philou. #4 Eine Frage der Zeit?

Page 1

philou. THEMA: EINE FRAGE DER ZEIT?

Unabhängiges Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University

AUSGABE 4


FÜR STUDENTEN

A N ZE IG E

5x INS THEATER FÜR NUR 20 € WEITERE INFOS DIREKT AN DER THEATERKASSE ODER MITTWOCHS VON 11.00-14.00 UHR AM THEATERSTAND IN DER MENSA ACADEMICA

FACEBOOK

www.facebook.com /Theater.Aachen

YOUTUBE

www.youtube.com /TheaterAachen

INSTAGRAM theateraachen

THEATER AACHEN WWW.THEATERAACHEN.DE


EDITORIAL

EINE FRAGE DER ZEIT „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ – Augustinus

LIEBE LESER_INNEN, wenn die Zeit nur das wäre, was die Uhren messen, wäre die Frage nach der Zeit schnell beantwortet. Zeit wäre dann lediglich die messbare Dauer von Ereignissen. Es ginge um das Wann, einen Zeitpunkt, oder um das Wie lange, eine Zeitspanne. Aber Zeit sollte nicht mit den Techniken verwechselt werden, mit denen sie gemessen wird. Zeit ist keine absolute Größe, da sie auch empfunden wird. Sie beeinflusst den Menschen in seinen Gedanken, seinen Wünschen, seinen Vorhaben und Gefühlen. Bereits Aristoteles war bewusst, dass es keine leere und ereignislose Zeit gibt, „denn eben das ist Zeit: Die Zahl der Veränderung hinsichtlich des Davor und Danach“. Das erste mathematische Modell für Zeit und Raum lieferte Isaac Newton 1687: Man hielt die Zeit für ewig, es gab sie schon immer und würde sie immer geben.

auch gleichzeitig eine höhere Lebensqualität implizieren kann. (S. 30) Insbesondere auf individueller Ebene ist es von zentraler Bedeutung, das eigene Zeitbewusstsein zu reflektieren, andernfalls geraten wir zunehmend unter die Herrschaft der Zeit. (S. 32) Zeit als individuelle Ressource zu nutzen, ist auch in Michael Endes bekanntem – und wieder zeitgenössischem – Roman „Momo“ wiederzufinden. Je langsamer, desto schneller? (S. 42) Viele dieser Themen begegnen uns bereits in Kindertagen; schauen wir Kinderfilme oder lesen Kinderbücher in höherem Alter noch einmal, bemerken wir, dass gesellschaftliche Probleme oftmals Altbekanntes sind und wir sie bloß anders wahrnehmen. (S. 45) Letztlich können wir jedoch nur erahnen, was es heißt, Zeit tatsächlich zu erleben. Ein Versuch, die Zeit in Einheiten auch wahrnehmbar zu machen, kann in der Musik liegen. (S. 48)Trotz allem zerbrechen wir uns tagtäglich den Kopf über die Zeit und versuchen, bereits Vergangenes nachträglich oder in der Zukunft liegende Ereignisse gedanklich zu verändern. „Was wäre, wenn…?“ ist dabei unser beliebtestes Spiel mit der Zeit. Was wäre, wenn alles anders wäre? (S. 53) Alles eine Frage der Zeit.

Was ist also so rätselhaft an der Zeit? Das neue Paradigma heißt Beschleunigung. Fraglich ist, inwieweit gegenwärtige Entschleunigungstrends dem entgegenwirken können. (S. 8) Darüber hinaus führt eine reine Orientierung an der Zukunft zu einer Verdrängung des Augenblicks – Zeit wird konsumiert und quantifiziert, der erlebte Moment erfährt keine Präsenz mehr. (S. 11) Besonders deutlich wird dies im Kontext von Entscheidungsprozessen innerhalb von Demokratien. Halbgare und dafür augenblicklich wirksame Lösungsangebote oder Kreativität für Langfristigkeit? (S. 14) Aber was spielt das überhaupt für eine Rolle, wenn die Existenz der Menschheit augenscheinlich zeitlich begrenzt ist – das eingeleitete Zeitalter des Anthropozäns führt gleichzeitig zu Naturkatastrophen und einer zunehmenden Verknappung von Ressourcen; auch der Planet Erde spielt auf Zeit. (S. 18) Eine Überwindung der eigenen Endlichkeit ist jedoch tief im Selbstverständnis des Menschen verankert, der Schlüssel dafür mag vielleicht sogar in der Natur liegen. (S. 21) Aus der Hoffnung heraus, die Zeit bis zu der Erforschung der Unsterblichkeit überbrücken zu können, lassen sich Menschen heute einfrieren – Kryotechnologie als technischer Optimismus im Wettlauf gegen die Zeit? (S. 26) Bei diesem Kampf gegen die Zeit verlieren wir uns letztlich nur selbst; fraglich ist, inwieweit eine Lebenszeitverlängerung

Wir freuen uns, diese und weitere Fragen und Problemstellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die vierte philou. Interdisziplinarität ist elementar für unsere Arbeit und spiegelt sich in dieser Ausgabe besonders wider. Das Thema Eine Frage der Zeit? soll sich multidimensional mit der gegenwärtigen Beschleunigungsdebatte auseinandersetzen, das eigene Zeitempfinden und -bewusstsein reflektieren und auch naturwissenschaftliche Perspektiven beleuchten. Durch den Fokus auf die Diversität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten genießen muss. Umso mehr freuen wir uns, dass ihr nun eben diesen Versuch vor euch liegen habt. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die vierte Ausgabe genauso gefällt wie uns! Eure philou. Redaktion VERFASST VON ANN-KRISTIN WINKENS

3

philou.


A N ZE IG E


INHALT

ZEI T & GE S E LLS C H AF T

Z EIT & KU LTU R 38 Carpe Diem!

8 Leb' langsam – Jetzt erst recht!

Entschleunigung als Gegentrend?

Kreative Tagesmuster bedeutender Persönlichkeiten.

Die Suche nach dem richtigen Rhythmus. Welches Tempo will unsere Gesellschaft eigentlich?

42 Momo und die innere Uhr

VON TOBIAS KELLIGER

11 Auf der Suche nach der

Zeit als individuelle Ressource

Je langsamer, desto schneller. Über Michael Endes Momo und dessen zeitgenössischer Relevanz.

VON CHRISTIAN EßING

verlorenen Zeit

Ein Plädoyer für den Augenblick und das Verharren.

45 Harry Potter und der Populismus der

VON ANN-KRISTIN WINKENS

Joschka-Elefanten – Wie Bücher und Kassetten unser politisches Denken beeinflussen

14 Demokratie in der Zeitkrise –

Zeit für Kreativität?

Über Erinnerungen und Wahrnehmung. Wie sich zeitgenössische Phänomene in Jugendliteratur wiederentdecken lassen.

Warum Zeit eine Grundlage politischer Willensbildung ist und wie ihre Verkürzung den politischen Diskurs verändert.

VON NILS TENKLEVE

VON THOMAS BAUSCH

48 Wie lange dauert ein Moment?

ZEI T & NATU R 18 Wie beständig ist unsere Welt?

Eine geologische Betrachtung der Zeit

Zeit ist auch: Musik in unseren Ohren. Wie nehmen wir Zeit mit Musik wahr?

VON YANNIC HOFFMANN & NILS HONKOMP

Geologische Zeitskalen und die Bedeutung zyklischer Erdprozesse für die Zukunft.

53 „Was wäre, wenn...?“ –

VON PHILIP GOTZEN

21 Einer für alle, alle für keinen –

Versuch über eine musikalische Messung der Zeit

Das Spiel mit der Zeit

Ein Kommentar über kontrafaktisches Denken.

VON SOFIA ELEFTHERIADI-ZACHARAKI

Der Tod des Einzelnen als Unsterblichkeit der Spezies?

Die Suche nach dem genetischen Jungbrunnen. Evolution für dich oder für alle?

J AN U SKO P F

VON JANA WEBER

56 Chronos und Kairos Die zwei Gesichter der Zeit.

VON THOMAS RUDDIGKEIT

ZEI T & M E D I ZI N 26 Kryotechnologie – Eine Wette

auf die Zeit

Warum Menschen sich mit der Hoffnung einfrieren lassen, die Zeit bis zur Erforschung der Unsterblichkeit zu überbrücken.

VON NILS HONKOMP & KATRIN KLUBERT 30 Lebenszeitverlängerung vs.

Lebensqualität – Ein Gegensatz?

Zwischen medizinischen und den eigenen Möglichkeiten. Eine ganz intime Frage nach der eigenen Zeit.

VON THIEN AN NGUYEN

34 Die Macht der Entfremdung –

Wenn die Uhren lauter ticken

Was geschieht mit der Subjektivität unter linearer Zeitordnung?

VON VICKY VIDA

http://philou.rwth-aachen.de facebook.com/philoufs7 info@philou.rwth-aachen.de 5

philou.


SA EM Y, U CH IBB TIS KL NE D PA AN AG AN L FR RO OM TT EU R– R O T R R– UH EK CH DE UH EL , S OM N D I FE T AT AN MI BA UH R R MB NR UH DE 46 AR N E TU 19 MI CH XA E S L I ER D 18 TR – A ET LAN 19 EK L OM N G EL DE N E E N G RO N , PE UN AND M G L 40 -CH ISO E EM ER 18 UN RR RIN HA GH IED NG AA , N MA N WI H W CH NS JO IT S E L M G E Y 61 D HR U 17 ND H AN U E EL AN HL R P EN SC I) ND TIA DE ALI PE RIS R E UT NZ , IT GE , DE TA LEI CH R N S LI 57 BE ERG KO GA 16 RN N B NG EIT LEO NÜ R Z I TU L R ( , NÜ N N ICH GA UH IN KE LIE E N A RR R L 81 HE N VO 15 WE I, IT SC H E CK ER CH E D TA ER S E W E T F IT LL PE IT E K RM 10 ER R M UN H E R 15 U K B RW EC O HE DE A P C W P D S I RÄ P I N IT URO FIL AN L A 10 CH CH NM –E 14 RE EB ME TS U UH TRI DE 0 HE AN 40 SC TS I –1 AN ICH 50 H W C 13 E R ME D G KE UN EC R 90 S W TE 12 AL ÖS L EN HR K PT E U GY ER CH ,Ä SS ÄIS AK R WA OP R UH RN EU UF KA 0 LA ON S 85 V AU L N E ER PE I DIE E SS EM ON EN ICH YL WA NT U ICH LE AB GL HTG AM . –B MÖ AC HR HR ER DN V.C NU KE N NE 60 ER AGU PA N 13 UW R T O SO BA E UR H- G D TE . LIT UN ES HR GA M D W V.C ME STIM UN 00 BE RDNO

ZEITZONEN

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es innerhalb Deutschlands unterschiedliche Ortszeiten, die sich am Stand der Sonne orientierten. Erst durch die industrielle Revolution und den Ausbau des Eisenbahnnetzes in Europa wurde die Vereinheitlichung der Zeit eingeführt. Das Reisen von Ost nach West war wie eine kleine Zeitreise, da sich die Ortszeit pro Grad um vier Minuten veränderte.

30

R.

H V.C 00 40

WOZ

Um 12 Uhr Mittag erreicht die Sonne ihre maximale Höhe. Die Sonne steht dann genau im Süden. Da sich diese Zeit am tatsächlichen Sonnenstand des Beobachtungsortes orientiert, wird sie wahre Ortszeit (WOZ) genannt und meistens von klassischen Sonnenuhren angezeigt.

ATOMUHR Caesium-Atomuhren realisieren die Basiseinheit der Zeitmessung – die Sekunde – am genauesten und werden daher auch primäre Uhren genannt. Die Abbildung zeigt zwei der vier primären Atomuhren der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Die CS2 ging 1986 in Betrieb und liefert die Sekundenintervalle der gesetzlichen Zeit (MEZ bzw. MESZ), mit denen über einen Langwellensender in Mainflingen bei Frankfurt alle Funkuhren in Deutschland gesteuert werden. QUELLE: PHYSIKALISCH-TECHNISCHE BUNDESANSTALT

UTC, MEZ & MESZ UTC steht für Universal Time Coordinated, der koordinierten Weltzeit. Dies ist die heute gültige Weltzeit, die 1972 die GMT in ihrer Funktion abgelöst hat. In Deutschland und Mitteleuropa gilt UTC+1 als Normalzeit (MEZ) und UTC+2 als Sommerzeit (MESZ).

GMT Die Abkürzung GMT steht für Greenwich Mean Time (englisch für „mittlere Greenwich Zeit“). Der Name stammt von dem Londoner Stadtteil Greenwich, durch den der Nullmeridian verläuft. Von 1884 bis 1928 galt die GMT als Weltzeit.

6


QUELLEN: „AMERICAN TIME USE SURVERY“, „DER MENSCH IN ZAHLEN“, SPEKTRUM AKADEMISCHER VERLAG SOWIE „THE BOOK OF TIMES“, VERLAG WILIAM MORROW

WOMIT VERBRINGEN WIR UNSERE ZEIT? 24 JAHRE schlafen wir 12 JAHRE sehen wir fern 12 JAHRE verbringen wir mit Gesprächen , Klatsch und Tratsch 9 JAHRE arbeiten wir 6 JAHRE putzen wir 5 JAHRE widmen wir uns dem Thema Essen 2 JAHRE und 6 Monate verbringen wir im Auto 1 JAHR UND 10 MONATE gehören der Schul- und Weiterbildung 1 JAHR UND 7 MONATE treiben wir Sport 12 MONATE besuchen wir Kino, Theater oder Konzerte 9 MONATE waschen und bügeln wir 9 MONATE spielen wir mit den eigenen Kindern 7 MONATE stehen wir im Stau 6 MONATE verbringen wir auf der Toilette 4 MONATE spielen wir am Computer 2 WOCHEN beten wir

ZEIT &

G ES EL LSCH A FT

7

philou.


ARTIKEL

LEB' LANGSAM – JETZT ERST RECHT E NTS CHLE U N IGU N G A L S G E GE N T R E N D ?

VON

TOBIAS KELLIGER

(WirtIng Maschinenbau)

Eine Auszeit nehmen, kurz durchatmen, Slow Life. Diese und viele weitere Ausdrücke deuten darauf hin, dass die Entschleunigung bereits tief im Wortschatz unserer Sprache verankert ist. Und da Sprache bekanntlich einen wesentlichen Teil der Kultur ausmacht, erscheint es sinnvoll, das Phänomen der Entschleunigung genauer zu betrachten und auf Gründe für die Entstehung dieser Bewegung einzugehen.

Ob in der Wissensgenerierung, der Technik, der Kommunikation, dem Entertainment oder dem Finanzwesen: Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass es in allen Bereichen des Lebens immer schneller zugeht und immer schwieriger wird, mitzuhalten. Aber auf welche Arten und Bereiche der Beschleunigung reagiert der Entschleunigungstrend? „Modernity is about the acceleration of time.“   (Conrad 1999: 9)

Denken wir bei Beschleunigung im gesellschaftlichen Kontext heute an ständige Erreichbarkeit im Beruf und im Privaten durch Soziale Medien, wurde der erste große Beschleunigungsschub schon durch die industrielle Revolution ausgelöst. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich Revolutionen in Transport (Eisenbahn, Automobil, Flugzeug), Telekommunikation (Telefon und aktuell digitale Revolution), Produktion, Medizin und Wissenschaft, aber auch in Politik (von der Monarchie zur Demokratie), Kunst und Musik beobachten. Nicht umsonst stellt für den Autor Peter Conrad die Beschleunigung der Zeit die Hauptcharakteristik der Moderne dar. Eine differenziertere Betrachtung der Beschleunigung nimmt der Soziologe Hartmut Rosa vor, indem er drei 8


ZEIT & GESELLSCHAFT

(vgl. Rosa 2005: 144). Der Ausruf „Alles wird schneller“ scheint also trotz gegensätzlicher Wahrnehmung falsch.

Bereiche ebendieser definiert. Dazu zählt neben der bereits erwähnten „technischen Beschleunigung“ (Rosa 2005: 115) die „Beschleunigung des Lebenstempos“. Das heißt vor allem die „Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (Rosa 2005: 11), also zum Beispiel Multitasking-Fähigkeiten und steigender Zeitdruck (vgl. Rosa 2005: 136f.). Als dritten Bereich führt Rosa die „Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsrate“ (Rosa 2005: 16) an. In diese bezieht er beispielsweise die immer schneller wechselnden Parteiprogramme oder die rasante Verbreitung von technologischen Errungenschaften und Erfindungen ein (vgl. Rosa 2005: 129f.).

Es bleibt jedoch die Frage offen, warum in unserer Gesellschaft der Begriff der Entschleunigung trotzdem ein so wichtiger zu sein scheint. Grund dafür ist sicherlich zu einem großen Anteil das kapitalistische System, ausgerichtet auf Effizienzsteigerung und funktionierend nach dem Prinzip „Zeit ist Geld“. Wer im wirtschaftlichen, beruflichen und politischen Alltag bewusst aussetzt oder abgehängt wird, zum Beispiel durch technologische Neuerungen oder sich ändernde soziale Normen, findet, wenn überhaupt, nur mit großer Mühe zurück in das System. Die Beschleunigung wirkt sich außerdem auf den einschätzbaren Zeithorizont aus, der mit steigender Veränderungsrate immer kürzer wird. Da die individuelle Zukunftsplanung abhängig ist von Stabilität und Vorhersagbarkeit, diese aber nur noch geringfügig gegeben ist, fühlen sich viele Menschen hilflos und von den sich stetig schneller verändernden Gegebenheiten überrannt und abgehängt. Langfristige Planung wird schwieriger. Dauer, Sequenz und Tempo von Beruf, Ehrenamt und Freizeitbeschäftigung werden flexibler und kürzer gestaltet. Festlegen will sich auf lange Sicht fast niemand mehr.

Für jeden dieser drei Bereiche lassen sich zahlreiche Beispiele finden. Paradoxerweise wirken aber unterschiedliche Arten der Beschleunigung entgegengesetzt. So bewirkt die technische Beschleunigung durch ihre zeitsparenden Erfindungen in erster Linie eine Entschleunigung des Lebenstempos. In der Wirtschaft bewirkt die Aufhebung von festen Arbeitszeiten und die durch das Home-Office vorangetriebene Vermischung von Freizeit und Arbeit letztlich eine ökonomische Effizienzsteigerung. Stau, Depression und Wartezeit sind ungewollte Nebeneffekte des beschleunigten Lebensstils

Doch anstatt komplett mit den gesellschaftlichen Normen zu brechen und den totalen und konsequenten Schnitt zu machen, der für einen Großteil den Ausstieg aus der Gesellschaft bedeuten würde, flüchten sich viele Menschen in das zeitweilige Entschleunigungsangebot. Beispielhaft dafür ist die Neuauflage des Nokia 3310, das ultimative Retro-Handy, der jährliche Mal- und Zeichenbedarfsabsatz von über 45 Millionen Euro (vgl. Stock: 2017), die zahlreichen Meditationskurse, das Urlaubmachen im Kloster oder die App, die den Internetzugang stündlich 9

philou.


blockiert. Der Großteil dieser kommerziellen Angebote, die für persönliche Entschleunigung werben, zielt oft auf das Gegenteil der Langsamkeit ab. Mal kurz abschalten, meditieren, in sich hinein hören und die Welt um sich herum ausblenden, um anschließend mit vollen Akkus, mehr Konzentration und noch höherem Leistungsvermögen wieder in den Rhythmus des Lebens einzusteigen. Um dann richtig durchzustarten, konkurrenzfähig zu bleiben und produktiv zu sein. Und so findet trotz Slow Living-Bewegungen und Rückkehr zu analogen Geräten kein wirkliches gesellschaftliches Umdenken statt. Wer nicht im Stress ist, hat sich zu rechtfertigen. Wer seine freie Zeit nicht optimal füllt und nutzt, verpasst etwas. Wer sich nicht an die Zeit- und Kommunikationsnormen, beispielsweise Deadlines, hält, dem drohen Sanktionen. Neben individueller Zeitwahrnehmung schlagen sich die Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigung aber letztlich auch in der Politik nieder. Gegner des beschleunigten, sozialen Wandels gewinnen in hochentwickelten und in der Beschleunigungsspirale gefangenen Ländern an Zulauf. Beschleunigungsvorgänge, die auf den ersten Blick vor allem durch technologische Entwicklungen sichtbar werden, lassen sich also auch in der Gesellschaft und dort insbesondere in Politik, Beruf und die Veränderung sozialer Normen beobachten. Zwar bietet die Beschleunigung sicherlich einige Chancen im Hinblick auf die Weiterentwicklung von Technik und Gesellschaft, lässt aber auch viele Menschen auf der Strecke, die sich überfordert und abgehängt fühlen oder den sozialen Wandel nicht mittragen möchten. Als Reaktion auf den Beschleunigungszwang beschränkt sich das Angebot zur Entschleunigung jedoch hauptsächlich auf die individuelle, kurze Auszeit und bietet keine wirkliche gesellschaftsfähige Alternative zum immer schneller werdenden Lebenstempo. Gesellschaftliche Beschleunigungsvorgänge sind schon jetzt so weit akzeptiert, dass (mit Ausnahme des politischen Widerstands gegenüber dem sozialen Wandel) durch den Trend der Entschleunigung keine grundlegende Veränderung der beschleunigten Lebensverhältnisse angestrebt wird. 10

Rosa, H. (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 10. Auflage 2015. Conrad, P. (1999): Modern Times and Modern Places. How Life and Art were Transformed in a Century of Revolution, Innovation and Radical Change. New York: Knopf. Stock, U. (2017): Endlich offline. Raus aus der Cyberwelt, rein ins wirkliche Leben. Auf einmal sind Malbücher, Brettspiele und Gartenarbeit wieder modern. In: Die Zeit. 72. Jg. 2017/16. S. 22.


ZEIT & GESELLSCHAFT

ARTIKEL

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT VON

ANN-KRISTIN WINKENS

(Umweltingenieurwissenschaften)

„Werd ich zum Augenblick sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen.“

– J. W. Goethe, Faust (1828)

Faust kann nicht verweilen, weil er noch so viel vorhat. Er lässt den Augenblick unentwegt hinter sich, da er sich auf dem Zeitstrahl linear nach vorne bewegt. Der Mensch des 21. Jahrhunderts hingegen bewegt sich weder vorwärts noch rückwärts, sondern nur woanders hin – in zielloser Getriebenheit. Psychische Erkrankungen, wie Depression oder Burnout, prägen das gegenwärtige Zeitalter. Ein Jahrhundert der Überlastung und Erschöpfung. Friedrich Nietzsche schrieb 1878: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten.“ (Nietzsche 1878: 282) Der Mensch sucht unentwegt nach Zerstreuung, es gibt keine Stunde Null, kein Aufatmen. Ein kurzer Auszug aus „Momo“ (1973) von Michael Ende soll die weitere Problemstellung veranschaulichen. Dem Friseur Herr Fusi bereitet seine Arbeit eigentlich großes Vergnügen. Dennoch wird er von den Gedanken gequält: „Mein Leben geht so dahin, mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte man mich nie gegeben. […] Mein ganzes Leben ist verfehlt. Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!“   (Ende 1973: 58)

Wie genau dieses „richtige“ Leben auszusehen hatte, weiß er allerdings auch nicht. Er stellt sich einfach etwas Bedeutendes und Luxuriöses darunter vor. „Aber für so etwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein.“   (Ende 1973: 58) 11

philou.


ARTIKEL

Hier wird ein Dilemma dargestellt, das repräsentativ für das Denken der heutigen Zeit ist: Besser, schneller, effizienter. Aber vor allem: Anders. Weshalb aber nutzen wir unsere Zeit nicht so, wie sie uns gegeben wird? Herr Fusi ist doch eigentlich zufrieden. Welche Zeit denkt er zu verlieren? Warum dieses ständige Gefühl von Zeitverschwendung? „ZEIT IST KOSTBAR, VERLIERE SIE NICHT!“ Der Mensch hat grundsätzlich mehr Vorhaben als Zeit, sie zu realisieren. Auf der ständigen Jagd nach Ereignissen ohne konkretes Ziel, ist der Mensch unfähig geworden, im Augenblick zu verweilen. Er hetzt von einer angeblichen Dringlichkeit zur nächsten, ohne sich ansatzweise wohl zu fühlen. „Wir leben heute in einer Welt, die sehr arm ist an Unterbrechungen, arm an Zwischen und Zwischen-Zeiten. Die Beschleunigung schafft jede Zwischen-Zeit ab.“ (Han 2010: 43) Zeit bewirkt, dass wir einen schmalen Streifen Gegenwart bewohnen, das „Nicht-Mehr“ der Vergangenheit und das „Noch-Nicht“ der Zukunft (vgl. Safranski 2015: 11). Aber gibt es einen Augenblick? Denn beginnt man über ihn nachzudenken, ist er im nächsten Moment schon Vergangenheit. Roberto Simanowski, Professor für Digital Media Studies und Digital Humanities in Honkong, beschäftigt sich in 12

einer Sammlung von Essays mit der Fragestellung der kulturellen Folgen technologischer Entwicklungen und in diesem Zusammenhang auch mit der „Lu/ast des Augenblicks“: Es gibt eine doppelte Ignoranz gegenüber dem Augenblick, so Simanowski. „Man entflieht ihm, wenn man ihn aufnimmt, und man kehrt zumeist nie wieder zu ihm zurück.“ (Simanowski 2017: 42) Es gibt keine Dia-Vorträge mehr bei den Großeltern auf dem Sofa, der Esstisch nach dem Weihnachtsessen ist nicht länger von Fotos geschmückt. Denn wer hat noch Zeit, sich all die Bilder anzusehen, deren Aufnahme einst so wichtig erschien? Beispielhaft hierfür ist die Smartphone-App „Snapchat“, ein Instant-Messaging-Dienst. Hier können Fotos und Videos an Snapchat-Freunde versendet werden; allerdings sind die Dateien nur wenige Sekunden sichtbar, bevor sie sich selbst zerstören. Mit anderen Worten: Der erlebte Moment wird nicht einmal im Festhalten aufbewahrt. Demnach die Technologie für das Denken unserer Zeit. Wir fühlen uns geborgen im sozialen Raum der digitalen Medien, ohne Zukunft, ohne Vergangenheit, aber auch nicht so richtig in der Gegenwart. (vgl. Simanowski 2017: 43) Man könnte auch von einer Flucht vor der Zeit sprechen: Sich selbst zeitlich zu erfahren, bedeutet, viele Möglichkeiten zu haben und Entscheidungen zu treffen. Trifft man die eine Entscheidung, verliert man gegebenenfalls die andere. „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu“, so scheint es auch Herrn Fusi zu gehen.


ZEIT & GESELLSCHAFT

„MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN, SPARE ZEIT!“ Wir nötigen uns selbst, ständig an Zeit zu denken. Wie man sie optimal nutzt, wo man sie sparen kann und ob man sie jemandem schenken darf. Es mangelt definitiv nicht an Methoden, seine Zeit „vernünftig“ zu gestalten und es fehlt auch nicht an Ratgebern, die lehren, Prioritäten zu setzen, „Nein“ zu sagen und multitaskingfähig zu werden. Genau diese Art der Reflexion über optimale Zeitnutzung suggeriert das Gefühl der Zeitverschwendung. Bei dem Versuch, über die Zeit zu triumphieren, geraten wir vollständig unter die Herrschaft der Zeit (vgl. Safranski 2015: 183). Mit dem Ziel, möglichst viel Zeit zu gewinnen, verlieren wir den Augenblick und damit uns selbst. Anders verhält es sich mit dem Vergessen der Zeit. Hingabe an etwas oder an jemanden bewirkt, dass wir die Zeit vergessen. Man verliert sich in Musik, Kunst, in der Natur oder in einem guten Buch: Die Zeit steht still. Und damit vergisst man auch sich selbst. Seine Ängste, Sorgen, Bedürfnisse, Interessen und Pflichten. Man verweilt bei einer Sache oder einer Person und beschäftigt sich eben nicht mit der Frage, was Nützliches dabei herumkommen kann. Die Zeit vergeht dabei wie im Fluge und es scheinen genau diese dichten Augenblicke des Verweilens und der Hingabe zu sein, die das zeitweilige Gefühl von Zeitlosigkeit vermitteln (vgl. Safranski 2015: 229f.). Jeder Mensch weiß letztlich, was ihn hetzt, was ihm Zeit „stiehlt“, wie er sie besser genießen und verwenden kann. Der Augenblick im 21. Jahrhundert scheint kein Moment der Selbsterfahrung zu sein, kein Moment des Genusses. Aber Erlebnisse implizieren eine hegemoniale Verpflichtung, sie auch tatsächlich zu erfahren. Sie fordern Präsenz. Wir haben nicht unsere Pflicht getan, wenn wir auf einer Reise ein Souvenir mitbringen oder Fotos auf Instagram teilen. Erlebnisse können nicht gesammelt werden, es gibt keine Liste, die es abzuhaken gilt. Wieso lassen wir uns trotzdem immer wieder von den altbekannten, objektiven Zwängen dominieren?

Ende, M. (1973): Momo. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988. Goethe, J. W. (1828): Faust. Der Tragödie Erster Teil. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1986. Han, B.-C. (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes und Seitz. 11. Auflage 2015. Nietzsche, F. (1878): Menschliches Allzumenschliches. Die moderne Unruhe. In: Friedrich Nietzsche. Gesammelte Werke. Bindlach: Gondrom 2005. S. 185–355. Safranski, R. (2015): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg. Simanowski, R. (2017): Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien. Berlin: Matthes und Seitz.

Es bedarf einer neuen Form der Aufmerksamkeit, denn Gelassenheit kann – und soll – geübt werden. Weder Gorbatschow noch Mephisto oder die grauen Herren haben es verstanden: Wer zu spät kommt, lebt im Augenblick. 13

philou.


ARTIKEL

DEMOKRATIE IN DER ZEITKRISE Z E IT F Ü R K R E A T I V I T Ä T ?

VON

THOMAS BAUSCH

(Politikwissenschaft)

Wie man Zeit sinnvoll nutzen kann, ist eine Kunst. Und Kunst braucht sowohl Kreativität als auch Zeit. Das gilt für Otto Normalbürger ebenso wie für Politiker in der parlamentarischen Demokratie, die in der Schwebe zwischen Termindruck und langwierigen Beratungsrunden hängen. Sie sind permanenter Beschleunigung durch immer schnellere Medienrhythmen ausgesetzt. Zeitaufwendige parlamentarische und öffentliche Debatten als demokratisch legitimierte Beschlussfassung erscheinen antiquiert und stehen im Gegensatz zu dem Zeitdruck, der Abgeordneten rasche Entscheidungen abverlangt. Politische Themen und Konflikte folgen einander nicht nur in einer schnelleren Taktung, sie werden auch immer komplexer. Die Zeit sich angemessen fachkundig mit ihnen auseinanderzusetzen, wird zur knappen Ressource – und das sowohl für Politiker als auch für die Bürgerschaft. Politische Prozesse benötigen hingegen, zwar nicht unendlich viel, aber eine unbestimmte „Zeit für Kommunikation, für Reflexion, für Distanzerfahrungen […]“ (Niesyto 2012: 49). Sie ist somit eine feste Größe politischer Prozesse, die Raum für Kreativität schafft. Kreativität wiederum könnte man im Sinne des Psychoanalytikers Rainer Holm-Hadulla (vgl. 2007, 2011) zu14

sammenfassend als eine intrinsische Motivation auffassen, Neues von origineller, praktischer Qualität zu schaffen. Voraussetzungen hierfür sind Neugier und ein Interesse an Selbstwertsteigerung. Das bedingt ein intaktes System von Individuen in einer fördernden Umgebung, die kreative Denkprozesse unterstützt. Damit greift dieser Kreativitätsgedanke die Ideale demokratischer Politik auf. Denn jede Entscheidung soll qualitativ neuwertig sein und soll die Politik vor allem darin stärken, die Demokratie weiter zu entwickeln. Aus Entscheidungen, egal, ob sie sich als richtig oder falsch entpuppen, sollen demokratische Systeme lernen. Angesichts der in Mode gekommenen „alternativlosen“ Sofort-Entscheidungen scheinen aber Möglichkeiten autonomer Steuerung zu verschwinden, die „Eigenzeit der Demokratie“ (Mückenberger 2014: 5) scheint nicht mehr vorhanden zu sein und mithin scheint auch Kreativität aus der Politik verschwunden zu sein. Wer sie in der Politik in Form neuer, progressiver und origineller Denkprozesse sehen will, muss sich den Faktor Zeit genauer anschauen. Einerseits führt der mediale Druck, dem Politiker ausgesetzt sind und der ihnen möglichst schnelle Reaktionen im Wettbewerb um Schnelligkeit und


ZEIT & GESELLSCHAFT

Resonanz abverlangt, zu einem problematischen Zeitverlust. Andererseits ergibt sich daraus eine Personalisierung der Politik, die Parteien und ihre Fähigkeit Diskurse zu führen in den Hintergrund der Entscheidungsfindung drängt (vgl. Meyer 2006: 86). Zusätzlich könnte man vermuten, dass der Zeitmangel politischen Akteuren dabei nicht ungelegen kommt, sodass die Mehrheitsregel bei politischen Debatten und Abstimmungen aufgrund ihres Zeitmangels zum „Durchwinken“ geradezu einlädt und zivilgesellschaftliche Beteiligung und damit neue Ideen ausschließt (vgl. Mückenberger 2014: 5). Eine auf Partizipation angelegte demokratische Gesellschaft darf aber nicht vergessen, dass Beteiligung und Meinungsbildung nicht bedingungslos stattfindet. Nur wenn Distanz und die dazu bedingte Zeit ihnen gegeben sind, können staatliche Akteure über Optionen, und wenn dann noch etwas mehr Zeit bleibt, sogar über Innovationen, nachdenken. Wie Karl Rudolf Korte zutreffend sagt, ist Zeitknappheit ein schlechter Politikberater, denn dadurch leidet nicht nur die Qualität der Entscheidungen, sondern auch

die Qualität der Kommunikation zwischen Politikern und Stimmvolk. Ich behaupte sogar, dass die Öffentlichkeit als solche an Qualität einbüßt und ihre Diskursfähigkeit tendenziell verliert. Aus diesem Zeitdefizit bildet sich Populismus als Resonanzform gewissermaßen von allein, der dem Mangel an Zeit für Inspiration und Kreativität eine politische Gestalt gibt. „Dies gilt im Hinblick auf fehlende Handlungsalternativen [also Reduzierung der Inhalte – Anm. d. Verf.] angesichts des Zeitdrucks, aber auch bezüglich der Transparenz der Entscheidungsvorbereitung.“ (Korte 2012: 21) Mit dieser zeitsparenden Verständigung zwischen Politik und Stimmvolk geht der Inhaltsverlust politischer Projekte einher, die wiederum immer mehr auf ihre mediale Vermittlung angewiesen sind. Doch Medien funktionieren anders als Politik, denn den Kampf um ihre Marktanteile führen sie nicht als Kampf um Inhalte, sondern um Aufmerksamkeit zur richtigen Zeit. Ihre permanente Beschallung mit dem Ziel der Aufmerksamkeit führt zunehmend zum Gegenteil, nämlich zu „Unaufmerksamkeit“ (vgl. Mückenberger 2014: 7), ein Begriff des Medienpädagogen Thorsten Lorenz. „Unaufmerksamkeit ist das Paradigma der Neuzeit“ (Lorenz 2012: 38), konstatiert er. Ohne Aufmerksamkeit ist deliberative Politik mit genügend Zeit für Kommunikation, Reflexion, Distanz und Kreativität hingegen nicht möglich. Unaufmerksamkeit „schwappt vermutlich auch in Bereiche über, die eigentlich mit Aufmerksamkeit verfolgt werden wollen.“ (Mückenberger 2014: 7) Bereiche, die populistische Parteien scheinbar als bürgernahe Meinungen artikulieren und die fragwürdige Aufmerksamkeit schaffen.

57 SEKUNDEN dauerte eine Abstimmung im Bundestag zum Meldegesetz. Sie fand während des EM-Viertelfinales zwischen Deutschland und Italien statt. Teilgenommen haben circa ein Dutzend Abgeordnete.

15

Wenn die Qualität politischer Entscheidungen abnimmt, entsteht aus dieser uninspirierten und unkreativen Politik Unzufriedenheit mit den Parteien, und es erstarken andere Formen kollektiver Identitäten – etwa nationalistische, religiöse oder ethnische Identifikationsformen. Obwohl genügend Streitthemen vorhanden sind, mangelt es Protagonisten der Politik an Zeit und Muße, sich mit ihnen wirklich demokratisch auseinanderzusetzen. Ausgerechnet da setzen Populisten an, die gewissermaßen herausgekürzte Themen aufgreifen. Sie markieren das Zeitproblem einer unkreativen Politik und reagieren auf sie, indem sie entgegen der geringen Aufmerksamkeitsspanne der Öffentlichkeit umso energischer artikulieren und sich dadurch scheinbar philou.


deutlicher positionieren. Das haben Populisten – das muss man zugeben – aus dem Kommunikationswandel durch Social Media gelernt. Was gefühlsmäßig aufwiegelt, bringt Klicks und Aufmerksamkeit. Das macht sie jedoch nicht kreativer als das politische Establishment, das sie verbal angreifen. Auch Populisten unterstehen dem Zeitdruck in der Politik. Sie haben lediglich gelernt, reflexhafter und emotionaler darauf zu reagieren, als Ventil zur Stressbewältigung sozusagen. Kann die Wiederentdeckung der Kreativität, man könnte auch Nonkonformismus dazu sagen, in der Politik Abhilfe verschaffen, indem sie diesen Kommunikationswandel annimmt, statt sich von ihm unter Druck setzen zu lassen, um entsprechend zu handeln? Nämlich aktionistisch, populär, medial in Szene gesetzt; mithilfe der Medien, deren Aufmerksamkeitslogik sich derzeit mit dem Populismus verbrüdert? Wohl kaum, denn für demokratische Praxis scheint es riskant zu sein, sich die populistische Gestalt der Politik einzuverleiben. Riskant ist auch, dass die Bedingungen, die Populisten vorfinden, nämlich Medialisierung und Kommerzialisierung des politischen Lebens in Verbindung mit Zeitknappheit, die etablierten Parteien und die Gesellschaft als Ganze unter ein Diktat des Augenblicks und der Beliebigkeit reflexhafter Emotionen wirft. Mit Nonkonformismus hat das nichts zu tun. „Überdies, Parteien haben es nach außen zunehmend mit Menschen zu tun, die sich oft weniger als (Staats-) Bürger denn als Kunden verstehen.“ (Walter 2009: 103) Sobald die zu Demokratiekunden verwandelten Bürger ihre Bedürfnisse äußern, erwarten sie die sofortige Bedürfnisbefriedigung durch schnelle Lösungsangebote, die auf ihre individuellen Lebensentwürfe und Vorstellungen von Selbstbestimmung eingehen. Aber für die individuelle Selbstbestimmung ist Demokratie gar nicht zuständig, weil sie keine Serviceleistung der Politik ist. In freier Selbstverfügbarkeit manifestiert der Einzelne allein seinen Selbstentwurf – und zwar mit eigener Schaffenskraft nach der Kommunikation, Reflexion und Distanz, so der Kreativitätsgedanke. Das benötigt genügend Zeit. Eine Möglichkeit Zeit für kreative Denkprozesse zu schaffen, wäre auf der einen Seite Politikern und Parlamentsmitarbeitern „Zeitmanager“ zur Seite zu stellen, die ihnen die nötigen Kapazitäten verschaffen, befreit vom politischen Tagesgeschäft, gestaltend wirken zu können. Das bedingt auf der anderen Seite auch ein anderes Verständnis von Politik, das sich von der Vorstellung einer reinen „Verwaltung im Turbomodus“ löst. Der Erkenntnisgewinn für den Umgang mit der Zeit, aber auch für den Umgang mit populistischen Strömun16

gen, ist aus kreativer Sicht simpel: Die demokratische Auseinandersetzung in, unter und durch Parteien ist auf die Beteiligung durch ihre Wähler zwingend angewiesen, also müssen sie sich und ihren Wählern Zeit zum Beratschlagen, zum Denken und zum Ideenentwickeln einräumen. Darin entfaltet sich Demokratie. Umgekehrt gilt das auch für das Stimmvolk, das nicht länger Demokratiekundschaft sein kann. Nur dann verhindert die Bewältigung des politischen Lebens nach dem Kreativitätsgedanken jene unsäglichen Verkrustungstendenzen und Parteiverdrossenheit, die die eigentlichen Probleme der Parteien sind und den Nährboden populistischer Strömungen bereiten. Kreativität beschreibt dabei keinen Weg zu einer anderen Demokratieform, ist weniger Dogma als eine Mentalität Demokratie zu gestalten. Sie ist eine Bedingung für mehr Beteiligung, die eben ihre Zeit braucht. Also: Gut Ding will Weile haben! Zeit ist nicht länger Geld. Zeit ist Demokratie.

Holm-Hadulla, R. M. (2007): Kreativität. Konzept und Lebensstil. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 3. Auflage 2010. Holm-Hadulla, R. M. (2011): Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung: Konzepte aus Kulturwissenschaften, Psychologie, Neurobiologie und ihre praktischen Anwendungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Korte, K.-R. (2012): Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall. In: APuZ. 62. Jg. 2012/7. S. 21–26. Meyer, T. (2006): Populismus und Medien. In: Decker, F. (Hrsg.): Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesbaden: Springer VS. S. 81–96. Mückenberger, U. (2014): Zeiten der Politik und Zeiten der Medien. In: APuZ. 64. Jg. 2014/22-23. S. 3–9. Niesyto, H. (2012): Bildungsprozesse unter Bedingungen medialer Beschleunigung. In: Bukow, G. (Hrsg.): Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit. Wiesbaden: Springer VS. S. 47–66. Walter, F. (2009): Im Herbst der Volksparteien. Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration. Bielefeld: Transcript.


STERNTAG & SONNENTAG Die Erde dreht sich in 23h 56‘ 04‘‘ um ihre eigene Achse (Sterntag). Die Zeitspanne zwischen zwei aufeinander folgenden Sonnenhöchstständen (Mittag) beträgt 24h (Sonnentag).

ALLGEMEINE RELATIVITÄTSTHEORIE Einsteins Theorie beruht auf der Idee, dass die physikalischen Gesetze für alle Beobachter die gleichen sein müssen, unabhängig von ihrem Bewegungszustand. Die Theorie erklärt die Gravitationskraft als Auswirkung der Krümmung einer vierdimensionalen Raumzeit.

RAUMZEIT Vierdimensionaler Raum, dessen Punkte Ereignisse sind. Ein Ereignis ist durch Angabe eines Ortes und eines Zeitpunktes definiert.

SCHWARZES LOCH Bereich der Raumzeit, aus der aufgrund der starken Gravitation nichts – nicht einmal Licht – entweichen kann.

WURMLOCH

ZEIT &

NATUR

Eine Tunnel in der Raumzeit, der weit entferne Regionen des Universums miteinander verbindet. Ein Wurmloch kann auch eine Verbindung zu Paralleluniversen sein und die Möglichkeit zu Zeitreisen bieten.

17

philou.


ARTIKEL

WIE BESTÄNDIG IST UNSERE WELT? E IN E GE O LO G IS CH E B E T R A CH T U N G D E R ZE I T

VON

PHILIP GOTZEN

(Angewandte Geowissenschaften)

Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit – was klingt wie ein plakativer Spruch aus einem Glückskeks, ist eine übliche Redewendung in der Arbeitsweise von Geologen. Dazu gehört die Rekonstruktion des Klimas, der Umweltbedingungen oder der Ablagerungsprozesse im Laufe der Erdgeschichte, die mit gegenwärtigen Äquivalenten verglichen werden, um eventuelle Lücken in diesen Modellen zu schließen. Eine solche Herangehensweise zeigt immer wieder, wie sehr sich die Erde im Laufe der letzten 4,6 Mrd. Jahre gewandelt hat. Besonders dann, wenn eben diese Methode scheitert und zum Beispiel Klimabedingungen oder die Zusammensetzung der Atmosphäre stark von den heutigen Bedingungen abweichen müssen, um ein stimmiges Modell zu konstruieren. Die Dynamik der Erde spiegelt sich besonders in der Konfiguration der Kontinentalplatten wieder. So findet man beispielsweise Gesteine und Fossilien aus tropischen Klimaten im Rheinischen Schiefergebirge. Die heutige Verteilung der Kontinentalplatten ist, für einen Geologen, mit 20 Millionen Jahren sogar noch relativ jung (vgl. Deep Time Maps Inc. 2017). Daher gehört es zum selbstverständlichen Bewusstsein von Geowissenschaftlern, dass die Erde ein sehr dynamischer und sich wandelnder Planet ist, der in seiner Lebenszeit schon verschiedenste Extrema durchlebt hat. Die Oberfläche der Erde ist ständig in Bewegung. Meere entstehen und schließen sich, Gebirge türmen sich auf und werden wieder erodiert. Aus der geowissenschaftlichen Perspektive betrachtet, befinden wir uns folglich erst für einen kurzen Augenblick auf diesem Planeten. Dabei ist die wohl spannendste Frage: Wie lange wird die Spezies Mensch noch existieren? Ereignisse, durch die vorangegangene Massensterben eingeleitet worden sind, stellen auch heute noch eine Bedrohung dar. Hinzu kommen mögliche Bedrohungen durch den Menschen selbst. Sein Einfluss auf die Beschaffenheit der Erde ist mittlerweile so groß, dass Geowissenschaftler darüber diskutieren, eine neue geochronologische Epoche einzuführen, das Anthropozän. Damit wird der Mensch definiert als ein global datierbarer Einflussfaktor auf die Erdgeschichte. Bei voran gegangenen Spezies spricht man dabei von Leitfossilien. Wir haben also schon lange unseren persönlichen Abdruck auf dieser Erde hinterlassen (vgl. Steffen et al. 2007: 614ff.). 18


ZEIT & NATUR 23:39:20 MASSENAUSSTERBEN 23:59:22 URMENSCHEN (HOMO HABILIS & HOMO RUDOLFENSIS) 23:59:54 HOMO SAPIENS

22:57:23 SÄUGETIERE EVOLVIEREN 22:44:52 DINOSAURIER

00:00:00 ENTSTEHUNG DER ERDE VOR CA. 4.600 MILLIONEN JAHREN

22:04:10 TETRAPODA (LANDWIRBELTIERE)

03:07:50 ENDE DES „GROßEN BOMBARDEMENTS“

21:39:08 LANDPFLANZEN

MZ K

21:10:57 KAMBRISCHE EXPLOSION

PZ

HADA IKU M

04:10:26 VERMUTETER FRÜHESTER NACHWEIS VON LEBEN

OZ OI

K

UM

MITTAG

11:13:03 GROßE SAUERSTOFFKATASTROPHE (BILDUNG DER HEUTIGEN, DRITTEN ATMOSPHÄRE)

13:02:37 ERSTE EUKARYOTE (ORGANISMEN MIT ZELLKERN) VERMUTLICH EINZELLIGE ALGEN

PZ

MZ

PALÄOZOIKUM MESOZOIKUM

Erdaltertum

Erdmittelalter

CH

9U

R

07:18:16 VERMUTETE FRÜHESTE PHOTOSYNTHESE

AR

15

UH

HR

TER PRO

A I KU

M

18 UHR

6 UHR

17:44:21 ERSTE SEXUELLE REPRODUKTION

3U

HR

HR

21 U

MITTERNACHT

K KÄNOZOIKUM Erdneuzeit

DI E GESCH I CH TE DER ERDE ALS 24-S TUNDEN-UHR Eines der massivsten Klima-Extrema der Erdgeschichte wird durch die „Snowball Earth“-Hypothese beschrieben. Gesteinshorizonte des Präkambriums, welches den Zeitraum von der Entstehung der Erde bis zur kambrischen Explosion umfasst, sind über weite Breitengrade hinweg mit Gletschersedimenten gefüllt. Die bekanntesten Fundorte dieser Sedimente sind unter anderem im Sultanat Oman und in Teilen Australiens gelegen. Aus diesen Funden schlussfolgerte man, dass das Klima zu dieser Zeit eine Vereisung der Erde bis in die Nähe des Äquators zugelassen haben muss. Dabei handelte es sich vermutlich um mehrere Ereignisse, wobei das jüngste vor ca. 580 Millionen Jahren endete (vgl. Hoffman/ Schrag 2002: 147). Solche enormen Temperatureinbrüche können zum Beispiel durch Naturkatastrophen, wie massive Vulkanausbrüche oder das Einschlagen großer Meteoriten, entstehen. Dabei werden in beiden Ereignissen große Mengen Staub beziehungsweise Asche in die Luft gewirbelt, die verhindern, dass Sonnenlicht auf die Erdoberfläche trifft. Dadurch sinkt die Oberflächentemperatur stetig ab. Dies kann zu äußerst lebensfeindlichen Bedingungen auf der Erde führen. So kam es gleich mehrmals im Laufe der Erdgeschichte vor, dass beinahe alles Leben auf der Erde ausgerottet worden

ist. Das massivste Massensterben fand am Ende des Perms, einer Phase der Erdgeschichte innerhalb des Paläozoikums, vor ca. 250 Millionen Jahren statt. Dabei starben ca. 92 % aller marinen Spezies (vgl. Knoll et al. 2007: 296). Das Bekannteste stellt sicherlich das Aussterben der Dinosaurier vor ca. 65 Millionen Jahren dar. In dieser Zeit starb etwa die Hälfte aller Spezies auf der Erde aus (vgl. Russel 1979: 167). Die derzeit vergleichsweise angenehmen Lebensbedingungen, die auf den meisten Teilen dieser Erde herrschen, sind also keineswegs als andauernd zu betrachten. Episodische Wechsel zwischen Warm- und Kaltzeiten sind durch die Erdgeschichte hinweg nachgewiesen. Die letzte große Vereisung ist erst 10.000 Jahre her (vgl. Clark et al. 2009: 710). Auch heute sind Klimaveränderungen spürbar und die Lebensbedingungen scheinen sich in vielen Teilen der Erde zu verschlechtern. Angesichts der schwerwiegenden Folgen für die Lebensqualität des Menschen scheint es äußerst ironisch, dass er ein unerbittliches Wachstum antreibt, anstatt ein ökologisches und nachhaltiges Lebensmodell vorzuziehen. Dadurch wird die Verweildauer der eigenen Spezies auf diesem Planeten bewusst zunehmend verringert (vgl. Altvater 2015: 16ff.). 19

philou.


An dieser Stelle sollte der einleitende Satz des Artikels umformuliert werden: Was verrät uns die Vergangenheit über die Zukunft? Forschungen im Bereich der Georisiken und der Seismologie haben gezeigt, dass gewisse Ereignisse in nahezu zyklischen Abständen auftreten. So ist es beispielsweise möglich, grobe Schätzungen für das Eintreten eines Erdbebens abzugeben. Schon hier zeigen sich mögliche Ereignisse, die verheerende Auswirkungen auf die betroffenen Regionen hätten. Bekannte Beispiele hierfür sind die San-Andreas-Störung oder die Anatolien-Verwerfung. An beiden Orten treffen zwei Kontinentalplatten aufeinander und akkumulieren durch Reibung riesige Mengen an Energie. Beobachtungen vorangegangener Erdbeben sagen dabei voraus, dass für beide Störungen ein Erdbeben der Magnitude 6.0 oder größer sehr wahrscheinlich ist und in beiden Fällen wären mit San Francisco und Istanbul Städte mit Millionen von Einwohnern betroffen (vgl. Armijo et al. 2005: 2f.; Working Group on California Earthquake Probabilites 2003: 3ff.). Der Mensch hat in der kurzen Existenz auf der Erde etwas scheinbar Großes erreicht: Zeitliche Maßstäbe vieler natürlicher Vorgänge wurden durch sein Handeln drastisch verkürzt. Klima beeinflussende Prozesse, Artensterben und Umformung der Landschaft schreiten in einem Tempo voran, welches in der Erdgeschichte beispiellos erscheint. Die Konsequenzen sind unmittelbar spürbar: Naturkatastrophen häufen sich, natürliche Ressourcen verknappen zunehmend, die Artenvielfalt an Land und im Wasser sinkt drastisch. Angesichts dieser rapiden Veränderungen unseres Planeten scheint eine durch den Menschen definierte Zeitspanne höchst plausibel. Dabei bleibt abzusehen, welchen Zeitraum diese Epoche überspannen wird. Dieser Kampf zwischen Mensch und Natur, getrieben von wirtschaftlichem Wachstum, scheint geradezu chancenlos gegenüber Mutter Erde. Der Mensch wütet unaufhaltsam, während die Natur immer weiter zerstört wird. Doch die Vergangenheit zeigt uns eines: Dieser Planet spielt auf Zeit. Die eine Ressource, die wir weder explorieren noch fördern können und der wir uns nie sicher sein können. Das System Menschheit ist so fragil, dass eine einzige große Katastrophe es nahezu auslöschen könnte. Sei es ein starker Vulkanausbruch, ein Meteoriteneinschlag oder multinationaler Krieg. Diese Ereignisse fanden in der Vergangenheit statt und sie werden weiterhin stattfinden. Die Frage ist nur: Wann? 20

DAS VERBRENNEN VON FOSSILEN ENERGIETRÄGERN SORGTE VOR CA. 300 MILLIONEN JAHREN FÜR DAS GRÖßTE MASSENSTERBEN DER ERDGESCHICHTE.

Armijo, R. et al. (2005): Submarine fault scarps in the Sea of Marmara pull-apart (North Anatolian Fault): Implications for seismic hazard in Istanbul. In: Geochem. Geophys. Geosyst. 6. Jg. 2005/6. Altvater, E. (2015): Der Grundwiderspruch des 21. Jahrhunderts. In: Le Monde diplomatique. Atlas der Globalisierung, weniger wird mehr. Berlin: taz Verlag. S. 16–18. Clark, P. U. et al. (2009): The last glacial maximum. In: Science. 325. Jg. 2009/5941. S. 710–714. Deep Time Maps Inc. (Hrsg.) (2017): Deep Time Maps. Online verfügbar unter: http:// deeptimemaps.com [Zugriff: 11.06.2017]. Hoffman, P. F., Schrag, D. P. (2002):The snowball earth hypothesis: testing the limits of global change. Cambridge: Terra nova. 14. Jg. 2002/3. S. 129–155. Knoll, A. H. et al. (2007): Paleophysiology and end-Permian mass extinction. In: ScienceDirect. Earth and Planetary Science letters. Cambridge: 256. Jg. 2007/3. S. 295–313. Russell, D. A. (1979): The enigma of the extinction of the dinosaurs. In: Annual Review of Earth and Planetary Sciences. 7. Jg. 1979/1. S. 163-182. Steffen, W. et al. (2007): The Anthtropocene: Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature? In: AMBIO: A Journal of the Human Environment. 36. Jg. 2007/08. S. 614-621. Working Group on California Earthquake Probabilites (Hrsg.) (2003): Earthquake Probabilities in the San Francisco Bay Region: 2003-2031. Open-File Report 03214. Reston.


ZEIT & NATUR

ARTIKEL

EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR KEINEN D E R TO D D E S E I N ZE L N E N A L S U N S TE RB LI C H K E I T D E R S PE ZI E S? VON

JANA WEBER

(Umweltingenieurwissenschaften)

Ein extrem langes oder gar unendliches Leben ist moderne Utopie und fasziniert die Menschheit seit Anbeginn ihrer Zeit. Schon immer gab es Menschen, die die eigene Endlichkeit überwinden wollten. Die Idee der Unsterblichkeit reicht vom Bildnis der Götter in der griechischen Mythologie bis heute: In dem Wissenschaftsgebiet der Kryonik, das sich mit dem Einfrieren von einzelnen Zellen hin bis zu ganzen Organismen befasst, ist das erklärte Ziel, die Unsterblichkeit einzelner Individuen zu ermöglichen. Darüber hinaus versuchen Forscher, das menschliche Genom zu entschlüsseln, um darin nicht nur eine Heilung schwerer Krankheiten zu finden, sondern auch um einen Weg zu ermöglichen, den Individualtod zu überwinden. (Ettel et al. 2014) Sollte die Unsterblichkeit wirklich ein erstrebenswertes Ziel der Menschen sein? Oder hat der Tod nicht gar eine vorteilhafte Wirkung für eine ganze Spezies? Fest steht, dass der Mensch noch heute in der Natur den Schlüssel zur Unsterblichkeit sucht. Im Streben nach dem ewigen Leben können wir uns in Anlehnung an die Bionik an Mechanismen in der Natur orientieren. Im Forschungsfeld der Bionik werden natürliche

Vorgänge in der Technik nachgeahmt. Funktionsprinzipien, wie beispielsweise die Aerodynamik – von Vögeln oder Fischen – inspirierte die Form heutiger Autos (vgl. Träger 2014). Aber auch hinsichtlich der Unsterblichkeit könnten dem Menschen natürliche Vorgänge eine wichtige Hilfestellung bieten. Um die Geheimnisse langlebiger Organismen zu lüften, betrachten Genetiker, Ökologen und Verhaltensforscher das Genom sowie Fortpflanzungs- und Überlebensstrategien einzelner Arten und bringen diese mit der jeweiligen Lebenslänge in Verbindung. In der Natur ist die Varianz verschiedener Lebensspannen extrem. Sie umfasst beispielsweise die Eintagsfliege, die in ihrem erwachsenen Stadium nur wenige Stunden oder Tage lebt (vgl. Kretschmer 2016), oder auch Lomatia Tasmanica, ein ungefähr 43.600 Jahre altes Silberbaumgewächs im Südwesten Tasmaniens (vgl. Czaja 2017). Die durchschnittlichen Lebenserwartungen von irdischen Organismen reichen also von einigen Stunden bis hin zu tausenden von Jahren. Die Ausprägung dieses artspezifischen Merkmals scheint in den Erbanlagen verankert zu sein. Ungewiss bleibt jedoch, wie es zu einer so extremen Spannbreite kommt. (vgl. Schmidt 1996) 21

philou.


Mit der Frage danach, inwieweit die Langlebigkeit genetisch bestimmt ist oder betroffene Organismen besonders effiziente Überlebensstrategien entwickelt haben, beschäftigen sich Forscher der Universität Tübingen. Auf der Suche nach dem Methusalem-Gen, welches symbolisch für ein langes Leben steht und nach der ältesten biblischen Person, Methusalem, benannt wurde, werden Experimente mit Fruchtfliegen und Fadenwürmern durchgeführt. Züchtungen mit außergewöhnlich langen Lebenszeiten treten auf. Ein Beweis für ein Altersgen ist das jedoch noch nicht, denn auch in diesen Populationen finden die Forscher statistische Ausreißer. (vgl. Wagner 2015) In dem Zusammenhang untersuchte ein Team der Max-Planck-Gesellschaft im Rahmen von Langzeitexperimenten die Alterung des Süßwasserpolypen Hydra. Hydra gehört zu der Gattung der Nesseltiere. Bis heute sind 20 verschiedenen Arten des Süßwasserpolypen bekannt, der verankert am Boden in Gewässern lebt. Sexuelle wie asexuelle Arten der Fortpflanzung kommen vor, wobei zweites deutlich häufiger geschieht. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Hydra ein konstantes Sterberisiko besitzt. Das bedeutet, dass die bereits verbrachte Lebenszeit für den Sterbeprozess keine Rolle spielt. Den Grund für die Langlebigkeit fanden die Forscher im Protein FOXO. Dieses fungiert als „eine Art Hauptschalter für Zellerneuerung und Langlebigkeit“. Durch zusätzliche Experimente soll die Aktivität von FOXO und weiteren regulierenden Genen in der Zukunft untersucht werden. (vgl. Max-Planck-Gesellschaft 2015) 22

Eine ergänzende Betrachtungsweise stellt der Biologe Thomas D’Souza vor. D’Souza betrachtet insbesondere die Umwelteinwirkungen auf das Lebensalter: Die ökologische Nische als Zusammenstellung aller abiotischen und biotischen Wechselwirkungen mit einem Organismus übt einen großen Einfluss auf die Lebenszeit bestimmter Arten aus. So wirken beispielsweise Kälte und Dunkelheit reduzierend auf den Stoffwechsel ein. Die Folge ist „ein Leben auf Sparflamme und in Zeitlupe“ (Wagner 2015). Dadurch erreichen Schwämme in der Arktis und Antarktis ein Lebensalter von über 10.000 Jahren. Damit einher geht die Energieeinteilung der Organismen: Arten mit vielen Fressfeinden benutzen eine ähnliche Energiemenge wie Schwämme, lediglich in einer viel kürzeren Lebenszeit. Das Resultat ist eine Steigerung der Intensität des Lebens bei abnehmender Lebenszeit. (vgl. Wagner 2015) Ein weiterer Aspekt, der zur Energieeinteilung beiträgt, ist die jeweilige Fortpflanzungsstrategie. Mit dem Ziel der Weitergabe von Erbinformationen


ZEIT & NATUR

erscheint bei einer geschlechtlichen Vermehrung ein langes Leben der Elterntiere nur dann zweckmäßig, wenn dies zur Erhöhung der Überlebens- oder Fortpflanzungschancen ihrer Nachkommen beiträgt. Laut dem Evolutionsbiologen Georg Williams besteht ein Zusammenhang zwischen dem Alter der ersten Fortpflanzung und dem höchstmöglichen Lebensalter. Späte geschlechtliche Reife führt zur Notwendigkeit von Energieinvestitionen für Selbstheilungs- und Reparaturprozesse, welche wiederum die Chancen auf Langlebigkeit steigern. (vgl. Schmidt 1996) Solche akkuraten Anpassungen einzelner Lebewesen an ihre Umwelt und die Erfüllung selbst schmalster ökologischer Nischen erklärte bereits Darwin in seiner Evolutionstheorie: Mutationen und natürliche Auslese im Kampf um das Überleben führen zum „Survival of the fittest“. Das Leben kann als ständiger Wettbewerb um die Unsterblichkeit gesehen werden, jedoch nicht um die des Einzelnen, sondern um die der Erbanlagen des Genoms einer Spezies. Ein langes Leben einzelner Individuen war demnach nie das priorisierte Ziel biologischer Evolution. Im Kern der evolutionsbiologischen Theorie des Alterns wird der Tod des Einzelnen

als notwendig auf dem Weg der Unsterblichkeit der Gene beschrieben, insofern die Variationen innerhalb der Folgegenerationen eine stetige Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen ermöglichen. Zur Verdeutlichung sind Lebewesen zu betrachten, die einen „vorprogrammierten“ Tod erleben, sobald ihr Zweck, die Weitergabe von Erbinformationen für den Fortbestand der Art, erfüllt ist. Der Oktopus stirbt geradewegs nach dem Schlüpfen seiner Jungen. Nach Ablage seiner Eier verwendet er jegliche Energie auf die Brutpflege. Er stellt die Jagd und Nahrungsmittelaufnahme ein und beschützt die Eier vor möglichen Fressfeinden. Da der Oktopus sich nur ein einziges Mal fortpflanzt, scheint der Tod der Elterntiere zu diesem Zeitpunkt sinnvoll. (vgl. Schmidt 1996) Eine ähnliche Art dieser augenscheinlichen Aufopferung wurde auch bei Hydra festgestellt. In Experimenten der Max-Planck-Gesellschaft wurden die Polypen mit UVLicht bestrahlt oder mit Wasserstoffperoxid behandelt. Die Auswirkungen beider Anwendungen sind hochgradig schädlich, sodass 30 % der Polypen unmittelbar danach starben. In der überlebenden Population waren schließlich zwei verschiedene Verhaltensmuster zu erkennen: Ein Anteil der Polypen schiebt die schädlichen Zellen in ihre Knospen. Da über eine Abtrennung der Knospen die asexuelle Fortpflanzung stattfindet, retten sich diese Individuen mit dem Verhalten selber. Die restliche Population verhält sich komplett konträr und verteilt die wenigen gesunden Zellen in die Knospen. Während die eigentliche Hydra stirbt, wächst der Nachwuchs unbeschadet auf. (vgl. Max-Planck-Gesellschaft 2015) Auf der Grundlage dieser Betrachtungen erscheint die Frage der Langlebigkeit des Einzelnen zunehmend irrelevant. Indem der Individualtod in Kauf genommen wurde, entstanden über Millionen von Jahren durch die

SÜßWASSERPOLYP, GRÜNE HYDRA* (Hydra viridissima)

*Originalfoto : Frank Fox – http://www.mikro-foto.de (CC BY-SA 3.0)

23

philou.


Czaja, S. (2017): Lomatia tasmanica ist.... In: Spektrum der Wissenschaft (Hrsg.). Online verfügbar unter: http://www. spektrum.de/quiz/lomatia-tasmanicaist/967455 [Zugriff: 05.07.2017]. Ettel, A. et al. (2014): Der Tod, eiskalte Warteschleife vor dem ewigen Leben. In: Welt N24 (Hrsg.), 18.09.2014. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/ wirtschaft/article132377798/Der-Todeiskalte-Warteschleife-vor-dem-ewigenLeben.html [Zugriff: 05.07.2017].

Evolution hervorgebrachte Spezies mit perfekten Anpassungen. Durch Wechselwirkungen mit der Umwelt garantiert dieses Prinzip die Weiterentwicklung der Arten. Angesichts der zukünftigen Möglichkeiten des Menschen, seine Evolution zu beeinflussen und sich in dieser Hinsicht von der natürlichen Evolution zu emanzipieren, stellen sich insbesondere Fragen zur ethischen Vereinbarkeit von Techniken wie der Kryonik. Eine ganzheitliche Betrachtung solcher, mit dem Ziel der Unsterblichkeit Einzelner verbundenen Technologien erscheint sinnvoll und notwendig. Ist ein Eingriff in die biologische Evolution realisierbar und insbesondere vor dem Hintergrund der von ihr in der Natur hervorgebrachten Perfektion überhaupt erstrebenswert? Die vom Menschen beeinflusste Veränderung des Genpools würde sich zunächst auf das Überleben einiger weniger Individuen begrenzen. Die Gerechtigkeit solcher Methoden und weitere mögliche Gefahrenpotenziale bleiben offen zur Debatte. In der Natur entstanden durch „Survival of the fittest“ hochspezialisierte Spezies stets mit dem übergeordneten Ziel des Überlebens der Art. Fragwürdig bleibt der daraus resultierende Lerneffekt für den Menschen. Statt seine Energie wie die Tintenfische oder die Hydra in kommende Generationen zu investieren, sucht er noch nach seinem eigenen ewigen Leben. 24

Kretschmer, A. (2016): Ein Leben wie eine Eintagsfliege. In: Scinexx (Hrsg.), 15.01.2016. Online verfügbar unter: http:// www.scinexx.de/dossier-detail-752-4.html [Zugriff: 05.07.2017]. Max-Planck-Gesellschaft (2015): Ein Hauch von Unsterblichkeit. In: Max-Wissen (Hrsg.), 08.12.2015. Online verfügbar unter: https://www.max-wissen.de/203803/news_ publication_9352469?c=65105 [Zugriff: 05.07.2017]. Schmidt, T. (1996): Physiologische Potentiale der Langlebigkeit und Gesundheit im evolutionsbiologischen und kulturellen Kontext – Grundvoraussetzungen für ein produktives Leben. In: Produktives Leben im Alter. Frankfurt/New York: Campus Verlag 1996. S. 69. Träger, C. (2014): Ohne die Natur wäre die Technik aufgeschmissen. In: Welt N24 (Hrsg.), 28.03.2014. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/ article126324380/Ohne-die-Natur-waeredie-Technik-aufgeschmissen.html [Zugriff: 05.07.2017]. Wagner, A. (2015): Tiere: alt, älter – unsterblich!. In: ARD (Hrsg.), 17.09.2015. Online verfügbar unter: http://www. daserste.de/information/wissen-kultur/wwie-wissen/sendung/2011/tiere-alt-aelterunsterblich-100.html [Zugriff: 05.07.2017].


ZE IT &

MEDIZIN PRO MINUTE blinzelt ein Mensch etwa 10 bis 15 Mal, also

DER MENSCH benötigt mindestens 0,1 SEKUNDE

alle 4 BIS 6 SEKUNDEN, wobei dies über eine Zeitspanne von durchschnittlich 300 BIS 400 MILLISEKUNDEN geschieht. Die durch den Lidschluss bedingte Dunkelphase wird nicht bewusst wahrgenommen, da die visuelle Wahrnehmung in den zuständigen Bereichen des Gehirns kurz vor dem Blinzeln unterdrückt wird.

(in der Regel noch länger), um auf einen Reiz schnellstmöglich zu antworten. Schneller können Menschen Reize nicht verarbeiten und ihre Muskeln aktivieren. Muss zusätzlich eine Entscheidung getroffen werden, ist die Reaktionszeit nochmals um ca. 0,07 SEKUNDEN erhöht.

BESCHÄDIGTE ZEIT

3-SEKUNDEN-GEGENWART

Neurologische Studien haben gezeigt, dass das Zeiterleben beeinträchtigt werden kann. Schädigungen der Großhirnrinde wirken sich in der Regel verlangsamend aus, wodurch vorgegebene Zeitintervalle überschätzt werden. Darüber hinaus können z.B. Drogen, Musik und Spiele das Zeiterleben ganz aufheben und ein Gefühl der Leere, Ewigkeit oder Zeitlosigkeit auslösen.

Unsere subjektive Gegenwart umfasst eine Zeitspanne von ungefähr 3 SEKUNDEN. Bei der Entscheidung, ob zwei vorgegebene Reize z.B. gleich laut oder dunkel sind, darf der zeitliche Abstand dazwischen nicht mehr als 3 SEKUNDEN betragen. Wird er überschritten, kommt es zu einer Verblassung der neuronalen Spur des ersten Reizes, sodass die Intensität des zweiten Reizes überschätzt wird.

25

philou.


REPORTAGE

KRYOTECHNOLOGIE E INE W E T T E A U F D I E ZE I T

VON

NILS HONKOMP UND KATRIN KLUBERT

(Politikwissenschaft; Gesellschaftswissenschaften)

Orpheus ist der festen Überzeugung, seine Liebe zu Eurydike ist stärker als der Tod. Als seine Angebetete an dem Biss einer Schlange stirbt, fasst er einen Entschluss, dem kein Mensch zuvor je hat Taten folgen lassen: Er wird in die Welt der Toten gehen, um Eurydike der Schattenwelt zu entreißen und sie in die Welt der Lebenden zurückzubringen. Schon in der Antike gehört die Vorstellung den Tod – STYX und damit das Ende der Zeit – zu überwinden, zu den In der griechischen Mythologie trennt der Sehnsüchten der Menschen. Das kalte, nackte und radikale Fluss Styx die Welt der Lebenden von der Lebensende ist nur schwer zu ertragen. Stattdessen bauten Unterwelt, dem Hades. Die Seelen der Toten die Menschen aus der Jungsteinzeit Hünengräber, Ägypter überqueren diesen mit dem Fährmann Charon, der mit einem Obolus, also einer Pyramiden und Griechen Tempel sowie ausgeschmückte Münze, die den Toten bei der Bestattung in Grabeshöhlen für ihre Toten. Die alten Griechen statteten den Mund gelegt wird, bezahlt wird. Fehlt ihre Verstorbenen seit jeher mit allerlei Grabbeigaben diese Münze, müssen die Seelen der Toten aus, um ihnen Unannehmlichkeiten bei der Überfahrt ins am Ufer des Styx verweilen. Jenseits zu ersparen. Die Christen dagegen erzählten sich von Rechtsinstitutionen postmortem – wie dem Jüngsten Gericht – und der Wiederkehr ins Diesseits, die allerdings nur dem Heiligsten vorbehalten ist. Was aber, wenn man nach dem Ende tatsächlich weiterleben könnte – und zwar kleine und große Sünder gleichermaßen? Diese Frage bleibt sogar im Zeitalter des aufgeklärten Fortschrittsglaubens ein Faszinosum, obwohl die magisch-religiösen Versprechungen heute oftmals verklungen sind. Die Geschichte der vermeintlich technisch umsetzbaren Unsterblichkeit beginnt in den Vereinigten Staaten der späten sechziger Jahre. Eine an Nierenkrebs erkrankte Person setzt sich mit der Kryonischen Gesellschaft in Verbindung. Es ist James Bedford, ein Professor für Psychologie an der Universität Kalifornien. Nach seinem klinischen Tod soll er der erste kryokonservierte Mensch werden. Kryonik oder auch Kryostase (von altgriechisch kryos „Eis“, „Frost“) bezeichnet das technische Verfahren zur Konservierung kleinerer Organismen, Zellen, Organen oder auch ganzer Lebewesen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden kryonische Verfahren meistens auf den Begriff des „Einfrierens“ reduziert. Das wird aber der Komplexität der zugrundeliegenden Prozesse und der verschiedenen Anwendungsbereiche nicht gerecht. Schon heute werden diese Prozeduren wissenschaftlich erfolgreich eingesetzt, um zum Beispiel in groß angelegten Kryobanken Stammzellen von Tieren, Samen seltener Pflanzen, menschliche Eizellen und Spermien bis hin zu kleinen Organismen zu konservie26


ZEIT & MEDIZIN

ren. Prinzipiell funktioniert Kryostase ähnlich wie ein modifizierter Kühlschrank: Erstens ist eine konstante Temperatur von minus 150° Celsius oder tiefer nötig. Zweitens muss das entsprechende Gewebe auf das Verfahren vorbereitet werden, indem es mit einer schützenden Flüssigkeit versetzt wird, die meist das Frostschutzmittel Dimethylsulfoxyd (DMSO) enthält. Es soll – stark vereinfacht dargestellt – vor der Bildung von Eiskristallen im Wasser schützen. Denn diese Eiskristalle würden die Zellen verletzen. Die Anwendung des Verfahrens ist von der Beschaffenheit des Organismus abhängig: Wie komplex ist dieser? Handelt es sich um eine Flüssigkeit wie Blut, um eine geringe Menge von Zellen, kleineren Organen, oder ganzen Menschen? Letztlich muss das betroffene Gewebe vor Ort streng nach Protokoll für den Kälteschlaf vorbereitet werden: Zuerst wird es mit Medikamenten oder Nährstofflösungen versetzt. Danach wird das Gewebe stufenweise bis -196° Celsius heruntergekühlt, in speziellen Edelstahlbehältern (Kryostaten) gelagert und wartet schließlich auf den zukünftigen Einsatz. KRYONIK UND UNTERNEHMEN Ob kryonische Lagerung von Menschen auch in Deutschland möglich wäre, ist zurzeit noch ungeklärt, da dafür relevante Gesetze im jeweiligen Bundesland geprüft werden müssten. Bisher gab es aber keine Unternehmung, die sich um ein solches Verfahren bemüht hätte. Fest steht: Es gibt bislang keine deutsche Einrichtung, die die kryonische Lagerung von ganzen Menschen vornimmt. Das heißt aber nicht, dass Kryotechnologie nicht schon angewandt wird: In öffentlichen und privaten Nabelschnurblutbanken werden schon gegenwärtig Stammzellen von Neugeborenen

zur Bekämpfung von Erbkrankheiten und Leukämie konserviert. Dieser medizinische Sektor ist bereits höchst kommerzialisiert. Über zehn verschiedene Institutionen stehen in Konkurrenz zueinander und unterbieten sich in Angeboten mit 10, 25 und 50 Jahren Rundum-sorglos-Paketen, die zukünftigen Eltern eine langfristige, gesundheitliche Absicherung für ihren noch nicht einmal entbundenen Nachwuchs versprechen. „Wichtig ist aber nur eins: ihr Kind“, heißt es in einem Werbevideo einer solchen Firma. Anders sieht es in den Vereinigten Staaten von Amerika aus: Hier liegen in Scottsdale, einer mittelgroßen Stadt in Arizona, aktuell 151 tiefgekühlte Patienten, die auf mögliche Heilung in der Zukunft warten. Alcor Life Extension Foundation (i.F. Alcor) heißt die Stiftung für Lebensverlängerung. Sie ist eine von mehreren Institutionen, die Kryonik nach dem klinischen Tod anbieten. Alcor ist die Nachfolgeorganisation der Kryonischen Gesellschaft. Professor Bedfords Körper befindet sich bis heute dort – hängend in einem Edelstahlbehälter neben anderen konservierten Menschen und gekühlt von flüssigem Stickstoff bei -196° Celsius. Auch wenn es sich bei Alcor um eine 27

philou.


gemeinnützige Stiftung handelt, fallen bei der Kryokonservierung eines Menschen erhebliche Kosten an. Entweder lässt der Patient seinen gesamten Körper für 200.000 $ präparieren und konservieren oder er beschränkt sich auf seinen Kopf und bezahlt 80.000 $. Der Großteil des Geldes – etwa die Hälfte – fließt in einen Fond mit dem Namen Patient Care Trust, der die langfristige Lagerung und die Forschung an der Wiederbelebung decken soll. Etwa ein Viertel kostet das kryotechnische Verfahren selbst. Mit dem Rest wird der schnelle Transport in ein Alcor-Zentrum bezahlt. Im Preis enthalten sind mit persönlichen Habseligkeiten gefüllte memory boxes, die in einem Salzbergwerk in Kansas bis zur möglichen Wiederbelebung gelagert werden. Für eine Gebühr von 250 $ kann eine weitere Box dazu gekauft werden.

nicht so sicher, wie die Werbung der privaten Anbieter es suggeriert. Zwar ist der reine Prozess des Einfrierens bei Flüssigkeiten wie Blut um einiges simpler als das Verfahren zur Konservierung von Organen oder ganzen Körpern, jedoch sind die Erfolgsaussichten auf Stammzellen basierender Therapien noch ungewiss. Bei der Kryotechnologie geht es nicht um Lebenszeitverlängerung – der Tod ist real. Es handelt sich um einen Kniff, ein Provisorium. In dem Bestreben, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, soll auf Zeit gespielt werden. Und wenn auch die Vision der Kryoniker, Menschen aus dem Eis auferstehen zu lassen, wenig erfolgversprechend ist, so verrät sie uns dennoch einiges über uns selbst – diesseits des Styx.

Die möglichen Vorteile der Kryonik sind offensichtlich: Für wen ist ein potenziell über Jahrzehnte, vielleicht Jahr- DIE ANGST VOR DEM TOD hunderte verlängertes Leben in der Zukunft nicht reizvoll? Gerade für junge, schwer erkrankte Patienten gibt die Der Mensch hat immer Wege gefunden, der Gewissheit Kryostase eine Antwort auf das unmittelbar empfundene des Todes auszuweichen. Das Ende der eigenen Zeit hat Leid – vielleicht bietet sie sogar zeitweilig Erlösung. Die „nichts mit uns zu tun“, wir schieben auf und vermeiden. Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit ist auch für Wir blenden das Unvermeidliche aus, denn sonst wären ältere Menschen nicht einfach: Kryostat oder Sarg, was wir mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert. Ein gibt es schon zu verlieren? Dabei ist der Erfolg solcher absolutes Ende ist schlicht nicht vorstellbar. Prozeduren alles andere als sicher. Bisher gibt es noch Dem Tod, als die letzte unkalkulierbare, angsteinflökeinen einzigen Fall einer erfolgreichen Wiederbelebung ßende Konstante, begegnen wir mit ausgeklügelten Verkryokonservierter Menschen. Darüber hinaus ist James meidungsstrategien – und sei es mit dem Versuch, unsere Bedfords Körper der einzige von den zehn ersten Patien- Zeit mit dem Instrument der Moderne verlängern oder ten der Kryonischen Gesellschaft, der noch nicht vorzeitig aufgetaut ist. Obwohl der technische Fortschritt in den letzten Jahrzehnten enorme Erfolge zu verzeichnen hatte, sind die mit der Vitrifizierung einhergehenden Probleme geblieben. Das DMSO ist toxisch, VITRIFIZIERUNG d.h. falls die behandelten Körper wiederbelebt Vitrifizierung (von lateinisch vitrum: Glas) werden könnten, müssten einerseits die durch heißt das Festwerden einer Flüssigkeit das Frostschutzmittel hervorgerufenen Kryosta- durch Erhöhung ihrer Viskosität seschäden und andererseits der zeitlebens durch (Zähflüssigkeit) im Abkühlungsprozess. Dabei bildet die Flüssigkeit keine Kristalle. Krankheiten und Alter geschwächte Körper geheilt werden. Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass das mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden medizintechnischen Mitteln unmöglich ist. Auch der Nutzen der Konservierung von Nabelschnurblut ist längst 28


ZEIT & MEDIZIN

gar ins Unendliche dehnen zu wollen: Dem technischen Fortschritt. Technikoptimismus wird zur Ersatzreligion. Auch über einen weiteren Aspekt gibt uns die kryonische Prophezeiung Aufschluss: Wie definieren wir unser „Selbst“? Bei Alcor besteht auch die IDENTITÄT Möglichkeit, nicht den ganzen Körper, sondern Der Identitätsbegriff ist hochkomplex und es gibt nur den Kopf einfrieren zu lassen. Denn, so die vielfältige Theorien zu der Frage, wann und unter Vorstellung, im Zeitalter des Auftauens wird welchen Bedingungen eine Ich-Identifikation man den Körper gar nicht mehr brauchen, da er stattfindet. Einige Wissenschaftler gehen zum Beispiel – hier stark verkürzt dargestellt – bestenfalls durch komplexe Maschinen ersetzt davon aus, dass sich das Ich erst im Anderen werden könnte. Nur das Ich, die Persönlichkeit konstituiert, zum Beispiel über Sprache oder oder die eigene Seele soll bewahrt werden. Interaktion; andere über die Erfahrung und die Kryobefürworter sind davon überzeugt, dass persönliche Biographie. jegliche Identität eines Menschen als greifbare (und konservierbare) Materie in Kopf und Gehirn vorzufinden ist. Menschen wären dann nichts mehr als wandelnde, erfinderische Fleischsäcke, die eben unproblematisch einzufrieren und aufzutauen sind – und dabei auch noch sie selbst bleiben. Ist aber Identität nicht viel mehr als das? Ist zum Beispiel das Gedächtnis einfrierbar? Orpheus, der hinterbliebene Geliebte, ist jedenfalls gescheitert. Er stellt, wie auch die Befürworter der Kryotechnologie, die eigentlich selbstevidente Unausweichlichkeit der menschlichen Endlichkeit in Frage. Wie auch den Forschern ist es ihm zwar scheinbar gelungen, sich Zutritt ins Jenseits zu verschaffen, indem er durch seine Kunstfertigkeit die Unterweltgottheiten beeindruckte. Schlussendlich muss aber auch er erkennen, dass Eurydike im Reich der Toten verweilen wird und er sie erst nach seinem eigenen Tod wiedersehen kann. Für uns ist es – neben der unausweichlichen Gewissheit des Todes – beängstigend, mit der Ungewissheit darüber zu leben, wann genau er eintreffen wird und was er letztendlich bedeutet. Kryoniker konstruieren im Umgang mit der Angst zumindest eine vermeintliche Gewissheit: Fürchte dich nicht, denn in vielen Jahren wird der technische Fortschritt den Tod überflüssig gemacht haben – und bis dahin: Konserviere dich! Du bist nur zur falschen Zeit geboren! Das durch technischen Fortschritt möglich werdende Ewige Leben scheint ebenso unvermeidlich wie der Tod noch für heutige Generationen. Wie grenzenlos aber ist der Optimismus bei dieser Wette auf die Zeit?

LESEEMPFEHLUNGEN Alcor Life Extension Foundation: http://www.alcor.org/ Lindemann, T. (2011): Dubiose Heilmethoden - Wie man mit Elternangst Geschäfte macht. In: Spiegel (Hrsg.), 26.12.2011. Online verfügbar unter: http://www.spiegel. de/wirtschaft/service/dubiose-heilmethoden-wie-manmit-elternangst-geschaefte-macht-a-804843. [Zugriff: 09.07.2011]. o.V. (2017): 50 Jahre Kryostase: Einfrieren, Auftauen, Weiterleben. In: Deutschlandfunk (Hrsg.), 12.01.2017. Online verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/ tiefgekuehltes-leben.740.de.html?dram:article_id=111411 [Zugriff: 09.07.2017]. Smiljanic, M. (2006): Tiefgekühltes Leben – Neue Konservierungsverfahren in der Biologie. In: mdr (Hrsg.), 08.01.2006. Online verfügbar unter: http://www.mdr.de/ wissen/kryonik-unsterblichkeit-durch-einfrieren-100.html [Zugriff: 09.07.2017]. Winkelheide, M. (2017): Professor Bedford lässt sich tieffrieren. In: Deutschlandfunk (Hrsg.), 12.01.2017. Online verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk. de/vor-50-jahren-professor-bedford-laesst-sichtieffrieren.871.de.html?dram:article_id=376161 [Zugriff: 09.07.2017].

29

philou.


ARTIKEL

LEBENSZEITVERLÄNGERUNG VS. LEBENSQUALITÄT E IN GE GE N SA T Z?

VON

THIEN AN NGUYEN

(Medizin)

03:00 Uhr, Intensivstation. Beatmungsgeräte pumpen geräuschvoll Luft in Patienten, Perfusoren verabreichen Medikamente und Vitalparameter leuchten auf Überwachungsmonitoren auf, die sich ihrerseits unter der ständigen Beobachtung von Pflege-, und Ärztepersonal befinden. Hier ist es nie still. Gleichzeitig ergeben sich fast täglich existentielle Fragen: Wann wird das Beatmungsgerät abgestellt, wenn keine Patientenverfügung vorliegt? Wie lange sollte ein komatöser Patient künstlich ernährt werden? Insbesondere infolge des kontinuierlichen medizinischen Fortschritts sowie der zunehmenden Bevölkerungsalterung stellt sich immer öfter die grundlegende Frage, wie wir eine Balance zwischen der Verlängerung von Lebenszeit und dem Erhalt von Lebensqualität finden. Um sich dieser Frage zu nähern, möchte ich mich zunächst mit zwei scheinbar gegensätzlichen Ansätzen beschäftigen: dem kurativen und dem palliativen Ansatz. „Die kurative [...] Medizin richtet sich nach den geklagten Symptomen oder den betroffenen Organen. Ihr vordergründiges Interesse gilt den ‚manifesten Krankheiten‘ (Koch), ihrer Erkennung, Behandlung und Heilung.“   (Sprockhoff 1973: 70)

Das Ziel des kurativen Ansatzes ist in diesem Sinne die vollständige Genesung des Patienten. Ein Krebsgeschwür, das nach der Bestrahlung nachweisbar verschwunden ist, gilt als geheilt. Nicht immer gelingt die Wiederherstellung des gesunden Urzustandes; so geht es bei chronischen Erkrankungen wie dem Bluthochdruck darum, einem definierten gesunden Zustand durch spezifische Therapiemaßnahmen möglichst nahe zu kommen und zu erhalten. Durch die Behandlung werden Folgekomplikationen verhindert: So kann ein Tumor streuen und seine Metastasen zu multiplen organischen Funktionsausfällen führen; der nicht eingestellte Bluthochdruck erhöht das Risiko für einen Schlaganfall. Weitergedacht bedeutet dies, dass beim kurativen Ansatz die Verlängerung der Lebenszeit im Vordergrund steht. Eine Linderung weiterer Symptome und somit eine Verbesserung der Lebensqualität kann, muss aber kein Nebeneffekt der Therapie sein. Genauso können in manchen Fällen unerwünschte Nebenwirkungen, wie die Übelkeit bei einer Chemotherapie, in Kauf genommen werden. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die medizinischen Heilungsmöglichkeiten kontinuierlich weiterent-

30


ZEIT & MEDIZIN

wickelt. Edward Jenner trug durch die Einführung der Vakzination, der Schutzimpfung, im Wesentlichen zur weitgehenden Elimination von Pocken bei. (vgl. Gerabek et al. 2007: 120) 1928 entdeckte Alexander Fleming den antibakteriellen Effekt des Schimmelpilzes Penicilium notatum (Gerabek et al. 2007: 68). Heutzutage wird intensiv an Biologicals geforscht: Das sind Arzneistoffe, die durch die Ähnlichkeit zu körpereigenen Proteinen hochspezifisch an ihrem Ziel andocken. Ziele können beispielsweise autoreaktive Zellen sein, die sich gegen das eigene Gewebe richten und eine Entzündungsreaktion hervorrufen. (Pharmaceutical Research and Manufacturers of America 2013: o.S.) Die universitäre Medizin und die medizinische Ausbildung sind auf Heilung ausgerichtet. Es stellt sich jedoch die Frage, was passiert, wenn eine Krankheit erstens nicht geheilt werden kann und zweitens dazu führt, dass die Lebensqualität erheblich eingeschränkt wird und ein hoher Leidensdruck entsteht. Letzterer kann durch Schmerzen, Atemnot, chronische Müdigkeit und weitere Symptome erzeugt werden. Wie kann und soll in diesen Fällen therapiert werden?

Scheinbar gegensätzlich zum gängigen Medizinverständnis gibt der Ansatz der Palliativmedizin eine der möglichen Antworten auf diese Frage. Laut WHO ist die „Palliativmedizin ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten [...], die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch das Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, gewissenhafte Einschätzung und Behandlung von: Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“.  (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin 2002: o.S.)

Im Vergleich zum kurativen Ansatz folgen somit zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen liegt die Prämisse auf der Lebensqualität, nicht auf der Heilung an sich, zum anderen wird explizit angestrebt, den Menschen in seiner Ganzheit mit all seinen Bedürfnisebenen zu betrachten. Die Palliativmedizin grenzt sich dabei von der Sterbehilfe ab. Während es bei letzterer um die aktive Verkürzung von Lebenszeit geht, nimmt die Palliativmedizin alle vorhandenen Mittel in Anspruch, um durch Symptomlinderung eine höhere Lebensqualität zu erreichen. Es wird auf Maßnahmen verzichtet, die nur der Lebenszeitverlängerung dienen. Eine Lebenszeitverkürzung wird somit passiv in Kauf genommen, wenn Symptome dadurch verbessert oder stabilisiert werden können. (vgl. Schnell 2012) 31

philou.


Transzendenz Selbstverwirklichung Ästhetische Bedürfnisse Kognitive Bedürfnisse Individualbedürfnisse Soziale Bedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse Physiologische Bedürfnisse

A BB. 1 : DI E BEDÜ RFNI SP YRAMIDE NACH MAS LOW

Der palliative Ansatz findet sich nicht nur auf der Palliativstation eines Krankenhauses. Längst vertreten ist er beispielsweise in der Onkologie, der Krebsmedizin. Scoringsysteme mit Parametern wie der Tumorausbreitung und -größe sowie chemische Marker entscheiden darüber, ob der Patient eine kurative oder eine palliative Therapie erhält. Oftmals gibt es jedoch keine objektivierbaren Parameter, nach denen entschieden werden könnte, ob dem Patienten eine kurative oder palliative Therapie zugeführt werden sollte. Um eine angemessene Entscheidung zu treffen, muss jeder Mensch nicht nur hinsichtlich seiner klinischen Situation, sondern auch bezüglich seiner persönlichen Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche betrachtet werden. Eine Hilfestellung könnte dabei das bio-psycho-soziale Modell von George L. Engel bieten (vgl. Egger 2005). Hierbei spiegelt die biologische Dimension die körperliche Disposition wieder, die psychologische den menschlichen Geist und seine Emotion, die soziale die Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Davon ausgehend ergeben sich Bedürfnisse, welche beispielsweise durch den Psychologen Maslow in einer hierarchischen Bedürfnispyramide (Abb.1) aufgegriffen wurden. Beginnend mit der höchsten Priorität nennt er hierbei das Bedürfnis nach physiologischem Gleichgewicht, Sicherheit, sozial intakten Beziehungen, individueller Anerkennung und Selbstverwirklichung. Zusätzlich kommen kognitive und ästhetische Bedürfnisse sowie das Streben nach transzendenter Sinnfindung hinzu. (vgl. Nuber 1995: 22) Wenn wir uns auf die biologische Dimension berufen, so ist das bloße Überleben ergo die Lebenszeitverlängerung eins der wesentlichen Grundbedürfnisse des Menschen. 32

Gleichzeitig gilt es aber die Umstände des Überlebens zu betrachten, da diese einen direkten Einfluss auf alle anderen Dimensionen und die menschliche Bedürfnisbefriedigung haben, somit auf die Lebensqualität. Die Prioritätenordnung der Bedürfnisse ordnet sich in Abhängigkeit vom Individuum und individueller Situation neu. Kann das Bedürfnis nach physiologischem Gleichgewicht, also Gesundheit, nicht mehr befriedigt werden, so entscheiden die quantitative und qualitative Bedürfnisbefriedigung über das individuelle Wohlbefinden. Das bedeutet, dass ein Mensch umso subjektiv zufriedener ist, je mehr seiner Bedürfnisse in möglichst hohem Ausmaß befriedigt werden. Aus diesen Betrachtungen lassen sich im Wesentlichen drei Rückschlüsse für medizinische Entscheidungen ziehen, die ihrerseits als Leitlinien bei der Grundfrage nach einer Entscheidung zwischen Lebenszeitverlängerung und Lebensqualität dienen können. Erstens der kurative und der palliative Ansatz müssen nicht grundsätzlich gegensätzlich sein, sie legen nur ihren Schwerpunkt auf andere Ziele. Eine parallele Anwendung bei mehreren Leiden kann zur individuell bestmöglichen Therapie des Patienten führen.


ZEIT & MEDIZIN

Zweitens ein Aspekt aus dem palliativen Ansatz, nämlich die ganzheitliche Betrachtung des Patienten, ist immer sinnvoll. Wenn wir davon ausgehen, dass die menschliche Gesundheit auf biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beruht, trägt die Stärkung letzterer im Wesentlichen zur Krankheitsprävention bei. Dazu braucht es nicht immer ein Bataillon an Psychotherapeuten. Es reicht oftmals schon, einen Menschen im hektischen (Krankenhaus-)Betrieb in seiner Ganzheit zu betrachten. Und drittens: Die grundsätzliche Frage, ob eine therapeutische Entscheidung für eine bessere Lebensqualität auf Kosten der Lebenszeit oder umgekehrt besser ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Wer beispielsweise seine im Ausland lebenden Kinder noch einmal wiedersehen möchte, wird eine Lebenszeitverlängerung bevorzugen, auch wenn sie mit körperlichem Unwohlsein einhergeht. In diesem Moment bewirkt die Aussicht auf eine verlängerte Lebenszeit einen gleichzeitigen Anstieg der Lebensqualität; hier gibt es keinen Gegensatz mehr. Es kristallisiert sich demnach heraus: Die richtige Entscheidung richtet sich immer primär nach dem Patienten und kann selbst bei klinisch gleicher Ausgangssituation individuell variieren. Genauso können Veränderungen im persönlichen Umfeld als auch bei der Person und Einstellung des Patienten selbst bewirken, dass sich die Gewichtung von Lebensqualität und Lebenszeit im Krankheitsverlauf ändert und neue Therapieentscheidungen erfordert.

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (Hrsg.): WHO Definition of Palliative Care (2002). Online verfügbar unter: https://www. dgpalliativmedizin.de/images/stories/WHO_ Definition_2002_Palliative_Care_englischdeutsch.pdf [Zugriff: 09.05.17]. Egger, J. W. (2005): Psychologische Medizin. In: Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. In: Psychologische Medizin. 16. Jg. 2005/2. S. 3–12. Gerabek, W. E. et al. (2007): Enzyklopädie Medizingeschichte. Band 1. Berlin: Walter de Gryuter. Nuber, U. (1995): Die Wiederentdeckung der Geborgenheit. In: Psychologie Heute. 22. Jg. 1995/12. S. 22. Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (Hrsg.) (2013): Biologics. In: 2013 Report. Online verfügbar unter: http:// phrma-docs.phrma.org/sites/default/files/pdf/ biologicsoverview2013.pdf [Zugriff: 03.06.17]. Schnell, M. W. / Schulz, C. (2012): Basiswissen Palliativmedizin. Heidelberg: Springer Medizin Verlag. Sprockhoff, O. (1973): Deutsches Ärzteblatt. Online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt. de/archiv/181481/DEFINITION-KurativPraeventiv [Zugriff: 09.05.17].

Abbildungsverzeichnis Weber, J. H.: Bedürfnisse – ein Bedarf der Erwachsenenbildung?. In: Die Österreichische Volkshochschule, Magazin für Erwachsenenbildung. Online verfügbar unter: http://magazin.vhs.or.at/ magazin/2014-2/254-dezember-2014/ schwerpunkt-persoenlichkeitsentwicklungpersoenlichkeitsbildung/beduerfnisse-ein-bedarfder-erwachsenenbildung/ [Zugriff: 03.06.17].

33

philou.


ARTIKEL

DIE MACHT DER ENTFREMDUNG WE NN DIE U H R E N L A U T E R T I CK E N

VON

VICKY VIDA

(Psychologie)

Es gibt für jeden Menschen einen Moment in seinem Leben, in dem die Zeit ihre Unauffälligkeit des universalen Mediums verliert. Vorher leben wir im Unbekannten der Gegenwart und schreiten als Kinder ahnungslos dem Namenlosen und Spannenden der Zukunft entgegen. Anhand dessen, was wir sehen, bekommen wir eine erste Ahnung von der Zeit. Um sie zu ergreifen, benötigen wir als Kinder anschauliche Beispiele: Der größere Hund ist älter als der kleinere Hund und der kleinere Mann wird auch sicherlich jünger als seine größere Freundin geschätzt. Kombinieren wir den anschaulichen Zeitbegriff eines Vorschulkindes mit den Möglichkeiten der Zeitvermessung eines Erwachsenen, so entsteht ein komplexer Raum aus Struktur und Ordnung: Die Ecken sicherlich aus rechten Winkeln und seine Wände sind übersäht von gleichgroßen 1 x 1 cm großen Quadraten, welche Minuten genannt werden und abermals in größere Quadrate namens Stunden eingeteilt sind usw. Dieser Raum gibt eine Ahnung von der sogenannten linearen Zeitordnung als eine der zwei Möglichkeiten, wie wir Zeit und übergreifend unser gesamtes Leben wahrnehmen. Ohne die Möglichkeit zur Messung gibt es die eine, dimensionale Form. Räumlich mit einem Tunnel vergleichbar, der sich vor und hinter uns in der 34

Fluchtperspektive am Horizont verliert und sich jedem Versuch der Fraktionierung in gleichförmige Elemente entzieht. In manchen Lebensbereichen unumgänglich und notwendig, kann uns demnach unsere Fähigkeit zum Abstrahieren und Fraktionieren zum Verhängnis werden. Anfänglich dienliche Messeinheiten wie Minuten, Tage und Stunden verlieren ihren hilfreichen Charakter, wenn sie das eigene Leben zu einer Endlosschleife aus gleichförmigen Einheiten deformieren und das Selbstbild zum Spielball der Zeit degradieren. Die Linearität der Zeitordnung kann das Erleben und Verhalten des Menschen in einem solchen Ausmaß beeinflussen, dass Theunissen, deutscher Philosoph, und Germanist, in seinem Buch „Negative Theologie der Zeit“ von der „Herrschaft der Zeit“ spricht. Beispielhaft für die Herrschaft der Zeit beschreiben die Psychoanalytiker Straus und Gebsattel die „Homogenisierung der Zeit“, welche in der Welt von Zwangskranken präsent ist. Dabei kommt zu der „Auslieferung an eine Zeitordnung, die ihm als lineare vorgesetzt ist“, die Unterwerfung unter eine „willkürlich gesetzte, von ihm ersonnene künstliche Ordnung“ hinzu. Das bedeutet, dass die Homogenisierung der Zeit in seinem Fall eine Homogenisierung oder „Fraktionierung seines Tuns“ begründet. (Theunissen 1991: 227)


ZEIT & MEDIZIN

Theunissen geht noch näher auf die Thematik der künstlichen Zeitordnungen ein und skizziert anhand psychopathologischer Betrachtungen den Zusammenhang zwischen der Herrschaft der Zeit und der eigenen Subjektivität. Dabei ist Subjektivität mehr als das subjektive, interindividuell unterschiedliche Erleben. Kategorisch lässt sie sich in diesem Kontext mehr als das Ausmaß, welches das Subjekt im Gestalten des eigenen Lebens einnimmt, bezeichnen. Handel ich passend zu dem, was ich als mein Wesen erlebe oder halte ich dieses in Unmündigkeit bei der Gestaltung meines Lebens zurück? Theunissen untersuchte das Zeitempfinden von Depressiven, Schizophrenen und Zwangsgestörten und schlussfolgerte einen Zusammenhang zwischen einem gestörten Zeitempfinden und der Entmachtung der eigenen Subjektivität: „Dieser Vorgang bekundet nach beiden Seiten, im Negativen des Zerfalls der dimensionalen und im Positiven des Aufdringlichwerdens der linearen Ordnung, die Herrschaft der Zeit, nach der einen durch die Entmächtigung des Subjekts, nach der anderen durch die Ermächtigung ihrer subjektfremden Objektivität.“  (Theunissen 1991: 224)

neues Kapitel seines Lebens zu beginnen, wird durch das Erleben einer quälenden Gleichheit der Momente überschattet oder gar verwehrt. In seinen Thesen geht Theunissen davon aus, dass seine Beobachtungen der an einer Zeitordnung leidenden Menschen nur eine Vergrößerungslupe für Veränderungen von gesellschaftlicher Größenordnung seien (ebd.). Nach seiner Ansicht sprechen jene Patienten Worte laut genug aus, die der Rest der Bevölkerung noch unverständlich flüstert. Glauben wir nun Theunissen, so besteht der beobachtete Zusammenhang zwischen Zeitordnung und Subjektivität nicht nur im klinischen Setting (ebd.), sondern ist darüber hinaus auch im nichtklinischen Bereich des Alltags erfahrbar und von informativem und aufforderndem bzw. heilsamem Charakter.

Unser Zeiterleben ist also nicht nur von der Geschwindigkeit und dem Inhalt unseres Lebens abhängig, sondern liefert auch Informationen darüber, wie zentral das Ausmaß Vorerst zur informativen Seite: Viele an Subjektivität für unser Zeiterleben ist. Hier lassen sich Menschen mit Zwangsstörungen hamögliche, herausfordernde Ansatzpunkte zur Veränderung ben ihre gesunde, dimensionale Zeides eigenen Zeiterlebens entdecken. Kern der Herausfor- tordnung durch einen krankhaften derung liegt in der Tatsache, dass die sinn- und seinskonstituierende Instanz der Subjektivität sich niemals mit Eigenschaftswörtern fassen lässt, da sie immer selbst das sich bewegende und entwerfende Element des Ichs bleibt (vgl. Soppa 2010). Auf dem Weg zur eigenen Subjektivität bedeutet dies, dass der Mensch nicht mehr äußeren, starren Verhaltenskodizes gehorchen und als Bezugsrahmen nutzen kann, sondern es wagt zu lernen, sich selbst und seinem Eigensinn mehr zu vertrauen und zu gehorchen. Bietet das Subjekt der Persönlichkeit zu wenige Ausdrucksmöglichkeiten, stimmt es in die Homogenisierung der Zeiteinheiten durch sein Nicht-Ausleben ein. Im Extremfall verwandelt sich jede möglichkeitsweckende Zukunft LINEARES ODER MONOCHROMES ZEITVERSTÄNDNIS in eine bedrängende Wiederkunft des Gerade die westlichen und individualistisch geprägten Industriegesellschaften nehmen Gleichen (vgl. Theunissen 1991). Dabei Zeit linear wahr: Als fortschreitende Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zeit ist in Maßeinheiten einteilbar, planbar und kalkulierbar. wird jede Möglichkeit, ein spannendes, 35

philou.


ZIRKULÄRES ODER POLYCHRONES ZEITVERSTÄNDNIS

Zeitvorstellung, die in dem Gesetz der Wiederkehr verwurzelt ist. Orientierung an sich bedingenden, abwechselnde Phänomenen – Ein- und Ausatmen, Ebbe und Flut, die Jahreszeiten. Feiertage, Muße und Pausen werden als integraler Bestandteil eines Ablaufs verstanden, der nicht gerichtet ist und kein Ziel kennt. Eher in traditionellen, kollektivistisch orientierten Gesellschaften zu finden.

Umgang mit der Zeit verloren (ebd.). Die künstliche Homogenisierung in Form einer immerwährenden Aneinanderreihung gleichgroßer Zeitelemente durchzieht von nun an das eigene Leben. Beispielhaft dafür berichtet eine Patientin, die unter dem Pseudonym Ilse K. in der Literatur bekannt wurde, ihre Zwangssymptomatik: „Wenn ich einen Vogel piepsen höre, muss ich denken: ‚Das hat jetzt eine Sekunde gedauert’. Wassertropfen sind unerträglich und machen mich rasend, weil ich immer denken muss: ‚Jetzt ist wieder eine Sekunde vergangen, jetzt wieder eine Sekunde‘“   (Gebsattel 1954: 2)

Der Psychoanalytiker K.R. Eissler offenbart ähnliches von einer Patientin, welche auch das Denken an die zerstückelte Zeit als „zwanghafte Notwendigkeit“ ansieht. Anstatt ihre gesamte Aufmerksamkeit der vergehenden Zeit zu widmen, reagiert sie jedoch entgegengesetzt und leugnet ebendiese völlig. Sie weigerte sich, eine Armbanduhr zu tragen und versucht, dem Zeitdruck zu entkommen. „Sie hatte einen Horror vor der Zeit und wollte sich deren Fortschreiten in keinster Weise bewusst machen“ (Theunissen 1991: 222). Doch gerade dieser Fluchtversuch offenbart die in uns wohnende Herrschaft der erdrückenden, linearen Zeitordnung. Können wir uns – als Einzelne und als Gesellschaft – in der ökonomisierten und zeitzentrierten Kultur des Westens noch anders vor einer unterschwelligen Internalisierung ihrer Zeitordnung schützen, als dass wir direkt in die Südsee fliehen, um in diesem Fluchtversuch kleine zeitfreie Utopien (Strand und Hippiebar inklusive) zu (er)leben? Der Rückschluss auf Handlungsmotive unseres Verhaltens bedarf einer tiefgehenden Exploration als nur dessen Beobachtung. Die Tatsache, ob jemand 36

chronisch auf sein Smartphone schaut, um die Uhrzeit zu prüfen oder im anderen Extrem verweigert, eine Armbanduhr zu tragen, ist noch kein Indiz für ein Leiden an der Zeit. Die Frage, wann die internalisierte Zeitordnung die Herrschaft über seinen Schöpfer gewonnen hat, sollte immer in der relativen Betrachtung zu anderen Handlungsmotiven beantwortet werden. Anders formuliert: An der Rangordnung, welche Gewichtung wir der Zeit in unserem Leben zusprechen, können wir die Größe des Raumes abschätzen, der noch für den Spielraum unserer Persönlichkeit bleibt. Steigern wir das Ausmaß an Effektivitätsdenken, dem Argumentieren mithilfe von Zeiteinheiten, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit der Entmachtung unserer Persönlichkeit als leitendes Motiv für unser Handeln. Theunissen postuliert, dass das Aufdringen der linearen Zeitordnung mit einer Entmachtung des Subjekts und einer Ermächtigung ihrer subjektfremden Objektivität einhergehe (vgl. Theunissen 1991). Nun lassen sich daraus folgende Schlüsse ziehen: Erstens kann ein Gefühl von Zeitraffung, in der Minute für Minute vorbeirauschen und das Individuum sich währenddessen als passiv und machtlos erlebt, ein Hinweis dafür sein, dass die lineare Zeitordnung zum Zentrum meiner Aufmerksamkeit und zur Färbung meiner Wahrnehmung beiträgt. Zweitens wird der Versuch, dieses Zeitempfinden durch noch effektiveres Zeitmanagement zu stoppen, nur noch mehr die Macht der Zeit entgegen des eigenen Willens, aber durch die eigene gesteigerte Aufmerksamkeit auf die Zeitelemente, verstärken. Drittens wird sich der innere Zeitkritiker (mit Worten wie „Ich hab’ nicht genug Zeit!“, „Die Zeit rennt immer schneller!“ oder „Schon wieder eine Woche um!“) sich nur durch einen Zuwachs an Subjektivität erweichen lassen. Ist das Ich mündiger gegenüber der Zeitordnung und kommt das Selbst lauter als die von außen eindringenden Argumente der Zeit, so wird die Zeit innerhalb der Stunden, die wir für eine Sache zur Verfügung haben, zeitloser. Selbst-Vergessenheit und Zeit-Vergessenheit sind hier zwei spannungserzeugende Pole, zwischen denen wir uns wohl lebenslänglich auf unserem Weg der Geschäftigkeit und dem Innehalten hin und her bewegen werden. Gebsattel, V. E. (1954): Prolegonema Einer Medizinischen Anthropologie. Ausgewählte Aufsätze. Berlin: Springer Verlag. Soppa, S. (2010): Scheiternde Subjektivität. Das unglückliche Bewusstsein bei Hegel und Kierkegaard. Berlin: Logos Verlag. Theunissen, M. (1991): Negative Theologie der Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 5. Auflage.


ZEIT &

KULTUR IN MICHAEL ENDES ROMAN „MOMO“ (1973) GEHT ES UM EIN MÄDCHEN, MOMO, DIE MIT HILFE DER SCHILDKRÖTE KASSIOPEIA UND MEISTER HORA GEGEN DIE ZEITDIEBE, DIE GRAUEN HERREN, KÄMPFT. BEI DER ERSTEN BEGEGNUNG MIT MEISTER HORA STELLT ER IHR EIN RÄTSEL. „ABER ES IST SEHR SCHWER. DIE WENIGSTEN KÖNNEN ES LÖSEN.“

Drei Brüder wohnen in einem Haus, die sehen wahrhaftig verschieden aus, doch willst du sie unterscheiden, gleicht jeder den anderen beiden. Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus. Der Zweite ist nicht da, er ging schon hinaus. Nur der dritte ist da. Der Kleinste der drei, denn ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei. Und doch gibt’s den dritten um den es sich handelt, nur weil sich der erst’ in den zweiten verwandelt. Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder immer einen der anderen Brüder! Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer? Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar – keiner? Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen, so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen. Sie regieren gemeinsam ein großes Reich – und sind es auch selbst! Darin sind die gleich.

37

philou.


KREATIV

CARPE DIEM! KRE ATIV E T A G E S A B L Ä U F E Vielen Dank an RJ Andrews für das Zurverfügungstellen seiner grafischen Arbeit „Creative Routines“ (2014, infowetrust.com), welche auf Mason Curreys Buch „Daily Rituals“ (2013, New York: Knopf ) basiert.

Schlaf

Simples Abendessen, gefolgt von einem Glas Bier und einer Pfeife

LUDWIG VAN BEETHOVEN 1822–1827

Halt an einer Taverne, um Zeitung zu lesen Sein Frühstück bestand nur aus Kaffee, welchen er selbst mit großer Sorgfalt zubereitete – er legte fest, dass jede Tasse sechzig Bohnen zu beinhalten hatte, welche er oft einzeln auszählte.

Ein langer Spaziergang – immer einen Stift und Notenblätter dabei Mahlzeit mit Wein Komponieren

Komponieren Constanze umwerben

WOLFGANG AMADEUS MOZART

Schlaf

1781

Komponieren und Konzerte Ankleiden

Komponieren Mittagessen und Sozialisieren Unterrichten

38


ZEIT & KULTUR

MITTERNACHT

PRIMÄRE ARBEIT

3

21

18

SOZIALISIEREN & MAHLZEITEN

EINE STUNDE

24

6

SONSTIGE ARBEIT

Stunden

LEGENDE

SCHLAF

9

15

SEKUNDÄRE ARBEIT, UM ÜBER DIE RUNDEN ZU KOMMEN

MITTAG

BEWEGUNG/SPORT

Lesen, Schreiben für Zeitschriften Abendmahl und Kartenspiele, Spaziergang mit Frau oder Tochter

SIGMUND FREUD 1910

Schlaf

Beratungen und mehr psychoanalytische Patienten Frühstück, Bart trimmen

Spaziergang durch Wiens Ringstraße in rasanter Geschwindigkeit

Psychoanalysepatienten; rauchte im Laufe des Tages bis zu 20 Zigarren Freizeit

Schlaf

IMMANUEL KANT 1764–1804

Lesen

Milder Tee, Pfeifenrauchen, Meditation

Treffen mit engem Vertrauten Joseph Green

Schreiben

Spaziergang

Vorlesungen halten

Mittagessen: Fleisch und Wein im Wirtshaus (seine einzige wirkliche Mahlzeit am Tag)

39

philou.


Wach im Bett liegen und Probleme lösen Wissenschaftliche Bücher lesen Schlaf

Backgammon mit Emma

CHARLES DARWIN 1842–1859

Tee und Ei Ausruhen, während Emma seine Arbeit gegenliest Müßiggang Arbeit

Kurzer Spaziergang

Dritter Spaziergang des Tages

Alleiniges Frühstück Konzentrierte Arbeit, nur unterbrochen durch gelegentliche Gänge zum Schnupftabakglas

Nickerchen Briefe schreiben Zeitung lesen Mittagessen

Persönliche Briefe lesen, seine Ehefrau Emma las ihm Briefe der Familie laut vor Arbeit Gassi gehen mit seinem Foxterrier „Polly“

CHARLES DICKENS

Freunde und Famile Schlaf

1851–1860

Abendmahl Freizeit Aufwachen Frühstücken

Strammer Spaziergang durch die Landschaft oder London

Arbeitszimmer: Schreiben in absoluter Ruhe

Gäste unterhalten, lesen, Grammophon hören

THOMAS MANN Schlaf

Spaziergang Revisionen, Artikel Tee mit der Familie Nickerchen Kaffee & Bad Lesen Mittagessen & erste Zigarre

Primäre Schreibzeit, Zigaretten

40

1943


AN ZEIGE

®

• • • •

Raumlufthygiene Trinkwasserqualität Umwelttechnik Umweltberatung

HYGIENEPRÜFUNGEN

PRODUKTZERTIFIZIERUNGEN

Finden sich Flächen mit erhöhter Keimbelastung? Stimmen Raumtemperatur und Luftfeuchte? Sind die Arbeitsabläufe hygienisch einwandfrei?

Vom Handschuh über den Staubsauger, die Matratze, die Waschmaschine, den Teppich, bis hin zum Luftreinigungsgerät – für Allergiker relevante Produkte. Aber auch Produkte, die allgemein zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen, haben vielfach schon heute ein gui-lab Prüfzeichen. Auch Prozesse innerhalb der Gebäudetechnik, die die Hygiene beeinflussen, werden von uns zertifiziert. Innerhalb unseres Netzwerkes haben wir uns zu höchstem Qualitätsstandard verpflichtet.

Fragen, die Ihnen gui-lab zuverlässig beantwortet: Von der Messplanung über die Analyseerstellung, die Detailauswertung bis hin zum Optimierungsvorschlag. Ebenfalls sehr wichtig ist uns die Überprüfung von raumlufttechnischen Anlagen („Klimaanlagen“) auf eventuelle Hygieneschwachstellen. Schließlich muss die Luft, die wir einatmen, ebenso einwandfrei sein wie unser tägliches Essen und Trinken. Unsere Fachleute führen in vielen renommierten Gebäuden Hygieneinspektionen von RLT-Anlagen analog VDI 6022 durch. Als VDI-geprüfte Fachingenieure RLQ und RLQ-Manager der DGUV-Test überprüfen wir Raumlufttechnische Anlagen bereits vor Inbetriebnahme und nehmen hier Aufgaben des Gesundheitsschutzes und der Gefährdungsbeurteilung wahr.

Darüber hinaus zertifizieren wir fertig installierte Raumlufttechnische Anlagen und dezentrale Befeuchter als VDI-geprüfte Fachingenieure RLQ gemäß der Richtlinien VDI 6022 Blatt 1, Blatt 1.1 und Blatt 6. Bei erfolgreicher Prüfung erhält die Anlage einen VDI-Prüfaufkleber, der diesen Erfolg belegt, aber auch die nächsten notwendigen Hygieneinspektionen terminiert.

Wieselweg 16 41239 Mönchengladbach info@dr-winkens.de


KRITIK

MOMO UND DIE INNERE UHR Z E IT ALS IN D I V I D U E L L E R E SS O U R CE

VON

CHRISTIAN EßING

(Literatur- und Sprachwissenschaft)

„Die Zeiten ändern sich eben“ (Ende 1973: 85): Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich ebenjene Zeiten – und mit ihnen auch die Gesellschaft – so stark verändert wie selten zuvor. Gründe für diese Entwicklungen werden vermutlich größtenteils in der Technisierung und der daraus folgenden Digitalisierung verortet. Der Zeitbegriff ist an dieser Stelle durchaus ambivalent. Auf der einen Seite steht die Zeit, im Sinne einer Epoche, für die gesellschaftlichen und technologischen Umstände zu einem Zeitpunkt. Andererseits ist Zeit eine an einzelne Personen gebundene Währung. Inwiefern sich der Gebrauch der Zeit als individuelle Ressource auf die Gegenwart und Zukunft auswirkt, veranschaulicht Michael Ende in seinem 1973 erschienenen Roman „Momo“. In der Geschichte kämpft das Mädchen Momo gegen die geisterhaften grauen Herren, „Angestellte“ der Zeit-Spar-Kasse, welche die von der Bevölkerung „eingesparte“ Zeit zur Sicherung der eigenen Existenz missbrauchen. Die Zeit wird im Roman als Stundenblume dargestellt, welche von den grauen Herren zu Zigarren verarbeitet und konsumiert werden. Das beschauliche Städtchen wird in einen Hort des Kapitalismus verwandelt, 42

bis es Momo mit Hilfe von Meister Hora, dem Hüter der Zeit, gelingt, die grauen Herren zu überlisten und den Menschen die gestohlene Zeit zurückzugeben. Die Zeit wird in Form der Blume als etwas Wertvolles, Schönes aber gleichzeitig auch Fragiles und Vergängliches dargestellt. Auch wird die Zeit mit dem Individuum verknüpft, sie „sollte mit dem Herzen wahrgenommen [werden]“, denn wenn dieses aufhört zu schlagen „hört auch die Zeit für [den Menschen] auf“ (Ende 1973: 159). Dasein und Zeitlichkeit bedingen sich also gegenseitig und sind, aufgrund der menschlichen Sterblichkeit, vergänglich. Das zyklische Aufblühen und Verwelken der Blume steht für ebendiese Vergänglichkeit der eigenen Lebenszeit; „die wirkliche Zeit ist eben nicht nach der Uhr und dem Kalender zu messen“ (Ende 1973: 214). Diese Konzeption macht aus der Zeit eine sehr wertvolle Ressource, mit der verantwortungsvoll umgegangen werden sollte. Zur Veranschaulichung baut Michael Ende in „Momo“ einen entsprechenden Kontrast zwischen einer beschaulichen und einer kapitalistischen Lebensweise auf. Die Protagonistin Momo lebt ein sehr bescheidenes Leben, materieller Reich-


ZEIT & KULTUR

tum ist ihr fremd – „Zeit war ja das einzige, woran [sie] reich war“ (Ende 1973: 17) – und diese Zeit verbringt sie bevorzugt mit ihren Mitmenschen und Freunden. Durch die Verwendung des Adjektivs „reich“ akzentuiert Michael Ende bereits am Anfang des Romans, dass Zeit eine durchaus kostbare Ressource ist. Den Gegenentwurf zu Momos Lebensweise konstruieren die grauen Herren. „Das einzige […] worauf es im Leben ankommt, ist, daß man es zu etwas bringt, daß man was wird, daß man was hat. Wer es weiter bringt, wer mehr wird und mehr hat als die anderen, dem fällt alles übrige ganz von selbst zu: Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter.“ (Ende 1973: 94)

Eine effiziente Nutzung der eigenen Zeit zur Anhäufung materieller Besitztümer steht im Vordergrund. Das Ziel – Freundschaft und Liebe – ist zwar das gleiche, im Roman kann dieses jedoch nicht durch die Einsparung von Zeit erreicht werden. Derartiges Effizienzdenken führt naturgemäß zu Kosten von Spaß und Liebe. Darüber hinaus gelten sogar soziale Kontakte zur alternden Mutter oder einer kranken Freundin als Zeitverschwendung und sollen auf ein Minimum reduziert werden. Dieser Arbeitsethos wird als

modern und fortschrittlich beschrieben und von den Medien auch entsprechend propagiert – von der ersparten Zeit haben die Menschen jedoch wenig, da die grauen Herren diese benötigen, um die eigene Existenz zu sichern (vgl. Ende 1973: 68ff.). Folglich gilt alles, was nicht der unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehenen Selbstoptimierung dient, schlicht als Zeitverschwendung: Sogar die Kinder werden in sogenannten „Kinder-Depots“ vom fantasievollen Spielen abgehalten und mit zweckgerichteter Beschäftigung auf ihr späteres Leben vorbereitet. Zeitvertreib um seiner selbst willen sei „eine Schande für unsere Zivilisation und ein Verbrechen an der künftigen Menschheit!“ (Ende 1973: 186) Als Lösung des Problems im Umgang mit der eigenen Zeit sieht Michael Ende einfache Entschleunigung. „Je langsamer, desto schneller“ lautet das Credo, dementsprechend lässt sich das Haus von Meister Hora, dem Hüter der Zeit, nur erreichen indem man sich eben nicht beeilt und rückwärts statt vorwärts geht (Ende 1973: 233). Das Ziel soll also nicht die möglichst effiziente Nutzung der Zeit sein, sondern diese mit den Menschen, die für einen selbst wichtig sind, zu teilen, weil eben „alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird […] verloren [ist].“ (Ende 1973: 159) Die Entstehungsgeschichte des Romans ist gewissermaßen ein Modell für die Entschleunigung. Michael Ende arbeitete insgesamt sechs Jahre, mit zahlreichen Unterbrechungen, an „Momo“, denn „[m]anche Dinge brauchen eben Zeit“ (Ende 1973: 17). Und wie Momo war auch Michael Ende reich an dieser wertvollen Währung. Ein Privileg, das ihm als bereits renommierter Schriftsteller zuteilwurde. So erzählt er eine äußerst gesellschaftskritische Geschichte, die heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat. 43

philou.


In unserer gegenwärtigen kapitalistischen Welt spielt der Effizienzgedanke eine exponierte Rolle in der Gesellschaft. Vor allem die im Zuge der Digitalisierung aufkommenden technischen Neuerungen zielen, neben vermeintlich erhöhter Lebensqualität, vor allem auf Zeitersparnis und Steigerung der Effizienz ab. Ein Roman wie „Momo“ ruft jedoch zum Hinterfragen dieses Lebenswandels auf. Natürlich ist es heute wesentlich einfacher, sich bei Wikipedia über ein bestimmtes Thema zu informieren. Wo man früher unter Umständen eine Bibliothek aufsuchen musste, reichen heutzutage wenige Klicks. Die Frage, die man sich stellen sollte, ist jedoch, was man mit der eingesparten Zeit anfängt. Man kann diese – wahrscheinlich ganz im Sinne von Michael Ende – natürlich einsetzen, um sich mit Freunden zu treffen oder um seine Großeltern zu besuchen. Andererseits werden diese frei gewordenen Stunden auch nicht selten auf Internetseiten und sozialen Netzwerken wie beispielsweise Facebook verbracht; der Sinn dieser Beschäftigung darf angezweifelt werden. So gibt es auch heute, analog zu den grauen Herren eine Vielzahl von einflussreichen Konzernen, die von unserer Zeit leben, Google und das oben genannte Facebook sind wohl die bekanntesten Beispiele. Momo lehrt uns demnach: Schleichende Veränderungen der Gesellschaft sollten hinterfragt werden, Reichtum allein macht nicht glücklich und ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Zeit ist wichtig. Wie Michael Ende aufzeigt, steht ebendieser individuelle Umgang mit der Lebenszeit in direktem Verhältnis zu der Zeit, in der 44

wir leben. Wenn sich die Zeiten ändern, geschieht das nicht unbedingt nur durch technologischen Fortschritt, sondern maßgeblich durch veränderte Handhabung der eigenen Zeit. Ein Bewusstsein für den immensen Wert dieser unwiederbringlichen Lebenszeit ist folglich substanziell für die Erhaltung einer humanen Gesellschaft, denn: „Zeit ist Leben“ (Ende 1973: 57).

Ende, M. (1973): Momo. Stuttgart, Wien: Thienemanns Verlag.


ZEIT & KULTUR

GLOSSE

H AR RY P OT T E R U N D DE R PO PU LI S M U S D E R JO SC H KA - E LE FA N T E N WIE BÜCHER UND KASSETTEN UNSER POLITISCHES DENKEN BEEINFLUSSEN

VON

NILS TENKLEVE

(Politikwissenschaft)

Es ist immer wieder interessant, wie die Zeit die Sichtweise auf Dinge verändert. Im Glauben, neue Dinge zu erleben, bemerken wir häufig nicht, dass wir Altbekanntes nur mit anderen Augen sehen. In der aktuellen Diskussion über die Lage der Gesellschaft wird immer wieder von – vermeintlich – neuen Herausforderungen gesprochen: Wutbürger, Populismus oder eine Bedrohung der Freiheit von Bildung und Forschung durch Eingriffe von autoritären Staatssystemen. Dabei sind diese Phänomene keine Seltenheit. Tatsächlich kennen die meisten von uns sie bereits seit ihrer Kindheit. Schon im Kindergarten oder der Grundschule sind viele von uns mit Wutbürgern und Populisten in Kontakt gekommen: Ein „Wutbürger“ wird häufig als ein „aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger“ definiert, der nicht zuletzt durch Umweltschutzbedenken und einer, vonseiten der Politik erklärten, „Alternativlosigkeit“ motiviert wird (Kraushaar 2011: 5ff.).

Enttäuschte Bürger, die sich heftig protestierend und durch zivilen Ungehorsam dafür einsetzen, diese „alternativlose“ Politik zu verhindern und damit die Umwelt zu schützen. Kommt das bekannt vor? Wie wäre es zum Beispiel mit dem Hörspiel „Benjamin Blümchen auf dem Baum“ von 1980, in dem Benjamin einen Baum besetzt, um zu verhindern, dass dieser für eine neue Hauptstraße gefällt wird. Oder etwa mit „Benjamin Blümchen als Förster“, von 1996, in dem der Bürgermeister die neue Umgehungsstraße durch einen Wald bauen will, da entlang der alternativen Route um den Wald herum sein Ferienhaus steht. Solche und ähnliche Themen können in vielen Folgen von Benjamin Blümchen gefunden werden. In der Regel haben die Politik und die reiche Elite, verkörpert durch den inkompetenten und korrupten Bürgermeister Bruno Dafke und den Baron von Zwiebelschreck, bei einem Vorhaben nur das Eigeninteresse im Sinn, welches Benjamin, seine Freunde und Karla Kolumna, „die rasende Reporterin“ als Vertreterin der Presse, dann verhindern. Dies gelingt meist mit einer Mischung von Demonstra45

philou.


tionen, investigativem Journalismus und einer Prise zivilen Ungehorsams. Die Erfinderin von Benjamin Blümchen, Elfie Donnelly, hat 2012 in einem Interview gesagt, dass Benjamin in den 1970er Jahren eine kindgerechte Version der ersten Umweltaktivisten war. Oder wie sie es formulierte: „Joschka Fischer hatte also gewissermaßen die Stoßzähne von Benjamin Blümchen. Das, was der Elefant nicht gelebt hat.“ (Freund 2012) Ein Elefanten-Joschka, korrupte Politiker und Sitzblockaden in unseren Kinderzimmern? Ja, und es ist, im Nachhinein betrachtet, kein Einzelfall. Nicht nur der Wutbürger, sondern auch der Populismus ist uns bereits in unserer Kindheit begegnet: Bei genauerer Betrachtung ist dieser zum Beispiel im vielfach ausgezeichneten Film „Der König der Löwen“ von 1994 zu erkennen. Der von Don Hahn produzierte Film erhielt nicht nur den „Academy Award“ für die beste Filmmusik (produziert von Hans Zimmer), sondern auch den für den besten Song („Can You Feel the Love Tonight“, dt.: „Kann es wirklich Liebe sein?“). Der Populismus findet sich jedoch in einem ganz anderen Lied: In „Seid Bereit“ verspricht Scar, der Onkel und wichtigster Gegenspieler des Hauptdarstellers Simba, seinen Helfern, den Hyänen, dass sie „nie wieder Hunger leiden“ müssten. Er spricht von einer „Goldenen Ära“, der „Zeit ihres Lebens“ und davon, dass endlich das Recht triumphieren müsse. Er verstärkt damit die Wahrnehmung der Hyänen, dass die bloße Existenz der Löwen (der Elite) der Grund für ihre schlechte Lage ist. Hingegen präsentiert sich Scar, 46

der seit seiner Geburt zu eben dieser Elite gehört, als sei er einer von ihnen, „ein Kumpel“. Er entspricht also einer Art Leitfigur, welche auf Augenhöhe mit den Hyänen (dem Volk), steht und sein Charisma durch das Teilen von Sorgen und Ängsten bezieht (Priester 2007: 31f ). Auf die Reaktion der Hyänen („Tolle Idee! Wer braucht schon 'nen König? Niemand! Niemand! La-LaLa-La-Laa-Laa!“) antwortet er jedoch entschieden, dass es ihm nicht darum ginge, die Position des Königs abzuschaffen, sondern selbst der neue König (das Oberhaupt der Elite) zu werden. Die Hörspiele und Zeichentrickfilme der Kindheit wurden nach und nach mit Jugendromanen ergänzt. Gerade die „Harry Potter“-Romane, die von 1997 bis 2007 erschienen sind, haben bis heute einen großen Einfluss auf die Popkultur. So lassen sich unter Anderem diverse Memes mit „Harry Potter“-Bezug finden. Gerade im Rahmen des „March for Science“, der am 22. April 2017 an über 500 Orten weltweit stattfand, erfreuten sich verschiedene Versionen von „Trumbridge“- Memes


ZEIT & KULTUR

im Internet. Die Demonstranten forderten eine von staatlichen Einflüssen weitgehend freie Bildung und Forschung, da ansonsten ein ungehinderter Austausch von Meinungen und Forschungsergebnissen nicht stattfinden kann. Doch wie hat sich Dolores Umbridge ihren Teil der Aufmerksamkeit verdient? Im Band „Harry Potter und der Orden des Phönix“ bekommt Hogwarts, die, allem Anschein nach einzige Bildungseinrichtung für Hexerei und Zauberei in England, mit Dolores Umbridge eine staatliche „Gross­inquisitorin“ [sic!] (Rowling 2003: 361) vorgesetzt. Diese kündigt an, den „Fortschritt um des Fortschritts willen“ zu beenden, da die „erprobten und bewährten Traditionen nicht des Herumstümperns [bedürfen]“ und somit eine „Ära der Offenheit, der Effizienz und der Verantwortlichkeit“ einzuläuten (Rowling 2003: 251ff.). Ihr Ziel will sie dadurch erreichen, dass sie die Unterrichte der einzelnen Lehrenden inspiziert und den nicht genehmen oder linientreuen ein Berufsverbot erteilt. Auch Schüler, die eine Zeitung lesen, welche nicht regierungskonform berichtet, würden der Schule verwiesen werden. Dies setzt sie durch Erlässe und mithilfe eines Heeres von Spitzeln durch, welche ihre Mitschüler ausspionieren und denunzieren. Die nicht-konformern Schüler sind gezwungen, die Teile des Schulunterrichts, die vom Zaubereiministerium als gefährlich angesehen werden, im Geheimen abzuhalten. In Hogwarts ist zu diesem Zeitpunkt also nicht mehr die Rede von freier Lehre, sondern die Schule befindet sich eher im Zustand eines Polizeistaates. Im Vergleich zu diesem Kinderbuch erscheinen die Anliegen der Protestierenden des „March for Science“ also beinahe lapidar.

Freund, W. (2012): Warum Benjamin Blümchen der erste Grüne war. In: Die Welt. 19.11.2012. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/ article111260075/Warum-BenjaminBluemchen-der-erste-Gruene-war.html [Zugriff: 08.05.2017]. Kraushaar, W. (2011): Protest der Privilegierten? Oder: Was ist wirklich neu an den Demonstrationen gegen >>Stuttgart 21<<? In: Mittelweg 36 3/2011. S. 5-22. Priester, K. (2007): Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Rowling, J. K. (2003): Harry Potter und der Orden des Phönix. Hamburg: Carlsen Verlag. Der König der Löwen. Regie: Roger Allers, Rob Minkoff. Drehbuch: Irene Mecchi et al. USA: Walt-Disney-Studios, 1994. Leseempfehlung Emde, O. et al. (Hrsg.) (2016): Von „Bibi Blocksberg“ bis „TKKG“. Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Haben wir in unserer Kindheit tatsächlich für das Leben gelernt? Offenbar schon, denn Themen wie Wutbürger, Populismus und die Freiheit von Bildung und Forschung, die damals wie heute politische und gesellschaftliche Relevanz haben, begleiten uns seit Kindertagen. Wir kamen mit solchen Geschichten früher in Kontakt und haben gelernt, andere Perspektiven leichter einzunehmen. Im alltäglichen Leben erinnern wir uns zwar nicht immer an die Helden unserer Kindheit, aber letztlich begleiten sie uns in unserem politischen Denken. Manchmal muss einfach etwas Zeit vergehen, um ihren Einfluss wertzuschätzen. Eigentlich bleibt jetzt nur noch eins zu tun: Die alten Kassetten, Filme und Bücher wieder herauszukramen und uns auf die Zukunft vorzubereiten. 47

philou.


ARTIKEL

WIE LANGE DAUERT EIN MOMENT? V ER SU C H Ü B E R E IN E M U SI K A L I SCH E M E SS U N G D E R ZE I T

VON

YANNIC HOFFMANN UND NILS HONKOMP

(Philosophie & Soziologie; Politikwissenschaft)

„Wie aber kann ich das wissen, wenn ich doch nicht weiß, was Zeit ist? oder weiß ich vielleicht bloß nicht, wie ich das, was ich weiß, aussprechen soll?“

(Augustinus 1982: 323)

Wir sprechen ständig von Zeit, obwohl wir eigentlich nur erahnen können, was es heißt, bewusst Zeit zu erleben. Man denke nur an Sprichwörter wie „Die Zeit heilt alle Wunden“, „Alles zu seiner Zeit“ oder auch „Auf Zeit spielen“. Es ist leicht erkennbar, dass wir diese Metaphern brauchen, um den anscheinend nicht eindeutig fixierbaren und objektlosen Zustand des Zeit-Vergehens sprachlich zu erfassen. Die sprachliche Analyse des Phänomens Zeit soll jedoch nicht das Thema dieses Textes sein. Sowohl Fragen über einen möglichen Anfang als auch ein Ende der Zeit bieten sogar noch gegenwärtig ein enormes Forschungs- und Spekulationspotenzial für Naturwissenschaftler, Philosophen, Theologen et cetera. Einen Überblick über die Geschichte der Zeit oder die verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen zu geben, wäre zwar sehr interessant, aber wohl viel zu umfangreich für unser jetziges Anliegen. Vielmehr wollen wir uns auf das Phänomen des Hörens konzentrieren, um die objektive Grenze von sinnlicher Zeitwahrnehmung zu markieren und in diesem Zusammenhang subjektive Zeitwahrnehmung erklärbar zu machen. Zu Beginn wollen wir uns zunächst mit den Grundlagen des Zeiterlebens und des zeitlichen Erlebens, also dem Phänomen der Zeit selbst, auseinandersetzen. Wir werden uns dementsprechend im Folgenden um einen philosophischen Einblick in das Thema Zeit bemühen. Durch diesen Einblick wird erkennbar, dass eine enorme Ähnlichkeit mit dem Thema des SUBJEKTIVE UND OBJEKTIVE ZEIT Musikerlebens vorliegt. Kulturübergreifend beschäftigt sich Subjektive oder psychologische Zeit auch fast jede Art von Religion, Mystizismus oder anderer spi- bedeutet, dass einzelne Menschen aus der ritueller Bewegung mit Zeit und hat eigenartige Auffassungen eigenen Perspektive die Unterteilung von von vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger Zeit. In den Ereignissen in die Kategorien „vergangen“, „gegenwärtig“ und „zukünftig“ Offenbarungsreligionen ist der Anfang der Zeit meistens durch vornehmen. Hingegen wird der objektive den Schöpfungsmythos an die Erschaffung der Welt und das Zeitbegriff häufig in physikalischen Ende der Zeit an Jenseitsvorstellungen geknüpft. Dazwischen Theorien verwendet und ist relational. befinden wir uns, genauer: Jede von uns vollzogene Entschei- Daher werden die Ereignisse unabhängig dung oder Handlung, die wir bewusst als Kontinuum – also von Individuen in die Kategorien „früher“, lineares zeitliches Nacheinander – wahrnehmen. „gleichzeitig“ und „später“ gegliedert. 48


ZEIT & KULTUR

DENN WAS IST ZEIT?

WIE WIR ZEIT WAHRNEHMEN

Augustinus von Hippo auch bekannt als Aurelius Augustinus, ein römischer Philosoph und einer der vier lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike, entwickelte eine Theorie der Zeit, die in Analogie zu gegenwärtigen Vorstellungen von subjektiver Zeit gesehen werden kann. Das in den Bekenntnissen vorgefundene göttliche Pathos ist einerseits auffällig, aber andererseits für den bereits markierten historischen Kontext nicht ungewöhnlich. Wir können also festhalten: Sein Ausgangspunkt ist „Gott und die Schöpfung“. In Augustinus' Gedanken über Zeit wird deutlich, dass er Zeitlichkeit als etwas der Ewigkeit Entgegengesetztes versteht (vgl. Augustinus 1982: 312). Ewigkeit kann in diesem Zusammenhang wie ein nie vergangener Augenblick charakterisiert werden. Zeitliche Wahrnehmung ist für ihn nur mit Bezug zur Gegenwart denkbar. Da Augustinus sich im Verlauf seiner Überlegungen öfter die Frage stellt, inwiefern es überhaupt möglich ist, von etwas zu sprechen, dass entweder nicht mehr oder noch nicht existiert, offenbart er dadurch kurzerhand eine seiner Kernthesen: Gegenwart ist ein ambivalenter Modus des Seins – ein paradox anmutender Zustand; anscheinend ist es nur möglich, Zeit in der Gegenwart zu denken, aber gleichzeitig würde die konsequente Aufteilung der kleinsten denkbaren Zeiteinheit (Augenblick) dazu führen, dass es gar keine Gegenwart mehr geben könnte. Augustinus schreibt:

Die erste Bedingung für abstrakte Zeitwahrnehmung sei die menschliche Fähigkeit zur Introspektion (Selbstbeobachtung). Ohne sie könne einerseits Vergangenes nicht vom Gegenwärtigen unterscheiden werden und unsere Handlungen wären wohl so affektgesteuert wie die von Tieren. Andererseits hätte jeder einzelne Mensch auch keine Möglichkeit, gewisse Erfahrungswerte auf die Zukunft zu übertragen, da es ihnen an entsprechender Vorstellungskraft fehlen würde. (vgl. Augustinus 1982: 316f.) Aber was nehmen wir eigentlich wahr? Den Ausführungen Augustinus' folgend, kann weder Vergangenheit noch Zukunft außerhalb unseres Geistes gedacht werden. Allerdings unterscheidet er drei Gegenwarten voneinander: Die „Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.“ (Augustinus 1982: 318) Die Anschauung ist wohl die einprägsamste und konkreteste Form der zeitlichen Wahrnehmung, da sie augenblicklich auf uns einwirkt, wir sie mental verarbeiten und unser Handeln auf sie anpassen. Wenn aber eine Erinnerung stattfindet, greifen wir nur mittelbar auf die Vergangenheit zurück, da die unmittelbar wahrnehmbare Gegenwart schon vergangen ist. Betrachteten wir beispielsweise einen fallenden Gegenstand wie einen Apfel, dann fällt er während des Akts der Erinnerung real kein zweites Mal, sondern der Geist rekonstruiert lediglich diese Erfahrung. Die Beschreibung der Erwartung (des Zukünftigen) funktioniert in ähnlicher Weise (vgl. Augustinus 1982: 317). Ein Beispiel: Es ziehen Wolken auf, dann regnet es. Mein Verstand erkennt die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung augenblicklich, da er vergleichbare Ereignisse schon oft wahrgenommen hat und stellt mir diesen Erfahrungswert zur Verfügung. Das heißt nicht, dass die Erwartung gegenwärtig existiert oder zukünftig

„Könnte man sich einen Zeitabschnitt denken, der in keine auch noch so winzige Augenblicksteilchen zerlegt werden könnte, so würde er allein es sein, den man gegenwärtig nennen könnte. Doch der fliegt so reißend schnell aus der Zukunft hinüber in die Vergangenheit, daß er sich nicht zur Dauer ausdehnen kann. Denn wäre da eine Ausdehnung, müßte sie wiederum in Vergangenheit und Zukunft geteilt werden. Für die Gegenwart aber bliebe kein Raum.“  (Augustinus 1982: 314).

49

philou.


eintreten muss. Es geht dabei weder um ein Urteil über die inhaltliche Korrektheit der drei Formen noch um scharfe Definitionen im genuin philosophischen Sinne, sondern um die gleichzeitig stattfindenden verschiedenen geistigen Operationen, die der Mensch intuitiv in und mit der Zeit ausführt. Im Folgenden wollen wir daher die oberen Erläuterungen zusammenfassend als Triade der geistigen Zeitlichkeit bezeichnen. Augustinus schreibt: „Nur so, daß der Geist, in dem dies vorgeht, ein Dreifaches tut. Er erwartet, merkt auf und erinnert sich. Die Erwartung des Zukünftigen geht durch Aufmerken auf das Gegenwärtige hindurch in die Erinnerung an das Vergangene über.“ (Augustinus 1984: 328)

Die Augustinus'sche Triade soll nun in Beziehung zur zeitlichen Messbarkeit einzelner Phänomene gesetzt werden. Darauf aufbauend soll auf die Konstitution musikalischen Erlebnissen verwiesen werden, um die Grenzen des Wahrnehmbaren anhand des kleinstmöglichen sinnvoll verstehbaren Abstandes zwischen einzelnen Noten anzunähern. Augustinus betitelt die Zeitmessung als „Man mißt Zeit im Vorübergehen“ (Augustinus 1982: 315). Demnach müssen Menschen lediglich ein Anfang und Ende eines zeitlich ausgedehnten Vorkommnisses verorten können, um dieses als Einheit wahrzunehmen. (vgl. ebd.) Analog dazu verhält sich die Wahrnehmung musikalischer Phänomene: „Denn wir messen den Zwischenraum von einem Anbeginn bis zu einem Ende: Daher kann man einen Ton, der noch nicht verhallt ist, auch nicht messen und sagen, wie lang oder kurz er währe, sagen, er sei einem andern gleich oder währe doppelt so lang als er, oder wie es sonst sein mag.“  (Augustinus 1984: 326)

WIE WIR MUSIK WAHRNEHMEN Für die weiterführenden Überlegen sind nun folgende Fragen von zentraler Bedeutung: Welche Eigenschaft müssen musikalische Phänomene (Töne oder Rhythmen) haben, damit wir sie als Einheit wahrnehmen und folglich verstehen können? Wann können wir sie nicht mehr sinnvoll einordnen? Und welche Zeiträume (Einheiten) stehen uns zur Verfügung, um vorübergehende Zeit zu messen? Wo sind die Grenzen des sinnvoll Wahrnehmbaren? Und darauf aufbauend: Wie lange dauert ein sinnvoll interpretierbarer Augenblick? Wir wollen uns diesen Fragen nähern, indem wir die Grenzen der menschlichen Musikalität markieren und der Konstitution sinnvoll wahrnehmbarer musikalischer Werke nachgehen. RANGE OF USEFUL TEMPOS

Beats/minute

Interonset Interval (ms)

30 2000 42 1414 60 1000 80 700 120 500 168 350 240 250

Tempo Comment Too slow to be useful Very slow Moderately slow Moderate Moderately fast Very fast Too fast to be useful

TAB. 1: Range of Useful Tempos (vgl. Westergaard 1975)

50


ZEIT & KULTUR

Tabelle 1 basiert auf Westergaards Illustrationen des Spektrums sinnvoller Tempo-Strukturen aus seinem musiktheoretischen Werk „An Introduction to Tonal Theory“, welche skaliert sind in: „zu langsam, um sinnvoll zu sein“, „sehr langsam“, „mittelmäßig langsam“, „mittelmäßig“, „mittelmäßig schnell“, „sehr schnell“ und „zu schnell, um sinnvoll zu sein“ (Westergaard 1975: 274). Beats per minute repräsentiert dabei die Anzahl der gespielten musikalischen INTERONSET-INTERVALL Das Interonset-Intervall bezeichnet Einheiten pro Minute, während das „Interonset-Intervall” die Zeit die Dauer zwischen einzelnen zwischen einzelnen rhythmischen Stimuli bezeichnet. rhythmischen Einheiten. Frère Jaques

Wir möchten zunächst das französische Kinderlied „Frère Jacques“ als Beispiel für eine rhythmische Struktur anbringen, wobei die einzelnen Notenwerte des Stückes jeweils ein Viertel betragen. Bachs Goldberg-Variationen dienen hier als weiterführendes Beispiel für eine rhythmische Struktur, bei der die Notenwerte der jeweiligen Noten in Sechzehntel unterteilt ist. Entscheidend ist hier, dass die Sechzehntelnoten bei Bach ein kleineres Interonset-Intervall, als die Viertelnoten bei Frère Jacques haben. Es werden hier vier gruppierte Sechzehntelnoten in Viertel-Impulsen nacheinander gespielt.

Bach, Goldberg Variations

Thaddeus L. Bolten hat in seinem Werk „Rhythmus“ dargelegt, dass das schnellste Interonset-Intervall, was durch Menschen noch als sinnvoll gruppierte Rhythmen interpretiert werden kann, bei ca. 100 Millisekunden, der sogenannten Ordnungsschwelle, liegt (vgl. Bolton 1894: 216). Dieser Aspekt ist FUSIONS- UND ORDNUNGSSCHWELLE Die Fusionsschwelle bezeichnet den deshalb so wertvoll, weil durch unsere Fähigkeit, einzelne Rhythmen Moment, ab dem zwei Ereignisse als als einen in einen Kontext eingebundenen Rhythmus wahrzunehmen, getrennt erkannt werden. Im Gegendiese einzelnen Rhythmen erst an Bedeutung gewinnen. Analog satz dazu bezeichnet die Ordnungsverhält es sich mit unserer Zeitwahrnehmung: Kleinere Zeiteinheiten schwelle den Moment, ab dem die Reihenfolge zweier Reize unterschie(Momente) verleihen der gesamten wahrgenommenen Lebensspanne den werden kann. Bedeutung. Weiterhin könnte man behaupten, dass ein als sinnvoll wahrgenommener (also interpretierbarer) Moment ebenfalls bei 100 Millisekunden liegt. Dies kann als die allgemein anerkannte Schwelle bedeutungsvollen Hörens angesehen werden (Parncutt 1994: 409–464). Innerhalb des Artikels von Parncutt wird zudem unterschieden zwischen „Rhythmus Wahrnehmung“ und „interne Uhr“. Diese Unterscheidung wird an folgendem Beispiel deutlich gemacht: Als Rezipient einer Musik-Darstellung, beispielsweise als Teilnehmer eines klassischen Konzerts, erleben wir als Publikum primär im Modus der Sechzehntelnoten bezüglich unserer Rhythmus-Wahrnehmung. Aber es sind die darstellenden Musiker, welche die gespielten Sechzehntelnoten im Modus der Viertelnoten fühlen, welches ein lang51

philou.


sameres Interonset-Intervall aufweist. Es sollte dargelegt werden, dass Menschen eine unterschiedliche subjektive Wahrnehmung desselben Ereignisses haben, ihre interne Uhr also differenzierte Geschwindigkeiten aufweist. Die Frage lautet hier: Bei welcher Geschwindigkeit kann also unsere interne Uhr nicht mehr verstehen, was musikalisch vor sich geht? Bei jeder Tonfolge, bei der über 240 beats per minute gespielt werden, kann unser Gehirn nicht mehr unterscheiden, ob die gespielten Elemente kürzer oder schneller werden (s. Tabelle 1). Musik hört sich bei dieser Geschwindigkeit so an, als würden die Noten verwischen, als dass sie einen zusammenhängenden rhythmischen Sinn ergeben würden. In einer Zusammenstellung von Noten bei einem Interonset-Intervall von 50 Millisekunden oder schneller ist die sogenannte Fusionsschwelle erreicht. Wir sind überhaupt nicht mehr in der Lage, Rhythmen wahrzunehmen, wir erleben solche Notenfolgen als eine Note auf konstanter Tonhöhe, die sich bei noch schneller werdender Geschwindigkeit entsprechend erhöht (s.u. Abbildung 1). Je größer die Anzahl der Millisekunden, desto höher sind die wahrgenommene Tonhöhe. 50 Millisekunden ist somit die Schwelle, bevor hörbar Wahrgenommenes in eine ununterscheidbare steigende Tonhöhe transzendiert. Die Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung wären damit abgesteckt.

WF (%)

ICI (ms)

SYNTHESE Wir können also zusammenfassend konstatieren, dass der Verstand eines jeden Individuums zeitliche Wahrnehmung erst ermöglicht. Dies ist einerseits durch die initial angeführte Triade der geistigen Zeitlichkeit und die zuletzt angebrachten Grenzen sinnvollen Wahrnehmens bedingt. Die Zeitwahrnehmung hat, wie durch die obige Skizze anhand der Abstände zwischen Noten illustriert, eine Minimalgrenze. Einerseits kann erst dann in einen sinnvollen Anfang und ein sinnvolles Ende differenziert werden, sofern dieser Abstand 100 Millisekunden nicht unterschreitet. Hingegen können wir bei 50 Millisekunden gar keine Unterscheidung bezüglich der Dauer eines Moments mehr machen. Die Grenze ist absolut oder auch objektiv. Andererseits verdeutlichen gleichzeitig verschiedene Interonset-Intervalle von Musikern und Rezipienten, dass subjektive Zeitwahrnehmung sich trotz denselben musikalischen Ereignissen voneinander unterscheiden kann. Die Wahrnehmung von Notenfolgen ist nur ein Beispiel und speist sich primär aus dem Gehör. Da das Gehirn die Realität aus verschiedenen Sinneswahrnehmungen konstruiert, kann dem folgend im Zusammenspiel aller Sinne die subjektive Zeitwahrnehmung variieren, nicht aber die oben genannte, objektive Minimalgrenze. In diesem Modus wird Zeit wahrgenommen, womit die anfänglich aufgestellte Frage nach der subjektiven und objektiven Zeitwahrnehmung präzise beantwortet wäre. Augustinus, A. (1982): Bekenntnisse. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Parncutt, R. (1994): A Perceptual Model of Pulse Salience and Metrical Accent in Musical Rhythms. Music Perception. 11. Jg. 1994/4. S. 409–464. Ungan, P.; Yagcioglu, S. (2014): Significant variations in Weber fraction for changes in inter-onset interval of a click train over the range of intervals between 5 and 300 ms. In: Frontiers in Psychology. 5. Jg 2014/1453. S. 1–9.

click rate (Hz) ABB. 1: Illustration der Wahrnehmung eines Tones bei steigender

Wiederholungsrate seines Auftretens (Ungan/ Yagcioglu 2014)

52

Westergaard, P. (1975): An Introduction to Tonal Theory. Norton: Scranton, Pennsylvania. Bolton, T. L. (1894): Rhythm. In: The American Journal of Psychology. 6. Jg. 1894/2. S. 145–238.


ZEIT & KULTUR

KOMMENTAR

„WAS WÄRE, WENN...?“ D AS S PI E L M I T D E R ZE I T

Was wäre, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte? Was wäre, wenn wir uns nie begegnet wären? Was wäre, wenn ich versagen würde?

VON

SOFIA ELEFTHERIADI-ZACHARAKI (Lehramt Germanistik/ Anglistik)

Als Menschen verfallen wir immer wieder dem Hang, erlebte Ereignisse – mögen sie auch weit in der Vergangenheit zurück liegen – im Kopf Revue passieren zu lassen und dabei gewisse Einzelheiten zu verändern. Seien es Handlungen, die getätigt wurden oder auch nicht. Worte, die gesagt wurden oder verschwiegen wurden. Situationen, in denen man genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war oder diesen nur knapp verfehlt hat. Getroffene Entscheidungen werden hinterfragt, unangenehme Situationen werden reflektiert. Über Zufall und Schicksal wird philosophiert. Dieses Phänomen wird von Psychologen auch als kontrafaktisches Denken bezeichnet. Es kann als Gedankengang verstanden werden, der vergangene oder anstehende Ereignisse durchspielt, abwandelt und sich fiktive Szenarien dazu ausmalt. Letztendlich zerbrechen wir uns den Kopf über Dinge, die eben nicht geschehen sind und über Entscheidungen, Handlungen, Worte, auf die wir schon lange keinen Einfluss mehr nehmen können oder deren Wahrscheinlichkeit, dass sie auftreten, extrem gering ist. Trotzdem ertappen wir uns immer und immer wieder beim Grübeln über alternative Szenarien – überwiegend unbewusst und meist nicht während brenzliger Situationen, sondern eher bevor diese eingetroffen sind oder nachdem sie stattgefunden haben. Quasi dann, wenn wir noch nichts bzw. nichts mehr an der Situation verändern können. Aber woher kommt diese Faszination? Wieso reizt es den Menschen, mit dem Verlauf der Zeit zu spielen und die Vergangenheit so abzuwandeln, dass sich die Gegenwart und Zukunft maßgeblich verändern? Warum denkt sich der Mensch Szenarien aus, wie die Welt zwar nicht ist, aber doch sein könnte? Was ist der Reiz des Fiktiven, des Alternativen? 53

philou.


Die nächstliegende Erklärung dafür wäre, dass kontrafaktisches Denken eine Flucht an einen besseren Ort bietet. Einen Ort, an dem man immer die richtigen Entscheidungen trifft, wo man diese Person sein kann, die man schon immer sein wollte, wo sozusagen alles möglich ist. Diese Art des kontrafaktischen Denkens kommt dem Fantasieren und Träumen gleich, denn die Vorstellungskraft ist unerschöpflich. Neben dieser Erklärung, bestätigen Psychologen, dass „Was wäre, wenn…“-Fragen als persönlicher Erkenntnisgewinn dienen können. Die Auseinandersetzung mit Hypothesen dieser Art kann zum einen helfen, mit dem Vergangenen abzuschließen und zum anderen für zukünftiges Handeln behilflich sein. Das Abwandeln von erlebten Szenarien kann auf zwei Weisen erfolgen: Es kann beispielsweise über besser verlaufende Alternativsituationen, aber auch schlimmer verlaufende Szenarien spekuliert werden. Dementsprechend können die beiden Gedankenvorgänge unterschiedliche Gefühle oder Reaktionen hervorrufen. Während das Ersinnen von positiveren Verläufen Befangenheit und Schuldgefühle hervorrufen kann, sorgt das Nachdenken über negativere Verläufe für Erleichterung. Kontrafaktisches Denken ist also nicht nur ein kognitives sondern auch ein emotionales Phänomen. Diese Emotionen können bei Wiederholung eines erlebten Szenarios belehrend wirken. Hätte es in der Vergangenheit beispielsweise eine Situation gegeben, bei der man früher hätte handeln sollen, es aber nicht gemacht hat und sich im Nachhinein mit der Frage „Was wäre, wenn ich nur früher darauf reagiert hätte?“, plagt, würde man bei einer vergleichbaren Situation in der Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit früher handeln. In der Regel sind es im Alltag Banalitäten, die zu alternativen Gedankengängen verleiten. Meistens bleibt die Beschaffenheit unserer alltäglichen Lebenswelt dabei erhalten und nur einzelne Ereignisverläufe werden umgeschrieben, doch letztendlich haben „Was wäre, wenn…?“-Szenarien keine Grenzen, alles ist vorstellbar. 54

Dabei ist diese Art des Fantasierens nicht nur ein alltägliches Phänomen, sondern auch in verschiedenen Wissenschaften eine Anregung für Gedankenexperimente. So werden in den Naturwissenschaften durch „Was wäre, wenn…?“-Szenarien auf theoretische Weise Fragen zu lösen versucht, die in der Praxis nur schwer und meistens mit kostspieligem Aufwand umzusetzen wären. Erst 2014 veröffentlichte der Physiker Randall Munroe sein Buch „What if ? Was wäre wenn?“, in dem er anhand Strichmännchen und exakter Berechnungen bizarre und absurde hypothetische Fragen beantwortet. Von der Wahrscheinlichkeit, seinen Seelenverwandten unter 7,47 Milliarden Menschen zu finden, bis hin zu der Frage, ob sich der Mond verfärben würde, wenn alle Menschen auf der Erde zeitgleich einen Laserpointer auf ihn richten würden. Zudem fasziniert schon seit mehreren Jahrzehnten alternative Geschichtsschreibung Historiker, Sozialwissenschaftler und Philosophen, die mit hypothetischen Fragen abgewandelte Verläufe der Weltgeschichte, sogenannte kontrafaktische Geschichte, erforschen. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wächst die Anzahl an Alternativgeschichtsromanen stetig an, denn unzählige Autoren sind dem Reiz verfallen, ihrem Hang zur Spekulation nachzugehen. Schließlich ist die Frage des „Was wäre, wenn…?“ die Grundvoraussetzung für Fiktion. Es ist beeindruckend zu sehen, welche Parallelen es zwischen dem Schreibprozess eines Autors und der universellen Kunst, das Leben durch „Was wäre, wenn…?“-Möglichkeiten abzuwägen, gibt. Eines der bekanntesten Beispiele dystopischer Alternativweltgeschichten ist Philip K. Dicks Roman „Das Orakel vom Berge“, besser bekannt unter seinem Originaltitel „The Man in the High Castle“, zu dem es seit 2015 auch eine gleichnamige Fernsehserie gibt. Der Roman handelt von einem alternativen Verlauf des 2. Weltkriegs, bei dem das Dritte Reich und Japan gesiegt haben und die USA in zwei Zonen unter sich


ZEIT & KULTUR

aufgeteilt haben. Der Autor Dick schlängelt sich hier an der Weltgeschichte entlang und führt anhand von Rückblenden der Figuren und dem fiktiven Buch „Die Plage der Heuschrecke“ auf, wie anders sich die Geschichte hätte entwickeln können, wenn nur ein Teil der Ereignisse einen anderen Verlauf genommen hätte. Alternativweltgeschichte hört nicht auf, Menschen zu faszinieren. Das erklärt, weshalb Bücher, Filme und Serien mit dieser Thematik schon seit jeher ein großes Publikum mitreißen. Kontrafaktisches Denken ist ein dem Menschen verinnerlichtes Spiel mit der Zeit. Es ist nahezu unmöglich, nicht mit seinen Gedanken in Alternativszenarien abzuschweifen. Doch ist es nicht selbstironisch, dass die Beschäftigung mit der Zeit, dass das Spekulieren über Vergangenheit und Zukunft, kostbare Zeit der Gegenwart raubt? Das Nachdenken über „Was wäre, wenn…?“-Szenarien mag für die verschiedenen Wissenschaften und insbesondere für die Literaturlandschaft von enormer Bedeutung sein und auch für den Seelenfrieden kann das Abwägen von Möglichkeiten von Nutzen sein. Doch ist das ewige Kopfzerbrechen wirklich nötig? Man lebt sein Leben schließlich nicht nach Plan und kann gewisse Ereignisse nicht verhindern, egal wie lange und exzessiv man sich darüber Gedanken macht.

LITERATUREMPFEHLUNGEN De Brigard, F. (2016): Kontrafaktisches Denken. Indem wir uns ausmalen, wie die Vergangenheit anders hätte verlaufen können, planen wir bereits die Zukunft. In: Spektrum der Wissenschaft: Gehirn & Geist. 2016/04. S. 18–22. Dick, P. K. (1962): Das Orakel vom Berge. Frankfurt am Main: Fischer. 2017. Munroe, R. (2014): What if ? Serious Scientific Answers to Absurd Hypothetical Questions. London: John Murray.

Was wäre also, wenn wir weniger in „was wäre, wenn…?“ denken?

55

philou.


JANUSKOPF

CHRONOS Mit der steigenden Beschleunigung von Transport-, Produktions- und Kommunikationsgeschwindigkeiten kommen auch zunehmend die Rufe nach Entschleunigung auf. Doch so einfach ist es nicht. Es gibt kein Zurück mehr hinter die Entwicklungen der Modernisierung. Unsere gegenwärtigen Zeitstrukturen und deren Beschleunigung sind integraler Bestandteil unserer modernen Gesellschaft, die man nicht einfach mal so verlangsamen kann. Wir brauchen diese Geschwindigkeit! Nur so können wir uns das dringend benötigte Mehr an Zeit erkaufen. Bevor die Menschen durch die Messung von Zeit über sie verfügen und sich terminlich exakt aufeinander abstimmen konnten, unterlagen sie dem vergleichsweise diffusen Rhythmus der Jahreszeiten und des Tagesverlaufs. Daher ist die chronologische Zeit, in Form von z.B. Uhren und Kalendern, eine der wohl wichtigsten Errungenschaften der Menschheit und Grundbaustein moderner Gesellschaften. Ohne sie würden wir vor allem in der heutigen globalisierten Welt nicht miteinander, sondern nur nebeneinander leben. Durch die Vereinheitlichung der Zeitwahrnehmungen ermöglicht sie erst die weitreichende Synchronisation und Koordination mit anderen Menschen sowie eine effizientere Organisation von Arbeitsteilung. Die arbeitsteilige Kooperation führt wiederum zu Zeitersparnissen im Produktionsprozess, die als Zugewinn an Freizeit letztendlich wieder bei den Menschen landen. Dieser Zugewinn reicht jedoch bei weitem nicht aus. Die Welt kostet Zeit und mit ihrem unüberblickbaren Angebot an Möglichkeiten fordert sie uns mehr Zeit ab, als wir in unserer begrenzten Lebenszeit wohl jemals haben werden. Es gibt immer mehr Optionen, als wir ergreifen können. Und genau hier gibt uns die Beschleunigung verschiedenster Prozesse mehr Zeit. Das Online-Banking im Gegensatz zum Aufsuchen von Bankschaltern, die Nutzung von Smartphones statt dem Gang zur Telefonzelle oder die sekundenschnelle Recherche über Internet verglichen mit meist stundenlangen Aufenthalten in Bibliotheken, sind nur wenige Beispiele für die unverzichtbaren Zeitersparnisse, die die Beschleunigung und Verdichtung von Zeit eingebracht haben. Wir gewinnen Zeit, indem wir sie woanders sparen. Mit dem Umstand, immer mehr Möglichkeiten gleichzeitig ergreifen zu können, geht neben der Freiheit auch Verantwortung einher. Wir müssen unsere Zeit und die Möglichkeiten nutzen. Es mag verständlich sein, dass diese Situation viele Menschen überfordert, aber trotzdem ist Entschleunigung nicht die Antwort auf die Überforderung mit der Beschleunigung. Wenn wir zeitsparende Telekom-

munikation nutzen wollen, müssen wir auch mit der Kehrseite der permanenten Erreichbarkeit leben lernen! Wenn einzelne Menschen entschleunigend eine Phase „Digital Detox“ hinlegen, wird das nichts an der strukturellen Beschleunigung unserer Kommunikation ändern. Dementsprechend sind sämtliche weiteren Entschleunigungspraktiken, wie Yoga, Meditation, Urban Gardening oder das „hyggelige“ Ferienhaus nichts weiter als resignierende Rückzüge ins Private, die die Hoffnung nähren, in der Überbetonung des Hierund-Jetzt ein authentischeres Erleben der Gegenwart haben zu können, während man sämtliche Vergangenheitsund Zukunftssorgen schlichtweg ausblendet. In solcher lokalen Zurückgezogenheit steckt keinerlei Transformationspotenzial hinsichtlich des Ausgangsproblems unserer Anpassung an die gesamtgesellschaftlichen Beschleunigungstendenzen. Vielmehr müssen wir lernen, mit der zweischneidigen Natur der Beschleunigung zu leben und die sich eröffnenden Möglichkeiten zu unseren Gunsten zu nutzen, denn es gibt genügend Probleme, die möglichst schnell angegangen werden müssen. Und nach wie vor viel zu wenig Zeit. Vor allem hinsichtlich der Deadline, die der Klimawandel mit sich bringt, rennt uns die Zeit davon: Mittlerweile schätzt z.B. auch ein Stephen Hawking die der Menschheit verbleibende Zeit auf der Erde auf bloß hundert Jahre ein. Unsere Zeit schwindet und wir müssen schnell handeln. Glücklicherweise besteht angesichts unserer heutigen Innovationsgeschwindigkeit noch immer die Hoffnung darauf, dass wir uns durch neue Technologien mehr Zeit erkaufen können. Welche Fortschritte werden dafür folgen müssen? Umweltfreundliche Innovationen, die das globale Klima stabilisieren? Fortschritte in der Raumfahrt, die uns die Flucht auf den Mars ermöglichen? Oder medizinische Durchbrüche, die uns zur Unsterblichkeit verhelfen? Wie lange werden diese Entwicklungen noch brauchen und werden sie rechtzeitig Lösungen auf unsere Probleme liefern können? Wann werden wir die uns scheinbar entgleitende Beschleunigung wieder einholen? Alles eine Frage der Zeit.

CHRONOS MEINT DIE ZEIT IM QUANTITATIVEN SINNE, DAS HEISST ZÄHLBAR IN SEKUNDEN, MINUTEN, STUNDEN UND JAHREN.

56


VON THOMAS RUDDIGKEIT

KAIROS Unsere Welt wird mit jedem Jahrzehnt durch die fortschreitende technische Entwicklung immer schneller und schneller. Die vermeintlichen Zeitersparnisse schlagen zunehmend in ihr Gegenteil um: Gefangen in permanenter Erreichbarkeit hetzen wir als Sklaven der Zeit von Deadline zu Deadline. Je schneller wir dabei rennen, umso mehr verlieren wir unsere Richtung. Die Hochtaktung unserer Leben beraubt uns der Orientierung, die wir bräuchten, um mit dieser Beschleunigung umzugehen. Wir müssen auch innehalten können und die menschlichen Grenzen der Beschleunigung anerkennen. Wir müssen unsere Zeit wieder besser nutzen lernen. Auch wenn unser Sprachgebrauch oftmals etwas anderes suggeriert, können wir nicht einfach über Zeit verfügen. Zeit ist nicht bloß Geld. Man kann nichts von etwas gewinnen oder verlieren, das man nie besessen hat. Die Zeit gehört niemandem. Sie vergeht einfach. Daher kann sie auch nicht wirklich knapp werden. Nur gemessen an dem, was wir uns vornehmen und voneinander erwarten, entsteht der Eindruck der Zeitknappheit. Wir müssen selbst dafür Sorge tragen, wie wir ohne uns selbst und unsere Mitmenschen zu überfordern, unsere Zeitkapazitäten einteilen, welche Dinge wir dabei priorisieren und welche Werte uns in unserer Lebenszeit wirklich wichtig sind. Doch im Mahlstrom der Beschleunigung werden unsere Leben zunehmend mit Dingen überfrachtet, die alle vorgeben, dringlicher als die anderen zu sein: Die Formulare für irgendein Amt müssen fristgerecht eingereicht werden, während noch eine Abgabe für das Seminar bis nächste Woche zu Ende geschrieben werden muss. Aber wie soll man überhaupt noch Zeit für die Uni finden, wenn man im Nebenjob mal wieder zwei zusätzliche Schichten einspringt, um den so bitter nötigen Urlaub finanzieren zu können? Und wann lässt sich überhaupt noch das Frühstück mit den potenziell schon bald verstorbenen Großeltern einrichten? Angesichts dieser überbordenden Flut an Möglichkeiten löst sich die priorisierende Wirkung von Fristen auf und

wir verlieren den Sinn dafür, was uns wirklich wichtig ist. Die allgegenwärtige Dringlichkeit des zumeist Alltäglichen versperrt uns den Blick darauf, was wir aus einer zeitstabilen Perspektive ohne diese Belastungen wirklich wollen würden. Wir müssen einsehen, dass unsere erlebte Zeit einem eigenen Rhythmus folgt, dessen künstliche Übertaktung man nicht weiter erzwingen kann, ohne die Menschen ihrer Orientierung und des Sinns zu berauben. Das Menschliche widersetzt sich schlichtweg einer immer weiteren Beschleunigung. Je mehr die technische und ökonomische Welt an Fahrt aufnimmt, desto heftiger wird die Spannung zwischen der Zeit der Maschinen und der Zeit der Menschen. Je mehr wir versuchen, uns der technisch-ökonomischen Zeit und ihrer Beschleunigung zu beugen, umso mehr tritt zu Tage, dass man die menschlichsten aller Prozesse zerstört, wenn man sie zu sehr hochtaktet, heruntertaktet oder künstlich befristet. Man kann nicht einfach schneller schlafen, um sich effektiver zu erholen. Menschen lernen nicht schneller und werden nicht schneller erwachsen - vor allem wenn es ihnen verwehrt bleibt, sich die für die dazugehörigen Reflexionsprozesse nötige Zeit nehmen zu können. Speeddating und Tinder beschleunigen zwar die quantitative Anhäufung von Kontakten, doch das Kennenlernen und Vertrauenfassen zu einem anderen Menschen braucht nun mal seine Zeit. Auch demokratische Reflexions- und Entscheidungsprozesse brauchen ihre Zeit. Diskussionen und das Finden eines Kompromisses können nicht beschleunigt werden, ohne dass der Inhalt darunter leiden würde. Wir müssen uns unserer eigenen menschlichen Zeit und ihres eigenen Tempos wieder bewusst werden. Im Rahmen unserer begrenzten Beschleunigungskapazitäten haben wir Erinnerungen an die Vergangenheit, das Erleben der Gegenwart und Erwartungen an die Zukunft. Computer und Maschinen kennen sowas nicht. Genauso wenig kennen sie den Tod, welcher die einzig wahrlich verbindliche Frist für uns darstellt. Ein gelingendes Leben wird in Anerkennung dieser Befristung gelebt, aber nicht in Sklaverei der Termine. Wer nur besinnungslos hastet, lebt nicht besser als einer, der nur trödelt. Beide leben ihr Leben nicht wirklich selbst. Sie lassen es leben. Doch um die für die effektive und selbstbestimmte Zeitnutzung nötige Orientierung wiederfinden zu können, müssen wir unser eigenes Tempo bewahren und entschleunigen. Schließlich kommt es letztendlich darauf an, nicht dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben. Wann wir das einsehen werden, bleibt wohl eine Frage der Zeit.

KAIROS UMFASST DIE QUALITATIVE SEITE DER ZEIT, GEMESSEN IN MOMENTEN – INSBESONDERE DIE RICHTIGEN, GÜNSTIGEN UND PERFEKTEN MOMENTE.

57

philou.


philou.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ – Sokrates

Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University.

Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Aber denk dran, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Denn Wissen selbst ist Macht.

Kontakt http://philou.rwth-aachen.de https://www.facebook.com/philoufs7 info@philou.rwth-aachen.de

In der nächsten Ausgabe hinterfragen wir, was wir wissen können, was wir wissen sollen und was wir wissen wollen.

Mitwirkende Braun, Tobias Lentzen, Nina Dogan, Caner Oschmann, Oliver Eleftheriadi-Z., Sofia Rhiemeier, Mareike Erel, Defne Ruddigkeit, Thomas Fischer, Jenny Terasa, Robert Hilker, Sarah Von Zitzewitz, Vincent Honkomp, Nils Vogelbacher, Annika Klubert, Katrin Winkens, Ann-Kristin Kuschel, Thorben Layout Hilker, Sarah

A U SBL IC K: A U SGA B E 5

Hast Du Lust zu schreiben, wissenschaftlich zu arbeiten und zu publizieren? Dann schreibe doch einen Artikel für uns! Melde Dich unter lektorat@philou.rwth-aachen.de

Illustration S. 56f. Vent, Alexandra

Hauptverantwortlicher Jan Korr Studierendenmagazin Philou. e.V. Robensstraße 65 52070 Aachen

DU WILLST SELBST REDAKTIONELLE LUFT SCHNUPPERN?

Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlichst bei dem AStA, dem Philosophischen Institut, VDI Aachen und allen anderen Mitwirkenden, die Zeit, Rat und Geld zur Verfügung gestellt haben.

Du hast Ideen oder Kritik? Du hast Fragen, Anmerkungen oder Vorschläge? Du möchtest mit uns zusammenarbeiten oder uns kennenlernen?

Diese Ausgabe und die vorigen Ausgaben der philou. können auch online unter philou.rwth-aachen.de eingesehen werden. Die Redaktion behält sich das Recht vor, Artikel redaktionell zu bearbeiten. Eine Abdruckpflicht für eingereichte Beiträge gibt es nicht. Die in der philou. veröffentlichten, namentlich gezeichneten Beiträge geben die Meinungen der Autoren wieder und stellen nicht zwangsläufig die Position der Redaktion dar.

Wir sind immer auf der Suche nach Studierenden aller Fachrichtungen, die bei philou. mitwirken möchten. Egal, ob im Layout, im Lektorat, in der Öffentlichkeitsarbeit oder in der Organisation: Tatkräftige Unterstützung ist zu jeder Zeit willkommen.

Nachdruck und Wiedergabe von Beiträgen aus der philou. sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion erlaubt.

Melde Dich unter info@philou.rwth-aachen.de

58


AN ZEIGE

Erfolgreiche Mitarbeiter sind kein Zufall! Ein Einstellungsprozess ist eine komplexe Angelegenheit, und zwar für beide Parteien. Arbeitgeber suchen nach Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen perfekt in das gesuchte Profil passen, während Arbeitsuchende bestrebt sind eine Tätigkeit zu finden, die ihrer Persönlichkeit entspricht. Doch diese Idealkonstellation zu finden ist eine sehr aufwendige Angelegenheit. Es sei denn, man baut auf die onlinebasierten Services von e-stimate, dem Pionier im Bereich webbasierter Analyse-Tools für das Personalwesen.

Nehmen Sie es persönlich. Ein gutes Betriebsklima ist der Humus, aus dem jeder Erfolg erwächst. Was nützt ein fachlich hochkompetenter Mitarbeiter, wenn er menschlich nicht in eine bestehende Personalstruktur passt? Die Chemie aller Beteiligten muss passen, sonst drohen Disharmonie, unproduktive Konkurrenzkämpfe und in immer mehr Fällen ein Burnout bei einem der Betroffenen. Und das alles nur, weil wichtige soziale Faktoren zu wenig berücksichtigt wurden. Denn heutzutage werden komplexe Aufgaben meist in variierend zusammengesetzten Projekt-Teams gelöst.

Seit 1982 entwickelt und liefert e-stimate Tools für Persönlichkeitsund Teamprofile als Grundlage für alle erdenklichen Analysen im Personalwesen. Dieses Know-how transferierte das Team um den Dänen Jørgen C. Friis in das Medium «World Wide Web» und bietet somit die jahrelang erprobten Tools seit 2000 auch online an. Dank dieser digitalen Expansion können sämtliche Analysen noch präziser, relevanter, schneller und vor allem auch kostengünstiger angeboten werden. Doch aller Technologie zum Trotz: Es gibt einige Faktoren im Bewerbungsprozess, die sich nie verändern werden.

Fördern Sie Persönlichkeiten. Mitarbeiter sind Menschen mit eigenen Zielen und Träumen. Unterstützt man Angestellte auf ihrem individuellen Weg, so steigt in der Regel auch die Loyalität zum Arbeitgeber, von der Motivation ganz zu schweigen. Mit einer gezielten Förderung von Talenten und dem Erschließen schlummernder Potenziale legen Unternehmen den Grundstein für den Erfolg von morgen. Es gilt also, einen gemeinsamen Nenner zu finden, zu fördern – und auch wieder einzufordern. Jetzt müssen Sie nur noch herausfinden, wo die Gemeinsamkeiten sind: www.e-stimate.ch.

Nutzen Sie Ihr Potenzial zum attraktiven Einführungspreis! Überlassen Sie Struktur und Förderung Ihres wichtigsten Kapitals nicht dem Zufall. Profitieren Sie jetzt von 50% Einführungsrabatt bei einem Erstauftrag für e-stimate! Ergründen Sie alle relevanten Informationen zu: • Teamzusammenstellung • Leistungssteigerung • Persönlichkeitsbestimmung Und das alles in einem Produkt. Wissenschaftlich fundiert, einfach und verständlich. Überzeugen Sie sich selbst! Angebotsbestellung unter info@e-stimate.de oder mit diesem Gutschein an die unten stehende Adresse.

e-stimate, c/o e-international GmbH, Filderstraße 45, 70180 Stuttgart info@e-stimate.de / www.e-stimate.de


Flexibel ist einfach. Wenn das Konto zu den BedĂźrfnissen von heute passt. S-POOL. Das Girokonto fĂźr junge Erwachsene. Mit Erlebnisprogramm und S-POOL App.

sparkasse-aachen.de/s-pool


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.