig zu der eigentlichen Entwicklung. So gibt es beispielsweise eine Ethikkommission für automatisiertes Fahren – ist es vertretbar, wenn der Mensch das Steuer abgibt? Was darf ein hochautomatisiertes System und was darf es nicht? Fragen wie diese und unzählige weitere werden gestellt und debattiert, in Gremien, Ausschüssen, Regelwerken und neuen Gesetzesentwürfen. Aber sie finden entweder parallel oder im Nachhinein statt. Autonomes Fahren schlägt bereits seine Bahnen, ein Rückzug ist nicht möglich. Wir verpassen auf diese Art die Möglichkeit der Mitgestaltung, wir analysieren und kritisieren den Ist-Zustand, anstatt ihn bereits in seinen Anfängen zu formen. Was bleibt also noch? Durch transhumanistische Ideen und „Human Enhancement“ einen neuen utopischen Menschen designen? Der Gesellschaft wird durch die gegenwärtigen Trends ein Spiegel ihrer scheinbaren Unvollkommenheit entgegengesetzt, um sich kontinuierlich zu verbessern und letztlich auf diese Art das einzige zu verlieren, das ihr geblieben ist: Ihre Natürlichkeit. Eine kritische und gesellschaftlich fixierte Auseinandersetzung mit diesen Fragen und Problemen ist heute unabdingbar. Es bedarf einer grundlegenden Reflexion über den Ist-Zustand und der Frage, wie wir in Zukunft leben möchten und welche Stellung wir uns zuschreiben. Ist der Mensch Täter oder Opfer, Gewinner oder Verlierer? Ob Utopie oder Dystopie, „Brave new world“ oder „Zurück in die Zukunft“, diese Vorstellungen und Ideen sind Gegenstand des Diskurses in unserer Gegenwartskultur. In einer Gesellschaft, die ihre zukünftige Perspektive ausschließlich in ihrem technischen Know-how sieht. Es handelt sich weniger um eine digitale Revolution, als vielmehr um einen seit Jahrzehnten voranschreitenden Wandel. Wir haben es bloß versäumt, ihn in seiner Essenz zu begreifen. „Das hört sich an, als hätte ein Gott die MASCHINE erschaffen. […] Vergiss nicht, die Menschen haben sie erschaffen. Begnadete Menschen, aber doch Menschen! Die MASCHINE ist vieles, aber nicht alles.“ – Forster, Die Maschine steht still (1928)
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Arendt, Hannah (1981): Vita activa. Oder vom täglichen Leben. München: Piper Verlag GmbH. 17. Auflage 2016. Baudrillard, Jean (2007): Warum ist nicht alles schon verschwunden? Berlin: MSB Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft mbH. 2. Auflage 2012. Forster, E.M. (1928): Die Maschine steht still. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag. 2016. Rehfus, Wulff D. (Hrsg.) (2003): UTBOnline-Wörterbuch Philosophie. Aus: Handwörterbuch Philosophie. Online verfügbar unter: http://www.philosophiewoerterbuch.de/online-woerterbuch/ [Zugriff: 29.11.2016]. Steeger, Anton (1956): Die Automatisierung als technische und soziale Aufgabe des Ingenieurs und des Unternehmers. In: Verein Deutscher Ingenieure – Zeitschrift. Jg. 1956/98. Trojanow, Ilija (2013): Der überflüssige Mensch. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. 2015.
ARTIKEL
DIE P O LI TISCHE V ERSU C HU N G DES D IGITA LEN P ROFILI NGS VON MATTHIAS DORGEIST Die Digitalisierung geht um in der Welt – nicht nur in Europa. Sie ist das derzeitige Mantra der wirtschaftlichen Entwicklung. Äußerst kreativ wird jede Bezeichnung mit den hippen Formulierungen „Zwei-Punkt-Null“ oder „Vier-Punkt-Null“ ergänzt und beinah gebetsmühlenartig wiederholt. Ein krampfhafter Werbeversuch, aus einer Angst entsprungen, den Anschluss zu verlieren. Sie findet sich auch im Vorwort des Berichts zur Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2016 (vgl. BSI 2016: 3f.). Dort hat die Sicherheit im Cyberraum nur den Zweck, die Digitalisierung voranzu- treiben, und folglich die wirtschaftliche Prosperität zu befördern. Die wirtschaftlichen Auswirkungen bilden den Fokus der Debatte, doch die Digitalisierung wird in diversen Lebensbereichen Veränderungen herbeiführen, die in derzeitigen Reflexionsschleifen noch eine Nebenrolle spielen. Deshalb betrachtet dieser Artikel mögliche Auswirkungen der Verfügbarkeit eines digitalen Abbildes der Bürger_innen auf Repräsentationsprozesse. Mit der Verbreitung und dem Einsatz zahlreicher internetfähiger Endgeräte im Alltag – der Vernetzung im sogenannten „Internet of Things“ – entstehen reichhaltige Abbilder unseres Lebens. Nicht nur Bewegungsdaten
werden erfasst, sondern beinahe alle möglichen Aktivitäten finden in diversen Applikationen oder Browserverläufen ihren Ausdruck in Einsen und Nullen. Eine gezielte Auslese dieser Daten ermöglicht heute schon erstaunliche Aussagen darüber, welche Person von diesen Daten abgebildet wird, denn sie spiegeln das Verhalten wider und geben tiefe Einblicke in Interessen, Gewohnheiten und Vorlieben der Person. Diesbezüglich hat Anfang November ein Bericht von Panorama Aufsehen erregt (vgl. NDR 2016). Die Journalist_innen waren an Browserdaten gelangt, die es unter anderem ermöglichten, Steuer- und Gesundheitsinformationen konkreten Bundestagsabgeordneten zuzuordnen. Die Analyse von Nutzungsdaten ermöglicht einen Einblick in privateste Bereiche des Lebens, ohne dass der durchschnittliche User in der Lage wäre, die Observierung zu bemerken. Wer das Digitalisat entziffert, bleibt meist unbekannt. Mittels Cookies, Web Bugs, IP-Adressen oder Browser Fingerprinting – alles Daten, die wir beim täglichen Spazieren durch das Internet hinterlassen – besteht heute die Möglichkeit zum digitalen Profiling (vgl. Thode 2015: 3). Unternehmer und Strafverfolgungsbehörden haben ein großes Interesse an diesem Werkzeug. So gibt es in Bayern bereits ein Projekt
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zum Thema „Predictive Policing“, womit Verbrechen bekämpft werden sollen, bevor sie geschehen (vgl. ebd.). Die Digitalisierung bietet also durch ihre Abbildung von Lebensweisen eine neue umfangreiche Möglichkeit, die Bürger_innen zu analysieren. Für manche Politiker_innen mag die erschreckendere Meldung im Zuge der Wahl zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs oder der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten das systematische Fehlurteil der Meinungsforschungsinstitute gewesen sein, nicht die Wahlerfolge der EU-Gegner_innen und Donald Trumps. Denn wenn die Meinungsforschungsinstitute derart falsch liegen, wie sollen Politiker_innen das Volk repräsentieren? Wenn auch zugespitzt, deutete die Berichterstattung des Spiegels bereits im Jahr 2014 auf die ausgiebige Verwendung von Meinungsumfragen durch Politiker_innen hin: Die Ergebnisse zahlreicher Umfragen im Auftrag des Bundespresseamts flossen wortwörtlich in die Regierungserklärungen ein (vgl. Thiel 2014). Politiker_innen wüssten natürlich gerne, was das „Volk“ denkt, um es im guten Sinn entweder angemessener zu repräsentieren oder – im Hinblick auf die wachsenden autoritären Ideologien – effektiver zu beherrschen. Es ist ein verführerisches Wissen, das durch die Digitalisierung serviert wird, um einer Krise der Repräsentation zu begegnen – kann so doch der Weg über Diskurse und weitreichende Vermittlungsprozesse vermieden werden. Doch es bleibt ein Wunschtraum, das Erscheinen der Bürger_innen auf der politischen Bühne durch ein Digitalisat ersetzen zu können. Im Bereich der politischen Theorie und Ideengeschichte finden sich diesbezüglich anschauliche Gedanken.
WER UNSICHER IST, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. […] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. BVerfG-Urteil vom 15.12.1983 (Volkszählungsurteil), C II 1 a
Illustration: Ingo Faulstich
Hannah Arendt begründet ihr politisches Denken auf der unabänderlichen Pluralität der Menschen (Arendt 1993: 9). Damit wendet sie sich gegen jedwede Form des Denkens, die Menschen als Gattungswesen denkt und wonach es also eine einheitliche Natur des Menschen gebe. Es gibt immer nur den einzelnen Menschen – im Plural die Menschen. Hinzu kommt, dass Menschen ihr zufolge immer in der Lage sind, spontan zu handeln. Menschliches Handeln lässt sich ihr zufolge eben nicht empirisch determinieren oder von einem der Gattung entsprechenden biologischen Verhalten – oder beispielsweise von einem digitalen Profil – deduzieren. Arendt betont die Relevanz des aktiven politischen Handelns jedes einzelnen, weil sich aufgrund der Pluralität die- oder derjenige eben nur sehr begrenzt repräsentieren lässt. Was zukünftig unter Menschen passieren wird, ist unberechenbar und lässt sich nicht vorhersagen, dies wird unter dem Begriff der Kontingenz des menschlichen Zusammenlebens gefasst. Auch Claude Lefort folgt einem ganz ähnlichen Grundgedanken. Es ist für ihn die unüberwindbare Kontingenz im menschlichen Zusammenleben, die er als „ursprüngliche Teilung“ bezeichnet und welche nun in der Demokratie als eine 16
Lebensform verstetigt wird (vgl. Lefort & Gauchet 1990: 90). Nach ihm ist es außerhalb der menschlichen Verfügbarkeit die Differenzen zwischen den Menschen letztlich aufzulösen und in einen harmonischen Zustand zu treten, der beispielsweise vernünftig geordnet ist. Dennoch formen Menschen stetig ihr Zusammenleben und versuchen die Differenz zu begrenzen: So gibt es Versuche, die Menschen beispielsweise in Einheiten zusammenzufassen, wie sie als einen Staat, ein Volk oder eine Nation zu denken. Die Akteure an der Macht versuchen diese Einheiten zu repräsentieren. Diese Versuche sind Lefort zufolge wegen der unüberwindbaren Differenz jedoch immer defizitär. Sie lösen die Differenz nur symbolisch auf. Die Demokratie hält dieses System des stetigen Formens und Hinterfragens offen. Die Macht muss sich immer wieder vergewissern, die Repräsentation verwirklichen zu können, denn „[i]hre Repräsentation [von Staat, Volk oder Nation, Anm. M.D.] ist selbst ständig abhängig von einem politischen Diskurs und einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Ausgestaltung“ (Lefort 1990: 295). Dies ist der Grund für die permanente Kritik der Macht durch die Beteiligung aller Bürger_innen am politischen Diskurs, denn nur so ist die Offenheit garantiert. Die Demokratie als Prozess des stetigen Austauschs von Meinungen bleibt stets fragil und von Differenzen geprägt, weil dies ihr Wesensmerkmal ist. Den Konflikt in irgendeiner Art technisch lösen zu wollen, bedeutet gleichsam die Demokratie aufzugeben. Wie zuvor darauf hingewiesen wurde, zwingt die Möglichkeit zur systematischen Auslese der digitalen Profile dazu, erneut über das Erscheinen der Bürger_innen im politischen Raum nachzudenken. Anhand von Arendt und Lefort zeigt sich, dass über eine wissenschaftliche Meinungsabbildung kein Umweg vorbei an der Beteiligung der Bürger_innen am politischen Prozess zu machen ist. Das Sammeln von Daten verbessert nicht die Meinungsabbildung und entlastet auch nicht von einer oftmals konfliktreichen Diskussion oder Debatte. Politische Entscheidungen auf Basis einer Analyse digitaler Profile zu legitimieren gefährdet vielmehr die Existenz des politischen Diskurses. Nach Lefort gilt es sogar zu sagen, dass es illusorisch und von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, in der Krise auf eine bessere Repräsentation des Volkes durch einen immensen Zuwachs an Daten zu hoffen. In Arendts Worten ist diese Vorstellung mit dem utopischen Gedanken verbunden, „man könne vielleicht die Menschen behandeln, wie man alles andere Material behandelt“ (Arendt 2002: 234). Erliegt man diesem Wunschtraum, ist die Demokratie gefährdet. In der Demokratie kann das Ziel nicht darin bestehen, die Kontingenz des menschlichen Zusammenlebens durch das Sammeln von Daten zu überwinden. Um der Gefahr zu entgehen, erfordert es zu allererst ein Auftreten im öffentlichen Raum: Wenn unsere Daten uns schon so gut verrieten, warum müssten wir noch aus unserem Privatleben in die Öffentlichkeit treten und unsere Meinung artikulieren, miteinander sprechen, andere überzeugen und uns überzeugen lassen? 17
DATENSCHUTZ Schutz des Einzelnen vor dem Missbrauch personenbezogener Daten. Auch: Bewahren des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Erklärtes Ziel: Jeder soll selbst über Erhebung, Verarbeitung und Nutzung seiner Daten bestimmen können, Einschränkungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Vermeiden des gläsernen Bürgers. Auf internationaler Ebene gibt es deutlich divergierende Ansätze zum Datenschutz, es ergeben sich Spannungen insbesondere durch globale Vernetzung.
Arendt, Hannah (1993): Was ist Politik? München: Piper Verlag GmbH. Arendt, Hannah (1981): Vita activa. Oder vom täglichen Leben. München: Piper Verlag GmbH. 1. Auflage 2002. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (2016): Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2016. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (Hrsg.): Bonn. Lefort, Claude (1990): Die Frage der Demokratie. In: Rödel, U. (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt a. M. S. 281–298. Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel (1990): Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen. In: Rödel, U. (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt a. M. S. 89–122. NDR (2016): Browser-Erweiterungen: Sensible Daten auch zahlreicher Bundespolitiker ausgespäht. Online verfügbar unter: http://www.ndr.de/ der_ndr/presse/mitteilungen/BrowserErweiterungen-Sensible-Daten-auchzahlreicher-Bundespolitiker-ausgespaeh t,pressemeldungndr17820.html [Zugriff: 27.11.2016]. Thode, Jan-Christoph (2015): Der gläserne User – Regelungen und Regelungsbedarf für das Profiling. In: Privacy in Germany. Heft 1. Jg. 2015/3. S. 1–8. Thiel, Christian (2014): Regieren nach Zahlen. In: Der Spiegel. Heft 37.
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ARTIKEL
SOZIALPOLITIK AUS DEM DRUCKER Teilhabe an der Digitalisierung als kleine Randbedingung einer technikgemachten Sozialpolitik
VON THOMAS BAUSCH Es war schon heftig, was die Dampfmaschine einst in Gang setzte: Die industrielle Revolution. Sie führte zu einem Entwicklungsschub der Technik, der Produktivität, des Wissens und gesellschaftlichen Wandels. Statt Dampfmaschinen könnten heute digitale Herstellungsverfahren, wie der 3D-Druck, Sinnbilder einer neuen Industrieepoche werden, die Produktionsprozesse zu den Konsumenten verlagern und so demokratisieren. Bei einem solchen Prozess, dem computergesteuerten 3D-Druck, werden aus flüssigen Werkstoffen, wie Kunstharzen, relativ günstig beliebige Gegenstände schichtweise aufgebaut. Auch die Produktpalette wächst mit den technischen Möglichkeiten: von kleinsten Bauteilen für die Computerindustrie bis großen Bauteilen für das Bauwesen und einfachen Alltagsartikeln bis hin zu Prothesen. Der 3D-Druck zählt zum Standbein des digitalen Wandels, denn digitale Produkte konkurrieren zunehmend mit konventionellen Fließbandprodukten. Allerdings gilt wie bei der industriellen Revolution, dass maschinelle Produktion erneut mit menschlicher Arbeit konkurriert und es ist zu erwarten, dass drastische Veränderungen im ökonomischen Gefüge positive und negative, vor allem aber einschneidende soziale Folgen haben werden. Ich nehme daher verwegen an, dass die künftige Wirtschafts- und Sozialpolitik aus dem 3D-Drucker kommt, wenn er die bisher monopolisierte Welt der Produktion demokratisiert und uns zu „Prosumenten“ macht. Der Prosumentenbegriff ist aber noch zu problematisch, um ihn im Diskurs um eine demokratisch organisierte Produktion einzubringen. Was der Prosument ist und warum er problematisch mit seiner jetzigen erklärungsbedürftigen Definition ist, zeigt die Gegenüberstellung mit unserer ökonomischen und gesellschaftlichen Organisation und der daraus resultierenden ungleichen Verteilung von Wissen und der Frage, auf welche Grundsätze sich Sozialpolitik konzentrieren müsste, wenn sie eine „Wissensumverteilung“ steuern und sozialverträglich machen will. Zunächst also eine Erklärung des makrosoziologischen Modells des Prosumenten und sein Verhältnis zur Arbeitswelt von Morgen. Illustration: Ingo Faulstich
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In seinem Buch The Third Wave formuliert Alvin Toffler die Idee von einem selbstproduzierenden Konsumenten, der durch Einsatz von Technologien seine eigenen Bedürfnisse bedient. Er will einen praxisorientierten Prosumentenbegriff finden, indem er die Rollenerwartungen von uns nachfragenden Konsumenten auf der einen Seite und bereitstellenden Produzenten auf der anderen Seite auflöst, wenn die Technisierung bzw. Digitalisierung die Dominanz der Marktlogik ebenfalls auflöst (vgl. Blutner 2012). Dazu begründet Toffler das Ende dieses Abhängigkeitsverhältnisses mit seinem Beginn und erklärt seine Entwicklung in drei Epochen („Wellen“): In der Vorindustriellen Zeit waren Menschen Selbstversorger und kannten die beiden Rollen nicht. Sie lernten sie erst nach der Welle der Industrialisierung kennen. Sie spülte die Selbstversorgung fort und Produktion und Konsum wurden durch Etablierung des Marktes voneinander getrennt (vgl. Toffler 1980: 53ff ). An dieser Stelle erwähnt der Autor nicht die damit verbundene Bedeutung der sozialen Integration durch Erwerbsarbeit, die
gesellschaftliche Teilhabe durch Konsum suggeriert. Arbeit und Konsum haben dadurch ein symbiotisches Verhältnis, das uns als Prosumenten im Weg steht, wenn der Markt in der dritten Epoche seine Macht in der Transmarktgesellschaft verlieren soll, ohne zu verschwinden. Als Prosumenten eignen wir uns in der dritten Welle beide Rollen zugunsten einer Wirtschaftsordnung an, in der wir gleichzeitig als Konsument und Produzent mit anderen agieren (vgl. ebd.: 286ff ). Dazu ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Außerdem sollten wir uns von der Vorstellung lösen, es handele sich bei Erwerbsarbeit um einen gesellschaftlichen Akt, der die eigene soziale Stellung bestimmt (vgl. Miegel 2007: 167). Das Problem ist, dass wir selbst, wenn wir keinen Job haben, dennoch konsumieren müssen und damit abhängig vom Angebot sind. Konkret manifestiert sich hier die Logik des Konsums, nach jener der Markt auch nicht verschwinden kann. Nach ihr verschaffen wir uns den Zugang zu Innovationen ausschließlich durch ihren Erwerb. Erwerb verspricht uns Teilhabe an neuen Technologien, die uns wiederum suggerieren, uns von der Rollenerwartung als Konsument emanzipieren zu können. Das führt nicht nur zur Dominanz der Hersteller und des Marktes, sondern auch zum Zwang eine der beiden Rollen einzunehmen, die in diesem Licht vielmehr als Nutzenerwartung erscheint. Hinzu kommt, dass in der fortschreitenden Digitalisierung Arbeit, Kapital und Wissen zunehmend mit Technik verschmelzen (vgl. ebd.). Und wenn es allein Produzenten 19
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sind, die die damit verschmolzene Technik bereitstellen, statuieren sie die ungleiche Verteilung von Wissen, Kapital und Arbeit. Es werden diejenigen kein Teil eines digitalen Wirtschaftskreislaufs sein, die mangels Wissen weder selbst herstellen noch mangels Arbeitseinkommen konsumieren können und damit nicht als nützlich betrachtet werden (vgl. Badiou 2016: 35). Der 3D-Drucker und die Versprechen seiner technologischen Möglichkeiten nützen uns dann nichts, wenn der Zugang zu ihm in jeder Hinsicht fehlt, wir als Prosumenten ihn weder kaufen noch bauen können. Von einer „[…] Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben auf der Grundlage auskömmlicher Erwerbsarbeit ohne Angst vor sozialem Abstieg zu führen und im Falle der Arbeitslosigkeit und des Empfangs staatlicher Unterstützungsleistungen nicht als ‚Sozialschmarotzer‘ diskriminiert zu werden“ (Kutscha 2006: 355) kann dann keine Rede sein. Somit muss auf der einen Seite für den Prosumenten in Tofflers Sinne die soziale Integration durch Beweis der eigenen Nützlichkeit, vor allem durch Konsum, hinterfragt werden und durch ein anderes Sozialgefüge ersetzt werden. Wie Blutner konstatiert, vernachlässigt Toffler in diesem Punkt unsere organisatorische Verfasstheit und damit ihre Nutzenmaxime. Er übersieht auch das Beharrungsvermögen des Marktes und fragt nicht nach sozialen Verwerfungen, die ein Austausch des Produktionsregimes schon vor dem eigentlichen Austausch provoziert. Auf der anderen dafür zuständigen Seite, zielt aber auch Sozialpolitik nicht auf die Mitgestaltung des Produktionsregimes ab, trotz der vielversprechenden technologischen Möglichkeiten sie durchzusetzen. Vordergründig geht es ihr um die bloße Geldumverteilung, also Möglichkeiten zu schaffen, Innovationen zu kaufen und sich damit „nützlich“ zu machen. Es geht aber um die Notwendigkeit der Mitbestimmung der Produktion bzw. die Teilhabe an der Technologie und nicht um ihre Übertragung an den Staat, der damit wie auch immer geartete soziale Ziele verknüpft. Sie darf sich nicht darauf beschränken die Fehler einer automatisierten Wirtschaftsordnung mittels sozialstaatlicher Elemente zu korrigieren, sondern muss demokratische Teilhabe nicht nur im Politischen, sondern auch im Ökonomischen ermöglichen. Derzeit problematisch für uns als Prosumenten von Morgen ist also die „Politik der Ökonomisierung“ (Kutscha 2006: 361), die nicht nur Technik, sondern auch das dafür nötige Wissen dem Nutzen Privater unterordnet. Verwandelt sich Wissen in Ware, kommen jene mit engen finanziellen Spielräumen zu kurz. Damit sind demokratische Gestaltungsmöglichkeiten und Teilhabechancen geschmälert, weil private Zugänge nicht öffentlich einsehbar sind (vgl. ebd.: 362). In Form von Patenten und Betriebsgeheimnissen ist Wissen bisher jenen vorbehalten, die „kapitalintensiv“ wirtschaften können und nur bei profitabler Nachfrage zur Verfügung stellen, heute und in Zukunft. Es gilt vor allem technologisches Wissen öffentlich zugänglich zu 20
machen. Damit basiert Integration in der Do-It-Yourself-Gesellschaft auf gemeinschaftsorientierte Bereitstellung erarbeiteten Wissens und weniger auf der Mentalität der Nutzenerwartung. Der Prosumentenbegriff kann dieses Problem nicht lösen und ist in dieser Hinsicht trotz seines Potenzials noch unreif. Fazit: Bevor wir als Prosumenten gewissermaßen 3D-druckreif sind, müssen wir dem zugrundeliegenden Begriff eine klare Selbstdefinition geben, die seine politische Rolle in einer vollautomatischen, quasi nutzenmaximierten Wirtschaftsordnung beschreibt. Das geht aber nicht, weil der Begriff „Prosument“ noch nicht zwischen freiwilligem Mitwirken des Konsumenten bei der Produktentwicklung und neuer Partizipationsformen sowohl im Ökonomischen als auch im Politischen unterscheidet. Erst wenn wir ihn stattdessen als einen politischen Begriff wahrnehmen, kann eine umfassende Strategie folgen, um Besitzverhältnisse in gemeinwohl orientierte Wirtschaftsprinzipien zu verwandeln, in denen gleiche Chancen für alle über Kapitalinteressen weniger stehen (vgl. Weber 1973: 316). Erst dann wird sich die monopolisierte Welt der Produktion demokratisieren, in dem sich Netzwerke bilden und sich soziale und ökonomische Vorteile einer digitalisierten Arbeitswelt allen gleichermaßen erschließen.
Badiou, Alain (2016): Wider den globalen Kapitalismus. Für ein neues Denken in der Politik nach den Morden von Paris. Berlin. Blutner, Doris (2010): Vom Konsumenten zum Produzenten. In: Blättel-Mink, Brigitte/ Hellmann, Kai-Uwe (Hrsg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: S. 83–95. Kutscha, Martin (2006): Erinnerung an den Sozialstaat. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Jg. 2006/3. S. 355–364. Miegel, Meinhard (2002): Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH. 6. Auflage 2007. Toffler, Alvin (1980): The Third Wave. New York: Morrow. Weber, Max (1973): Vom Kapitalismus zur Gemeinwirtschaft. In: Festschrift H. P. Tschudi. Bern: S. 315–320.
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DIGITALER MÜLL Nachhaltiges Cloud Computing?
VON K. K. Vor 40 Jahren wurde von der Business Week das Ziel für die Zukunft festgelegt: „Das papierlose Büro“. (Business Week 1975) Die Lösung für alles: Der PC! Die Vorstellung, dass bald auf jedem Schreibtisch ein PC stehen würde und beinahe jeder ein Smartphone besitzt, schien damals noch undenkbar. Zweifelslos sind auch Tablets zum Beispiel für das Studium von großem Nutzen und dennoch müssen Unmengen an Papier wöchentlich in die Tonne gestopft werden. Hier wird die Diskrepanz deutlich. 1975 glaubte man noch, der PC würde alles vereinfachen und der Papierwahnsinn hätte ein Ende. Und dann noch die glorreiche Erfindung der E-Mail! Seit Beginn der 80er Jahre scheint die E-Mail die Lösung für alle Kommunikationsprobleme zu sein: zuverlässig, gratis, weltweit verfügbar und schnell. Das Leben konnte simpler und effizienter gestaltet werden.
DAS PAPIERLOSE BÜRO sollte weitestgehend auf die Verwendung von Papier verzichten, indem Dokumente in digitaler Form umgewandelt werden. Im extremsten Fall sollte ein papierloses Büro nur aus einem Stuhl, Schreibtisch und Computer bestehen.
Zwar erhält ein Angestellter in den USA täglich ca. 40 E-Mails, der United States Environmental Protection Agency zufolge verursacht ein durchschnittlicher Büroarbeiter aber täglich noch immer ca. 1 kg an Papier (US EPA 2013). Der Traum des papierlosen Büros scheint geplatzt zu sein. Aber was muss sich ändern, um einerseits die Umwelt durch den hohen Papierverbrauch weniger zu belasten und andererseits tägliche Zeit effizienter zu gestalten?
Eine Möglichkeit zur Reduktion des Papierverbrauchs von Büroangestellten könnte die Nutzung von Cloud Computing (s. Infobox, rechts) sein. Nutzten 2011 noch 28% deutscher Unternehmen Cloud Computing Dienste, waren es 2015 schon 54% (Statista 2011). Auch die private Nutzung von Cloud-Diensten steigt und die Breite der Anbieter wächst. „Google Docs“, „iTunes Musikbibliotheken“ und „GMX-Mail“ werden von vielen Menschen täglich genutzt und ein uneingeschränkter mobiler Zugriff auf Daten ist nahezu selbstverständlich geworden (Knop 2010). Es wird vom IDC (International Data Corporation: Herausgeber der Digital Universe Studie im Auftrag von EMC, der führende amerikanische IT-Provider für Hardwarespeicher Lösungen/ Daten-BackUp) prognostiziert, dass 2020 etwa die Hälfte aller Daten in Clouds gespeichert oder verarbeitet werden (EMC 2011). 22
Heute werden ca. 58% aller Daten von Privatpersonen erzeugt, wovon für etwa 80% Unternehmen die Verantwortung tragen. Das liegt daran, dass im Laufe eines Lebenszyklus private Daten oft in Unternehmensnetzwerke gelangen, zum Beispiel durch die Nutzung von Cloud-Speichern. Die Daten, welche in Clouds gespeichert sind, liegen in Rechenzentren auf Millionen von Servern. Die Rechenzentren wiederum hängen am Netz und erfordern so unbemerkt zwischen 1,1% und 1,5% (2010) der weltweit verbrauchten Energie. Allein ein Microsoft Rechenzentrum in den USA verbraucht 48 Megawattstunden pro Jahr, damit könnten 40.000 Haushalte versorgt werden. (Koomey 2011) In Deutschland liegt der Stromverbrauch von Servern und Rechenzentren bei 1,8% des Gesamtstromverbrauchs von Deutschland. Dafür werden ca. vier mittelgroße Kohlekraftwerke benötigt. Außerdem stieg die Anzahl der großen Rechenzentren (mehr als 500 Server) in den letzten Jahren um 15%, wobei Mega-Rechenzentren, wie Google, Microsoft, Amazon oder Apple, in Deutschland bislang nicht ansässig sind. (Hintemann et al. 2012) Aber die Datenflut wächst weiter. 1,8 Zettabyte (entspricht 1,8×109 Terabyte) Daten werden pro Jahr erzeugt und kopiert, eine kaum vorstellbare Zahl. Diese Daten würden mehr als 200 Milliarden HD-Filmen mit einer Dauer von zwei Stunden entsprechen. Das hieße 47 Milliarden Jahre non-stop Filme schauen. Bis 2020 wird erwartet, dass sich die Zahl der Server weltweit in den letzten zehn Jahren versechsfacht und dass eine 50-fach größere Datenmenge bewältigt werden müsse. Das alles ist dadurch angetrieben, dass Kosten für Datenerzeugung, -erfassung und -speicherung stetig sinken und Investitionen von Unternehmen in Cloud-Dienste, Hard- und Software und IT-Mitarbeiter steigen. (EMC 2011)
CLOUD-COMPUTING bedeutet, dass man Software ausführt, die nicht auf dem lokalen Rechner installiert ist, sondern auf einem anderen Computer, der aus der Ferne angesteuert wird, beispielsweise via Internet. Der Begriff „cloud“ stammt aus der Informatik, wo ein großes, dezentrales Netzwerk als „Wolke (engl.: cloud)“ bezeichnet wird. Die Cloud ist also ein Netzwerk von Computern, die zusammengeschlossen eine „Wolke von Computern“ bilden. Der Endbenutzer weiß jedoch nicht wie viele oder welche Computer die Software benutzen oder wo genau die Computer stehen. Der Benutzer ist somit nicht mehr im Besitz der Hardware und braucht sich daher auch nicht um dessen Wartung kümmern. Die Anbieter von Cloud-Services stellen also eine Dienstleistung über das Internet zur Verfügung.
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In Westeuropa soll sich der Datenbestand alle 2,5 Jahre verdoppeln und bis 2020 auf 5 Zettabyte ansteigen (EMC 2011). Erstaunlicherweise stellen 90% dieser Daten unstrukturierte Daten dar, d.h. Daten, die beispielsweise nicht verschlagwortet sind nur ein Drittel dieser Daten entsprechen ansatzweise den geforderten Datenschutzbedingungen. Dies stellt neue Herausforderungen an Unternehmen zur Analyse, Suche und Erfassung vorliegender Daten. Dafür werden Lösungen zur Verarbeitung großer Datenmengen benötigt, welche jedoch den hohen Ansprüchen der westeuropäischen Datenschutzstandards gerecht werden müssen. Aber solche Lösungen, wie z.B. Big-Data-Analysen, erzeugen bei der Auswertung wiederum Metadaten, was noch mehr Daten bedeutet und uns somit noch tiefer in den Datenflut-Teufelskreis ziehen. (EMC 2011) Ob die Datenflut nutzbar ist oder nicht, hängt davon ob, wie leicht die Unternehmen diese priorisieren, speichern und abrufen können. Daten sollten zentralisiert und ständig verfügbar sein, um Anfragen von mehr als vier Milliarden mobilen Geräten gerecht werden zu können. Denn das Verlangen nach mehr Speicherplatz ist kaum noch zu stillen. Datenmengen und Speicherkapazität sollten als Ressource gesehen werden, die genauso wertvoll ist wie Wasser, Öl oder Gold. Daten werden auch wie andere Güter gehandelt und verkauft. (EMC 2011) Des Weiteren bedarf es einer Reflexion darüber, dass auch Surfen im Internet oder Datenspeicherung Energie konsumieren und somit auch den CO2-Fußabdruck erhöhen. Auch wenn ein langsames Umdenken seitens der Internet-Giganten festzustellen ist und diese versprechen, ihre Rechenzentren mit Energie aus erneuerbaren Quellen zu versorgen (Knirsch et al. 2014), sollte dennoch jeder Mensch, Konsument, und „User“ reflektieren, welche Konsequenzen unser tägliches digitales Leben mit sich birgt; Energieverbrauch oder Datenmüll. Wir konsumieren Dinge auf eine Art und Weise, die unendliche Ressourcen voraussetzen, die weder die Natur noch der größte Server gewährleisten können.
BIG DATA Man spricht von „Big Data“, wenn Datensätzen so groß sind, dass sie nicht mehr von herkömmlich genutzten Software-Tools erfasst, verarbeitet oder verwaltet werden können. Der Begriff bezeichnet außerdem auch, dass die Daten komplex, schnelllebig und unstrukturiert sind. Mit der steigenden Komplexität unserer Technologien steigt die Menge der Daten, die gesammelt und ausgewertet werden müssen.
Business Week (1975): The Office Of The Future. In: Business Week 1975/2387. S. 48-70. EMC (Hrsg.) (2011): Datenwachstum verdoppelt sich alle zwei Jahre. Online verfügbar unter: http://germany. emc.com/about/news/press/2011/20110628-01.htm; https://germany.emc.com/collateral/analyst-reports/idcextracting-value-from-chaos-ar.pdf [Zugriff: 22.12.2016]. Hintemann, Ralph et al. (2012): Energieverbrauch und Energiekosten von Servern und Rechenzentren in Deutschland. Aktuelle Trends und Einsparpotenziale bis 2015. Berlin: Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit gemeinnützige GmbH. Knirsch, Jürgen et al. (2014): Clicking Clean: Wie Unternehmen ein umweltfreundliches Internet erschaffen. Wien: Greenpeace. Knop, Carsten (2010): Jetzt kommt die Cloud. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzwirtschaft/ datenspeicherung-jetzt-kommt-die-cloud-1230186.html [Zugriff: 21.12.2016]. Koomey, Jonathan (2011): Growth in Data center electricity use 2005 to 2010. In: Analytics Press. Online verfügbar unter: http://www.analyticspress.com/ datacenters.html [Zugriff: 30.12.2016]. STATISTA (Hrsg.) (2011): Nutzung von Cloud Computing in Unternehmen in Deutschland in den Jahren 2011 bis 2015. In: Statista. Online verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/177484/ umfrage/einsatz-von-cloud-computing-in-deutschenunternehmen-2011/ [Zugriff: 22.12.2016]. US EPA (Hrsg.) (2013): Wastes - Resource Conservation - Common Wastes & Materials - Paper Recycling. Online verfügbar unter: https://archive.epa. gov/wastes/conserve/materials/paper/web/html/faqs.html [Zugriff: 22.12.2016].
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VERNETZTE ÖFFENTLICHKEIT Politischer Diskurs im Zeitalter der Digitalisierung
VON MAGNUS TAPPERT Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die unterschiedlichsten Gesichtspunkte menschlichen Lebens sind bereits heute unübersehbar und es ist eine außerordentlich umfangreiche Aufgabe, einen Überblick über die konkreten Konsequenzen dieses grundlegenden Wandels zu erlangen. Die Politik gehört zweifelsohne zu den am stärksten beeinflussten Teilgebieten: Allein der Blick auf den Stellenwert digitaler Wahlkampfführung für die zwei herausstechenden politischen Großereignisse des letzten Jahres, den Austritt Großbritanniens aus der EU und die Wahl des 45. US-Präsidenten, macht deutlich, dass die Wechselbeziehungen zwischen Politik und Digitalisierung grundlegend begriffen werden müssen, um ein zukunftsfähiges Politikverständnis zu entwickeln. In diesem Artikel soll der Versuch gemacht werden, einen Überblick über besonders relevante Ebenen dieser Beziehung zu gewinnen. Das Verständnis „des Politischen“ wird im Folgenden auf die prozessuale Ebene der Politics verkürzt, da diese angesichts der im Wandel begriffenen Auseinandersetzung des Menschen
mit seiner sozialen Umwelt in den Fokus rückt. Doch auch auf dieser Ebene sind aufgrund der Vielzahl zu berücksichtigender Aspekte weitere Einschränkungen zu machen: In diesem Artikel geht es nicht um Möglichkeiten digitaler Beteiligung an formalpolitischen Prozessen. Vielmehr geht es um den Einfluss der Digitalisierung auf nichtparlamentarische Prozesse des Politikgestaltens und auf die Wahrnehmung und das Verständnis von Politik bzw. politischen Themen in der Öffentlichkeit. Es ist wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Politik und Medien nicht erst seit Beginn der Digitalisierung untrennbar miteinander verbunden sind. Denkt man an die Erfindung des Buchdrucks, die Einführung des Rundfunks oder des Fernsehens, wird deutlich, dass Medien als Werkzeuge zur Welterschließung bereits immer das Selbstverständnis der Menschen und somit auch ihr Politikverständnis geprägt haben. Gleichzeitig würde man rückblickend wohl kaum alle historisch relevanten Gesellschaftsentwicklungen für ausschließlich anhand des jeweils dominanten Kommunikationsmedi25
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ums erklärbar halten. Daher ist es sinnvoll, den Medienund Kommunikationswandel und den politischen Wandel in genauer analytischen Betrachtungen vorerst getrennt voneinander zu beleuchten, um so den Hang zur technikdeterministischen Überbewertung des Internets als einer Dauerkonstanten in gesellschaftlichen Entwicklungen zu vermeiden: Soziale Bewegungen positionieren sich heute logischerweise von vornherein im Kontext der digitalen Welt. Ihren Ausgangspunkt haben sie aber meist immer noch auf lokaler Ebene – seien es nun Occupy Wall Street oder Pegida. Begreift man die Digitalisierung jedoch als Ausgangspunkt jeglicher gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne, fallen tiefer liegende Zusammenhänge nur allzu schnell aus der Betrachtung heraus. So sieht die Soziologin Saskia Sassen selbst in Facebook, dem Paradebeispiel digitalisierter Massenkommunikation, „eine globale Formation, die sich nicht über die breite Akzeptanz konstituiert, sondern sich vielmehr durch die kleinen, weitestgehend ortsgebundenen, geschlossenen Räume auszeichnet.“ (Sassen 2013: 45) Selbstverständlich spielt die digitale Kommunikation hinsichtlich interner Organisation, Außendarstellung und Netzwerkbildung eine zentrale Rolle und trägt somit zur Ausformung sozialer Bewegungen bei. Diese Unterscheidung in der Annäherung an ein politisches Phänomen aufrechtzuerhalten, hat den Vorteil, „die ‚mediatisierte Welt‘ der Politik insgesamt zu berücksichtigen. [Denn] erst in einem solchen Gesamtzusammenhang beginnt man zu verstehen, wie sich mit der Mediatisierung und Globalisierung Politik ändert.“ (Hepp 2013: 52) 26
Im hier angewandten prozessualen Verständnis wird Politik als Netzwerk verschiedener Verfahrensweisen zur Klärung der Anliegen des Gemeinwesens in Abgrenzung zum Privaten konstituiert. Diese Trennung von Politischem und Privatem, die vor allem für das liberale Politikverständnis eine wichtige Rolle spielt, ist epochen-, kultur- und milieuspezifisch geformt (vgl. Heller 2013: 65). Neben der Akkumulation persönlicher Erfahrungen quer durch die Gesellschaft oder innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, kann auch ein drastisches Einzelbeispiel Anstoß für eine gesellschaftliche Debatte sein: Die genannte Grenze wird übertreten, Privates wird also politisch – man denke an die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi als Auslöser der Revolution in Tunesien 2010/2011, an die vierzehnjährige Reem Sahwil oder den siebenjährigen Aylan Kurdi, die den Debatten um den Umgang mit geflüchteten Menschen ein Gesicht geben. Dies ist zwar kein Spezifikum des digitalen Zeitalters, doch durch die Digitalisierung ist es deutlich einfacher geworden, ein Einzelschicksal medial zu inszenieren. So gibt es die Möglichkeit, den Fokus der Öffentlichkeit auf ein Thema zu lenken, das ansonsten kaum Beachtung findet. (Hier zeigt sich, wie auch auf Ebene der gewählten Vertreter, eine Tendenz zur stärkeren Personifikation des Politischen.) Jedoch scheint damit zugleich ein Verlust an Konstanz und Tiefgründigkeit der öffentlichen Diskussion einherzugehen: Während menschliche Schicksale als Symbole
FILTERBLASE/ECHOKAMMERN Schlüsselbegriffe aus der Debatte um Relevanz und Wahrnehmung im Netz. These: Die Personalisierung von Suchergebnissen und Internetpfaden führt zu einer einengenden Weberfahrung. Es gibt keine Informationen von „außen“, die Anregungen oder Inspirationen ermöglichen. Contra: Altes Phänomen (vgl. Einschaltquoten!), das wir letztendlich aus erkenntnistheoretischen Debatten kennen: Gibt es überhaupt etwas, was wir objektiv wahrnehmen können?
gesellschaftlicher Entwicklungen die Bindung an deren Ausgestaltungsprozesse erhöhen können, treten sie im digitalen Zeitalter zugleich in einen beispielslosen Konkurrenzkampf um die öffentliche Aufmerksamkeit. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Schnelllebigkeit der Kommunikation Politiker_innen zwingt, sich in gewissem Maße anzupassen, wenn sie die Kontrolle über ihre öffentlichen Aussagen behalten wollen, da allzu ausführliche und differenzierte Aussagen oft verkürzt und somit verzerrt wiedergegeben werden (vgl. Crouch 2008: 64) – auch wenn man erwarten darf, dass sie sich diesem Trend zumindest teilweise entziehen. Die damit einhergehende Umdeutung politischer Nachrichten zu kurzlebigen Konsumgütern ist laut Crouch Anzeichen der postdemokratischen Entwicklung: Während eine Vermehrung von Nachrichten den Menschen die Möglichkeit der Emanzipation gegenüber institutionalisierten Deutungshoheiten eröffnet, kippt diese Entwicklung – der von Crouch vermuteten parabelförmigen Entwicklung entsprechend – ab einem nicht genau zu definierenden Scheitelpunkt in die gegenteilige Richtung und der Mensch wird durch die Nachrichtenflut in die Passivität gedrängt: „Der Konsument hat über den Staatsbürger gesiegt.“ (Crouch 2008: 67) Durch die Kurzlebigkeit und den Sensibilismus öffentlicher Debatten bietet sich für gut vernetzte Akteure
die Möglichkeit zur fast unbemerkten Verschiebung von Diskursgrenzen. Durch kalkulierte und regelmäßige Übertretungen können Themen sowie Sprach- und Denkmuster zur Annäherung an eben diese ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. So soll es Politiker_innen geben, die den Halt auf ihrer Computermaus verloren und somit zuvor öffentlich kaum beachtete Begriffe und Handlungen vielleicht nicht salonfähig gemacht, doch zumindest für einige Zeit im Zentrum der Debatte platziert haben – man denke an die Debatte über den Schießbefehl an deutschen Grenzen. Damit einherzugehen scheint die Zurückweisung von Verantwortung für die eigene Kommunikation, die sich auf die zwischengeschaltete Technik und somit auf die vom modernen Menschen gemachte Erfahrung des Kontrollverlusts im Digitalen stützt: Wohl Jede_r hat schon Informationen durch nicht dafür vorgesehene digitale Kommunikationskanäle gesendet (vgl. Pörksen 2013: 73). Die Verantwortung für die Platzierung des Diskursgegenstandes wird zurückgewiesen, der Diskurs mit all seinen Verselbstständigungen dennoch geführt. Die Digitalisierung verspricht, was insbesondere für politische Debatten eine wichtige Voraussetzung ist, die Möglichkeit des erleichterten Perspektivwechsels und den Zugang zu Wissen, jedoch fördert sie auch die gesellschaftliche Spaltung. Sowohl inner- als auch intergenerational gibt es erhebliche Unterschiede in der Verwendungsweise des Internets. Neben den offensichtlichen Auswirkungen des Alters auf die Vertrautheit mit der Möglichkeitsvielfalt der digitalen Sphäre, gibt es auch einen Unterschied der Internetnutzung innerhalb der „Digital-Native“-Generationen, welcher unter anderem auf unterschiedliche Bildungsniveaus zurückzuführen ist und wiederum eine Auswirkung auf die Verteilung gesellschaftlich relevanter 27
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Ressourcen, wie bspw. Wissen und Geld, hat. Die Sorge ist, dass durch diesen „digital divide“ ein (noch stärkerer) „democratic divide“, eine Spaltung hinsichtlich der politischen Teilhabe, entsteht (vgl. Zillien 2013: 121ff.). Neben den Unterschieden hinsichtlich der Nutzung der Vorteile der Digitalisierung, gibt es einen, wohl noch schwerwiegenderen, Einfluss auf die unterschiedlichen Konstruktionen sozialer Wirklichkeit(en). Auch dieses Phänomen ist kein Alleinstellungsmerkmal des digitalen Zeitalters, doch nehmen Algorithmen den Menschen nach und nach den Aufwand der Aufrechterhaltung eines – auch durchaus einsturzgefährdeten – Weltbildes ab. Dies reicht von personalisierten Werbeanzeigen bis zur radikalen Selektierung von Nachrichten: Bis vor nicht allzu langer Zeit brauchte es einen gewissen (teils unbewussten) Aufwand, um ein gewisses Weltbild aufrechtzuerhalten, da Informationen selektiert werden mussten, heute braucht es diesen Aufwand, um die sogenannte „Filterblase“ oder „echo chamber“ zu verlassen. Gleichzeitig darf man auch diese Entwicklung nicht lediglich dichotom betrachten, denn in der modernen Welt, in der jedes Individuum der Gefahr der Reizüberflutung ausgesetzt ist, müssen Informationen gefiltert werden – und dies gelingt wohl nur mithilfe von Maschinen. Jedoch darf sich der/die Einzelne der Filterung nicht passiv ergeben, sondern sollte versuchen, diese möglichst aktiv zu gestalten – und dabei niemals vergessen, dass jedes Bild der Wirklichkeit, insbesondere in der heutigen Zeit, zwangsläufig ein Filterprodukt ist. „Man hat die Freiheit, ignorant zu sein. Andererseits besitzt man auch die Freiheit, äußerst gut informiert zu sein – über eine Handvoll von Dingen, über die man gut informiert sein möchte, und durch die Handvoll Personen, die man dafür auswählt, diese Information an einen weiterzugeben.“ (Grieve 2013: 149)
Es lässt sich festhalten, dass die Digitalisierung durch einen stark vereinfachten Zugriff auf Wissen und andere gesellschaftliche Perspektiven sowie durch die Möglichkeit der detaillierteren Betrachtung sozialer Phänomene und Prozesse ein gewisses Demokratisierungspotential bietet. Durch notwendige Informationsfilterung und die stark unterschiedlichen Medienkompetenzen entstehen eine Vielzahl unterschiedlicher Weltkonstruktionen und ein großer Unterschied im Zugriff auf gesellschaftlich relevante Ressourcen. Zudem verstärkt die moderne Massenkommunikation die Sensibilität des öffentlichen Diskurses und erschwert so eine angemessene Auseinandersetzung mit relevanten Themen. Die demokratisierenden Tendenzen zu stabilisieren und die zwangsläufig damit einhergehenden Negativpotentiale einzudämmen, ist aus politischer Perspektive eine der wichtigsten Aufgabe des digitalen Zeitalters – unabhängig all der inhaltlichen Fragen, bspw. zum Datenschutz und den damit einhergehenden Machtpotentialen. 28
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Grieve, Tim (2013): Re-Think Journalism! In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH. Heller, Christian (2013): Zerstört die Digitalisierung die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem? In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH. Hepp, Andreas (2013): Es sind die Menschen auf den Straßen. In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH. Pörksen, Bernhard (2013): Der totale Kontrollverlust. In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH. Sassen, Saskia (2013): Minimalistisches Facebook: das Social-NetworkingPortal innerhalb größerer Ökologien. In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH. Zillien, Nicole (2013): Internet verstärkt soziale Spaltung. In: Deutschlandradio (Hrsg.): Der Ort des Politischen – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung. Berlin: VISTAS Verlag GmbH.
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For things will never be perfect, until human beings are perfect – which I don‘t expect them to be for quite a number of years!
Welch ein Fortschritt – der MASCHINE sei Dank. – E.M. Forster, Die Maschine steht still (1909)
– Thomas More, Utopia (1516)
We are not our own any more than what we possess is our own. We did not make ourselves, we cannot be supreme over ourselves. We are not our own masters. – Aldous Huxley, Brave New World (1932)
FEUIL
Irgendwann sehen die KIs auf uns zurück als aufrecht gehende Affen, dazu verdammt auszusterben. – Ex Machina (2015)
One believes things because one has been conditioned to believe them. – Aldous Huxley, Brave New World (1932)
Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. [...] Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. – Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker (1962)
GEHEIMNISSE SIND LÜGEN TEILEN IST HEILEN ALLES PRIVATE IST DIEBSTAHL – Dave Eggers, Der Circle (2013)
We need not to be let alone. We need to be really bothered once in a while. How long is it since you were really bothered? About something important, about something real?” – Ray Bradbury, Fahrenheit 451 (1953)
BIG BROTHER IS WATCHING YOU – George Orwell, 1984 (1949)
LET N
Die Herausforderung ist, dass obwohl Du weißt, dass sie ein Roboter ist, trotzdem glaubst, dass sie ein Bewusstsein hat. – Ex Machina (2015)
„Mir widerstrebt es, von einer Krankheit bei Maschinen zu sprechen.“ – „Wir haben es hier nicht mit gewöhnlichen Maschinen zu tun, sondern mit empfindlichen Apparaturen, fast schon, wie lebende Organismen. In manchen Fällen wurden sie von anderen Computern entworfen und gebaut. Wir wissen noch nicht einmal genau, wie sie funktionieren.“ – Westworld (1973)
No, do the best you can to make the present production a success – don‘t spoil the entire play just because you happen to think of another one that you‘d enjoy rather more. – Thomas More, Utopia (1516)
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FEATURE
GERMAN ANGST VS. AACHEN MUT ENTMYSTIFIZIERUNG DER DIGITALISIERUNG? philou. BEI AACHEN 2025 VON ANN-KRISTIN WINKENS UND JAN KORR
Digitalisierung – assoziativ für technische Komplexität und Vereinfachung des Alltags zugleich, Grundlage eines gesellschaftlichen Diskurses, dessen Tempo und fortlaufender Wandel einen immanenten Konflikt zwischen Analogem und Digitalität zu zementieren scheint. Der irreversible Paradigmenwechsel der Digitalen Revolution spaltet! Zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, Sicherheit und Persönlichkeitsrechten. Es geht um die Vereinfachung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens durch Optimierung, Fortschritt und Komfort. Dazwischen ruht jedoch die Angst vor dem überwältigenden Momentum. Mystisch erscheint das undurchsichtige Gerüst, dessen Innovationsimperativ die Fassbarkeit lange abgehangen hat: Das Smartphone als kurzfristiges Zwischenprodukt. Es wird der Anschein geweckt, man müsse entweder Experte oder bereitwilliger Konsument sein, um die Vorteile der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Digitalisierung zu erkennen und davon zu profitieren. Die Unsicheren, die Skeptiker und Kritiker sowie die schlichtweg Überforderten haben daher alle etwas gemein – den Mythos der Digitalisierung. Verwobene Komplexität, Nischenbildung, Undurchsichtigkeit: Die gelebte industrielle Revolution 4.0 – aber auch die Soziale Frage 2.0? Fatalistische Zukunftsszenarien potenzieren sich als Resultat von Intransparenz und fehlender Bürgernähe. Im September 2016 wurde in Aachen ein Grundstein gelegt, diesem Problem entgegenzuwirken: „Aachen 2025 – Digitalen Wandel erleben“.
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Die Veranstaltungsreihe erstreckte sich über zwei Tage und über acht Themenparks, in denen Projekte, Produkte aber auch Fragen und Probleme rund um die Digitalisierung präsentiert wurden. Die 11.000 Besucher sollten durch diesen Querschnitt gesellschaftlicher Kernthemen – von Arbeit und Kommunikation über Wohnen, Lernen, Einkaufen und Produktion bis hin zu Gesundheit und Mobilität – einen gelebten Einblick in den digitalen Wandel bekommen und einen Vorgeschmack auf potentielle Entwicklungen im Jahre 2025 kennen lernen. Wir haben uns mit einem der Veranstalter, Dr. Günter Bleimann-Gather, getroffen. Er spricht mit uns über die Kernphilosophie und Motivation von Aachen 2025: B-G: „Wir sind ein Unternehmen im Technolo-
giemarketing, das sich permanent mit Hightech beschäftigt und mit dem schnellen Wandel, den Digitalisierung in allen Bereichen lanciert. Manchmal erschrecken wir uns über das Bild, das in der Öffentlichkeit über Digitalisierung existiert. Für manche ist Digitalisierung etwas ganz Fernes, für einige ein Schreckgespenst und für andere beinhaltet es gewisse Anreize. Und obwohl jeder sieht, wie stark Digitalisierung in das tägliche Leben eingreift, – jedes Smartphone ist das Ergebnis von Digitalisierung – wehren sich die Menschen gegen weitere Veränderungsprozesse. Dabei sehen wir, dass sich im Augenblick ganz viele Geschäftsmodelle und Gewohnheiten umstellen werden. Das ist ein Prozess, in dem wir mittendrin sind und der in den nächsten fünf bis zehn Jahren lawinenartig unser Alltagsleben prägen wird. Viele Menschen glauben und haben überhaupt keinen Begriff davon, dass man selber Dinge ausprobieren, bewerten kann, womöglich sogar fördern und nach vorne bringen kann. Aus dieser Diskrepanz heraus dachten wir, dass wir das Thema in eine breitere Bevölkerung einbringen müssen und auch einen selbstbestimmten Umgang mit dem Thema ermöglichen können. Selbstbestimmt heißt für uns, auf keinen Fall Ängste schüren, auf keinen Fall glorifizieren, sondern einfach zeigen, was geht und was aller Voraussicht nach in einem relativ überschaubaren Zeitraum noch möglich sein könnte.“
Dr. Günter Bleimann-Gather ist Gründer und Vorstand der TEMA Technologie Marketing AG, die seit 20 Jahren und weltweit das Marketing von HighTech Produkten und Dienstleistungen optimiert und in Aachen Formate wie „Nacht der Unternehmen“, „Aachen goes electro“ und „Aachen 2025“ realisiert hat. Bleimann-Gather hat an der RWTH Aachen und am CERN in Genf Mathematik und Physik studiert.
Ein nobles Vorhaben. Digitalisierung für jedermann? Wir besuchten die verschiedenen Themenparks und erlebten das Programm aus erster Hand. Das Konzept sollte wissenserweiternd, aufklärend und inklusiv sein. Grundsätzlich bot die Veranstaltung Interdisziplinarität; Besucher aus allen Altersklassen und Fachrichtungen beschäftigten sich mit dem gleichen Thema: Digitalisierung. Generell ein Impulsgeber für alle – der digitale Paradigmenwechsel durch interaktive Nähe. Insbesondere der Bereich „Gesundheit“ kontrastierte dabei mit den anderen Parks. Hier wurde der Querschnitt einer allgemeinen Bevölkerung angesprochen: Die Teilnehmer wurden nicht nur informiert, sie konnten Produkte selbst ausprobieren und wurden spielerisch an die digitalisierte Diagnostik herangeführt. Niemand profitiert vom Stillstand in der Medizin. Ein weiterer markanter Themenpark war „Produktion“. Vor allem hier wurde die Thematik um Robotik im Allgemeinen sowie die latente Substitution menschlicher Arbeitskraft im Arbeitsbereich deutlich. Hinsichtlich des demographischen Wandels und dem damit einhergehenden Bevölkerungsrückgang in Deutschland werden dem Arbeitsmarkt 2030 sogar rund 3,5 Mio. Menschen weniger zur Verfügung stehen. Anders formuliert: Roboter werden menschliche Arbeitskraft nicht überflüssig machen, wir brauchen sie scheinbar, damit freie Beschäftigungen gefüllt werden können! 33
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Ein Großteil der „German Angst“, die aus der technischen und digitalen Beschleunigung resultiert, ist eine potentielle soziale Frage. B-G: „Bei jeder dieser industriellen Revolutionen
hat es ganz typisch diese Ängste gegeben. Denken Sie an den Weberaufstand von 1844: Wenn Sie dann aber das Resultat über die lange Zeit betrachten, also die Bedingungen der Arbeit, haben sich die Prozesse und Lebensbedingungen dramatisch verbessert. Heutzutage würden Sie keinen Mitarbeiter mehr eine halbe Stunde lang an solche Apparaturen stellen können, ohne mit dem Betriebsrat konfrontiert zu werden. Das schließt nicht aus, dass es punktuelle Einbrüche und Rückschläge gibt. Aber über lange Zeit findet eben Verbesserung statt. Und wenn man diese klug gestaltet, kann es auch eine kontinuierliche positive Entwicklung geben. So dass wir fast keine Verlierer in diesem Prozess haben, sondern wirklich alle mitnehmen können.“
3D-Druck im FabBus „Wolfgang“: Ein Projekt der FH Aachen, um die Technologie des 3D-Drucks zu fördern. Ausgestattet mit acht Arbeitsplätzen und elf Druckern, soll das Know-how des 3D-Druckens auf mobile Art an Schulen und Unternehmen gebracht werden.
In dem Vortrag „Wo bleibt der Mensch in der Produktion von morgen?“ vom WZL der RWTH Aachen University, wurden roboterunterstützte Produktionsprozesse vorgestellt. In China beispielsweise werden Smartphones größtenteils durch Roboter hergestellt - eine Tatsache, die dem Großteil der Nutzer nicht bewusst ist. Aber was würde das stille Wissen darüber ändern? Letztlich stören wir uns nicht daran, solange sich dadurch eine Komfortverbesserung ergibt – wir, als Endkonsumenten, wollen anscheinend auf das Gerät und die permanente Kommunikation nicht verzichten. Wie sieht also die Erwerbsgesellschaft der Zukunft aus?
Der Paradigmenwechsel als solcher findet statt. Ob man das möchte oder nicht: Eine fehlende Partizipation ist das, was die Angst auslöst. Dies erfordert ein Umdenken in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, denn Berufsfelder werden sich prägnant verändern, Erwerbsformen werden umstrukturiert und Produktionsverfahren automatisiert. Der Bedarf künftiger Mitarbeiterfähigkeiten scheint von interdisziplinärem Denken und Kommunizieren gekennzeichnet zu sein – aber wie können diese Disziplinen erlernt werden? Bildung ist auch hier das Topthema: Ohne Teilhabe an der digitalen Welt kann eine wirtschaftliche und soziale Integration des Durchschnittsbürgers nicht vorausgesetzt werden. Insbesondere nicht, wenn Digitalisierung nur durch einen konsumistischen Ansatz – als Produzent wie als Konsument – erfahren wird. B-G: „Es gibt viele Veranstaltungen rund um Digi-
talisierung – dennoch war unser Event einzigartig: Wir haben den Wandel, den Digitalisierung in den einzelnen Lebensbereichen schafft, in den Mittelpunkt gestellt.“ Warum gerade Aachen?
Hinsichtlich des Verhältnisses von Technik bzw. Digitalisierung und Arbeit ist fraglich, welches Ausmaß das Substitutionspotential menschlicher Arbeit und einer „Verknüpfung der Kernkompetenzen“ von Mensch und Maschine aufweisen wird. Insbesondere für alte Industrieländer, wie beispielsweise Deutschland, erscheint ein Umdenken von einer reinen Arbeitergesellschaft, gekennzeichnet von körperlichen Tätigkeiten, hin zu einer zunehmenden Eigenverantwortung und Risikobereitschaft innerhalb der Arbeitswelt schwierig. 34
Durch die Forschungsintensität auf kleinem Raum scheint die Stadt das Potential zu haben, eine Vorreiterrolle einzunehmen. Unternehmen und Institute in einem sich gegenseitig bedingenden Entwicklungsprozess – dazwischen die Aachener Bürgerschaft und drumherum die Euregio. Hilfreich dürfte auch die Tatsache sein, dass die RWTH Aachen eine der drittmittelstärksten Universitäten ihrer Art in Deutschland ist. Aus diesen Gründen hat die Veranstaltung Aachen 2025 durchaus Wiederholungscharakter. Zukünftig vielleicht im Herzen der Stadt: Der Aachener Markt als Schnittstelle des öffentlichen Raums mit Reibungspotential.
Die aixCAVE ist eine VirtualReality-Installation der RWTH Aachen University. Mittels 24 hochauflösender HD-DLP Projektoren wird auf allen vier Seitenwänden sowie dem Boden eine stereo skopische Projektion erzeugt. Im Gegensatz zu Head-mounted Displays (VR-Brillen) kann man die virtuelle Realität in der aixCAVE mit mehreren Personen betreten und sich ganz natürlich in ihr bewegen und umsehen.
Hat Aachen 2025 ein digitales Bewusstsein generiert? „Aachen 2025 – digitalen Wandel erleben“: Ein neues Konzept, das zunächst Impulse setzt, Aufklärung impliziert und den Paradigmenwechsel personifiziert. Ein notwendiger erster Versuch, in dessen Rahmen dessen erste Schwächen nicht zu vermeiden sind. B-G: „Kritik haben Sie an allen Ecken. Die ha-
ben Sie jeden Tag in der Zeitung und gerade in Deutschland wird man davon überflutet. „German Angst“ ist überall. Wir sind nicht dazu berufen, ein kritisches Festival zu machen. Sondern wir wollen eigentlich ein neutrales und sogar teilweise ein positives machen. Seht die Chancen! Das Glas ist halb voll, nicht halb leer. Macht euch schlau, dann könnt ihr mitbestimmen und werdet nicht überfahren. Dauernd auf Kritik und Gefahren hinzuweisen, führt ja auch zu einer Ablehnungshaltung und einem Nicht-Involviert-Sein. Denn dann ist man am Ende tatsächlich nur derjenige, der digitalisiert wird. Unsere Botschaft ist ganz klar: machen, probieren, klug werden!“ Die Themenparks, die per se die größten Konflikt- und Veränderungspotentiale aufzeigen (z.B. Energie und Wohnen, Arbeit und Produktion, Finanzen), richteten sich allerdings primär an Experten, digital natives. Ein repräsentativer Querschnitt der Gesellschaft zeigte hier nur geringfügig Resonanz. Dies schließt die Menschen mit ein, die über die Problematik um beispielsweise Arbeit und Substitution, Robotik, Human Enhancement sowie Digitalisierung im Allgemeinen informiert und aufgeklärt werden müssen. Kernkompetenzen können nicht entwickelt
oder verknüpft werden, wenn diese nicht bekannt sind. Um die Potentiale, Auswirkungen, Chancen und Risiken der Digitalisierung realisieren und reflektieren zu können, bedarf es einer Entmystifizierung des Begriffs und der Thematik als solche. Diesbezüglich weist das Konzept Aachen 2025 definitiv bedeutende Ansätze auf und ist für jeden Bewohner Aachens und Umgebung obligatorisch. Aber um dem Status einer „Grassroot Bewegung“ tatsächlich gerecht werden zu können, müssen die vereinzelten Charakterzüge einer Messe abgelegt werden und substanzielles Bewusstsein für jedermann geschaffen werden. Gegen die German Angst setzen wir den Aachener Mut - Romantische Ambitionen...
Literaturempfehlungen Frey, Carl Benedikt/ Osborne, Michael A. (2013): The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs To Computerisation? Oxford www.oxfordmartin.ox.ac. uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf.
Bainbridge, Lisanne (1983): Irony of Automation. In: Automatica. Vol. 19. No. 6. pp. 775–779.
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REPORTAGE
GLOBAL HEALTH TE CHNI SCH M A CH BA R F Ü R A L L E ?
VON CANER DOGAN, ANN-KRISTIN WINKENS UND OLIVER OSCHMANN
Gesundheit - ein gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner, der in der heutigen globalisierten und technologisierten Welt immer bedeutender wird. In den vergangenen Jahren forderten zwei medial stark vertretene Epidemien die Gesundheitssysteme weltweit heraus: das Ebola-Fieber seit 2014 und das Zika-Fieber seit 2015. Grundsätzlich gilt in solchen Notlagen, weitreichende Konsequenzen zu vermeiden und schnell zu handeln. Zweifelsohne müssen Technologien bereitgestellt werden, um dies gewährleisten zu können. Seit der Verabschiedung der Millennium Development Goals sind die finanziellen Aufwendungen für gesundheitsrelevante TECHNOLOGIETRANSFER ist ein Themen – insbesondere auch in der Entwicklungszusam- sehr weiter Begriff aus der Volkswirtschaft, der die Weitermenarbeit – gestiegen. Dennoch sind die Unterschiede gabe von technologischem Wissen zwischen den Standards der gesundheitlichen Versorgung beschreibt. Wichtig für diesen in Entwicklungs- und Industrieländern weiterhin immens. Text ist die Unterscheidung zwiWer hilft also wem? Sind die westlichen Standards, basierend auf finanziellen Mitteln und technischen Möglichkeiten diejenigen, die höchste Priorität genießen? Sind die westlichen Standards die „richtigen“? Zerstört „unsere“ Medizin vielleicht sogar fremde Gesellschaften? In diesem Zusammenhang sprachen wir mit Professor Kellerwessel und Dr. Bruchhausen über die Bedingungen, Motive und Herausforderungen des Technologietransfers in der Medizin.
schen aktiviertem und passiviertem Technologietransfer. Hierbei meint die passivierte Variante die bloße Weitergabe von Wissen, während beim aktivierten Technologietransfer im gesamten Weitergabe-Prozess und darüber hinaus ein intensiver Kontakt zwischen Gebern und Empfängern Voraussetzung ist. Letzterer ist also im Gegensatz zu Ersterem interaktiv.
Wir wollen eure Technik, aber nicht eure Kultur „Große Erfolge, Verlängerung der Lebenserwartung sowie kürzere Krankheitsepisoden beruhen eindeutig auf technisch-wissenschaftlichen Fortschritten.“ Demzufolge sollten die Entwicklungen auch allen Menschen zugänglich gemacht werden; dazu sei man schließlich moralisch verpflichtet, so Bruchhausen. Insofern erscheint ein Technologietransfer unabdingbar. 36
Fraglich ist, inwieweit eine Fixierung auf das „technisch Machbare“ nicht den eigentlichen Umgang mit Krankheiten ausschließt. Die bisherigen Errungenschaften im Umgang mit Krankheiten dürfen nicht in den Hintergrund geraten: In vielen Krankheitsfällen, die eine verkürzte Lebensdauer implizieren, geht es vielmehr darum, das Unabänderliche zu akzeptieren und einen Weg zu finden, damit umzugehen und zu leben. In der Medizin spricht man hier von sogenannten coping strategies. Der Mensch ist bisher nicht auf Unsterblichkeit ausgelegt, nicht alles kann perfektioniert werden. Auch wenn derzeitige Entwicklungen und Trends, wie beispielsweise Human Enhancement und Kryonik, genau das anstreben, muss der gegenwärtige Mensch in seinem Wesen berücksichtigt werden: Noch bedarf es einer Auseinandersetzung mit Krankheit und Sterblichkeit. Ein rein technischer Ansatz würde die Fähigkeit, damit umzugehen, gefährden. Im medizin-historischen Verlauf wurde der Fokus einerseits auf soziale (horizontale) und andererseits auf rein technische (vertikale) Lösungsansätze und Maßnahmen gelegt. Vertikale Ansätze sind grundsätzlich radikaler, wie beispielsweise der Einsatz von DDT zur Malariabekämpfung in den 1950er Jahren. Im Vordergrund steht hier die globale Entwicklung hinsichtlich aktueller Probleme. Horizontale Ansätze beschäftigen sich hingegen mit einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklung, wie derzeit die Sustainable Development Goals. „Das klassische Beispiel für die Problematik von Technologietransfer ohne begleitende gesellschaftliche Adaptation ist die Einführung von Pränataldiagnostik in stark patriarchalischen Ländern, wie Indien und China, die zu einem selektiven Abtreiben von weiblichen Föten geführt hat.“ Diesen Ländern mangelt es bereits erheblich an weiblichem Nachwuchs; eine frühzeitige Erkennung des Geschlechts durch Ultraschall führt dementsprechend zu weiteren Verwerfungen. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass Technik mit gesellschaftlichen Entwicklungen einhergehen muss. Diese Idee, die insbesondere in islamischen Ländern stark propagiert wird „Wir wollen eure Technik, aber nicht eure Kultur“, die geht so nicht – betont Bruchhausen. Bestimmte Technologietransfers implizieren eine Anpassung gesetzlicher und gesellschaftlicher Regelungen. Auch Professor Kellerwessel weist darauf hin: „Fast alle von der westlichen respektive modernen Kultur beeinflussten Völker wollen unsere Lebensform offenbar nicht übernehmen. Es gibt Befragungen von Stammesmitgliedern, die am Amazonas leben. Wenn sie gefragt werden, was sie von uns gerne übernehmen würden, dann das Gesundheitssystem. Offenbar wissen viele Völker, dass die Gesundheitsversorgung bei uns besser ist als das, was sie selber leisten können. Aber sie wollen nicht unseren Stress, unseren Arbeitsalltag, unsere 37
Dr. med. Walter Bruchhausen, M.Phil., Dipl.-Theol. ist Privatdozent und Stellvertreter des Direktors am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der RWTH Aachen University sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kölner Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Seine Forschungsund Lehrtätigkeitsschwerpunkte sind u.a. Global Health, interkulturelle und anthropologische Medizinethik, Geschichte und Gegenwart der Medizin in Afrika sowie Global Health Ethics.
„Eine Technik muss immer eingebettet sein in gesellschaftliche Möglichkeiten, sie zu beherrschen und sie angemessen anzuwenden. Wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind, kann Technik kontraproduktiv werden.“ – Walter Bruchhausen
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Lebensform. Mangelnde Gesundheit ist für die Naturvölker nach wie vor ein großes Problem. Und da es ja ein Recht auf Gesundheit gibt, sollte ihnen eine moderne Gesundheitsfürsorge zugänglich sein. Man sollte aber versuchen, es kulturverträglich zu implementieren.“ Ein Recht auf Gesundheit?
Apl. Professor Dr. phil. Wulf Kellerwessel vertritt den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der RWTH Aachen University. Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sind u.a. Ethik, Politische Philosophie, Sprachphilosophie, Analytische Philosophie, Religionsphilosophie sowie die Philosophie Ludwig Wittgensteins.
Die Menschenrechte proklamieren unter anderem ein Recht auf Gesundheit. Somit stellt sich die Sachlage eigentlich ganz einfach dar: Jeder Mensch hat qua seinem Mensch-Sein ein Recht auf Gesundheit. Nach Professor Kellerwessel könne man so argumentieren, dass daraus auch eine Unterstützungspflicht erwachse. Jedoch stellt sich hier die Frage, an wen sich diese Verpflichtung richtet. „Wer wäre zur Hilfe verpflichtet? Die resultierende Hilfepflicht scheint eine unvollkommene Hilfepflicht zu sein, bei der nicht ohne weiteres klar ist, wer in welchem Ausmaß wozu verpflichtet ist“, betont Kellerwessel. Klarerweise sollte zunächst der Staat, in dem ein Mensch lebt, diese Pflicht erfüllen. Der Staat sollte die Verantwortung übernehmen und das Menschenrecht seiner Bürger auf Gesundheit wahren. Doch die Realität sieht anders aus: Viele Staaten der Welt beteiligen sich eher an der aktiven Verletzung der Menschenrechte als an ihrem Schutz. Laut dem aktuellen Amnesty International Report 2015/2016 wurden in vielen der 160 untersuchten Ländern auf die eine oder die andere Art die Menschenrechte verletzt: Allein die Presse- und Meinungsfreiheit wurde in zwei Drittel der Länder unrechtmäßig eingeschränkt. Am Ende richtet sich die Pflicht zur Hilfe an die Weltgemeinschaft. Diese verfügt jedoch in vielfacher Hinsicht nicht über Institutionen, die sich der Durchsetzung der Menschenrechte annehmen könnten.
MILLENNIUM DEVELOPMENT GOALS (MDG) Acht Entwicklungsziele, die auf der 55. Generalversammlung der Vereinten Nationen festgelegt und bis 2015 erreicht werden sollten: • Bekämpfung von extremer Armut und Hunger • Primärschulbildung für alle
Heutzutage sind in vielen Ländern nationalistische Tendenzen erkennbar, die einer zunehmenden Vernetzung der Welt entgegenwirken und eine isolationistische Politik vorantreiben. Die Menschenrechte sind eine Weltanschauung, die eine der wichtigsten Schritte in der Entwicklung der Menschheit darstellt. Jedoch kollidieren diese ständig mit entgegengesetzten Weltanschauungen. Nur eine aufmerksame Weltöffentlichkeit und das Gefühl der Verantwortung, auch die Menschenrechte der Anderen zu wahren, können zu einer universellen Gültigkeit beitragen.
• Gleichstellung der Geschlechter/ Stärkung der Rolle der Frauen • Senkung der Kindersterblichkeit • Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter • Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten • Ökologische Nachhaltigkeit • Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung
Auch die Geltung von anderen Menschenrechten kann bewirken, dass es unter Umständen vernünftig sein kann, dem Menschenrecht auf Gesundheit eine geringere Priorität zuzuschreiben als anderen Rechten, so Kellerwessel: „Zumindest viele Menschrechte gelten nicht absolut!“.
SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS (SDG) Weitere Ziele der Vereinten Nationen in Anlehnung an die Millenium Development Goals, die am 01. Januar 2016 mit einer Laufzeit bis 2030 durchgesetzt werden sollen.
Viele Länder leiden beispielsweise unter Ressourcenknappheit wie Trinkwasser. Hier könnte der Staat gegebenenfalls 38
PRIMARY HEALTH CARE (PHC) Das Primary Health Care Programm ist ein Grundsatzprogramm der WHO. 1978 in Alma Ata verabschiedet, beinhaltet das Programm partizipative Elemente, insbesondere jene der Gesundheitsförderung: 1) Aufklärung/Beratung (health education) über Erkennung und Bekämpfung der vorherrschenden Gesundheitsprobleme 2) Nahrungsmittelversorgung und -sicherheit 3) Trinkwasserversorgung 4) Mutter- und Kind-Gesundheitsversorgung einschließlich Familienplanung
nur dann Hilfe leisten, wenn er dafür seinen anderen Verpflichtungen nicht mehr nachkommt. „Das Recht auf Sicherheit oder auf faire Justizprozesse beansprucht Ressourcen.“ Erst wenn die deontologischen (auf Verpflichtung basierenden) Fragen geklärt sind – bzw. verschiedene Lösungsmöglichkeiten für ein Problem aus deontologischer Perspektive gleichwertig sind, sei es sinnvoll, danach utilitaristisch (den größtmöglichen Nutzen anstrebend) zu kalkulieren. Das beträfe vor allem Überlegungen, eher unparteiisch vielen zu helfen als einigen wenigen. Denn die Menschenrechte haben als Regelwerk etwas gemeinsam mit allen anderen Regelwerken. „Die Regeln regeln ihre eigene Anwendung nicht“, so Kellerwessel. Menschenfreundlicher Technologietransfer? Wenn mit den Menschenrechten eine gewisse Verpflichtung einhergeht, ergibt sich im Kontext der Weltgesundheit die Frage nach einem menschenfreundlichen Technologietransfer. Nun liegt das Problem nicht ursächlich in den vertikalen Maßnahmen – der reinen Verwendung von Technologien und Medizin, welche auf andere Kulturräume treffen. Ein menschenrechtsbasierter Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit kann hier aber weitreichende Konsequenzen, wie die Einführung der Pränataldiagnostik in Indien und China sie hervorrief, verhindern. Menschenrecht und Gesundheit sind miteinander verknüpft, bedingen und erhalten einander. Innerhalb der Menschenrechte kommen drei Prinzipien zur Geltung: das Prinzip der Nichtdiskriminierung, der Partizipation und der Rechenschaftspflicht als Grundlage der Partizipation. Somit verhindert ein menschenrechtsbasierter Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit per Definition Entwicklungen, die in einem unvertretbaren Maße das Leben der Menschen beeinträchtigen. Gleichzeitig müssen Akteure der Entwicklungszusammenarbeit sensibel für die kulturellen Unterschiede von verschiedenen
5) Impfungen 6) Verhütung und Bekämpfung der örtlichen endemischen Krankheiten 7) Angemessene Behandlung gewöhnlicher Erkrankungen und Verletzungen 8) Versorgung mit essentiellen Medikamenten Bruchhausen, Walter/Schott, Heinz (2008): Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Regionen sein. Denn kulturelle Systeme sind komplex und dynamisch. Jedes einzelne zeichnet sich durch Werte und Traditionen aus, die vereinbar mit und förderlich für die Menschenrechte sind; aber auch solche, die Verweigerung, Beeinträchtigung und Verletzung von Menschenrechten legitimieren. Diese Vielfalt muss verstanden werden. Allerdings bedeutet sie nicht, dass die Menschenrechte zu umgehen oder relativierbar sind. In der praktischen Umsetzung ist eine Priorisierung von Menschenrechten meistens jedoch unumgänglich. Ein menschenrechtsbasierter Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit schließt gleichsam horizontale wie vertikale Konzepte der Unterstützung mit ein. Zur Vermeidung von humanitären Notlagen in Extremfällen, wie Epidemien, aber auch zur allgemeinen Förderung der Weltgesundheit, sind jedoch breitere Ansätze vonnöten als ausschließlich vertikale Maßnahmen. Das bedeutet nicht, dass vertikale Maßnahmen ganz ausgeschlossen werden sollten. Vielmehr müssen vertikale und horizontale Maßnahmen in der Entwicklungszusammenarbeit Hand in Hand gehen. Diesen Ansatz verfolgt auch die WHO in ihren Sustainable Development Goals. Dort sind sowohl vertikale Maßnahmen des Technologietransfers – also der Bekämpfung von Krankheiten in einem engeren Sinne – enthalten wie auch horizontale Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit. Vertikale Konzepte „müssen dem Aufbau von Gesundheitsdienstleistungen helfen“, so auch Bruchhausen. 39
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GESUNDHEIT Laut WHO ist „Gesundheit […] ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Dabei wird in der Verfassung der WHO deutlich, dass Gesundheit als Menschenrecht zu verstehen sei und Grundlage für „das Glück aller Völker, für ihre harmonischen Beziehungen und ihre Sicherheit“ bildet. So gefährde „Ungleichheit […] in der Verbesserung der Gesundheit und der Bekämpfung von Krankheiten […] alle“ Länder der Erde. Diese Definition bestimmt einen sehr weiten Begriff von Gesundheit. Es stellt sich hier die Frage, ob dieser oben beschriebene Zustand bloß ein Idealzustand ist, welcher nie erreicht werden kann oder ein wirkliches, jedoch unerreichbares Ziel darstellt. Denn der Zustand des „vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ scheint ein nicht realisierbarer zu sein.
Gesundheit als Querschnittsthema Die Probleme, denen ein horizontaler Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit gegenübersteht, sind vielschichtig und gehen weit über die bloße Frage nach Gesundheit und Krankheit hinaus. Gesundheit wird zunehmend als Querschnittsthema verstanden, was mit dem Schlagwort ‚Health in all policies‘ betitelt wird. Sie wird beeinflusst durch verschiedene politische Entscheidungen und resultiert aus ihnen. „Ähnlich wie das Gender-Mainstreaming“ könnten auch gesundheitliche Themen in jeder Entscheidung eine Rolle spielen. Denn die „entscheidenden Erfolge“ lägen nach Bruchhausen nicht „in den paar Geräten und Leuten, die in den globalen Süden“ geschickt werden, sondern in den „globalen Veränderungen, gerade auch im Norden: Klimawandel, Lebensmittelproduktion, die zur Abholzung im Süden führt.“ Gleichwohl bleibt die Gewichtung der Frage nach der Auswirkung auf die Weltgesundheit auch immer eine Sache der Verständigung.
KRANKHEIT Es ist möglich, mit einem weiten Krankheitsbegriff zu operieren. Krankheit als individuelle Störung der Beziehung zur Welt. Die Beziehung zur Welt ist hier als psychische, biologische und soziale Kategorie gemeint. In diesem Sinne sind Behandlungen, die Weltbeziehungen wiederherstellen – wie z.B. Schamanismus – nicht grundlegend abzulehnen. Denn diese können als eine Art des Umgangs mit sozialen und psychischen Fragestellungen verstanden werden. Gleichwohl soll damit nicht gemeint sein, dass der Schamanismus o. Ä. vorzuziehen sei. Die Behandlung mit Medikamenten oder durch die moderne Medizin bleibt in vielerlei Hinsicht unabdingbar.
Darüber hinaus ist Krankheit kein Ereignis, das ein Großteil der Menschen zufällig oder mit Kalkül erleiden muss. Krankheit impliziert in vielen Ländern Armut; kann sowohl Ursache für als auch Folge von Armut sein. Strukturelle Herausforderungen, wie fehlende finanzielle Ressourcen, ein unzureichend funktionierendes Gesundheitssystem, mangelnde Infrastruktur, fehlende Fachkräfte und Transparenz der karitativen Akteure sowie die Unangepasstheit von politischen Systemen, erschweren die Entwicklungszusammenarbeit immens. Hinzu kommen die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und Stigmatisierung von Kranken. Finanzielle Zuwendungen können hier zwar hilfreich sein. Um aber präventiv und langfristig gegen Krankheit vorzugehen, wird health education unabdingbar. Doch in zentralistisch organisierten politischen Systemen 40
Was bedeutet es für eine nachhaltige Entwicklungshilfe, wenn Legislatur perioden nur vier Jahre dauern? „Die zeitliche Begrenzung von Mandaten in Parlamenten und für Regierungsämter ist ein grundlegendes und unverzichtbares Merkmal von Demokratien. Die Entwicklungszusammenarbeit ist hiervon genauso betroffen wie andere Politikfelder. Wichtiger scheint mir zu sein, dass sich die politischen Parteien und die Fraktionen im Bundestag ausreichend intensiv mit entwicklungspolitischen Themen befassen und hierzu eine gute fachliche Politik benennen. Dies ist wichtig, damit das Politikfeld professionell gestaltet wird – selbst dann wenn beispielsweise Fachpolitiker ausscheiden und durch noch weniger erfahrene Abgeordnete ersetzt werden.“ – Dr. Stephan Klingebiel
ist die Weitergabe von finanziellen Mitteln einerseits, aber auch von Bildungsmaßnahmen andererseits an die Peripherie problematisch, da die ländliche Bevölkerung von vielen Maßnahmen unberührt bleibt. Daher ist es nötig, in Kontakt mit Akteuren der Zivilgesellschaft zu treten. Bildungsmaßnahmen, die in Abstimmung mit regionalen Organisationseinheiten auch die Bevölkerung erreichen, könnten eine medizinische Aufklärung im Sinne einer grundlegenden Präventionsmaßnahme gewährleisten. Um im besten Fall Erfolge messen zu können, bedarf es ferner eines differenzierten Monitoring-Systems. Dieses dient nicht nur dazu, die Verwendung der Gelder durch die staatlichen Akteure zu überwachen, sondern vor allem auch dazu, die Erfolge der nicht-staatlichen Akteure zu messen und gegebenenfalls deren Methoden zu justieren.
PD Dr. Stephan Klingebiel leitet am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) die Abteilung “Bi- und multilateral Entwicklungspolitik”. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeitsschwerpunkte sind die politische Ökonomie der Entwicklungszusammenarbeit, Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit, Governance in Subsahara-Afrika sowie Krisenprävention und Konfliktmanagement. Von 2007 bis 2011 leitete Klingebiel das Büro der KfW Entwicklungsbank in Kigali/ Ruanda. Er ist regelmäßiger Gastprofessor an der Stanford Universität sowie Lehrbeauftragter an der Philipps-Universität Marburg.
zu bekämpfen, sondern dem Problem mit Präventionssowie Bildungsmaßnahmen an der Wurzel zu begegnen. De jure steht ein menschenrechtsbasierter Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit bereits lange fest und wird kontinuierlich aktualisiert und konkretisiert. De facto gewinnt der Ansatz aber erst durch stetige Bemühung der Umsetzung Geltung. „Wir brauchen eine Leitkultur, aber das darf eben nicht die deutsche sein, sondern es müssen die Menschenrechte und die Ethik der Gesundheitsberufe, die universal sind, im Gesundheitswesen sein. Aber wenn ich so etwas sagen würde, dann wäre ich in der Chemnitzer Freien Presse wahrscheinlich nur zitiert mit: ‚Wir brauchen eine Leitkultur‘.“ – Walter Bruchhausen
Die Sensibilität für die Gesundheitsthematik muss erst generiert werden „Komplexitätsreduktion oder Komplexitätsverweigerung müssen wir bekämpfen“, betont Bruchhausen. Mit einem technikbasierten Ansatz in der medizinischen Entwicklungszusammenarbeit ist es demnach nicht getan. Die Sensibilität für die Gesundheitsthematik muss erst generiert werden. In der AIDS bzw. HIV-Bekämpfung findet dieses Prinzip zumindest in Angelegenheiten der Entwicklungszusammenarbeit Anwendung. Eine andere Problematik ist die der Aufmerksamkeitsökonomie. „Wer bestimmt die Agenda der Gesundheitspolitik? Das ist eine eminent politische Fragestellung und die unterliegt dann eben nicht nur wissenschaftlichen Einsichten und Begründungsstrategien“, so Bruchhausen, sondern erfordert gesellschaftliche und politische Verständigung. Zuletzt gilt es nicht, Krankheit vor allem als Symptom
Literaturempfehlungen Bruchhausen/ Schott (2008): Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. UTB / UTB GmbH / Vandenhoeck + Ruprecht GmbH. Kellerwessel, Wulf (2003): Normenbegründung in der analytischen Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann [zugl. Habilitationsschrift].
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FEATURE
AUTONOM OBIL SE LB S TFA H RE N D E A U TOS H EU TE UND M O RGE N VON KATRIN KLUBERT UND NILS HONKOMP
Die Vision vom selbstfahrenden Auto ist eine alte. In den technikoptimistischen 1950ern entwarf General Motors bereits den Traum des ungestörten, freihändigen Rauchens am Steuer oder Gesellschaftsspielen für die ganze Familie bei voller Fahrt. Aus Science-Fiction-Filmen kennen wir Robotertaxis und Städte mit schwebenden Verkehrsmitteln ohne jeglichen Bedienungsbedarf. Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit, Sicherheit und hoher Komfort sind die Schlagworte, mit denen für die Utopie des fahrerlosen Autos bis heute geworben wird. Jedoch: Es mischen sich auch kritische Stimmen in die öffentliche Debatte. Man befürchtet den gläsernen Menschen, der die Kontrolle über sich und sein ebenso gläsernes Auto verloren hat. Der Verlust der Privatsphäre spielt auch und gerade im Auto eine Rolle. Nicht zuletzt werden Fahrzeuge durch die Computerisierung abstrakt, weniger greifbar, intransparenter und damit möglicherweise besorgniserregender. Zunächst gilt es, sich Klarheit über die Begrifflichkeiten zu verschaffen. Stand der Dinge ist: Vom gänzlich autonomen Fahren sind wir noch einigermaßen weit entfernt. Derzeit gibt es sechs Automatisierungsstufen (Abb. 1), Stufe 0 bis Stufe 5. Während Stufe 0 manuelles Fahren bedeutet, umfassen Stufe 1 und 2 Fahrzeuge, die mit einem oder mehreren Fahrerassistenzsystemen ausgestattet sind. Stufe 2 könnte beispielsweise ein Stauassistent sein, der im Stop-and-go-Verkehr kurzfristig das Steuer übernimmt; auch der sogenannte Autopilot von Tesla fällt in diese Kategorie. Wichtig ist: Der Fahrer übernimmt die volle Verantwortung und muss zu jedem Zeitpunkt den Verkehr und die Situation verstehen und eingreifen können. Diese Automatisierungsgrade kennen wir schon heute und sie sind derzeit legal. Mit Stufe 3, auch im Englischen conditional automatisation genannt, ist der Fahrende nicht mehr verpflichtet, den Verkehr dauerhaft aktiv zu verfolgen. In kritischen Situationen holt das System den Fahrenden zurück ans Steuer, fährt in bestimmten Situationen aber selbstständig. Daran wird momentan besonders geforscht, legal ist diese Stufe aktuell noch nicht. Stufe 4 verzichtet dann selbst auf diese Übernahme-Option. In Stufe 5, dem autonomen Fahren, fallen letztlich sogar Lenkrad und Pedalerie weg. 42
STUFE 4
VOLLAUTOMATISIERT
Fahren in der Stadt* Valet Parking* (Fahrerloses Parken)
STUFE 3
Fahren auf der Autobahn* Staufolgefahren / Fahren im Stau*
HOCHAUTOMATISIERT
ASSISTIERT
STUFE 0
DRIVER ONLY
JAHR
2000
STUFE 5
Schlüsselparken Stauassistent Parkmanöverassistent
TEILAUTOMATISIERT
STUFE 1
FAHRERLOS
STUFE 2
Spurhalteassistent Parklenkassistent Adaptive Cruise Control Totwinkelüberwachung Spurverlassenswarner 2005
2010
2015
2020
* Rechtliche Rahmengesetzgebung vorausgesetzt
2025
2030
Fahrfunktionen
Parkfunktionen
Abb. 1: Einführung automatisierter Fahr- und Parkfunktionen nach VDA*.
In der Forschung und Entwicklung autonomer Fahrzeuge gibt es einerseits den evolutionären, andererseits den revolutionären Ansatz. Während Ersterer hinsichtlich autonomen Fahrens bedeutet, sich Stufe für Stufe vorzutasten, geht es bei Letzterem darum, autonomes Fahren direkt umzusetzen. Selbigen Ansatz vertritt vor allem der Google-Konzern.
Dr.-Ing. Adrian Zlocki ist Bereichsleiter im Bereich Fahrerassistenzsysteme am Institut für Kraftfahrzeuge (IKA) der RWTH. In diesem Arbeitsfeld geht es um das automatische bis autonome Fahren. Er studierte in Aachen Maschinenbau und promovierte in der Fahrzeugtechnik. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Entwicklung und Bewertung automatischer Fahrfunktionen.
ZLOCKI: „Beide Umgangsweisen haben ihre Vor- und Nachteile, da kann es auch mal schnell philosophisch werden, weil das allein technisch-nüchtern nicht fassbar ist. Beim revolutionären Ansatz können die Fragen der Zwischenstufen vernachlässigt werden, da gar kein Fahrer mehr berücksichtigt werden muss. Dadurch entstehen natürlich andere Freiheitsgrade, die dann vielleicht einfachere Umsetzungen erlauben. Momentan maße ich es mir nicht an, darüber zu urteilen, ob es einen perfekten Weg gibt, da aus verschiedensten Richtungen daran geforscht wird. Zukünftig wird sich durch die Forschungsergebnisse zeigen, welcher Weg mehr Erfolg verspricht. Ich möchte nur anmerken, dass es um Google bezüglich einer Markteinführung relativ ruhig geworden ist – vielleicht ein Zeichen?“
••• Ein Bordsystem zu entwickeln, das selbstständig die komplexen Herausforderungen des Verkehrs bewältigt und dabei dem Maßstab Mensch entspricht, ist anspruchsvoll. /* Es wird geschlängelt, getastet, geschoben: Auf einer Straßenkreuzung in Mumbai bewegen sich Roller, Autos und Busse vorwärts - ohne sich zu berühren, alle gleichzeitig. Mittendrin Fußgänger, unfallfrei queren sie das Durcheinander knatternder Motoren. Ein Passant beobachtet den stetigen Fluss der Fahrzeuge und schätzt durch die Motorengeräusche die Entfernung und Geschwindigkeit der nahenden Verkehrsteilnehmer ab, bevor er Schritt nach Schritt selbst zu einem solchen wird. Hier und da weicht er aus, mal wird er haarscharf umfahren, doch es passiert – nichts. */
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Es ist schon beachtlich, dass im Durchschnitt Autofahrende in Deutschland nur alle drei Millionen Kilometer oder alle 218 Jahre einen Unfall mit Personenschaden verursachen (DVR). Die menschlichen Sinne können in Kombination mit Erfahrungswissen und der hohen Informationsverarbeitungsleistung in besonders effizienter Weise mit der Kontingenz im Straßenverkehr umgehen. /* Die betagte Frau hinter dem Steuer wagt sich langsam vor. Behäbig rollt ihr Wagen auf der Ortsstraße, sie vergewissert sich mehrmals, da sie weiß: Alles bekommt sie so genau nicht mehr mit. Trotzdem passiert es manchmal, dass sie etwas oder jemanden übersieht. So auch der junge Fahranfänger, der nervös etwas zu hastig einlenkt oder die Spur nicht genau einhält, gelegentlich falsch schaltet oder abrupt bremst. */
Der menschliche Fahrende im Wagen dahinter erkennt an der Fahrweise oder im Rückspiegel diese Fahrertypen, greift auf seinen Erfahrungsschatz zurück und passt seine Fahrweise dem Gefahrenpotenzial an. Hinter der Forschung zum automatisierten Fahren steckt letztlich der Versuch, ein digital vernetztes Ebenbild des Menschen hinter das Steuer zu setzen. ZLOCKI: „Wir befinden uns zurzeit in einer ‚informato-
rischen Weiterentwicklung‘, die unter Schlagwörtern wie ‚maschinelles Lernen‘ oder ‚Deep learning‘ zusammengefasst wird. Ziel ist es, riesige Datensätze in Trainingsdaten für Algorithmen zu überführen. Der Algorithmus trainiert mit diesem vorhandenen Wissen und soll schlussendlich ähnlich gut wie der Mensch fahren können. Doch es fehlt noch an vielen Stellen. So müssen die Algorithmen noch weiterentwickelt werden, die Situationserkennung muss neben dem ‚Erkennen‘ auch ‚Interpretieren‘ lernen. Gerade wenn sich die Witterungsverhältnisse ändern, also bei Schnee, Regen usw., muss das Fahrzeug erkennen, wann es etwas nicht erkennt.“ Um der „bessere Mensch“ zu werden, muss die Maschine zunächst vom Menschen lernen. Dazu gilt es auch, Erkenntnisse über die genauen Verhaltensweisen „menschlicher Boardcomputer“ zu gewinnen. Wie kommt es zu Unfällen? Der Forschung stehen dazu anonymisierte Unfalldatenbanken zur Verfügung. Interessant wäre es allerdings auch, Beinahe-Unfälle zu erforschen, die vom Menschen intuitiv gelöst werden. ZLOCKI: „Gerade über diese Vorfälle wissen wir insgesamt
sehr wenig. Wenn wir diese Fahrsituationen aber personenunabhängig speichern und analysieren könnten, wäre es prinzipiell möglich, die Fahrzeuge so zu entwickeln, dass auch diese knappen Situationen verhindert werden können. Damit hätten wir dem Fahrer und den Insassen schon präventiv geholfen, jedoch stehen uns diese Daten heute so nicht zur Verfügung.“ Zum einen, weil reguläre Fahrzeuge gar nicht die Hardware besitzen, um der benötigten Präzision zur Datenerhebung gerecht zu werden. Zum anderen, weil es schwierig ist, solche Daten nicht personenbezogen zu erheben – wie es vom Gesetzgeber zu Recht gefordert wird. 44
Mit maschinellem Lernen oder deep learning ist, vereinfacht dargestellt, die artifizielle Generierung von Erfahrungswissen durch künstliche Systeme gemeint. Dabei kann Wissen aus Beispielen verallgemeinert und Muster oder Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden.
Um die entsprechenden Informationen dennoch auslesen zu können, werden in Feldversuchen Datenlogger an Fahrzeugen angebracht. Google hat es da – so zynisch das klingen mag – leichter, da gewissermaßen eine breitere empirische Basis zur Verfügung steht: Der Konzern kann auf die Daten der Android-Smartphones zugreifen, die sich im Auto befinden. So funktionieren schon heute Verkehrsmelder von Google genauer als herstellerbasierte Stauanzeiger, die über einen geringeren Datensatz – nämlich den flotteninternen – verfügen. Es kommt zu einem Paradox: Personenbezogene Daten sind auf der einen Seite gesetzlich geschützt, auf der anderen Seite geben wir sie ohne Zögern an die Privatwirtschaft frei. Die Forschung in Deutschland, die höheren Rechtfertigungszwängen unterliegt, ist gegenüber den amerikanischen Unternehmen dadurch deutlich benachteiligt. Darüber hinaus lässt sich heute schwer sagen, wie ein mögliches Google-Auto Daten erhebt, speichert und was mit diesen genau geschieht. Fahrerassistenzsysteme sind bereits fassbarer als das autonome Auto. Schon heute kennen wir Antiblockiersysteme, Einparkhilfen und Verkehrszeichenerkennung. In diesem Bereich schreitet die Forschung zügig voran, überdies werden ausgewählte digitale Features im Auto sogar zur gesetzlichen Pflicht: /* Inmitten nächtlicher Dunkelheit zwischen Wald und Wiesen quietschende Bremsen und zerberstende Scheiben: Ein Fahrzeug ist in einer Kurve von der Landstraße abgekommen und hat sich überschlagen. Die Fahrerin ist verletzt und bewusstlos. Nach 30 Minuten passiert ein weiteres Fahrzeug die Unfallstelle und verständigt den Notruf. Die Rettungshelfer sind nach weiteren 15 Minuten vor Ort, erst dann kann mit der ersten Hilfe begonnen werden. */
Ein solches Szenario ist nicht selten im Straßenverkehr. Deutschland ist ein Land mit vergleichsweise hohem Verkehrsaufkommen, dennoch ereignen sich rund 60% aller tödlichen Unfälle auf Landstraßen. Ab April 2018 soll deshalb europaweit das Post-Crash-System eCall eingeführt werden. ECall registriert durch Sensoren schwere Unfälle und verständigt selbstständig die Leitstelle. Übermittelt werden der Unfallzeitpunkt, die Koordinaten des Unfallorts sowie die Fahrtrichtung. ZLOCKI: „Die Daten aus ‚eCall‘ dürfen aber von
keinem anderen Fahrzeugsystem genutzt werden – das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Das heißt, es gibt zwei Informationsblöcke getrennt voneinander. Einmal den Teil, der logisch-unabhängig von Providern und Technologie funktioniert und den Teil der Umsetzung, der den Herstellern überlassen wird.“ So wird sichergestellt, dass eCall unabhängig von Jahrgang und Hersteller des Autos unter den gleichen Voraussetzungen funktioniert. Die Digitalisierung des Straßenverkehrs könnte also letztlich zu vernetzter Infrastruktur führen, die effektiv die Sicherheit erhöht. Doch: Die digitalen Features eröffnen auch ein neues Gefahrenfeld. /* 2015 verselbstständigt sich ein Jeep bei voller Fahrt, er ist weder zu bremsen noch zu lenken, die Scheibenwischer spielen verrückt, das Radio geht an und aus, ebenso die Klimaanlage. Ohne jegliche Eingriffsmöglichkeiten sitzt der Fahrer hinter dem Steuer und schaut dem Spiel zu. Das Auto ist ferngesteuert. */
Dies ist das Werk der beiden Hacker Charlie Miller und Chris Valasek. Ein Jahr haben die beiden gebraucht, um in ihrer Freizeit eine Software zu entwickeln, die über das 45
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Google - Uber - Tesla: Konzerne, die eigenverantwortlich selbstfahrende Fahrzeuge entwickeln. Während Google an autonomen Autos Typ Stufe 5 arbeitet, forscht Tesla an teilautomatisierten Fahrzeugen, die eines aufmerksamen Fahrers bedürfen. Uber forscht sowohl an teilautomatisierten als auch an autonomen Fahrzeugen, mit der Hoffnung, dass der Kostenfaktor Fahrer entfällt.
Internet durch das Unterhaltungssystem des Fahrzeugs Zugriff auf obengenannte Funktionen erhält, es wurde keine zusätzliche Hardware am Fahrzeug installiert. Am Schreibtisch einer anderen Stadt steuerten sie das so manipulierte Auto aus großer Distanz. Gewiss, beide sind hochausgebildete Spezialisten und das Fahrzeug war auch nicht das neueste seiner Klasse. Dennoch: Erst durch diesen Coup wurde die Automobilindustrie aufmerksam auf das Problem „Cyber-Security“. Seither beschäftigt sie Hacker_innen, um ihre elektronischen Systeme zu sichern. ZLOCKI: „Wenn man über das nötige Wissen
verfügt, lassen sich Fahrzeuge prinzipiell leicht manipulieren. Im positiven Sinne machen wir das als Forscher auch. Bei neueren Fahrzeugmodellen der deutschen Automobilhersteller ist das hingegen nicht so einfach möglich, da es inzwischen eine Art Firewall dafür gibt.“ Auch Valasek und Miller arbeiten mittlerweile für den Uber-Konzern als Security Engineers. Letztlich bleibt es bei dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Hacker_innen und Sicherheitsingenieur_innen, verschärft durch die Produktionszyklen der Herstellung. Der Aufwand, die Sicherheit von Fahrzeugen auch in elektronischer Hinsicht zu gewährleisten, wurde beträchtlich erhöht – nicht zuletzt, weil autonome Fahrzeuge eben auch Waffen sein können.
•••
Zentral wird auch die Frage der Verantwortung sein. Was bedeutet es abseits der Technik, den Menschen nach und nach durch ein künstliches System zu ersetzen? Mit dem hoch- und vollautomatisierten Fahren Typ Stufe 4 und 5 rückt die Maschine ins Zentrum technischer und philosophischer Fragen. Ein Versagen der unterschiedlichen Systeme ist umso fataler, da es sich um kalte künstliche Intelligenz handelt, letztlich fehlt in einem solchen Falle die Legitimation. Der Nachteil, dass es niemanden gibt, der die Verantwortung natürlicherweise trägt, wird nur dadurch ausgewogen, dass es weniger zu verantworten gibt. ZLOCKI: „Hierbei ist aber die Absicherung sehr
Vernetzung auf der Straße trägt letztlich große Ambivalenz in sich. Während die Technik und Forschung hochspezialisiert und deshalb zwangsläufig intransparent für den späteren Verbraucher verläuft, gesellen sich gleichsam Bild: Original von flickr.com/photos/smoothgroover22 (CC BY 2.0)
utopische Prophezeiungen und dystopische Visionen in den öffentlichen Diskurs. Freiheit und vor allem Sicherheit sind für Befürworter_innen und Kritiker_innen gleichermaßen Fundamente der Argumentation. Am Ende liegt die Realität wohl irgendwo zwischen den Polen. Während autonomes Fahren noch weiter in der Zukunft liegt als vermutet, verheißt die Digitalisierung des Autos sowohl mehr Sicherheit als auch höhere Gefahrenpotenziale. Bezüglich der Daten ergibt sich ein argumentatives Dilemma: Während wir das Verhältnis zwischen Preisgabe von Daten und Privatsphäre hinsichtlich (des Erforschens) automatisierter Fahrzeuge neu verhandeln, haben wir mit den Smartphones in unseren Taschen längst Fakten geschaffen.
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problematisch, da wir als Wissenschaftler nicht nur garantieren müssen, dass die Systeme ihre Funktionen erfüllen können, sondern auch den Anspruch haben, Unfälle zu vermeiden. Wir möchten noch sicherer als die menschlichen Fahrer sein.“
http:// moral-machine.mit.edu
Was ist, wenn der technische Anspruch prinzipiell alles berechnen zu können, der Realität nicht gerecht wird? Forscher_innen des Media Labs, einer Fakultät der Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT), versuchen das anhand einer Ethiksimulation, der sogenannten Moral Machine, zu erforschen. Wo einst allein der Zufall darüber entschied, wer bei einem Unfall verunglückt, so soll nun ein Algorithmus darüber entscheiden, nach welchen Kriterien moralisch ausweglose Situationen gelöst werden – so die Ausgangshypothese der Wissenschaftler_innen. Obwohl solche Programme bisher reine Fiktion sind, initiiert dieser Ansatz eine Debatte darüber, inwieweit Fügung und menschliches Versagen durch technisch eindimensionale Berechenbarkeit und Konstruktion abgelöst werden. Wie konstruieren wir nun Verantwortung? Einer Maschine verzeiht man nicht so leicht. ZLOCKI: „Ich glaube, dass viel mehr dazu gehört ein Fahrzeug
zu bauen und auf die Straße zu stellen, als einen Haufen guter Informatiker. Es ist ziemlich leicht 90% einer Lösung darzustellen, aber die 99,9%, die wir eigentlich beim Automobil benötigen, weil schon Teile eines Prozentes Tote bedeuten können, das ist unheimlich schwierig – und das wird Google auch nicht so schnell schaffen.“
Literaturempfehlungen und Quellen Appel, Holger (2017): Autonom unter Strom. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 4. S. 1. Beuth, Patrick (2015): Die Mutter aller Autohacks. In: ZEIT Online. 27.06.2015. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/digital/ datenschutz/2015-07/verkehr-auto-jeep-hacker-rueckruf-folgen [Zugriff: 12.01.2017]. Freimann, Heike (2016): Ethikkommission wagt sich in die Welt des automatisierten Fahrens. In: VDI Nachrichten. Nr. 47. S. 8f. Fromm, Thomas (2017): Die neue Währung. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 7. S. 15. Hägler, Max/ Hulverscheidt, Claus (2017): Ei ei. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 7. S. 17. Lindemann, Julia (2016): Landstraßen – schön aber gefährlich In: Deutscher Verkehrssicherheitsrat (DVR). Online verfügbar unter: http://www.dvr.de/ presse/seminare/799_30.htm [Zugriff: 12.01.2017]. o.V. (2016): Attacke auf Breitscheidtplatz - Bremssystem stoppte LKW offenbar vorzeitig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/lkw-bremssystemverhinderte-noch-mehr-tote-in-berlin-14595356.html [Zugriff: 12.01.2017]. *o.V. (2016): Einführung automatisierter Fahr- und Parkfunktionen. In: VDA. Online verfügbar unter: https://www.vda.de/de/themen/innovation-undtechnik/automatisiertes-fahren/schritt-fuer-schritt-in-die-zukunft.html [Zugriff: 24.01.2017]. o.V. (2017): Nach tödlichem Unfall in Florida - Ermittlungen gegen Tesla eingestellt. In: Spiegel Online. Online verfügbar unter: http://www.spiegel. de/auto/aktuell/toedlicher-unfall-in-florida-untersuchung-gegen-teslaeingestellt-a-1130868.html [Zugriff: 20.01.2017]. Stockburger, Christoph (2016): Was soll ihr Auto jetzt tun? In: SPIEGEL Online. 29.08.2016. Online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/auto/ aktuell/autonomes-fahren-moral-machine-gewissensfragen-zu-leben-undtod-a-1108401.html [Zugriff: 12.01.2017]. Wisdorff, Armin (2016): „eCall“: Automatisches Notrufsystem in allen neuen Automodellen ab Frühling 2018. In: Europäisches Parlament. Online verfügbar unter: http://www.europarl.europa.eu/news/de/newsroom/20150424IPR45714/ecall-automatisches-notrufsystem-in-allenneuen-automodellen-ab-fr%C3%BChling-2018 [Zugriff: 12.01.2017].
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INTERVIEW
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
TRIAL AND ERROR Interview mit Frau Prof. Ingrid Isenhardt
Frau Prof. Isenhardt ist Akademische Direktorin des ZLW und erste stellvertretende Direktorin des Lehrstuhls für Informations management im Maschinenbau (IMA), Zentrum für Lern- und Wissensmanagement (ZLW) und dem An-Institut für Unternehmenskybernetik e.V. am Institut für Unternehmenskultur (IfU) der RWTH Aachen University. Schwerpunkte der einzelnen Institute sind unter anderem der Einsatz von Methoden der Informatik im modernen Maschinenbau; zentrale Anwendungsgebiete sind Robotik und Automatisierungstechnik, Systeme verteilter Intelligenz, Industrie 4.0, Virtual Reality Models, Verkehrswesen und Logistik, Green IT und Cloud Computing und eHealth (IMA). Daneben beschäftigt man sich mit Innovations-, Organisations-, Lern- und Wissensmanagement. Es werden „zukunftsweisende Konzepte und Lösungen für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erforscht, entwickelt und implementiert.“ (ZLW) Zudem geht es um Kybernetische Methoden und Werkzeuge in Wirtschafts-, Sozial- und technischer Kybernetik; außerdem wissenschaftliche Weiterentwicklung der technischen Kybernetik – Forschungsschwerpunkte liegen in der Koordination heterogener autonomer Systeme und in der Optimierung komplexer technischer Prozesse (IfU).
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Nina Lentzen hat sich für philou. mit Frau Prof. Ingrid Isenhardt getroffen: philou. Die Thematik der Digitalisierung und Robotik wird positiv wie negativ dargestellt; regelmäßig und vor allem aktuell handelt es sich um ein „heiß diskutiertes“ Themengebiet, insbesondere in gesellschaftlichem Rahmen. Wie stehen Sie dazu, besonders als Professorin im Maschinenbau und promovierte Soziologin? Können Sie „Ängste“ und Sorgen von Digitalisierungsgegnern nachvollziehen oder sogar teilen? Isenhardt Ich kann die Ängste gut verstehen und ich
finde, es gibt schließlich hier wie in allen technischen Entwicklungen Vor- und Nachteile – und diese müssen ständig ausgewogen beleuchtet werden. Insgesamt denke ich, dass Digitalisierung, wie auch Robotik – wenn man beides entsprechend nutzt – mehr Vorteile als Nachteile bringen kann. Sei es in Bereichen wie eHealth, beim autonomen Fahren oder dem Ersatz von Robotern in der Produktion. Es gibt viele Industrieunternehmen, in denen KI und Robotik bereits zielführend eingesetzt werden und die Zahl der Mitarbeiter pessimistischen Prognosen zum Trotz stabil geblieben ist. Aber Aufgaben haben sich dort natürlich verändert. Bei steigender Effizienz werden Mitarbeiter anders eingesetzt: Sie können sich jetzt auf kreative und menschnahe Aufgaben konzentrieren. Roboter können zwar ausgesprochen pfiffig sein, aber ihre Intelligenz beschränkt sich doch immer noch auf alles, was sich in Nullen und Einsen abbilden lässt. Ihr Vorteil: Sie können Datenbanken durchforsten, Muster erkennen, Tag und Nacht arbeiten, aber Ihnen fehlt Emotionale Intelligenz und sie haben keinerlei Sozialkompetenz. Wenn eure Leser jetzt mal überlegen, welche Jobs sie kennen in denen man ohne diese auskommt, dann sind das vermutlich nicht so viele. Es gibt also durchaus Themengebiete – vor allem diese,
KI – KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Allgemein bezeichnet man mit diesem Ausdruck den Versuch oder das Vorhaben, mit Hilfe von Technik und Information eine menschenähnliche Intelligenz nachzuempfinden bzw. nachzubauen. Der Begriff ist sehr weitläufig. So kann damit beispielsweise ein computer ähnliches System gemeint sein, das eigenständig handelt oder aber auch ein simpler Algorithmus, durch den intelligentes Verhalten simuliert wird.
in denen rund um die Uhr nach bestimmten Mustern recherchiert, analysiert, ausgewertet und nach Daten gesucht wird – in denen ist die Maschine dem Menschen einfach überlegen. Nehmen wir als Beispiel eine Person, die als Anwältin oder Anwalt arbeitet: Wenn diese nach irgendwelchen alten Fällen sucht, dann hat jene Person begrenztere Möglichkeiten, an Daten und Wissen zu gelangen als etwa intelligente Maschinen. Diese können die ganze Nacht Informationen analysieren und stichwortartig und präzise genau nach den gesuchten Inhalten filtern. Eine sehr sinnvolle Unterstützung für die Anwälte. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Maschine demnächst ein Plädoyer im Gerichtssaal hält.. Ein anderes Beispiel ist die Medizin: Computer können durch Großdatenanalysen und Mustererkennung Onkologen zuverlässiger als jeder Mensch helfen, Tumore zu erkennen und Handlungsoptionen vorzuschlagen. Aber der Roboter wird den Arzt immer nur unterstützen, nie ersetzen können. Denn er wird nicht in der Lage sein, mit menschlicher Autorität, Warmherzigkeit und dessen Kompetenz auf die Individualität des Patienten einzugehen und ihn zu behandeln. Und insofern werden sich an vielen Stellen sicherlich auch Arbeitsplätze verändern und rein Datenorientierte wegrationalisiert werden. Am wenigsten betrifft dies Berufe und Aufgaben, die viel emotionale und soziale Kompetenz erfordern.
rung – um das alles vereinfacht zusammenzufassen – ist nie nur „gut“ oder nur „schlecht“. Es hängt damit zusammen, wie man sie nutzt und vor allem muss man Bedenken ernst nehmen und mit Bedacht handeln. philou. Wie lautet Ihre persönliche wie fachliche Einschätzung zu Digitalisierungsfortschritten sowie Fortschritten der Robotik in den nächsten X Jahren? Befinden wir uns technisch und hinsichtlich der Digitalisierung bereits an einem ganz anderen Punkt der Entwicklung? Isenhardt Das denke ich auf jeden Fall. Wenn die
Entwicklung gleichbleibend verläuft und wenn jetzige Möglichkeiten so wie geplant ausgebaut werden – auch mit Hinblick auf garantierte Sicherheit –, dann bin ich der Meinung, dass sich unser Alltag und unser Arbeitsleben sehr verändern werden. Ich könnte mir vorstellen, dass autonomes Fahren beispielsweise im Alltag ankommen sein wird und vor allem in der Pflege vermehrt – und nicht nur wie bisher vereinzelt – Roboter unterstützend eingesetzt werden, z.B. könnten künstliche Intelligenzen dauerhaft und ständig Vitaldaten aufnehmen sowie entsprechend analysieren, um dann schnellstmöglich reagieren zu können. Aus unserem Institut gibt es zum Thema eHealth ein bereits ein weiteres spannendes Beispiel: Es gibt in Aachener Rettungsfahrzeugen bereits Technologien, die mit einer Tele-Notarzt-Zentrale verbunden sind und dann kann zu jedem Zeitpunkt und Ort der Behandlung genauestens und in Echtzeit der
Wenn man über Risiken nachdenkt, spielt die Frage der Datensicherheit ebenfalls eine große Rolle und auch da kann ich entsprechende Sorgen verstehen. Wenn man sich vorstellt, wie schnell und zuverlässig Daten ausgewertet werden und dass wir in der Zukunft vermehrt autonom fahrende Autos benutzen und fliegende Drohnen zum Alltag gehören, dann kann es eben auch zu vielfältigen Sicherheitsrisiken kommen. Deswegen: Digitalisie49
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Zustand des Patienten oder der Patientin eingesehen und ausgewertet werden – ohne dass ein Notarzt oder eine Notärztin zwangsläufig vor Ort sein muss. Das erleichtert eine Behandlung natürlich extrem und rettet durchaus Leben. Aber auch in diesem Fall wird der Notarzt oder die Notärztin nicht durch Technologien ersetzt, sondern in seiner oder ihrer Tätigkeit unterstützt. philou. Kommen wir nun zu den von Ihnen betreuten Projekten an den Instituten. Da gibt es beispielsweise ein Projekt mit dem Namen ARIZ, welches bezüglich der Digitalisierung und Robotik von Relevanz zu sein scheint. Können Sie konkrete Beispiele für smarte Arbeitsumgebungen geben? Inwiefern unterscheidet sich die in diesem Projekt benannte smarte Arbeitsumgebung von früheren und jetzigen Formen der Arbeitsumgebung? Isenhardt Bei ARIZ geht es tatsächlich darum, wie
Arbeiten in sogenannten verteilten Systemen ausgeführt werden oder wie Roboter als teilautonome Agenten mit Menschen zusammenarbeiten. Grundsätzlich gibt es zwei Modelle: In dem einen gibt es sozusagen eine zentrale Instanz, die den Roboter regelt sowie steuert und entsprechend auch die Abstimmung der Roboter untereinander steuert. Im zweiten Modell – und damit arbeiten wir – verfügt jeder Roboter über eine eigene künstliche Intelligenz, mit der Daten „gemerkt“ werden können und die lernfähig ist – auch situativ bedingt. Solche Maschinen und Roboter mit umfassenden Sicherungssystemen und entsprechender Sensorik sollen es ermöglichen, dass Mensch und Maschine sich im gleichen Arbeitsraum bewegen und z.B. ohne Schutzkäfig zusammenarbeiten können. Ein Roboter soll ohne Sicherheitszaun neben dem Menschen arbeiten und seinen menschlichen Kollegen in der Montage entlasten, indem er ermüdende und belastende Greifaufgaben übernimmt. Es wird daran entwickelt, dass der Roboter nicht nur einen einprogrammierten Arbeitsablauf in der Produktion übernimmt, sondern verschiedenste Aufgaben übernehmen, mobil beweglich sein und flexibel eingesetzt werden kann. Eine hochsensible Sensorhaut auf dem Roboterarm überwacht die Bewegungen des Roboters: Sobald ihm ein Mitarbeiter zu nahe kommt, hält er komplett an. (ARIZ) Bezüglich dieser heterogenen Systeme, in denen Menschen und Roboter arbeiten, stellen wir interdisziplinäre Untersuchungen an – zum einen aus der Perspektive des Maschinenbaus, zum anderen aus der soziologischen Perspektive. Team-Entwicklungen bei Menschen kennen wir alle: Man lernt sich neu kennen, manchmal mag man sich, manchmal nicht; manchmal muss man miteinander warm werden. Aber wie funktioniert das in einer Arbeitsumgebung aus Menschen und autonom funktionierenden künstlichen Intelligenzen?
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Bei ARIZ (Arbeit in der Industrie der Zukunft) geht es um die Erarbeitung anwendbarer Lösungen und Szenarien zur Mensch-Roboter Kollaboration für die Industrie der Zukunft; im Rahmen der vierten industriellen Revolution entstehen smarte Arbeitsumgebungen mit Menschen, heterogenen Robotern und virtuellen Agenten, die durch künstliche Intelligenz lernen und ihre Umgebung eigenständig erfassen können. Es müssen neue Kooperationsund Entscheidungsbeziehungen für eine hybride Kooperation von Mensch, Roboter und virtuellen Agenten entwickelt werden. Die Analyse dieser gänzlich neuartigen Kooperationsbeziehung zwischen Mensch und Technik in der Industrie 4.0 und deren Auswirkung auf und Chancen für die Arbeitswelt werden im Rahmen des Verbundprojektes ARIZ erforscht.
inwiefern künstliche Intelligenzen in dieser Hinsicht agieren sollen. Da gibt es diverse Möglichkeiten: In einem Produktionsbetrieb steht erst einmal die Effizienz im Vordergrund, im Bereich der eHealth geht es dann schon deutlich stärker auch um solche Fragen.
Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass man mittlerweile schon von „Roboter-Kindergärten“ spricht, weil die noch unerfahrenen Roboter ähnlich wie menschliche Kinder lernen – eben über „trial and error“ und nicht weil man ihnen was befiehlt oder verbietet. Die Roboter nutzen eigene Erfahrungswerte, merken sich diese und lernen daraus. Ein wichtiger Aspekt in der Mensch-Maschine-Teamentwicklung.
Nehmen wir als Beispiel ein anderes Projekt unseres Instituts: IMOTION. Dabei wurde die emotionale Interaktion zwischen Mensch und Technik am Beispiel von Navigationssystemen in Fahrzeugen untersucht. D.h. die Technik kann die Emotionen des fahrenden Menschen „analysieren“. Derartige Systeme können deine Stimme und deine Mimik, Gestik und Verhalten in verschiedenen Situationen oder unterschiedlichen emotionalen Zuständen erkennen. Sie können also deuten, ob der Fahrende gerade wütend, genervt, müde, traurig, ist. Heutzutage werden bereits in Fahrzeugen Systeme serienmäßig verwendet, die anhand der Lidschlaghäufigkeit oder dem Fahrverhalten erkennen, dass die fahrende Person müde ist und besser eine Fahrpause einlegen sollte. Durch entsprechende Warnungen kann die Sicherheit erhöht werden, wenn der Mensch dann entsprechend auf die Maschine hört. Die nächste Stufe ist dann das das technische System den Menschen überstimmen darf und für ihn handeln – dann sind wir wieder bei sicherheitsrelevanten moralischen Fragen.
philou. Das bringt mich direkt zu meiner nächsten Frage: Ist jene künstliche Intelligenz denn dann durch oder von Menschen begrenzt bzw. kontrolliert? Kontrolliert der Mensch die KI letzten Endes nicht doch, auch wenn sie bis dahin autonom arbeitet? Isenhardt Das kann man natürlich so program-
mieren. Aber da stellt sich auch die Frage, ob das so richtig ist. Natürlich gibt es ethische Fragestellungen: Angenommen, ein Fahrzeug fährt autonom und es entstehen plötzliche mehrere Hindernisse. Das Fahrzeug kann aber nur einem von mehreren Hindernissen ausweichen – diese oder ähnliche fiktive Gefahrensituationen als Abfrage der menschlichen Moral sind ja bereits bekannt – „Würden Sie eher den Bankräuber oder die Mutter mit Kinderwagen überfahren?“ Solche Fragen sind äußerst schwierig für den Menschen und eine Entscheidung hängt von moralischen Werten ab, die man einem Roboter erst beibringen müsste. Da stellt sich aber natürlich die Frage, welche Werte man einem Roboter mitgibt. Also was ist die „richtige“ moralische Auffassung? Das ist ein spannendes Gebiet. Mitarbeiter unseres Instituts sind der Meinung, dass wir uns da zu Robotern nicht groß unterscheiden: Man könnte Roboter auch so weiterentwickeln, dass diese dann vergleichbare Einschätzung hinsichtlich gesellschaftlicher Werte haben wie wir. Letztlich seien Menschen auch „nur“ miteinander agierende Moleküle oder neuronale Netze. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Roboter in nächster Zeit dahingehend entwickelt werden, dass sie sich mit gesellschaftlichen Werten und metaphysischen Fragestellungen beschäftigen. Aber ich denke sehr wohl, dass es eine gesellschaftliche wie auch politische Frage ist und auch bleiben wird,
Abschließend kann man sagen, dass es bei Robotern, künstlichen Intelligenzen, autonomen Systemen und so weiter in erster Linie immer um Wissen und Daten geht. Wenn jene Daten formal dargestellt werden können, werden Roboter in dieser Hinsicht immer „schlauer“ als Menschen sein. Aber Roboter erwerben nicht völlig selbstständig Wissen, sie haben Zugriff auf vorhandenes Wissen, weil sie zum einen schnell rechnen können und zum anderen dauerhaft mit allem im Netz abgebildeten Wissen vernetzt sind. Was ich mir trotzdem noch nicht vorstellen kann, , ist, dass eine musterbasierte Datenerkennung irgendwann auf unseren menschlichen Erfahrungslevel kommt, quasi eine Intuition für Roboter. Aber das wird sich zeigen. philou. Vielen Dank Frau Prof. Isenhardt für das in teressante Interview!
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JANUSKOPF
0 01 0 0 0 0 1 * Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter – „Schöne neue Welt“? Und wie! Eine Vielzahl unserer heutigen technischen Errungenschaften erleichtern uns zahllose Aspekte unseres alltäglichen Lebens und übersteigen in ihren Möglichkeiten selbst die kühnsten Erwartungen der vergangenen Jahrhunderte. Die Geschwindigkeit unseres Fortschritts lässt dabei selbst den Traum einer vollwertigen künstlichen Intelligenz in greifbare Nähe rücken. Parallel dazu vernetzt das Internet die Menschen auf eine grenzüberschreitende Art und Weise, die selbst tausende Kilometer Distanz hinter der Unmittelbarkeit der digitalen Kommunikation verschwinden lässt. Dies ermöglicht einen Informationsaustausch nie gekannten Ausmaßes – nahezu das gesamte Wissen der Menschheit ist mittlerweile für viele von uns an so gut wie jedem Ort abrufbar! Also wenn das keine schöne neue Welt ist… Die zunehmende Automatisierung befreit uns von zahlreichen stumpfen Routine- und Fließbandtätigkeiten. Die sinnentleerten und entfremdenden Tätigkeiten in den modernen Fabrikhallen werden immer mehr von Robotern übernommen. Mittlerweile können auch Kassierer_innen in Supermärkten von Automaten ersetzt werden und auch die Entwicklung von autonom fahrenden Fahrzeugen macht immer größere Fortschritte. Angesichts dieser Automatisierungsmöglichkeiten bleiben die alarmistischen Aufschreie natürlich nicht aus, die die Überflüssigkeit des Menschen prophezeien und viele Menschen verunsichert um ihren Arbeitsplatz bangen lassen. Technische Revolutionen bargen schon immer diese Gefahr und unsere Gesellschaft hat sich schon in den letzten Jahrhunderten mit diesen auseinandersetzen und sie überwinden lernen müssen. Klar, es werden viele alte Berufsbilder verloren gehen, doch werden auch gleichzeitig zahlreiche neue entstehen. Immerhin müssen auch Roboter gewartet, programmiert und überwacht werden. Im Sinne einer schöpferischen Zerstörung nach Joseph Schumpeter sollte das Ende alter Strukturen optimistisch als der Beginn von etwas Neuem und Besserem verstanden werden – als eine Chance. Oder ist es den Menschen trotz der Möglichkeiten der Automatisierung noch immer zuzumuten, niederste Fließband- und Routinetätigkeiten zu verrichten, statt sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen? Darüber hinaus bietet sich den Menschen durch das Internet die Möglichkeit, im Handumdrehen an eine Informationsflut zu jedem erdenklichen Thema zu gelangen. Was vor wenigen Jahrzehnten mit stundenlanger Recherche
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an verschiedensten Orten zusammenhing, lässt sich heute binnen weniger Minuten oder gar Sekunden bequem von zuhause aus in Erfahrung bringen. Wenn einem der Sinn danach steht, ist man so in der Lage, sich autodidaktisch mithilfe unzähliger Tutorials, Wikis und How-Tos nahezu jedes Thema und jede Fähigkeit anzueignen. Zusätzlich tragen wir in unseren Hosentaschen eines der mächtigsten jemals vom Menschen geschaffenen Werkzeuge mit uns herum - das Smartphone. Die schier grenzenlosen Möglichkeiten, die es bietet, spiegeln sich schon allein in der Fülle an Geräten wieder, die es in sich vereint: Ob Telefon, Kamera, Organizer, Landkarte, Taschenrechner, Lexikon, Spielekonsole oder MP3-Player – das Smartphone vereint diese und noch viele weitere Gegenstände in sich und erweitert unsere individuellen Handlungsmöglichkeiten enorm. Damit sind Smartphones im weitesten Sinne schon ein erster großer Schritt in Richtung Human Enhancement. Wer dieses Potential an Katzenbildern und Selfie-Orgien vergeudet, ist selbst schuld! Natürlich gehen mit der Digitalisierung auch zahl reiche Risiken und zu klärende Zukunftsfragen einher, aber insgesamt bietet die vernetzte Welt von morgen mehr Chancen und Verbesserungen für unser aller Leben. Jetzt geht es vor allem darum, immer mehr Menschen an dieser schönen neuen Welt teilhaben zu lassen.
00 1 1 1 1 1 1 * Mensch und Maschine im digitalen Zeitalter – „Schöne neue Welt“? Neu mag sie zwar sein, aber schön? Der technische Fortschritt schreitet unbeirrt voran, doch vor dem Hintergrund eines neoliberalen Kapitalismus wirkt die zunehmende Automatisierung von immer mehr Arbeiten nicht mehr wie die Befreiung von, sondern wie die Verdrängung aus der Arbeit. Ein als bloßes Produktionsmittel berechneter Mensch wird überflüssig und ersetzbar durch effizientere Maschinen oder Algorithmen. Mit dem Verlust der Arbeit geht auch der Verlust ihrer identitätsstiftenden und gesellschaftlich integrierenden Wirkung einher. Wer das Pech hat, in einen derartigen Marginalisierungsprozess zu geraten – sich einen „abgehängten Digitalisierungsverlierer“ schimpfen zu dürfen – findet in seiner Wut und Enttäuschung schließlich Trost und Sündenböcke in den vom erstarkenden Populismus genährten Echokammern des postfaktischen Netzes. Keine Technik der Welt vermag die Defizite unserer Gesellschaft im Alleingang zu beheben, doch leider bergen viele das Potential, die bestehenden Missstände zu verstärken. Schöne neue Welt… In einer vom Wachstumsimperativ, Effizienzdenken und Leistungsdruck dominierten Wirtschafts- und Arbeitswelt wirkt es umso bedrohlicher, wenn zunehmend größere Teile der Konkurrierenden um Arbeit keinen Schlaf, keinen Hunger, keine Krankheit und kein Privatleben mehr kennen. Die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts bedrohen nun zunehmend auch die im letzten Jahrhundert weitestgehend von der Automatisierung verschont gebliebenen Denkarbeiter_innen. Während z.B. Anwaltskanzleien vor Jahrzehnten noch zahlreiche gut bezahlte Anwält_innen zum Durchforsten von Aktenbergen anstellen mussten, reichen heute schon wenige Expert_innen und eine leistungsfähige Analysesoftware. So praktisch und
effizient die digitalen Möglichkeiten der Automatisierung auch sein mögen, muss man sich doch auch fragen, wem die Zugewinne an Effizienz und Produktivität letztendlich wirklich zugutekommen. Traurigerweise sind es wie in der industriellen Revolution auch heute weitestgehend die Arbeitgeber_innen und Eigentümer_innen der Maschinen und Algorithmen, die vom Produktivitätsüberschuss profitieren. Das Nachsehen haben die Arbeitnehmer_innen, deren Arbeit automatisiert wurde. Wer keinen Lohn mehr bekommt, kann auch keine Produkte kaufen, fällt als konsumierende/r Marktteilnehmer_in aus und gefährdet den sozialen Frieden. Schon während der industriellen Revolution wurde daher – unter dem Druck der Arbeiterbewegungen – für soziale Auffangnetze gesorgt, um die Übergangszeit bis zur Etablierung neuer ökonomischer Strukturen und der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu überbrücken. Wo bleibt die Diskussion und Etablierung dieser Auffangnetze heute? Wenn Maschinen unseren Platz als Arbeitnehmer_innen einnehmen, sollten sie doch auch unseren Platz als Steuerzahler_innen einnehmen! Wo bleibt die Besteuerung nicht-menschlicher Arbeit – die Automatisierungsdividende? Und wo das bedingungslose Grundeinkommen? Wir mögen heutzutage zwar in nie gekanntem Ausmaß miteinander vernetzt sein, aber es scheint so, als wären weite Teile der Gesellschaft noch immer nicht bereit für die sich damit auftuenden Möglichkeiten. Statt die Vernetzung gemeinsam für die Etablierung eines weitreichenden konstruktiven Diskurses zu nutzen, verlieren sich Millionen von Menschen zwischen irrelevantem Informationsmüll und verschwörungstheoretischen „Fake News“ in der unübersichtlichen Datenflut des Internets. Die potentiellen politischen Gestaltungsmöglichkeiten bleiben größtenteils ungenutzt, während weite Teile der Gesellschaft in bedenklicher Smartphoneabhängigkeit im passiven Konsum verharrt und Likes mit zwischenmenschlicher Nähe und Anerkennung verwechselt. Darüber hinaus sorgt die Begeisterung um Big Data für Datenkraken, die unentwegt unsere privatesten Daten anhäufen, um uns immer berechenbarer und transparenter zu machen. Hauptsache die Algorithmen geben uns zu unseren Konsumgewohnheiten passende Vorschläge. Dass damit auch eine Infrastruktur der totalen Überwachung in die Welt gesetzt wird, scheint nebensächlich in unserer „schönen neuen Welt“. Orwell und Huxley lassen grüßen. Hier dieser eine Typ übrigens auch. Wie hieß er noch gleich? Jon Snowden?
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INTERVIEW
WIR FRAGEN,
PROF. D R . - I NG . S CHMACH TEN BER G AN TWO R TET
Herr Professor Dr. Schmachtenberg, die RWTH Aachen Univserity ist eine der angesehensten und größten Universitäten für technische Studiengänge in Deutschland. Unsere Frage: Ist die RWTH den zukünftigen Herausforderungen gewachsen? Oder anders: Ist die RWTH der Wegbereiter zur „schönen neuen Welt“?
Ob die RWTH den Herausforderungen gewachsen sein wird, möchte ich den Historikern überlassen, wenn sie im Rückblick unsere Zeit einordnen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es kaum bessere Orte in der Welt gibt, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Ist die RWTH Wegbereiter? Nein! Es sind die Menschen, die die Wege bereiten, insbesondere die Studierenden, die entscheiden, wie sie ihre neue Welt gestalten wollen. Durch die Universität erhalten sie Wissen und Handlungskompetenzen, durch ihr Handeln entsteht die Zukunft. Dabei bekommen sie durch ihr Studium machtvolle Werkzeuge in ihre Hände. Ich hoffe, sie werden sie so nutzen, dass die Welt eine bessere wird. Während die Prozesse der industriellen Fertigung durch die digitalen Vernetzungsmöglichkeiten einer revolutionären Wende gegenüberstehen, ist auch unsere Universität vom grundlegenden soziotechnischen Wandel betroffen. Werden wir als Studierende mittel- bzw. langfristig noch vor Ort in den Gebäuden der RWTH studieren müssen oder werden wir zukünftig von zu Hause aus lernen, Stichwort Blended Learning?
Blended Learning ist ja gerade nicht der Ansatz „Alles Lernen nur noch in Distanz“. Wir suchen mit Blended Learning nach Wegen, das Potenzial des Internets und der hierauf verfügbaren Kommunikationsformen für das Studium zu erschließen. Nach meiner Überzeugung bleibt der Lernort der Ort der Begegnung mit Lehrenden und Studierenden. Aber es wird sich Vieles verändern: Früher waren die Bibliotheken etwa der Ort, wo die Studierenden ihre Bücher fanden. Heute ist die Bibliothek vor allem die Institution, die die digitale Ausleihe ermöglicht. Und sie bleibt der Lernort, denn gemeinsames Lernen ist sehr motivierend. Und zuletzt ganz plakativ: Wird das erste autonome Fahrzeug der Welt am IKA der RWTH Aachen entwickelt?
Im Wettbewerb DARPA Grand Challenge, einem großen Wettbewerb für sogenannte unbemannte Landfahrzeuge, hat 2005 ein Fahrzeug der Standford University den ersten Platz bei der Durchquerung einer Wüste erreicht. Das war wohl ein sehr wichtiger Meilenstein des autonomen Fahrens. Bis es eine allgemein verfügbare Technologie für die in Großserie gefertigten Autos gibt, braucht es wohl noch fünf Jahre. Und in den dann verkauften Systemen wird bestimmt viel IKA drinstecken...
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AN ZEIGE
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LOGOI I 2017
Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin innerhalb der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen University
02.03. | 18 uhr: VOrtraG für junGe Leute Dr. annette förster: »Ist im Krieg gegen den terror alles erlaubt?« Kooperationsprojekt Phil-aIXchange
22.01. - 06.03.: aussteLLunG »synthesis« von annette sellerbeck
Kontakt: http://philou.rwth-aachen.de https://www.facebook.com/philoufs7 info@philou.rwth-aachen.de Mitwirkende Dogan, Caner Erel, Defne Fischer, Jenny Hilker, Sarah Honkomp, Nils Klubert, Katrin Korr, Jan Layout Sarah Hilker Oliver Oschmann
Lentzen, Nina Oschmann, Oliver Rhiemeier, Mareike Riedemann, Nico Ruddgkeit, Thomas Vogelbacher, Annika Winkens, Ann-Kristin Illustration S. 16, S. 19f. Ingo Faulstich
Hauptverantwortlicher Jan Korr Studierendenmagazin philou. e.V. Hohenstauffenallee 58 52074 Aachen Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlichst bei dem AStA, dem Philosophischen Institut, VDI Aachen, LOGOI, iTouring GmbH Aachen, Christina Klubert, Julius Möllenbeck, Yannic Hoffmann und allen anderen Mitwirkenden, die Zeit, Rat und Geld zur Verfügung gestellt haben.
05.03. | 12 uhr: PhILOsOPhIscher saLOn Dr. christoph Diehl: »Platon zur theorie der sprachlichen Bedeutung« aB Dem 10.03.: semInar »Ins Wunderland« mit natalia González de la Llana, 4 termine (10.03., 07.04., 12.05., 16.06.) aB Dem 17.03.: theaterWOrKshOPs mit tina Kukovic-ulfik, 3 termine (17.03., 05.05., 23.06.). Weitere Informationen folgen! 26.03. | 12 uhr: VOrtraG Brigitte sändig: »camus im Osten« 02.04. | 12 uhr: PhILOsOPhIscher saLOn Dr. joachim Bromand: »Gibt es vernünftige Gründe (nicht) an Gott zu glauben?« aB Dem 20.04.: KreatIVes schreIBen »self-editing« – Werkstatt mit natalia González de la Llana, 3 termine (20.04., 18.05., 29.06.) + Online-Kurs 30.04.: VernIssaGe zur ausstellung von alwina heinz 07.05. | 12 uhr: PhILOsOPhIscher saLOn carmen Krämer m.a.: »menschenwürde und reality tV – ein Widerspruch?« 21.05. | 12 uhr: PhILOsOPhIsche matInee Dr. annette förster: »Gerechte Grenzen oder grenzenlose Gerechtigkeit? – migrationsethik und ihre Implikationen« 25.06. | 12 uhr: PhILOsOPhIsche matInee Prof. Dr. Wulf Kellerwessel: »amartya sen: ethik und entwicklung« 09.07. | 12 uhr: PhILOsOPhIsche matInee Prof. Dr. Wilfried hinsch: »sinn für Gerechtigkeit« Zudem erwartet sie/ euch eine neuauflage unseres Philosophischen tischgesprächs. Weitere Informationen folgen! anmeLDunGen unD InfOrmatIOnen: LOGOI.De | 0241.16025088 | PhIL@LOGOI.De aLLe VeranstaLtunGen Im LOGOI | jaKOBstrasse 25a | 52064 aachen VOrDerseIte: heIner GeIsBe – untItLeD
Nachdruck und Wiedergabe von Beiträgen aus der philou. sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Die in der philou. veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel geben die Meinungen der Autor_innen wieder und stellen nicht zwangsläufig die Position der Redaktion dar.
„ZE I T ist das, was man an der Uhr abliest.“ – Albert Einstein
A U SBL IC K: A U SGABE 4
In der nächsten Ausgabe machen wir uns auf die Suche nach der Zeit: Wie spät ist es? Haben wir genug Zeit? Wie sieht ein gutes Zeitmanagement aus? In welcher Zeit leben wir? Wie hat sich unsere Wahrnehmung von Zeit verändert? Wenn Zeit Geld ist, was ist dann Beschleunigung? Was ist die Alternative zur Beschleunigung? Zeit setzt alle Maßstäbe? Schafft Zeit Grenzen? Kommt Zeit, kommt Rat? Wie kann man Zeit messen? Wie entsteht Zeit? Gibt es eine absolute Zeit? Warum ist das Universum so, wie es ist? Was ist Vergangenheit, was Zukunft? Gibt es eine Gegenwart? Womit verbringen wir unsere Zeit? Wer verfügt über unsere Zeit? Sind Zeitreisen theoretisch möglich? Was ist Zeit?
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