Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 2/ 03 E 12,–
HALOTECH L I C H T F A B R I K Ferdinand-Weyrer-Straße 5 A-6020 Innsbruck T +43 (0) 512 / 26 90 64 F +43 (0) 512 / 26 90 65 E-mail: ht.lichtfabrik@utanet.at Café Restaurant Dengg Innsbruck Foto: Günther R. Wett Architektur: Hanno Vogl-Fernheim, Innsbruck
Verzeichnis
* Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen.
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Inhalt *
Halotech Lichtfabrik
2–3
Pergine: Vom Narrenhaus zum Geisterhaus Ein Nachruf von Florian Kronbichler 80–87 William Guerrieri: 12 Fotografien aus Pergine 88–93
Inhalt
4–5
Freytag&Berndt-Karte
William Engelen: „Turning Point“ (2003) Foto: Jens Ziehe
(Nicht wie weg) Joseph von Westphalen ist dagegen
1/148
6–11
Die Frau, die einen Tag lang berühmt war Georg Diez befragt die Innsbruckerin Elfriede Metz über ihre Zeit bei Winston Churchill 12–19
94/95
Landvermessung No. 1, Sequenz 2 Patriotisches Pflichtprogramm, absolviert von Stefanie Holzer und Walter Klier 96–111 Kipferl, Krapfen, Wunder Anton Holzers kulturoptimistischer Ausflug in die Küchengeschichte 112–121
Grüß Gott in Vomperberg! Michaela Nolte auf der Suche nach Durchleuchtung
20–29
So hoch in den Wolken Neue Gedichte von Hans Aschenwald. Werkstattgespräch im Hause Wagenbach
30–33
Pascal in Telfs Egyd Gstättners Spritzfahrt in die Besamungsanstalt
Skarabæus Pupille Binder Holz
34– 41
Raiffeisen Kunstbrücke
136
M-Preis
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Tirols Architekten und Ingenieurkonsulenten
138
Alpbacher Architekturgespräche 2003, Swarovski Kristallwelten
139
Athesia-Tyrolia Druck
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Lanarepro
141
Circus
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Museion – Museum für moderne und zeitgenössische Kunst Bozen
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„… gerade das, was man sehen will“ William Engelen kartografiert Seele und Welt. Plus: Gedankengänge von Q.S. Serafijn, Friederike Feldmann, Susanne Titz, Ove Lucas, Robert Winkel, Katrien van der Eerden, Clementina Hegewisch, Olga Neuwirth und Birgit Schlieps 42–53 Empfehlungsschreiben Abobestellkarte!
Wie Max Reinhardt in Innsbruck (doch nicht) die Salzburger Festspiele gründen wollte Roman Urbaner hinterfragt eine langlebige Tiroler Kulturlegende 122–133 134 134/135 135
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Wer braucht Neue Musik? Johannes Maria Staud über Schall und Rauch. Ein Interview von Carsten Fastner 56–65 Eine Handvoll Gangesflut. Abgefüllt in Axams Clemens Lindners Drehbuch über Bollywood in Tirol 66–71 Welzenbacher weiterbauen Begehung von Henke/Schreieck und Roland Schöny
72–77
Richard Hoeck: Originalbeilage Nr. 2 Anmerkungen von Karin Pernegger Fußnoten von Peter Gorschlüter
78/79
Rosebud
144/145
Besetzung
146
Impressum
147
Immobilien
Globalisierung und GroĂ&#x;konzerne Kirche und Vaterland
Pazifisten, UmweltschĂźtzern und Kindern
Banausen oder Reaktionär
billig und bekannt
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(Nicht wie weg)
„Am meisten Angst, für provinziell gehalten zu werden, haben die provinziellen Gemüter.“ Joseph von Westphalen polemisiert. Gegen Globalisierung und Großkonzerne sind alle, da kann man sich fast die Widerstandsenergie sparen. Die alten Werte wie Kirche und Vaterland sind längst morsch, man würde sich lächerlich machen, wenn man da noch draufhaut. Politiker beschimpfen gehört so sehr zum guten Ton, dass man mittlerweile lieber an Pazifisten, Umweltschützern und Kindern herumnörgelt, wobei einen umweltschützende Kinder, die alles ausspucken, was nicht Bio ist, wirklich zum Wahnsinn treiben können. Gewisse Irritationen kann man erzeugen, wenn man behauptet, man sei gegen Kultur: Bücher, Bilder – alles überflüssig. Wahrscheinlich aber wird man nach diesem Bekenntnis heute nicht mehr für einen Banausen oder Reaktionär gehalten, sondern für einen schicken und besonders kühnen Künstler. Musik pauschal abzulehnen wirkt immer noch befremdlich, man wird aber erstaunlich viel Zustimmung erfahren, wenn man sagt, man könne das Gezirpe dieser ewigen, superkorrekt historisch getreuen Aufnahmen nicht mehr hören oder man kämpfe für ein Gesetz, das für fünfundzwanzig Jahre das öffentliche Abspielen der verlogen wühlenden Klänge Richard Wagners verbietet. Wer gegen die Musik von Mozart ist, wird sich weniger beliebt machen, bei den Tourismusgegnern in Salzburg aber auch Rückhalt finden. Der Spaß des Provozierens hört auf, wenn man für Sesshaftigkeit plädiert. Nicht weg wollen gilt als unbeweglich. Das ist eine der wenigen Positionen, die heute noch geächtet werden. Wer nicht weg will von da, wo er herkommt, wer einigermaßen glaubhaft ver-
sichert, zu Hause gefalle es ihm ganz gut und Reisen mache auch nicht klüger, der gibt damit keinen Diskussionsbeitrag mehr ab, der gilt als vernagelt. Statistiken, aus denen hervorgeht, dass Leute, die ständig in der Welt herumfahren, durchaus nicht erfahrener sind, werden unter Verschluss gehalten oder gar nicht erst in Auftrag gegeben. Dabei ist es evident, dass viel herumgekommene Leute noch mehr Vorurteile nachplappern als andere, dass sie Städte und Länder verwechseln und die Daheimgebliebenen bei ihrem Heimaturlaub mit besonders langweiligen Geschichten quälen. Zur Strafe sterben sie früher als andere – weniger an tropischen Krankheiten, sondern an den Folgen der ständigen Frustrationsverdrängung. Denn die Unsinnigkeit von Reisen gestehen sie sich ebensowenig ein wie andere Menschen ihre peinlichen Fehlinvestitionen auch. Der Besuch einer Opernpremiere kann auch zu etwas Furchtbarem werden, ist aber schneller überstanden und weniger teuer und anstrengend als Reisen kreuz und quer durch China. Provinziell sein gilt als das Hinterletzte. Diese Haltung ist daher wahrhaft exklusiv. Man darf natürlich keinen Jägerhut mit einem Edelweiß tragen und keine Gamsbockhosenträger, wenn man mutig das Gebirgstal preist, aus dem man kommt. Man sollte auch Pascals Spruch vermeiden, wonach das Unglück der Welt allein daher stamme, dass der Mensch nicht ruhig auf seinem Hintern sitzen bleiben könne. Das ist zwar richtig, aber billig und bekannt. Im Übrigen ist der Verweis auf den in sich ruhenden Buddha gefährlich, weil der in seiner Jugend so lange herum-
Immobilien
wandern musste, bis er einsah, dass eben dies Wandern nichts bringt. Man könnte damit argumentieren, dass Nestflucht zwar natürlich sei, dass aber das Natürliche auch etwas Derbes, Ordinäres habe, einem wahren Weltbürger aber könne ein Schuss Perversion
Wenn es ihnen später im Gefängnis zu eng wird, können sie immer noch bei Nacht und Nebel mit einem guten Plan entkommen. Davonlaufen aber hat so etwas Unwürdiges, Windiges. Am meisten Angst, für provinziell gehalten zu werden, haben die provinziellen Gemüter. Provinziell ist immer eher ein Charakter, weniger ein Ort. Das gräßlichste Provinzkaff hat immer noch einen passablen Waldrand, an dem man die hässlichen Neubauten nicht sieht und ist eher zu ertragen als die Gegenwart eines provinziellen Charakters, den man an seinem ständigen Schimpfen auf die Provinz erkennt, in der nichts los sei und an seinem Schwärmen von fernen Orten, wo man angeblich ganz anders atmen könne. Den einen tut das Scheiden, den andern das Bleiben weh. Die Gegend, aus der man stammt, gilt als eng, selbst wenn es eine Großstadt ist. Kein Münchner, der auf sich hält, will sein Leben lang im engen königlichen München wohnen bleiben. Wenigstens ein paar Jahre weites kaiserliches Wien oder Berlin sollen die Biographie aufwerten. Doch auch die wahren Wiener und Berliner beschimpfen ihre Stadt als Nest und wollen weg. Nach New York natürlich. Mindestens. Eigentlich ist ein Mensch, der nicht zwei Wohnsitze hat, eine arme Wurst. Lebt in London und Mailand, heißt es von einem Designer, der auf sich hält. Und jeder, den sein Geburtsort als engen Alpenländler verrät, sollte sich um mindestens zwei für ihre Weit- und Weltläufigkeit berühmte weitere Wohnsitze bemühen. Lebt im Ötztal sowie in Buenos Aires und Kalkutta. Zieht es Leute, die aus Gebirgsgegenden
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wandern musste, bis er einsah, dass eben dies Wandern nichts bringt. Man könnte damit argumentieren, dass Nestflucht zwar natürlich sei, dass aber das Natürliche auch etwas Derbes, Ordinäres habe, einem wahren Weltbürger aber könne ein Schuss Perversion nicht schaden. Man könnte auch daran erinnern, dass „Nichts wie weg!“ der Ruf der Pubertierenden sei. Zwar ist es ein bisschen gemein, die so oft verunglimpfte Pubertät schlecht zu machen. Aber ein Blick in die Aufzeichnungen Halbwüchsiger oder, da nur noch in Sonderfällen aufgezeichnet wird, ein Belauschen ihrer Unterhaltungen zeigt, dass das Wegwollen von Zuhause immer noch ein pubertäres Dauerthema ist. Hänschen klein empfindet immer noch die Wände der elterlichen Wohnung und die Mauern des Wohnorts als bedrückend und will in die weite Welt hinein. Wenn die Pubertät richtig schön blüht, dann nerven nicht nur die Heimat und das Zuhause. „Welt, wie bist Du enge!“, heißt es dann. Dies ist der Ruf oder Aufschrei oder Seufzer, der sich in Dutzenden von romantischen Texten findet – nicht unklug, weil er besagt, dass man der Enge nirgendwo entrinnen kann. Wozu dann also durch die Welt gondeln und die Tourismusindustrie unterstützen, die die Leichtgläubigen mit Sprüchen von Reisephilosophen ködert: „Der kürzeste Weg zu dir selbst führt um die Welt.“ Wer das glaubt, wird nicht selig. „Nichts wie weg!“ ist auch der Ruf der Diebe. Zwar sollen an dieser Stelle nicht auch noch die armen Kriminellen verächtlich gemacht werden – aber lieber sind sie uns schon, wenn sie nicht so hastig und hündisch verschwinden, sondern ruhig stehen bleiben, sich souverän der hysterisch herbeieilenden Polizei stellen und ihr lächelnd das Diebesgut aushändigen.
Wenn es ihnen später im Gefängnis zu eng wird, können sie immer noch bei Nacht und Nebel mit einem guten Plan entkommen. Davonlaufen aber hat so etwas Unwürdiges, Windiges. Am meisten Angst, für provinziell gehalten zu werden, haben die provinziellen Gemüter. Provinziell ist immer eher ein Charakter, weniger ein Ort. Das grässlichste Provinzkaff hat immer noch einen passablen Waldrand, an dem man die hässlichen Neubauten nicht sieht, und ist eher zu ertragen als die Gegenwart eines provinziellen Charakters, den man an seinem ständigen Schimpfen auf die Provinz erkennt, in der nichts los sei, und an seinem Schwärmen von fernen Orten, wo man angeblich ganz anders atmen könne. Den einen tut das Scheiden, den andern das Bleiben weh. Die Gegend, aus der man stammt, gilt als eng, selbst wenn es eine Großstadt ist. Kein Münchner, der auf sich hält, will sein Leben lang im engen königlichen München wohnen bleiben. Wenigstens ein paar Jahre weites kaiserliches Wien oder Berlin sollen die Biografie aufwerten. Doch auch die wahren Wiener und Berliner beschimpfen ihre Stadt als Nest und wollen weg. Nach New York natürlich. Mindestens. Eigentlich ist ein Mensch, der nicht zwei Wohnsitze hat, eine arme Wurst. Lebt in London und Mailand, heißt es von einem Designer, der auf sich hält. Und jeder, den sein Geburtsort als engen Alpenländler verrät, sollte sich um mindestens zwei für ihre Weit- und Weltläufigkeit berühmte weitere Wohnsitze bemühen. Lebt im Ötztal sowie in Buenos Aires und Kalkutta. Zieht es Leute, die aus Gebirgsgegenden stammen, eher in die Ferne als solche, die in einem schnuckeligen Fischerhäuschen im Angesicht des Meeres aufgewachsen sind und die dann eben von der ewigen
Fernsehen
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Die Nudelsuppe und der Aktienmarkt oder: Der Zorn des Analysten Was haben die chronisch verschnupften Straßen Bangkoks mit den Geldflüssen auf dem Kapitalmarkt gemein und was hat das Ganze wiederum mit dem Wetter beziehungsweise der Wildente von Ibsen zu tun? Inwiefern lassen sich rätselhafte Diagramme von Kursbewegungen mit dem hymnischen Pulsieren eines späten Gedichtes von Hölderlin vergleichen? Welcher Zusammenhang besteht eigentlich zwischen einer Nudelsuppe und dem Wesen der Börse? Ein in Bangkok stationierter indischer Aktienanalyst versucht seinem Verständnis von börsianischen Geheimnissen mit abenteuerlichen Vergleichen eine (un)durchschaubare Form zu geben. Und verliert dabei selbst – die Fassung. Erzählung eines gescheiterten Interviews von Peter Oberdorfer Bangkok. Nachdem der Taxifahrer hilflos und unter Flüchen vom widrigen Verkehrsgetümmel mehrmals am anvisierten Bürogebäude vorbeigespült wurde, ohne wirklich halten zu können, gelang das Stehenbleiben und ich trat auf die Straße. Einer dieser namenlosen Glastürme stand vor mir: dunkel, verspiegelt, vollkommen geheimnislos. In der Empfangshalle eines großen thailändischen Wertpapierhandelshauses lächelte man mich lange an und fragte mich schließlich nach meinem Begehr. „I have an appointment with Mr. Ramachai, the head of the researchdepartment.“ Ich gab meinen Namen an, die Dame versuchte ihn nachzusprechen, aber die Laute schienen für ihren Mund zu grob und klobig. Sie schaute drein, als hätte sie etwas Giftiges gegessen. „Just call me Peter.“ „Okay, Mister Peter, would you like to drink some tea?“ „Yes please, but actually I would like to talk to Mister Ramachai.“ „But Mister Ramachai is so busy.“ „The important man is always busy, I have an appointment with him, now.“ „He has so many appointments.“ „But I am here now and I want to talk to him.“ Ich wurde mit dem zarten Fräulein ein bisschen harscher, sie zuckte zurück und flatterte davon. „Okay Peter, you can come“, sagte sie, als sie wiederkam. Die kleine Unhöflichkeit hatte mich den Mister gekostet.
Wenn man vom Empfangsraum in die tatsächlichen Arbeitsräume eines Unternehmens vordringt, ist das ungefähr so, wie wenn man vom Zuschauersaal eines Theaters hinter die Bühne geht: ziemliche Entzauberung. War draußen noch alles marmorn und glatt und makellos, mit ruhigen Stimmen, sonor klackenden Stöckelschuhen und schönen Damen, so wurde ich jetzt in eine riesige Rumpelkammer geführt. Hinter labyrinthisch verschachtelten Paravents tauchte hier und da ein Kopf zwischen Papieren auf, schaute leer wie ein Fisch und verschwand wieder. Ganz hinten, am tiefsten versteckt, fand ich Herrn Ramachai, den Chefanalysten des Unternehmens. Monitore, Papierstapel und Paravents umgaben ihn wie ein Schneckenhaus. Die Dame ließ mich einfach stehen und ging, der Mann würdigte mich keines Blickes, sagte aber: „Hallo Peter“, als sei ich ein alter Freund. „Setzen Sie sich doch.“ Er schichtete einige Papiere um und schaute auf. Ich war erstaunt, einen Inder zu sehen. Er mochte um die Fünfzig sein, das dichte, tief ansetzende Haar und die Brauen waren weiß, die Stirn dazwischen nahm nur einen schmalen Hautstreifen ein, auf dem sich allerdings eine Unzahl kleinster und schön parallel gezogener Falten in ständiger Bewegung befanden – wie Korallengewächse, dachte ich. Sein Blick fixierte mich mit einer starren Eindringlichkeit, in der etwas Irres lag: „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich wollte mit Ihnen über den thailändischen Aktien-
Immobilien
pinkeln
unberĂźhrteste Natur
Ein souveränes Tirol , Unkrauterhaltungsverein
Investitionsganoven und Chinatouristen
die Wahrheit
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Weite die Nase voll haben? Keine Ahnung. Die Enge eignet sich in jedem Fall besser zum Zetern. Deswegen wird in der Schweiz und in Österreich besonders auf die Enge geschimpft und möglicherweise tummeln sich in Neuseeland oder Kalifornien mehr entfleuchte Tiroler oder Berner Oberländler als Ostfriesen oder Leute aus dänischen Dörfern, weil die Flachlandtiroler schlecht sagen können: Ich musste in die weite Welt, weil ich die Weite meiner Heimat nicht mehr ausgehalten habe. Obwohl das interessanter klingt als die scheinbar plausible Tiroler Ausrede: Ich habe den Schatten dieser vielen verdammten Berge nicht mehr ausgehalten. Enge ist was Dunkles für die Nacht. Eng will sich der Liebhaber in oder an die Liebste drücken. Die Heimat aber ist die Liebste nicht, die Heimat ist mehr eine Mama, die einen bedrängt. Man muss Abwehrkräfte bilden, wenn man nicht weg will, das ist klar. Sonst endet man als Ehrenvorsitzender des örtlichen Unkrauterhaltungsvereins. Aber genau an dieser Abwehr reift man. Indem man lernt, den Kopf zu schütteln, entwickelt man mehr Individualität, als wenn man in Borneo nickend einem Reiseführer lauscht, der einem die unbegreiflichen Rituale der letzten Urwaldbewohner erklären will. Und wenn man als Bauernbub von der Alm kommt und später als Hotelkoch in Shanghai Leckereien für Investitionsganoven und Chinatouristen zubereitet, kann man es zwar täglich toll finden, tausende von Kilometern fern der bedrückend engen Heimat zu leben, der weitere, interessantere Mensch ist man dadurch nicht unbedingt geworden. Die einfachen Liebesgeschichten, die sich auf engstem Raum am heimatlichen Wohnort abspielen, sind meist sehr viel aufregender und erfahrungsbildender als die Auslandsaufenthalte der Entflohenen.
So eng übrigens ist es nicht hier. Ob man nun prosaisch pinkeln will oder poetisch mit seiner Liebsten allein sein: Man wird nicht nur in Tirol, sondern an vielen Stellen des guten alten Europa rasch ein hübsches Plätzchen finden, an dem man ungestört ist. Nach einem solchen locus amoenus wird man sich auf der völlig überbevölkerten Insel Java zum Beispiel vergeblich sehnen. Die Alpenländer würden einem dort wie unberührteste Natur vorkommen, die den Verliebten herrlichen Schutz gewährt. Keine Sorge, wir wollen keinen Verein gründen, der die Teilung Europas in autonome Kleinstaaten zum Ziel hat. Weg mit dem Euro, lauter eigene Währungen. Das hätte schon was. Am Aussterben der Dinosaurier kann man sehen, dass kleinere Organismen besser überleben können. Ein souveränes Tirol, Einreise nur mit Visum, das wäre nicht unattraktiv. Unbedingt ein Verbot, Gartenzwerge aufzustellen. Dafür jedem europäischen Zwergstaat eine eigene Eisenbahnspurbreite! Mit dem gedankenlos-bequemen Reisen wäre dann Schluss. Auch das Umsteigen gehört schließlich zur Kultur. Wie? Ob wir etwas gegen die multikulturelle Gesellschaft haben? Aber nein doch! Wir lieben den Mischmasch und das Durcheinander und die Sitten anderer Länder. Kommet zu uns, die Ihr es bei Euch zu Hause nicht aushaltet, kommet zu Hauf, seid unser Gast, bescheret uns Eure Leckereien, bereichert unsere Speisekarten und erzählt von Euren Ländern, zeigt uns Fotos und Filme und erspart uns, dass wir selbst überall herumfahren müssen. Aber erzählt uns die Wahrheit.
Gelegenheiten
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Auf dem Bild ist ein schönes Mädchen zu sehen, das dem Leben mit einem Lächeln begegnet und den Kopf gerade hält. Der helle Pelzmantel steht ihr gut und auch der enge Rock. Sie trägt Schuhe, die hohe Absätze haben, und schwarze Handschuhe, die bis zum Ellenbogen reichen. Der Bürgersteig, den sie entlang läuft, scheint nur dazu da zu sein, sie schweben zu lassen. Morgen wird dieses Bild in vielen Londoner Zeitungen zu sehen sein. Morgen wird Elfriede Gebesmaier für einen Tag lang berühmt sein. „Ich habe“, sagt sie, „nicht genug kriegen können vom Leben damals.“ Heute heißt Elfriede Gebesmaier Elfriede Metz, und alles ist anders. Wenn man in Innsbruck von der Ingenieur-Etzel-Straße in die Bienerstraße abbiegt, dann fährt man unter einem Bahndamm hindurch. Wenn man hinter der Unterführung nach rechts schaut, stehen dort drei hohe Wohnhäuser, die schiefergrau sind und farbige Balkone haben. Rot, blau, gelb. Vor einer Einfahrt hängt ein verbogenes Schild, das in strengen spitzen Buchstaben erklärt: „Jegliche Materialablagerungen sind bei Strafe verboten“. Gegenüber auf der anderen Straßenseite reihen sich Abfallcontainer aneinander, Altpapier, Buntglas, Weißglas. Auf den Containern kleben große Fotos, auf denen jeweils ein Augenpaar zu sehen ist. Wo lagern Erinnerungen? „Ich weiß auch nicht, was die Leute immer haben, was ist denn daran so besonders interessant“, sagt Elfriede Metz, als sie einen Zeitungsartikel auseinanderfaltet, der ein paar Jahre nach ihrem Londoner Auftritt erschienen ist, am 18. März
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Die Frau, die einen Tag lang berühmt war
Elfriede Metz arbeitete als Dienstmädchen bei Winston Churchill. Heute schaut sie zurück auf ein Leben, das an einem Punkt die falsche Richtung genommen hat. Von Georg Diez Auf dem Bild ist ein schönes Mädchen zu sehen, das dem Leben mit einem Lächeln begegnet und den Kopf gerade hält. Der helle Pelzmantel steht ihr gut und auch der enge Rock. Sie trägt Schuhe, die hohe Absätze haben, und schwarze Handschuhe, die bis zum Ellenbogen reichen. Der Bürgersteig, den sie entlang läuft, scheint nur dazu da zu sein, sie schweben zu lassen. Morgen wird dieses Bild in vielen Londoner Zeitungen zu sehen sein. Morgen wird Elfriede Gebesmaier für einen Tag lang berühmt sein.
Elfriede Metz sie nennt. Dann gibt es noch das Foto von einem mächtigen englischen Steinhaus und ein Bild dieses Mädchens, das den Kopf etwas schief hält, das dunkle Haare hat und sehr wache Augen. Ihr Mund ist auf diesem Foto zu einem strengen Strich gezogen.
„Ich habe“, sagt sie, „nicht genug kriegen können vom Leben damals.“ Heute heißt Elfriede Gebesmaier Elfriede Metz, und alles ist anders. Wenn man in Innsbruck von der Ingenieur-Etzel-Straße in die Bienerstraße abbiegt, dann fährt man unter einem Bahndamm hindurch. Wenn man hinter der Unterführung nach rechts schaut, stehen dort drei hohe Wohnhäuser, die schiefergrau sind und farbige Balkone haben. Rot, blau, gelb. Vor einer Einfahrt hängt ein verbogenes Schild, das in strengen spitzen Buchstaben erklärt: „Jegliche Materialablagerungen sind bei Strafe verboten“. Gegenüber auf der anderen Straßenseite reihen sich Abfallcontainer aneinander, Altpapier, Buntglas, Weißglas. Auf den Containern kleben große Fotos, auf denen jeweils ein Augenpaar zu sehen ist. Wo lagern Erinnerungen?
Vor dem Fenster fließt der Fluss vorbei. Die Wolken schwappen von den Bergen ins Tal und bleiben an den Häusern hängen, umfassen die Menschen, bedrücken die Sinne. In Fetzen hängen sie herab, wie ein nasses Tempotaschentuch, das unter der Feuchtigkeit zerfällt. Reste von Weiß kleben in den grünen Hängen, schmutzig, unschuldig, nah. Zu greifen, aber nicht zu erreichen.
„Ich weiß auch nicht, was die Leute immer haben, was ist denn daran so besonders interessant“, sagt Elfriede Metz, als sie einen Zeitungsartikel auseinanderfaltet, der ein paar Jahre nach ihrem Londoner Auftritt erschienen ist, am 18. März 1966 in den „Tiroler Nachrichten“ – da war sie schon eine ganze Weile wieder zurück in Österreich. Winston Churchill ist auf einem der Fotos zu sehen, wie er aus dem Fenster schaut, in der einen Hand eine dicke Zigarre und neben sich seine Frau, „die Lady Clementine“, wie
„Das Leben hätte ganz anders werden können“, sagt Elfriede Metz, „aber wer garantiert mir denn, dass es drüben besser gewesen wäre?“
Wenn Bewusstsein ein Strom ist, wohin fließt er dann? Viereckige Balkone schauen zur Sill, die dahin rauscht, unter der Betonbrücke hindurch. Bänke am Ufer, um Bäume gewickelt und leer, bis auf die Vögel, die dick und träge hier hocken. Die Hecke blüht in Gelb und ist gerade geschnitten wie ein Steinblock. Eine Frau zieht einen Koffer hinter sich her, sie hinkt. Eine andere, ältere Frau läuft ihr entgegen, eine helle Plastiktüte in der Hand. Es ist kühl. Gerade hat es geregnet. Es wird wieder wärmer werden. Auf dem nassen Asphalt liegen gelbe Blüten. Dazwischen ein Zigarettenstummel mit einem Rand von rotem Lippenstift. „Damals war ich schick“, sagt Elfriede Metz, die in der engen Ein-Zimmer-Wohnung am Fluss sitzt, in die sie erst vor ein paar Monaten gezogen ist. Dann
Gelegenheiten
Dezember
62
19
Nummer
28
Sie war
40
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Jahre
lacht sie, als ob sie damit die Gespenster verscheuchen will, faltet den alten Zeitungsausschnitt zusammen und zupft sich ihre blaue Thermoweste zurecht. Sie trägt einen blauen Pulli, blaue Hosen, blaue Schuhe. Die Haare türmen sich grau auf ihrem Kopf. Vor kurzem ist sie 60 geworden. Und die Erinnerung an die Schönheit ist aus ihrem Gesicht gewichen. Der Tag, an dem sie berühmt war, war ein Tag im November oder Dezember 1962, so genau weiß sie das nicht mehr. Das Foto mit dem edlen Pelzmantel zeigt sie in London auf dem Weg ins Gericht: das Dienstmädchen, das den Gauner erwischte, der bei Winston Churchill einbrach. An diesem Tag sagte sie als Zeugin aus. Den Pelzmantel hatte sie sich von der kleinen Erbschaft gekauft, die ihr ihre Eltern hinterlassen hatten. „Na, wie es halt so geht“, sagt sie, als sie in dem Album blättert, in dem sie die Zeitungsausschnitte aufhebt und in dem auch die milchigen Farbfotos von damals kleben. Sie war 19, sie war aus einem kleinen Dorf, sie wollte leben. Das geerbte Geld jedenfalls war schnell weg. Aufgewachsen ist Elfriede Metz bei einem Vormund, der sie nur in die Kirche gehen ließ und sonst nirgendwo hin. „Ich wollte fort aus diesem Gefängnis“, sagt sie, „nur fort“. Gerade vier Monate war sie als Dienstmädchen bei Winston Churchill, als der Einbrecher sich ausgerechnet das Haus des ehemaligen britischen Premierministers aussuchte. Ein offenes Fenster in der Küche, ein paar Fußabdrücke, nur ein hungriger Kerl, erinnert sich Elfriede Metz, der wohl ein Messer dabei hatte. Aber das sei von den Zeitungen ziemlich aufgebauscht worden. „Der arme Mann saß noch ganz verschüchtert irgendwo im Haus“, sagt sie, „der hat richtig Pech gehabt.“ Sie war schön, als sie an jenem Tag in den Gerichtssaal trat, und sie war schön, als sie wieder heraus kam. Das Leben lag vor ihr, sie musste bloß zugreifen. Aber sie wusste nicht wie.
Aus der Klarsichtmappe holt Elfriede Metz das Zeugnis heraus, das sie ihr im Sommer 1963 ausgestellt haben, „und das hat nicht jede bekommen“, sagt sie. Eine energische Unterschrift erzählt, dass die Churchills sie mit besten Empfehlungen in die Welt schickten. Sie war nach England gekommen, um die Sprache zu lernen, „das konnte nicht schaden, dachte ich“. Damals, Anfang 1962, arbeitete sie in einem Hotel in den Alpen; in der Agentur, über die sie eine Dienstmädchenstelle im Ausland suchte, sagten sie, sie hätten da etwas ganz besonderes, Elfriede müsse sich nur schnell entscheiden. „Als ich dann das Haus in dieser Sackgasse sah, habe ich gedacht, ich habe mich in der Adresse geirrt.“ Drei Stockwerke, ein einfacher Ziegelbau. Nur an dem Polizisten vor der Tür hat sie gemerkt, dass sie richtig war. Ein Jahr blieb sie bei den Churchills, lebte mit dem fast 90-jährigen Politiker abwechselnd im Haus Hyde Park Gate Nummer 28 in London und auf Chartwell, dem Landsitz des alten englischen Geschlechts der Marlboroughs, wo die Fahne wehte, wenn Churchill da war. Blümchentapeten hatten die Zimmer der Dienstboten in London und auch auf dem Land; nur waren die Blümchen auf dem Land rosa. Es ist merkwürdig, wenn Elfriede Metz von dieser Zeit erzählt, die über 40 Jahre zurückliegt. Zwischen damals und heute klafft ein Loch, zwischen der Elfriede von damals und der Elfriede von heute scheint es wenig zu geben, das die beiden verbindet. Etwas ist passiert damals, und es scheint, dass das ihren Willen gebrochen hat. „Besonders ehrgeizig war ich nie“, sagt sie, aber so ein Satz erklärt ja nicht wirklich viel. Schwarze Schwäne schwimmen auf einem Teich in Chartwell; der große Swimmingpool, in dem sie baden durften, wenn gerade keine Gäste da waren; Churchill am Goldfischteich; der Rosengarten, wo sie sich fotografieren ließen, Elfriede und die drei anderen Dienstmädchen, die sich um den Butler drängeln, der in seiner weißen Kleidung sehr gut aussieht.
Gelegenheiten
1965 wieder zurĂźck 1965 starb auch
1962
Weihnachtskarte
1962 nach London
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„Abends hat der Walter schwarz getragen, tagsüber weiß“, sagt Elfriede Metz, als sie umblättert, „den müssen Sie fragen, der kennt sich aus. Der war ja viel länger bei den Churchills als ich.“ Das Papier ist vergilbt, die Farben sind verblasst, eine bunte Fahne flattert in einem hellblauen Himmel. Elfriede Metz hält ein Blatt Papier über eine Seite. „Na, alles dürfen Sie nicht sehen.“ In der Küche hat sie gearbeitet, zusammen mit den anderen, die aus Deutschland waren oder aus der Schweiz. Nur die Putzfrau, sagt sie, die war Engländerin. Und so saß Churchill, der alte, aufmerksame, höfliche, störrische Churchill, der Kriegspremier, der Literaturnobelpreisträger, der Blutschweißundtränen-Churchill, der in Chartwell ein eigenes Kino hatte, wo er sich gern alte Kriegsfilme anschaute und dann besonders laut jubelte, wenn die Deutschen endlich ordentlich vermöbelt wurden, dieser Churchill also saß in seinem großen Bett und ließ sich das Frühstück von einem Mädchen servieren, das „das mit den Juden“ nicht wusste. „Da hat ja keiner was gesagt, wo ich herkomme“, sagt sie und holt die Weihnachtskarte heraus, die sie ihr 1962 gaben. Eine Szene aus Südfrankreich, Cap Ferrat, Häuser, Boote, Meer, leicht impressionistisch hingemalt; „by Churchill“ steht rechts unten. „Einen richtigen Weihnachtsbaum haben sie für uns gekauft, eine echte Tanne“, sagt Elfriede Metz und klappt das Album zu. Es ist keine tragische Geschichte, die Geschichte der Elfriede Metz, aber eine traurige Geschichte ist es doch. „Ich hab schon Pläne gehabt“, sagt sie. 40 Jahre hat sie in Innsbruck gearbeitet, die meiste Zeit in der Tyrolia Buchhandlung als Putzfrau. „Aber wissen Sie“, und wahrscheinlich glaubt sie, was sie jetzt sagt, „das ist eine gute Eigenschaft von mir: Ich schaue nicht zu oft zurück. Nur dann“, fügt sie hinzu und deutet auf mich, „wenn jemand kommt und fragt.“ In dem Haus, in dem sie jetzt wohnt, ist sie eine der jüngsten. Lauter Ein-Zimmer-Wohnungen, lauter al-
te Menschen, lauter Erinnerungen, die hier lagern. Der Gang hinter zu ihrer Wohnung ist lang und schwach beleuchtet, auf dem glatten Boden spiegelt sich das Licht, das vom Ende des Ganges kommt. So muss man sich auch die Windungen der Erinnerung vorstellen. Seit damals war Elfriede Metz nicht mehr in London; überhaupt war sie nicht mehr viel unterwegs, seit sie 1965 wieder zurück kam, für ein paar Wochen nur. Dann sollte es ja weiter gehen, nach Paris. Französisch lernen, das konnte nicht schaden. Im Jahr 1965 starb auch Winston Churchill, aber daran erinnert sie sich jetzt gerade nicht. Zwei Jahre war sie noch in London, nachdem sie die Churchills verlassen hatte, obwohl die sie länger behalten wollten; sie hat damals bei einem Filmregisseur aufs Kind aufgepasst, „der Fratz“, und vielleicht auch ein bisschen auf dessen Frau, die zu viel trank. Vielleicht hat sie auch nicht auf sie aufgepasst. Es waren eben wilde Tage in den frühen Sechzigern, in London, als die Popkultur explodierte und alles möglich war, vor allem für ein Mädchen, das Augen und Beine hatte wie Elfriede Metz, die damals noch Gebesmaier hieß. „Ich habe mein Leben gelebt“, sagt sie und lächelt etwas süßlich. „Aber ich wäre mit Leib und Seele Engländerin gewesen.“ Als sie im Juli 1962 nach London kam, war „der Sir Winston“ schon sehr krank. Gelegentlich brachte sie ihm das Frühstück ans Bett, in dem er saß und Zeitung las. Churchill wohnte in einem eigenen Trakt des Hauses, ließ sich sein Beefsteak, die Lammkoteletts, den Speck mit Ei und die anderen schwerverdaulichen Dinge servieren, und meistens fragte er höflich, wie es denn Elfriede so gehe. „Die Lady Clementine“ dagegen, erinnert sie sich, die frühstückte immer recht früh und immer das gleiche, eine halbe Grapefruit, Tee und Toast. „Die hat eine Disziplin gehabt“, sagt Elfriede Metz, sie habe sich sogar umgezogen und Schmuck angelegt, selbst wenn sie alleine gegessen hat. „Die hat sich keine Minute gehen lassen“, sagt Elfriede Metz, und erst wenn man ihre ganze Lebensgeschichte kennt, wird klar, warum sie das so beeindruckt hat.
Gelegenheiten
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Sie muss eine strenge Frau gewesen sein, diese Lady Clementine, von der Elfriede Metz erzählt, streng und herzlich zugleich. Sie war es, die Elfriede ausschimpfte, wenn die mal wieder den Englischunterricht geschwänzt hatte und lieber durch Londons Straßen gelaufen war; sie war es, die Elfriede zu sich rief, wenn die mal wieder Knoblauch ins Essen gemischt hatte, obwohl sie doch genau wusste, dass Lady Clementine nichts so sehr hasste wie Knoblauch; und sie war es auch, die eines Tages zu Elfriede sagte: „Wir finden schon einen passenden Ehemann für dich.“ Elfriede Metz lacht; diesmal lacht sie recht laut. Und dann erzählt sie die Geschichte von dem Pudel, der alt war und zahnlos und erbärmlich stank und kein Fell mehr hatte und der Sekretärin der Churchills gehörte. „Die hätte sich für die Lady Clementine erschießen lassen“, sagt Elfriede Metz. Eines Tages also, als die Sekretärin unterwegs war, ließ Lady Clementine den Hund, „den räudigen Hund“ einschläfern und kaufte einen neuen. „Ich habe die Lady verstanden damals, so wie der Hund gestunken hat“, sagt Elfriede Metz, „aber die große Freiheit ist das auch nicht.“ Es ist nicht ganz klar, ob sie sich bewusst ist, wie sehr die Geschichte von dem Ehemann und die von dem Hund zusammenhängen. Sie erzählt lieber von dem „Küchengerücht“, dass Lady Clementine auf Königin Elisabeth eifersüchtig gewesen sei, weswegen die nie zu ihnen nach Hause eingeladen worden sei; sie erzählt von den blaustichigen Haaren, die sich Lady Clementine immer mit Benzin spülte; und sie erzählt, wie sich Lady Clementine auf die Treppe stellte, damit das Personal sie bewundern konnte. „Das waren schon tolle Leute.“ Und dann sagt sie schließlich noch einen Satz, der vielleicht klar macht, wie sehr Elfriede Metz doch ihr Leben begriffen hat: „Ich habe die Lady so bewundert“, sagt sie, „das wäre ein Drama geworden.“ Sie hätte sich zu sehr aufgegeben. Sie wäre zu sehr abhängig gewesen. Sie hätte das Leben aus der Hand ge-
geben. Sie wäre Lady Clementines Pudel geworden. Also ging sie. Suchte das Leben oder was sie davon fassen konnte in London, wollte weiter nach Paris, ein paar Wochen nur wollte sie daheim in Tirol bleiben, etwas länger als geplant, weil die Freundin, mit der sie nach Paris wollte, noch zu tun hatte. Und gab das Leben selbst aus der Hand. So einfach ist das manchmal. Elfriede Metz ist nicht bitter, wenn sie davon erzählt; so wenig wie sie schwärmerisch ist, wenn sie von London erzählt, von den Churchills oder den zwei wilden Jahren danach; „man möcht’s nicht glauben, was da so möglich war“, das ist alles, was sie sagt. Und: „Wir haben gut gelebt.“ Damit meint sie die Zeit in Chartwell. Das Leben schien neben ihr her zu laufen, damals, schneller, als sie schauen konnte. Dann stoppte es einfach. „Ich hab hier in Tirol einen kennengelernt“, sagt sie und schaut nicht in den hellbraunen Kaffee und nicht aus dem Fenster, sondern mir direkt ins Gesicht. „Und bin hier hängengeblieben.“ Eigentlich war sie mit einem Engländer zusammen, aber dann hat sie eben den Mann geheiratet, von dem sie schwanger war. „Den falschen Mann.“ Wie sie das sagt. Sie lächelt diesmal nicht, aber sie klagt auch nicht. Sie hat einen Sohn zur Welt gebracht, sie hat sich scheiden lassen, sie hat 40 Jahre lang geputzt. Sie hat ihr Leben gelebt. Aber wie sie davon redet. Es ist, als ob sie von einer fremden Person erzählt. Der Himmel hat sich gelichtet. Drüben an der Bushaltestelle stehen ein paar junge Mädchen, den Bauchnabel tragen sie frei, sie sind deutlich zu kühl angezogen für das Wetter. Die Mädchen halten Zigaretten, an denen sie gelangweilt ziehen. Als ich in den Rückspiegel schaue, sehe ich, wie sich ein Junge zu ihnen stellt. Sie reden miteinander. Die Mädchen lachen. Und der Wind nimmt ihren Rauch mit.
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„Der Mensch sollte davon abkommen, den Heiligen Gral nur als etwas Unfassbares zu betrachten; denn er besteht wirklich! Es ist aber dem Menschgeiste versagt, ihn jemals erschauen zu können.“
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Grüß Gott in Vomperberg!
Auf einem Hochplateau am Rande des Karwendelgebirges liegt eine Reihenhaussiedlung, die ausschaut, als habe sich ein Amerikaner in Tirol die Schweiz gebaut: das Weltzentrum der „Gralsritter“. Auf der anderen Seite der Ebene führt Otto Astner die „Karwendelrast“. Und das ist nicht weniger mysteriös. Michaela Nolte auf der Suche nach Durchleuchtung. Eine spirituell versierte Freundin hatte den Namen schon einmal gehört; ein befreundeter Pfarrer verwechselte die Gralsbewegung mit den Rosenkreuzern. Die Ausbeute meiner persönlichen Berliner Umfrage war spärlich, meine eigenen Gralskenntnisse auf mittelhochdeutsche Heldenepen reduziert und auf Richard Wagners „Parsifal“, der den Gral nach jahrzehntelanger Irrfahrt immerhin findet und es damit allabendlich auf der Bühne zum König bringt, während Monty Pythons „Ritter der Kokosnuss“ den Gral mit ihrem Galgenhumor vergeblich suchen.
manns. Weit gereist und umfassend gebildet, versucht sich Bernhardt wiederholt als Schriftsteller, ist an unterschiedlichen Firmen beteiligt, die sich als marode erweisen, und wird während des Ersten Weltkriegs auf der Isle of Man interniert, wo er seinen endgültigen Ruf als Mittler zwischen Gott und der Menschheit empfängt. In der Gralsbotschaft entfaltet er ein komplexes System aus weltanschaulichen und gnostischen Elementen, gepaart mit apodiktischer Kritik gegen die „Verstandestyrannei“ und die Geisteswissenschaften.
Nun sollte also zu Beginn des dritten Jahrtausends in den österreichischen Alpen der Sinn des Heiligen Grals und damit das Paradies auf Erden zu finden sein! Das alles sehr geheimnisumwittert, christlich durchwoben und hinter den Mauern einer alpenländischen Mustersiedlung, wo die Messen in einer Pyramide stattfinden und nur den „Versiegelten“ Einlass gewährt wird. Da nur der Wissende in die Heiligtümer vorstoßen kann, beschließe ich – frei nach Ossip Mandelstam – meine Reise lesend im Kopf zu beginnen. Am Rande von Berlin bietet ein Antiquariat für Grenz- und Geheimwissenschaften tatsächlich das Evangelium der Gralsbewegung feil. Meine Hausbibel benötigt für das Alte und Neue Testament rund 1100 Seiten, freilich in kleinem Schriftgrad, dafür aber inklusive Anmerkungen und bekanntlich von diversen Autoren geschrieben. „Im Lichte der Wahrheit“ kommt die Gralsbotschaft auf 1300 Seiten, die allein der Feder von Abd-ru-shin entstammen.
Auf der Suche nach dem „besonderen Ort“ pendelt der Menschensohn unstet zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz, hält öffentliche Vorträge und gründet zu Beginn der 20er-Jahre den Orden „Der Gral“. Wegen wirtschaftlicher Vergehen wird er wiederholt verurteilt und inhaftiert, bis er sich 1928 mit seiner zweiten Frau Maria und deren Kindern in Vomperberg niederlässt. Das kaum besiedelte Hochplateau am Rande des Karwendelgebirges bietet Bernhardt einen Rückzugspunkt. Doch drängt es Anhänger in seine Nähe und binnen drei Jahren entsteht die Gralssiedlung, in der bisweilen über hundert Menschen lebten und arbeiteten. Mit dem „Anschluss Österreichs“ wird die Gralsbewegung 1938 von den Nationalsozialisten enteignet. 1945 erhält Maria Bernhardt das Anwesen zurück und führt das Werk ihres 1941 in der deutschen Verbannung gestorbenen Mannes weiter.
1875 als Oskar Ernst Bernhardt in Sachsen geboren, gibt er den Wunsch, Theologie zu studieren, auf Drängen der Mutter auf und wählt den Beruf des Kauf-
Wenn Parsifal in Wagners Bühnenweihfestspiel nach dem Gral fragt, verkündet Gurnemanz mit sonorem Bass: „Das sagt sich nicht“. Abd-ru-shin hingegen weiß: „Der Mensch sollte davon abkommen, den Heiligen Gral nur als etwas Unfassbares zu betrachten;
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„Scharen kommen da um Pfingsten herum und vor allem viele Schwarze, die wohnen ja bis herunter nach Schwaz. Im letzten Jahr war sogar eine echte schwarze Prinzessin dabei! Aus Nigeria, glaub ich.“
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denn er besteht wirklich! Es ist aber dem Menschgeiste versagt, ihn jemals erschauen zu können.“ Nicht dass ich geglaubt hätte, die „Schale, in der es ununterbrochen wallt und wogt wie rotes Blut, ohne je überzufließen“, auf dem Vomperberg materialisiert zu sehen, aber gespannt war ich auf den Genius loci, wo der Einstrahlungswinkel der Sterne genau so ausfällt, dass die Strahlungen dem irdischen Aufbau der Sache Abd-ru-shins förderlich seien. Denn „um alles von der Menschheit Gefehlte hilfreich wieder richtigzustellen, wurde Parzival mit der Grobstofflichkeit verbunden in Abd-ru-shin“, schreibt selbiger in der Gralsbotschaft. Auf dem Weg in die Tiroler Berge kreisen die Gedanken zwischen christlichem Voodoo, den Scientologen, von denen ich im Jahr zuvor einige kennen gelernt hatte und sie erschreckend normal fand, und den klösterlichen Archen der Hutterer. So weltabgewandt wie die Wiedertäufer in Nordamerika wirkt die Gralsbewegung nicht. Auf ihrer Homepage kann man über den Vomperberg spazieren, die Fahnen verschiedener Nationen, die während der Grals-Feiern gehisst werden, im Winde flattern sehen und ein wenig von der Gralsbotschaft schnuppern. Ganz weltlich starten deutsche Gralsritter ihre Website mit der Werbung eines bekannten Versandkaufhauses; eine Oskar Ernst Bernhardt gewidmete Internet-Adresse veräußert Domains rund um alle Grals-Stichworte und zu horrenden Preisen. Wie also kann ich mir einen Gralsanhänger vorstellen? Furcht- und tadellos wie Lanzelot in der ArtusSage oder als futuristischen Erlöser à la Keanu Reeves in „Matrix“? In Naturstoffen gewandet und birkenstockbeschuht wie die Anthroposophen oder eher in schillernd farbige Gewänder gehüllt, wie einst die Baghwan-Jünger? Während ein Lokalredakteur der Tiroler Tageszeitung auf das Archiv in Innsbruck verweist und abwimmelt („Die Gralerer lassen uns in Ruhe und wir die auch“), gibt sich die Taxifahrerin auf dem Weg vom Bahnhof Schwaz hinauf zum Vomperberg redselig. Mit einem „Grüß Gott, wo bitte geht’s zum
Gral?“ habe ich mich gleich enttarnt. „Nach Vomperberg also. Sie gehören aber nicht zu denen!“ Ob man mir das ansieht, möchte ich wissen. „Ein bisschen sieht man’s … außerdem dürfen die Gralsleute nicht Grüß Gott sagen. Kommen Sie zum Treffen?“ Gemeint ist das „Fest der Heiligen Taube“, das die Gralsritter alljährlich Ende Mai begehen. „Scharen kommen da um Pfingsten herum und vor allem viele Schwarze, die wohnen ja bis herunter nach Schwaz. Im letzten Jahr war sogar eine echte schwarze Prinzessin dabei! Aus Nigeria, glaub ich. Und die kaufen dann unheimlich viel Schuhe. Weiß nicht, ob das eine besondere Sorte ist, aber massenhaft Schuhe kaufen die, und deren Anführer ist auch ein Schwarzer.“ Meinem Einwand, dass er einen sehr deutsch klingenden Namen trägt, wird prompt gekontert: „Der Name ist nur angeheiratet! – Aber genau weiß man das nie, man kommt ja bei denen so schwer hinein, das ist nur was für Reiche.“ Wenngleich Abd-ru-shin von einer Schale erzählt, bei Wolfram von Eschenbach ist der Gral ein Stein, und der kommt nun ins Rollen. Noch bevor mir ein Gralsbewegter leibhaftig gegenüber tritt, scheint die Gralswelt in den Tiroler Alpen ihrem internationalen Charakter überaus gerecht zu werden: der Leiter ein Afrikaner mit Namen Siegfried Bernhardt, der Begründer ein waschechter Sachse, der sich Abd-ru-shin nannte, was etwa „Sohn des Lichts“ bedeutet und arabischpersischen Ursprungs ist, der Tempel eine ägyptische Pyramide, die Lehre fest auf dem Boden des Christentums. Auf dem Berg angelangt, erscheint das Gralsgelände fast enttäuschend normal und erinnert darin wieder ein wenig an die Scientologen. Nur pflegt man hier keinen Turbokapitalismus, sondern einen weitläufig ländlichen Betrieb mit Fremdenverkehr und biologischem Anbau. Einheimische und Touristen wandern über das zauberhafte, durch Moränenbildung entstandene Hochplateau im Schatten des Hochnissls und des Bettelwurfs. Der gralseigene Alpengasthof bietet vorzügliche Speisen à la carte, eine ausgesuchte Weinkarte und ein fantastisches Bergpanorama. Die Pension ist schlicht und bürgerlich, mit echten
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„Fanatiker finden kein Pardon, die werden gegebenenfalls ausgeschlossen.“
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falschen Bauernmöbeln und Fernsehern mit Satelliten-Receiver. Wegweiser führen zur Reitschule oberhalb der Gralssiedlung, sichtbare Mauern gibt es keine; allein die Pyramide sticht aus dem Ensemble hervor, wenn auch nicht als gigantischer Tempel. Das Grabmal mit der irdischen Hülle Abd-ru-shins bildet eine Reminiszenz an dessen Dasein zu Zeiten Moses, wo er flussaufwärts des Nils als Fürst lebte. Überdies bleibt alles im alpenländischen Rahmen. Man kann in die Gralswelt eintauchen, aber ebenso einen erholsamen Urlaub 566 Meter über dem Meeresspiegel mit Blick auf Kellerjoch, Gilfert und Glungezer verbringen. Die Gralsanhänger versuchen niemanden zu missionieren und sind darin religiösen Gruppierungen wie den „Zeugen Jehovas“ oder den „Mormonen“, die einen schon frühmorgens an der Wohnungstür mit Endzeittheorien behelligen, unbedingt vorzuziehen. Im Frühjahr präsentiert sich Vomperberg mit Kaiserwetter und durchaus als „Sonnenseite des mittleren Unterinntals“, wie es in der Gemeinde-Publikation „Vomp. Ein Dorf auf dem Weg ins dritte Jahrtausend“ heißt; und wenn im Vorwort Vomp als ein „Staubkorn im All“ bezeichnet wird, dessen Fläche größer als die Wiens oder Liechtensteins ist, so drängt sich das biblische Gleichnis vom Senfkorn und dem Himmelreich auf. In der 1933 erbauten Gralsverwaltung führt mich ein „Fräulein“ (die Damen gleich welchen Alters stellen sich stets selbst so vor) zu Herrn Bernhardt und sämtliche Grals- und Guruphantasien werden alsbald gerade gerückt. Der Leiter und verwitwete Gatte von Claudia Maria Bernhardt – einer Adoptivenkelin Irmingard Bernhardts, die wiederum als Adoptivtochter Oskar Ernst Bernhardts der Gralsbewegung von 1968 bis 1990 vorstand – ist zwar kein Tiroler, aber ansonsten ist der Herr im mittleren Alter so weißhäutig wie jeder Deutsche vor dem Sommerurlaub. Die Sachlichkeit und Einfachheit, die Abd-ru-shin in seinen Schriften fordert und beschwört, steht in Perfektion vor mir: weder charismatischer Meister noch
Grals-Papst, der zur Audienz bittet, und auch keiner dieser religiösen Phantasten, die einem mit dem ersten Handschlag ihren Heiligenschein aufdrücken. In seinem taubenblauen Daniel-Hechter-Anzug mit farblich abgestimmter Krawatte wirkt er allenfalls wie der Manager eines Gurus. Freundlich steht Herr Bernhardt mir in einem mit Eichenmöbeln bestückten Raum Rede und Antwort und präsentiert die Wirtschaftsbetriebe und Werkstätten, den eigenen Friedhof und die Feuerwehr. Das insgesamt 42 Hektar große Anwesen hat er sich kürzlich gegen eine süddeutsche Fraktion der Gralsbewegung gerichtlich gesichert, die im Gegenzug Vomperberg als Zentrum und Siegfried Bernhardt als Leiter nicht mehr anerkennen. Derweil eines der Fräuleins ehrfürchtig unterstreicht, dass sich Herr Bernhardt „um den ganzen Erdball kümmern muss“, erzählt er selbst mehr von den Nöten eines Unternehmers mit seinen Angestellten, und dass man die Schweine und Kühe abschaffen musste, weil es heutzutage billiger käme, das Fleisch per Taxi heraufzufahren als die Tiere füttern zu lassen. Als Gralshüter wirkt er betont realistisch und bar jedes esoterischen Elitegehabes. Pläne der 80er-Jahre, als die Bewegung prosperierte und ein kathedralenartiger Tempel für 5000 Menschen geplant war, weist er als übertrieben von sich und „Fanatiker finden kein Pardon, die werden gegebenenfalls ausgeschlossen“. Zu den Festen im Mai, September und Dezember kommen heute im Schnitt 800 Anhänger, und die finden in der 1952 erbauten Andachtshalle mit 1500 Sitzen allemal Platz. Der schlicht verputzte, einstöckige Bau weist lediglich durch das gleichschenkelige Gralskreuz im Rundfenster und einen kleinen Glockenturm in Form eines offenen Kampanile auf seine Bestimmung hin. Ein paar Schnittblumen und Efeuranken schmücken den Altarbereich und bis auf das erwähnte gelb leuchtende Fensterkreuz überwiegt unterkühltes Grau. Insgesamt verströmt die Halle außen wie innen den Eindruck, dass selbst die Pietisten unter den Lutheranern ein vergleichsweise hedonistisches Dasein führen.
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„Da haben viele vermĂśgende Menschen ihr gesamtes Hab und Gut hineingesteckt. Na, wenn sie eine Befriedigung dabei finden.“
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Auf der Höhe der Zeit und Siegfried Bernhardt am Herzen liegt das technische Inventar. Jede zweite Stuhlreihe verfügt über Vorrichtungen zur Übersetzung in vier Sprachen und das Prunkstück ist die elektronische Orgel. Die als Pfeifenstümpfe getarnten Lautsprecher ragen für meinen Geschmack recht verloren über die Empore. Doch mit der Begeisterung eines Vaters, der seinem Sohn die Modelleisenbahn erklärt, lässt er mich wissen, dass man so den Organisten einsparen kann und lediglich eine CD einwerfen muss. Gesungen wird ohnehin nicht, weil sich „Menschen durch ihren Gesang zu sehr profilieren“. Auch diene der geweihte Raum nicht einem gemeinschaftlichen Zweck, sondern nur dem inneren Anliegen eines jeden „Kreuzträgers“, dem Schöpfer Dank und Ehre zu zollen. Darum stehen die Andachten und Feste ausschließlich den Gralsanhängern offen und die Versiegelung gelte nicht nur dem Schweigegelübde, sondern erzeuge einen Schutz auf dem Weg lichtwärts durch komplexe geistige Sphären. Während der Andachten sitzen Männer und Frauen getrennt, und wenngleich es sonst keine Kleiderordnung gibt, erscheinen die Herren im schwarzen Anzug und die Damen im Kleid. Dass Außenstehende ihn darum als konservativ einstufen, nimmt Herr Bernhardt in Kauf, wenn er so „der Vermännlichung der Frau entgegenwirken“ kann. Die weiblichen Mitglieder scheint das nicht zu schrecken, bilden sie doch eine ZweidrittelMehrheit. Dass man vom Auftrag Abd-ru-shins überzeugt sein muss, versteht sich von selbst. Zweifel an der Gralsbotschaft oder eine Art der Exegese liegen den Gralsanhängern fern. So lesen „Berufene“, die man im Unterschied zu den einfachen, silbernen Kreuzträgern am Goldkreuz erkennt, während der Andachten seit nunmehr achtzig Jahren aus der Gralsbotschaft. Denn die verkündet die Wahrheit, und die Wahrheit ist unumstößlich, ebenso wie die drei Schöpfungsgesetze der Schwere, Wechselwirkung und Gleichart. Frei nach dem Paulus-Wort, dass jeder erntet, was er gesät hat, bringt ein Grals-Fräulein die Gesetze auf folgenden Punkt: „Im Jenseits da gibt es einen Raum für die Raucher und einen für die Trinker. Ja, und dann einen Raum für die Guten.“
Die Anzahl derer, die dem Feinstofflichen bereits auf Erden näher kommen, schwankt zwischen fünf- und zwanzigtausend. Aufgrund der losen Organisationsstruktur und nicht zuletzt durch diverse Abspaltungen von Deutschland bis Brasilien ist die gesamte Gralsanhängerschaft nicht genau auszumachen. In der Gemeinde Vomp bilden sie mit knapp sechs Prozent der Bevölkerung statistisch die zweitstärkste Religionsgruppe vor dem Islam und den Protestanten. Aber auch die katholischen Vomper lassen nichts auf die Gralsbewegung kommen. Die Stammtischrunde im Gasthaus ist überzeugt: „Feine und gebildete Leute sind das.“ Nur ein Herr aus dem benachbarten Wattens ist nicht ganz einverstanden, wollte doch der Großindustrielle Daniel Swarovski, der als Berufener auf dem Waldfriedhof der Gralssiedlung seine letzte Ruhestätte fand, „sein gesamtes Erbe den Gralsrittern vermachen! Da ist aber die Familie eingeschritten.“ Die Chronik des Dorfes berichtet stolz, dass Vomp durch die Gralsbotschaft international bekannt und der Fremdenverkehr ein wenig belebt wurde. Insgesamt jedoch hat „die Natur ihre Grenzen gesetzt – auf lange Sicht betrachtet vielleicht nicht zum Nachteil der Vomper Bevölkerung.“ Tatsächlich sind die Berge rundum von Hotelanlagen, Pistenrummel oder Schneekanonen verschont geblieben. Der Priester der gotischen Pfarrkirche in Vomp stünde zum Thema Gralsbewegung leider erst in einigen Wochen zur Verfügung, und ein Telefoninterview findet er zu delikat. In der „Karwendelrast“ wird gar gemutmaßt, sein Vorgänger wurde „nach dem Prozess gegen die Gralerer abgesetzt, damit’s a Ruh gibt“ – schade, dass sich der Vomper Pfarrer ausgeschwiegen hat. In den Gasthof am westlichen Ende des Hochplateaus und am Eingang zum Karwendel, das bereits 1928 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, kehren Wanderer aus Schwaz ein, aber ebenso ein Lübecker Weinhändler, dessen Familie Thomas Mann unter dem Namen Kistenmaker in den „Buddenbrooks“ verewigte. Als Freund des Hauses kennt der Jetsetter mit spanischer Finca die Gegend und natürlich auch die Gralsritter: „Da haben viele vermögende Menschen
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Canaletto, Tizian und Tintoretto sollen auf diese Art zu Dämmstoffen umfunktioniert worden sein ‌
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ihr gesamtes Hab und Gut hineingesteckt. Na, wenn sie eine Befriedigung dabei finden.“ Der Gastwirt sieht das gelassener. Otto Astner war nie Mitglied der Gralsbewegung, doch „früher waren das alles studierte Leute“, und die Gralsbotschaft hat er als „Heimatlektüre“ studiert. Sein Wirkungskreis war gleichwohl der noble Cresta-Club, wo er in jüngeren Jahren in St. Moritz der Urform des Bobfahrens nachging. Zum Cresta-Run rauscht bis heute manch echtes Blaublut sowie prominenter Geldadel auf hauchdünnen Brettern mit Kufen und bis zu 140 Stundenkilometern durch einen Eiskanal. In den letzten Kriegswochen war der wegen Führerbeleidigung und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilte Funker vor den Nazis geflohen und bewies schon dabei seinen Sinn für das Besondere: Mit einem Smoking bekleidet und einem Kinderwagen schlug er sich über weite Strecken zu Fuß von Berlin bis Vomperberg durch, wo die Amerikaner den jungen Soldaten bereits erwarteten. Mit Honig und Speck besorgte sich Otto Astner einen Pass, floh nach Luzern und gelangte mit Hilfe von Gralsanhängern an den Schweizer Hof in Zürich, um sich als Koch ausbilden zu lassen. Heute ist es etwas ruhiger um den älteren Herrn geworden, der hochbetuchten Freunden auf rosaroten Segeljachten Kaiserschmarrn kredenzte, die Urpflanze seiner Clivia-Zucht einer Gräfin von Habsburg verdankt und das Kartenspiel mit Schopenhauer als „deklarierten Bankrott an alle Gedanken“ geißelt. Doch Otto, wie die Stammgäste das Original liebevoll nennen, kehrte immer wieder in dieses laut Reiseführer „einsamste Gebiet Mitteleuropas“ zurück. Schließlich hatte sein Vater die Karwendelrast im Jahre 1913 erbaut und bis auf eine Erweiterung des Schankraums ist alles unverändert. Beim Umbau fanden sich Gemälde, die Vater Astner nach dem Krieg – während dem die Nationalsozialisten beschlagnahmte Kunstwerke im Keller der Karwendelrast versteckten – kurzerhand in die Wände eingebaut hatte, weil der Firnis auf den Leinwänden einen optimalen Schutz gegen Wind und Kälte abgibt.
Canaletto, Tizian und Tintoretto sollen auf diese Art zu Dämmstoffen umfunktioniert worden sein, und ein kunstsinniger Gralsanhänger, der sich einige Bilder, respektive was von ihnen übrig war, sicherte, wollte das Haus Mauer für Mauer nach weiteren Schätzen durchforsten, um sie vom Zustand der Vernagelung zu befreien. Trotz des Angebots, danach einen neuen und größeren Gasthof zu bekommen, gab sich Otto eigensinnig und geradeso grantig wie der „Philosoph der schlechten Laune“. Dem Kunstsammler wurde die Tür gewiesen und die Karwendelrast mit all ihrem Charme samt der kostbaren Mauern erhalten. Nur die Kunstwelt ist um ein paar Preziosen ärmer. Zum Gralsgeheimnis und zum Karwendelrast-Mysterium gesellt sich ein weiteres Rätsel. Den Empfangsraum der Verwaltung ziert ein Blumenbild, das zwar weder dem venezianischen Cinquecento noch den beiden Canalettos zuzuschreiben ist; am ehesten erinnert es in seiner subtilen Dunkelstimmung an die schönen Stillleben des spanischen Barock. Herkunft und Maler sind Herrn Bernhardt nicht bekannt; denn es handle sich um ein Fragment, und die Signatur sei mit dem Rest des Bildes verloren gegangen … Möglicherweise ist eines Tages der Herr Reger aus Thomas Bernhards „Alte Meister“ aus seiner Wiener Geistesproduktionsstätte Kunsthistorisches Museum in die Tiroler Idylle eingekehrt und hat in der Hausisolierung der Karwendelrast seinen Tintoretto gefunden; den Tizian hat er eh nicht gemocht. Aber auch das Paradies auf Erden ist in Vomperberg ja nicht wirklich wieder erblüht und echte Ritter und Apostel gibt es seit dem Weggang von Abd-ru-shin keine mehr. Der Gral erschließt sich halt nur denen, die er geleiten will, und zumindest im Jenseits werde ich der reizenden Wirtin der Gralspension nicht mehr begegnen. Ob ich dereinst in den Raum für die Raucher oder in den für die Trinker eingehe, weiß der Himmel, aber sicherlich wird mir die Gute dann wenigstens einmal von nebenan zuwinken.
Buchführung
Gedichte des Tiroler Autors Hans Aschenwald erscheinen demnächst im Berliner Wagenbach-Verlag. Was Klaus Wagenbach über die Lieferungen aus Tirol sagt, hat die Lektorin Margit Knapp aufgezeichnet. Auszug aus einem Werkstattgespräch – plus: drei Gedichte im Vorabdruck.
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So hoch in den Wolken
Gedichte des Tiroler Autors Hans Aschenwald erscheinen demnächst im Berliner Wagenbach-Verlag. Was Klaus Wagenbach über die Lieferungen aus Tirol sagt, hat die Lektorin Margit Knapp aufgezeichnet. Auszug aus einem Werkstattgespräch – plus: drei Gedichte im Vorabdruck. (K.W. und M.K. sitzen im Lektoratszimmer des Verlags an einem weißen Tisch, der mit den schreibmaschinengeschriebenen Gedichtblättern von Hans Aschenwald übersät ist.)
Titel mit dem Inhalt zusammenhängt. Auch das ist schön (liest) „Zeit // Überholt mich / Als ich gerade dabei bin ihren Schwung zu spüren“. M.K.: Was machen wir mit den Epigrammen?
M.K.: Links liegen die Gedichte mit unseren Korrekturen und rechts die überarbeiteten Fassungen, ganz rechts die zweimal überarbeiteten. In der ersten Reihe oben die mit Kreuzchen, die uns gefallen haben, in der zweiten Reihe die mit Wellenlinie, die uns nicht so angesprochen haben. K.W.: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, da hatte Karl Valentin Recht. Was aber nicht bedeutet, dass man, wenn man viel arbeitet, ein Künstler ist. (Wirft einen Blick auf die drei hohen Stapel der unverlangt eingesandten Lyrikmanuskripte hinter dem Schreibtisch). Wenn Michelangelo so ungeheure Mühen hatte, etwas aus Stein zu hauen, warum sollte es ein Lyriker leichter haben? (Nimmt ein Gedicht in die Hand). Das kenne ich noch nicht. M.K.: Ist erst gestern gekommen. Mit der letzten Sendung. K.W.: (liest) „Der Körper fällt weg // Weil der Geist nicht müde wird“. Das gefällt mir ganz gut, wenn der
K.W.: Wir könnten eine ganze Abteilung mit Zweioder Dreizeilern machen, obwohl, das muss sich lohnen, da bräuchten wir etwa 20. M.K.: Von der Textmenge her haben wir genug zur Auswahl, aber ich weiß nicht recht, ob das wirklich passt. K.W.: Man muss es einfach ausprobieren. Geht es oder geht es nicht. (Versucht, die Zweizeiler mit Kreuzchen auf einem eigenen Stapel zu ordnen). So viele kleine Texte. In der längeren Form ist er sicherer – obwohl, manche dieser Zweizeiler sind sehr komisch … Wir könnten auch drei Epigramme auf einer Seite machen. Nur ein Zweizeiler pro Seite, das geht auf keinen Fall. Da würde zu viel lasten auf diesen armen zwei Zeilen. Sie wären zu hoch gehängt, im wahrsten Sinn des Wortes (blickt auf eine weiße Seite, wo ganz oben zwei Zeilen kleben und lacht). So hoch in den Wolken, das hält kein Gedicht aus. Das habe ich schon zu Erich Fried immer gesagt, der wurde dann richtig exzessiv, voll-
BuchfĂźhrung
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kommen enthemmt, konnte es gar nicht mehr aushalten, wenn das Papier frei war. „Da fehlt noch was. Ich schick dir dann noch ein Gedicht“, hat er bei jedem größeren Freiraum gesagt. M.K.: Wir wollen ja Zwischentitel, und ich habe mir gedacht, wir könnten fünf oder sechs Gedichttitel nehmen und den verschiedenen Gruppen voranstellen. „Siebenschneidenweg“ zum Beispiel, oder „Atemguthaben“. K.W.: „Atemguthaben“ ist ein wunderschönes Wort. Aber Gedichttitel als Zwischentitel geben dem jeweiligen Gedicht so viel Verantwortung. Jeder starrt dann auf das Gedicht, das den Titel für die Überschrift liefert, und denkt, das muss jetzt ganz toll sein. Eine Variante wäre besser, etwas, das nah dran ist, aber nicht genau das gleiche Wort … also hier (nimmt das erste Blatt von einem kleinen Stapel), statt „Im Hochwald“, nach dem Gedicht, könnte die Abteilung „Dieser Wald“ oder so ähnlich heißen. Oder das, statt „Menschenseiten“, wie das Gedicht, einfach „Dazumal“. „Dazumal“ kommt auch in mehreren Titelzeilen vor. „Atempausen“ – wie findest du das als Zwischentitel? M.K.: Also ich weiß nicht. Ich glaube, für „Atemguthaben“ oder auch für „Siebenschneidenweg“ finden wir nichts Besseres, ich würde die zwei Titel gerne nehmen. K.W.: Dann machen wir eine Mischung, Gedichttitel als Zwischentitel und zwei oder drei fiktive Zwischentitel.
M.K.: Zu den Themenkreisen Wald, Vater, Vorfahren, Heimat gibt es viel. K.W.: (Nimmt das Gedicht „Wer lobt das Heimweh zwischen meinen Beinen“, überprüft die neue Fassung mit den Korrekturvorschlägen). Ist jetzt besser. Das „Dorf voller Vorfahren im Genick“, das ist wunderbar, da kann sich sofort jeder etwas vorstellen. Wenn man die Gedichte jetzt am Stück liest, merkt man, er hat die Tendenz zur Schlusszeile. Lebensregel am Schluss. Dabei ist es manchmal ganz schön, etwas offen zu lassen. (Nimmt das Gedicht „Aufgetragen“ in die Hand). Siehst du, das ist so ein Fall. Da gab es in der ersten Fassung eine Conclusio. Soll er nicht machen. Das ist jetzt offener, ohne letzte Zeile, besser. (Ende offen)
Tierecke
Die Stiere in der Besamungsanstalt Birkenberg über den Dächern von Telfs heißen Vivaldi, Phil Collins, Pascal, Manner, John Travolta oder El Padre. Die Namen bekommen die Bullen nicht erst hier von den Bediensteten der Besamungsanstalt oder vom Tierarzt in der angeschlossenen Quarantänestation, sondern bereits von den jeweiligen Züchtern. Tieren Namen zu geben ist der erste Schritt zu ihrer Vermenschlichung und Verpersönlichung. Merkwürdig ist die Taufe gerade auf Menschennamen bei Tieren, die per definitionem reine Nutztiere sind, an denen einzig ihr Sperma von Interesse ist, um damit andere Tiere zu zeugen, an denen einzig die Milch von Interesse ist, und die, sobald das Sperma, die Milch, nicht mehr taugen, geschlachtet werden. Beim Mittagessen sind Namen dann wieder Schall und Rauch, selten heißt ein Grillteller „Beethoven“ oder „Mozart“. John Travoltas Züchter hat bei der Taufe vielleicht die Liedzeile You’re the one that I want oder Hopelessly devoted to you im Sinn gehabt. Aber was hat sich der von Pascal bloß bei „Pascal“ gedacht? Warum hat er seinen Stier nach einem Mann benannt, den Heerscharen von Dichtern und Denkern bis an den heutigen Tag als ihr Vorbild angesehen haben und ansehen, nach einem Mann, der, wie Chateaubriand sagt, in einem Alter, in dem die anderen Menschen kaum damit begonnen haben zu erwachen, bereits den ganzen Umkreis des menschlichen Wissens umschritten hatte, als er auch schon dessen Nichtigkeit erkannte und sich der Religion zuwandte; der von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem neununddreißigsten Lebensjahr trotz ständiger Schwächeanfälle und Schmerzen die Sprache Bossuets und Racines vollendete und für den vollkommensten Witz wie für die schärfste Kritik bleibende Muster aufstellte; von dem nicht bekannt ist, dass er sich jemals fortgepflanzt hätte, und dessen Spermien bei seiner elenden Konstitution auch keine Samenbank der Welt angenommen hätte. „Nichts ist dem Menschen unerträglicher, als in vollkommener Ruhe zu stehen“, sagt Pascal, „ohne Leidenschaft, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung, ohne Eifer. Er fühlt dann seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Leere. Unkeusch entsteigt dann seiner Seele die Langeweile 34/35
keit, der Schmerz, der Ekel, die Verzweiflung“. Einmal in der Woche, immer am Dienstag ist Entsamungstag. Da wird in Pascals Nasenring die lange Eisenstange eingehakt, und ein alter Mitarbeiter im blauen Drillich mit einer Pfeife im Mund führt Pascal aus dem Stall in die Quarantänestation, ein weißverfliester Raum, einer Autogarage nicht unähnlich, nur statt der Hebebühne die künstliche Kuh, die nur aus einem Rumpf aus Kunststoff besteht, kein Kopf, keine Extremitäten, ein Turngerät im Grund. Pascals Hörner sind ihm wie bei Stieren üblich bald nach der Geburt unter Narkose aus dem Schädel herausoperiert worden, aber gefährlich und unberechenbar genug ist er noch immer: Pascal wiegt über eine Tonne, und allein mit seinem Gewicht, der Wucht und der Kraft könnte er einen Menschen ohne weiteres zerdrücken, sagt der Tierarzt hinter der großen Glaswand und beobachtet, wie Pascal die Kunstkuh besteigt, bespringt und auch schon wieder von ihr ablässt: Was war das? Zuerst habe ich nicht glauben können, was ich da gesehen habe: Der Geschlechtsakt dauert kaum eine Sekunde und besteht aus einem einzigen Stoß! Man denke sich einen Menschenmann, der bei einer Menschenfrau eine einzige Hüftbewegung zur Verfügung hat! Nichts wäre zweckloser, sinnloser, lustloser als ein Einstoßgeschlechtsverkehr! „Derart unglücklich ist also der Mensch“, sagt Pascal, „dass er sich bekümmert, ohne irgendeinen Grund zu haben, und allein durch die Anlage seines Gemüts; und so billig ist er, dass, obgleich es tausend echte Gründe des Kummers gibt, das geringste, ein Billard oder ein Ball, den er schlägt, genügen, um ihn zu zerstreuen.“ Der Stier schaut nach dem Orgasmus drein, wie er vor dem Orgasmus dreingeschaut hat. Der Stier schaut drein, als ob der Orgasmus gar kein Orgasmus gewesen wäre, und wirklich kommt mir das Wort hier seltsam deplatziert vor. Höhepunkt war dieser Orgasmus sicher keiner, eine Nichtigkeit war er gewiss. Der Stier schaut nicht glücklich und nicht unglücklich aus, der Stierschaut
Pascal in Telfs
Von Egyd Gstättner Die Stiere in der Besamungsanstalt Birkenberg über den Dächern von Telfs heißen Vivaldi, Phil Collins, Pascal, Manner, John Travolta oder El Padre. Die Namen bekommen die Bullen nicht erst hier von den Bediensteten der Besamungsanstalt oder vom Tierarzt in der angeschlossenen Quarantänestation, sondern bereits von den jeweiligen Züchtern. Tieren Namen zu geben ist der erste Schritt zu ihrer Vermenschlichung und Verpersönlichung. Merkwürdig ist die Taufe gerade auf Menschennamen bei Tieren, die per definitionem reine Nutztiere sind, an denen einzig ihr Sperma von Interesse ist, um damit andere Tiere zu zeugen, an denen einzig die Milch von Interesse ist, und die, sobald das Sperma, die Milch, nicht mehr taugen, geschlachtet werden. Beim Mittagessen sind Namen dann wieder Schall und Rauch, selten heißt ein Grillteller „Beethoven“ oder „Mozart“. John Travoltas Züchter hat bei der Taufe vielleicht die Liedzeile You’re the one that I want oder Hopelessly devoted to you im Sinn gehabt. Aber was hat sich der von Pascal bloß bei „Pascal“ gedacht? Warum hat er seinen Stier nach einem Mann benannt, den Heerscharen von Dichtern und Denkern bis an den heutigen Tag als ihr Vorbild angesehen haben und ansehen, nach einem Mann, der, wie Chateaubriand sagt, in einem Alter, in dem die anderen Menschen kaum damit begonnen haben zu erwachen, bereits den ganzen Umkreis des menschlichen Wissens umschritten hatte, als er auch schon dessen Nichtigkeit erkannte und sich der Religion zuwandte; der von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem neununddreißigsten Lebensjahr trotz ständiger Schwächeanfälle und Schmerzen die Sprache Bossuets und Racines vollendete und für den vollkommensten Witz wie für die schärfste Kritik bleibende Muster aufstellte; von dem nicht bekannt ist, dass er sich jemals fortgepflanzt hätte, und dessen Spermien bei seiner elenden Konstitution auch keine Samenbank der Welt angenommen hätte. „Nichts ist dem Menschen unerträglicher, als in vollkommener Ruhe zu stehen“, sagt Pascal, „ohne Leidenschaft, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung, ohne Eifer. Er fühlt dann seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Leere. Unkeusch entsteigt dann seiner Seele die Langeweile, die Schwärze, die Traurig-
keit, der Schmerz, der Ekel, die Verzweiflung“. Einmal in der Woche, immer am Dienstag ist Entsamungstag. Da wird in Pascals Nasenring die lange Eisenstange eingehakt, und ein alter Mitarbeiter im blauen Drillich mit einer Pfeife im Mund führt Pascal aus dem Stall in die Quarantänestation, ein weißverfliester Raum, einer Autogarage nicht unähnlich, nur statt der Hebebühne die künstliche Kuh, die nur aus einem Rumpf aus Kunststoff besteht, kein Kopf, keine Extremitäten, ein Turngerät im Grund. Pascals Hörner sind ihm wie bei Stieren üblich bald nach der Geburt unter Narkose aus dem Schädel herausoperiert worden, aber gefährlich und unberechenbar genug ist er noch immer: Pascal wiegt über eine Tonne, und allein mit seinem Gewicht, der Wucht und der Kraft könnte er einen Menschen ohne weiteres zerdrücken, sagt der Tierarzt hinter der großen Glaswand und beobachtet, wie Pascal die Kunstkuh besteigt, bespringt und auch schon wieder von ihr ablässt: Was war das? Zuerst habe ich nicht glauben können, was ich da gesehen habe: Der Geschlechtsakt dauert kaum eine Sekunde und besteht aus einem einzigen Stoß! Man denke sich einen Menschenmann, der bei einer Menschenfrau eine einzige Hüftbewegung zur Verfügung hat! Nichts wäre zweckloser, sinnloser, lustloser als ein Einstoßgeschlechtsverkehr! „Derart unglücklich ist also der Mensch“, sagt Pascal, „dass er sich bekümmert, ohne irgendeinen Grund zu haben, und allein durch die Anlage seines Gemüts; und so billig ist er, dass, obgleich es tausend echte Gründe des Kummers gibt, das geringste, ein Billard oder ein Ball, den er schlägt, genügen, um ihn zu zerstreuen.“ Der Stier schaut nach dem Orgasmus drein, wie er vor dem Orgasmus dreingeschaut hat. Der Stier schaut drein, als ob der Orgasmus gar kein Orgasmus gewesen wäre, und wirklich kommt mir das Wort hier seltsam deplatziert vor. Höhepunkt war dieser Orgasmus sicher keiner, eine Nichtigkeit war er gewiss. Der Stier schaut nicht glücklich und nicht unglücklich aus, der Stier schaut stumpf. Aber er ist eben unberechenbar, und seine Reizschwelle ist generell niedrig. Pascal besteigt so ziemlich alles, wenn man ihn lässt, sagt der Tierarzt, auch Vivaldi, Phil Collins, John Travolta. Mit Homosexualität hat das gar nichts
Tierecke
zu tun. Die Vorderbeine auf der Kunstkuh fährt er blitzschnell seinen Penis aus – der ist sehr lang, sehr dünn, blutrot und mit dem Wort Rute zutreffender beschrieben als mit den Worten Prügel, Hammer, Wurst oder Schwanz –, der Mann im Drillich mit der Pfeife wartet seitlich und stülpt ihm genauso blitzschnell die Kunstvagina darüber – ein Gerät, das an eine Schultüte oder vielleicht an den Fanghandschuh eines Eishockeytormanns erinnert –, und sobald Pascal das Warme dieser Vagina spürt, ist es auch schon um ihn geschehen und er spritzt unwillkürlich sofort ab. Nach dieser einen Sekunde ist es auch mit der Erektion wieder vorbei. Zehn Minuten Zeit haben nur die Schweine und die Menschen, sagt der Tierarzt. Der Mann mit der Pfeife bringt dem Veterinärmediziner das Sperma. Der füllt es in eine Pipette, setzt einen Tropfen auf das Testglas, und während er die Spermafäden unter dem Mikroskop betrachtet, starrt Pascal hinter der Glaswand ins Leere, lässt seinen Kot zu Boden fallen und denkt, dass die Menschen den Tod, das Elend, die Unwissenheit nicht heilen konnten. Und sie haben sich, um glücklich zu sein, geeinigt, nicht daran zu denken; das ist alles, was sie erfunden haben, um sich vor so viel Fluch zu trösten. Die Männer spritzen mit großen Schläuchen den Fliesenboden ab, dann kommen Vivaldi, Phil Collins, John Travolta, El Padre an die Reihe, das Turngerät zu begatten. 1648, als Pascal fünfundzwanzig Jahre alt war und sich von der Lächerlichkeit, Nichtswürdigkeit und Erbärmlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis angeekelt der Religion zuwandte, wurde am Gelände von Birkenberg in unmittelbarer Nachbarschaft der Landwirtschaft, also der beiden Bauernhöfe, in denen heute die Besamungsanstalt untergebracht ist, eine barocke Rundkuppelkapelle gebaut und als Kirchweihfest der 2. Juli – Mariä Heimsuchung – festgelegt. Heimsuchung bedeutet hier aber weder Urteil, noch Plage, sondern einfach der Besuch des Engels, der Maria verkündete, sie würde einen Sohn bekommen, Jesus Christus. Mariä Heimsuchung bedeutet also Mariä Fruchtbarkeitsankündigung. Am Hochaltar des Kirchleins rechts oben steht ganz in Gold gehalten der Heilige Franz Xaver, der Missionar Indiens. In seiner rechten Hand hält er ein Kreuz
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schurz tauft, das in Telfs das Mohrele genannt wird. Wenn sich, wie mir der Leiter der Besamungsanstalt erzählt hat, eine Frau ein Kind wünscht und lange vergeblich darauf wartet, dann gibt man ihr in Telfs den Ratschlag: „Gehe beten nach Birkenberg zum Mohrele!“ Christentum hin, Missionierung her: Von dunkelhäutigen Mitmenschen erzählt man sich sexuell wahre Wunderdinge, und die Begriffe Stier und Bulle im Allgemeinen und speziell Hammer, Prügel, Wurst oder Schwanz sind ganz sicher angebracht. Man muss nur irgendein Pornoheft in irgendeiner Autobahntankstelle der Inntalautobahn aufschlagen. Wenn also Spaziergänger diesen Weg am Waldesrand entlangwandern, auf das Gehöft mit der Aufschrift „Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer Tirol“ (Zutritt für Unbefugte verboten) stoßen und gleich daneben das Hinweisschild „Wallfahrtskirchlein Maria Heimsuchung“ (Zugang gestattet) sehen, könnten sie von der kuriosen Parallelität wenigstens auf den ersten Blick überrascht und belustigt sein und sich vielleicht denken, dass eine Telfer Frau, die sich ein Kind wünscht, lange vergeblich darauf wartet und auch schon beim Mohrele umsonst gebetet hat, nur ein paar Schritte weitergehen müsste, um mehrere hundert in Pailetten abgefüllte Portionen Tiefgefriersamen zur Verfügung zu haben. Gut zu wissen, dass von Anfang an großes Augenmerk auf eine moderne technische Einrichtung der Besamungsstation gelegt wurde. Heute erfolgt die Abfüllung und Beschriftung der Pailetten in einem Arbeitsgang und das Einfrieren vollautomatisch mittels einer Einfriermaschine, wodurch eine noch bessere Samenqualität erzielt werden kann. Die Kontumazstation Birkenberg ist durch ihren hohen Standard berechtigt, in alle Länder Sperma zu versenden, und ist in Besitz des EU-Zertifikats unter der Nummer AT-SE 5b. Der Geschlechtsakt dauert allerdings nur einen Stoß lang. Ist unter den Spaziergängern am Waldesrand ein besonderer
zu tun. Die Vorderbeine auf der Kunstkuh fährt er blitzschnell seinen Penis aus – der ist sehr lang, sehr dünn, blutrot und mit dem Wort Rute zutreffender beschrieben als mit den Worten Prügel, Hammer, Wurst oder Schwanz –, der Mann im Drillich mit der Pfeife wartet seitlich und stülpt ihm genauso blitzschnell die Kunstvagina darüber – ein Gerät, das an eine Schultüte oder vielleicht an den Fanghandschuh eines Eishockeytormanns erinnert –, und sobald Pascal das Warme dieser Vagina spürt, ist es auch schon um ihn geschehen und er spritzt unwillkürlich sofort ab. Nach dieser einen Sekunde ist es auch mit der Erektion wieder vorbei. Zehn Minuten Zeit haben nur die Schweine und die Menschen, sagt der Tierarzt. Der Mann mit der Pfeife bringt dem Veterinärmediziner das Sperma. Der füllt es in eine Pipette, setzt einen Tropfen auf das Testglas, und während er die Spermafäden unter dem Mikroskop betrachtet, starrt Pascal hinter der Glaswand ins Leere, lässt seinen Kot zu Boden fallen und denkt, dass die Menschen den Tod, das Elend, die Unwissenheit nicht heilen konnten. Und sie haben sich, um glücklich zu sein, geeinigt, nicht daran zu denken; das ist alles, was sie erfunden haben, um sich vor so viel Fluch zu trösten. Die Männer spritzen mit großen Schläuchen den Fliesenboden ab, dann kommen Vivaldi, Phil Collins, John Travolta, El Padre an die Reihe, das Turngerät zu begatten. 1648, als Pascal fünfundzwanzig Jahre alt war und sich von der Lächerlichkeit, Nichtswürdigkeit und Erbärmlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis angeekelt der Religion zuwandte, wurde am Gelände von Birkenberg in unmittelbarer Nachbarschaft der Landwirtschaft, also der beiden Bauernhöfe, in denen heute die Besamungsanstalt untergebracht ist, eine barocke Rundkuppelkapelle gebaut und als Kirchweihfest der 2. Juli – Mariä Heimsuchung – festgelegt. Heimsuchung bedeutet hier aber weder Urteil, noch Plage, sondern einfach der Besuch des Engels, der Maria verkündete, sie würde einen Sohn bekommen, Jesus Christus. Mariä Heimsuchung bedeutet also Mariä Fruchtbarkeitsankündigung. Am Hochaltar des Kirchleins rechts oben steht ganz in Gold gehalten der Heilige Franz Xaver, der Missionar Indiens. In seiner rechten Hand hält er ein Kreuz, in seiner linken eine Muschel, mit der er gerade ein – kohlrabenschwarzes – indisches Kind in goldenem Lenden-
schurz tauft, das in Telfs das Mohrele genannt wird. Wenn sich, wie mir der Leiter der Besamungsanstalt erzählt hat, eine Frau ein Kind wünscht und lange vergeblich darauf wartet, dann gibt man ihr in Telfs den Ratschlag: „Gehe beten nach Birkenberg zum Mohrele!“ Christentum hin, Missionierung her: Von dunkelhäutigen Mitmenschen erzählt man sich sexuell wahre Wunderdinge, und die Begriffe Stier und Bulle im Allgemeinen und speziell Hammer, Prügel, Wurst oder Schwanz sind ganz sicher angebracht. Man muss nur irgendein Pornoheft in irgendeiner Autobahntankstelle der Inntalautobahn aufschlagen. Wenn also Spaziergänger diesen Weg am Waldesrand entlangwandern, auf das Gehöft mit der Aufschrift „Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer Tirol“ (Zutritt für Unbefugte verboten) stoßen und gleich daneben das Hinweisschild „Wallfahrtskirchlein Maria Heimsuchung“ (Zugang gestattet) sehen, könnten sie von der kuriosen Parallelität wenigstens auf den ersten Blick überrascht und belustigt sein und sich vielleicht denken, dass eine Telfer Frau, die sich ein Kind wünscht, lange vergeblich darauf wartet und auch schon beim Mohrele umsonst gebetet hat, nur ein paar Schritte weitergehen müsste, um mehrere hundert in Pailetten abgefüllte Portionen Tiefgefriersamen zur Verfügung zu haben. Gut zu wissen, dass von Anfang an großes Augenmerk auf eine moderne technische Einrichtung der Besamungsstation gelegt wurde. Heute erfolgt die Abfüllung und Beschriftung der Pailetten in einem Arbeitsgang und das Einfrieren vollautomatisch mittels einer Einfriermaschine, wodurch eine noch bessere Samenqualität erzielt werden kann. Die Kontumazstation Birkenberg ist durch ihren hohen Standard berechtigt, in alle Länder Sperma zu versenden, und ist in Besitz des EU-Zertifikats unter der Nummer AT-SE 5b. Der Geschlechtsakt dauert allerdings nur einen Stoß lang. Ist unter den Spaziergängern am Waldesrand ein besonderer Blödler, wird ihm vielleicht auch zu den Ortsnamen Mösern oder Absam noch eine pubertäre Anzüglichkeit entkommen. Wüsste der Spaziergänger jedoch, dass hinter diesen grauen Mauern gerade ausgerechnet der arme Pascal entsamt wird, und sagte ihm der Name des gallischen Genius etwas, dann würde er wohl eher peinlich berührt als belustigt sein und er könnte bezüg-
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lich der Telfer Frauen, die schon lange vergeblich auf Nachwuchs warten, denken, ihnen weder zu raten, zum Mohrele zu beten, noch ihr Heil in künstlicher Befruchtung und dem Austausch von Topgenetik zu suchen, sondern lieber ein bisschen Pascal zu lesen und sich einmal ernstlich zu fragen, warum sie sich denn überhaupt unbedingt fortpflanzen wollen, wo doch Pascal die Beschaffenheit des Menschen mit genau drei Worten umschreibt: Haltlosigkeit, Langeweile, Angst. „Wer die Nichtigkeit der Welt nicht sieht, ist nichtig“, sagt Pascal, liebe Telferinnen! „Auch die jungen Menschen, die sie nicht sehn, die alle im Lärm stehen, in den Zerstreuungen und in Gedanken an die Zukunft? Aber man nehme ihnen die Vergnügungen, und man wird sie eintrocknen sehn vor Langeweile; sie fühlen die Nichtigkeit, ohne sie zu erkennen, denn es ist besser, unglücklich zu sein, als in einer unerträglichen Traurigkeit zu sein, wenn man auf sich selbst zurückgeführt ist und nicht mehr zerstreut“. Wozu also, liebe Telferinnen, unter solchen existentiellen Bedingungen noch neue Menschen? Wir suchen das Glück und finden nur Elend. Aber unser Elend ist die Folge unserer Größe und unsere Größe ist die Folge unseres Elends. Denn der Mensch weiß, dass er elend ist. Er ist elend, weil er es weiß. Oder Mohreleanbeten, Samenspenden, Kinderkriegen, weil es, wieder mit Pascal gesprochen, leichter ist, den Tod ohne Gedanken zu ertragen, als den Gedanken des Todes ohne Gefahr? Solang ich mich am Birkenberg umsah und mit dem Veterinärmediziner oder dem Leiter der Besamungsanstalt sprach, der mich auch in das Wallfahrtskirchlein führte, kam aber ohnehin keine einzige Telferin, um beim Mohrele um Fruchtbarkeit zu beten oder mich in die Kontumazstation zu begleiten, um den Stier beim Samenspenden zu beobachten, der nach einem Mann benannt ist, der mit dreiundzwanzig Jahren einen epochemachenden Traktat über den Horror vacui geschrieben und die Hälfte seines Lebens, das nur 39 Jahre dauerte, unter den größten körperlichen Heimsuchungen verbracht hat, hier tatsächlich bösartige Heimsuchungen, für die wir das Wort heute verwenden, die Pascal mit der edelsten Geduld und Fassung, ja fast mit Heiterkeit ertragen hat. Obgleich durch beständige Kolik, Kopfneuralgie, Zahnfleischentzündung und Schlaflosigkeit
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machte sich alle Handreichungen selber und nahm sogar noch einen kranken Armen zu sich, den er bediente und pflegte. Er pries Gott für seine Krankheiten, denn Kranksein, pflegte er zu sagen, sei der einzige eines Christen würdige Zustand; ja er hatte förmlich Angst davor, wieder gesund zu werden. Was für ein Sperma wäre da tiefgefroren worden! Pascals philosophische Methode ist in dem Satz enthalten: „Man muß dreierlei sein: Mathematiker, Skeptiker und gläubiger Christ“. Vom Erotomanen ist nicht die Rede. Auch wenn ich das Gegenteil eines gläubigen Christen bin, kenne ich doch zumindest die Aufforderung des Herrn, uns die Erde Untertan zu machen, wozu dann wohl implizit die Nutzung der Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer für Tirol gleich gegenüber gehört. Aber zwischen Kunstkuh und Tragbarvagina wird kein Rotlicht eingeknipst und kein Seidenstrumpf angelegt und kein Bolero gespielt. Da passiert ganz einfach der erste Arbeitsschritt der Fleischabteilungen von Spar und Billa und Merkur und Mondo. Wachset und vermehret euch deckseuchenfrei unter Aufsicht der Krone der Schöpfung zu deren alleinigen Nutzen. Lasset euch besamen und melken und schlachten mit biologischer Ursprungsgarantie, in eine Frischhalteklarsichtfolie einwickeln und in der Aktion verkaufen um heute nur 1 Euro 99. Eine unmittelbare Nachbarschaft von Wallfahrtskirche und Besamungsanstalt mag kurios sein im ersten Augenblick der Wahrnehmung und im ersten Moment, in dem man davon hört: Aber es ist keine Geschichte darüber zu erzählen, es sei denn eine erfundene, was ich nicht will und was mich nicht interessiert. Denn das Erfundene ist das Beliebige. Also fuhr ich ergebnislos wieder hinunter ins Dorf und sah mich vor dem Abendessen noch ein wenig
lich der Telfer Frauen, die schon lange vergeblich auf Nachwuchs warten, denken, ihnen weder zu raten, zum Mohrele zu beten, noch ihr Heil in künstlicher Befruchtung und dem Austausch von Topgenetik zu suchen, sondern lieber ein bisschen Pascal zu lesen und sich einmal ernstlich zu fragen, warum sie sich denn überhaupt unbedingt fortpflanzen wollen, wo doch Pascal die Beschaffenheit des Menschen mit genau drei Worten umschreibt: Haltlosigkeit, Langeweile, Angst. „Wer die Nichtigkeit der Welt nicht sieht, ist nichtig“, sagt Pascal, liebe Telferinnen! „Auch die jungen Menschen, die sie nicht sehn, die alle im Lärm stehen, in den Zerstreuungen und in Gedanken an die Zukunft? Aber man nehme ihnen die Vergnügungen, und man wird sie eintrocknen sehn vor Langeweile; sie fühlen die Nichtigkeit, ohne sie zu erkennen, denn es ist besser, unglücklich zu sein, als in einer unerträglichen Traurigkeit zu sein, wenn man auf sich selbst zurückgeführt ist und nicht mehr zerstreut“. Wozu also, liebe Telferinnen, unter solchen existentiellen Bedingungen noch neue Menschen? Wir suchen das Glück und finden nur Elend. Aber unser Elend ist die Folge unserer Größe und unsere Größe ist die Folge unseres Elends. Denn der Mensch weiß, dass er elend ist. Er ist elend, weil er es weiß. Oder Mohreleanbeten, Samenspenden, Kinderkriegen, weil es, wieder mit Pascal gesprochen, leichter ist, den Tod ohne Gedanken zu ertragen, als den Gedanken des Todes ohne Gefahr? Solang ich mich am Birkenberg umsah und mit dem Veterinärmediziner oder dem Leiter der Besamungsanstalt sprach, der mich auch in das Wallfahrtskirchlein führte, kam aber ohnehin keine einzige Telferin, um beim Mohrele um Fruchtbarkeit zu beten oder mich in die Kontumazstation zu begleiten, um den Stier beim Samenspenden zu beobachten, der nach einem Mann benannt ist, der mit dreiundzwanzig Jahren einen epochemachenden Traktat über den Horror vacui geschrieben und die Hälfte seines Lebens, das nur 39 Jahre dauerte, unter den größten körperlichen Heimsuchungen verbracht hat, hier tatsächlich bösartige Heimsuchungen, für die wir das Wort heute verwenden, die Pascal mit der edelsten Geduld und Fassung, ja fast mit Heiterkeit ertragen hat. Obgleich durch beständige Kolik, Kopfneuralgie, Zahnfleischentzündung und Schlaflosigkeit geplagt, verzichtete er doch auf jede Bequemlichkeit,
machte sich alle Handreichungen selber und nahm sogar noch einen kranken Armen zu sich, den er bediente und pflegte. Er pries Gott für seine Krankheiten, denn Kranksein, pflegte er zu sagen, sei der einzige eines Christen würdige Zustand; ja er hatte förmlich Angst davor, wieder gesund zu werden. Was für ein Sperma wäre da tiefgefroren worden! Pascals philosophische Methode ist in dem Satz enthalten: „Man muß dreierlei sein: Mathematiker, Skeptiker und gläubiger Christ“. Vom Erotomanen ist nicht die Rede. Auch wenn ich das Gegenteil eines gläubigen Christen bin, kenne ich doch zumindest die Aufforderung des Herrn, uns die Erde untertan zu machen, wozu dann wohl implizit die Nutzung der Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer für Tirol gleich gegenüber gehört. Aber zwischen Kunstkuh und Tragbarvagina wird kein Rotlicht eingeknipst und kein Seidenstrumpf angelegt und kein Bolero gespielt. Da passiert ganz einfach der erste Arbeitsschritt der Fleischabteilungen von Spar und Billa und Merkur und Mondo. Wachset und vermehret euch deckseuchenfrei unter Aufsicht der Krone der Schöpfung zu deren alleinigen Nutzen. Lasset euch besamen und melken und schlachten mit biologischer Ursprungsgarantie, in eine Frischhalteklarsichtfolie einwickeln und in der Aktion verkaufen um heute nur 1 Euro 99. Eine unmittelbare Nachbarschaft von Wallfahrtskirche und Besamungsanstalt mag kurios sein im ersten Augenblick der Wahrnehmung und im ersten Moment, in dem man davon hört: Aber es ist keine Geschichte darüber zu erzählen, es sei denn eine erfundene, was ich nicht will und was mich nicht interessiert. Denn das Erfundene ist das Beliebige. Also fuhr ich ergebnislos wieder hinunter ins Dorf und sah mich vor dem Abendessen noch ein wenig in der Telfer Pfarrkirche um, die nicht nur baulich, sondern auch farblich mit ihrem intensiven Gelb und Orange aus dem Ortsgrau herausragt. Es war der Montagabend der Karwoche, und ein Holzschnitzjesus mit rotem Königsmantel zog auf einem Holzschnitzesel reitend einen Ölzweig in der Hand in Jerusalem ein. Der Esel hat den Kopf gesenkt, aber die Ohren gespitzt: Jedes Jahr kommt auf seinen Reiter mit naturgesetzlicher Gewissheit dasselbe Unheil zu. An der Vorderfront des Volksaltars hängt ein Tuch, auf dem steht „Ich habe Euch ein Beispiel gegeben, damit ihr auch so
Tierecke
handelt“. Und so ist draußen am Kirchfriedhof vor ein paar Stunden eine über neunzig Jahre alte Frau begraben worden, die erst vor drei Tagen gestorben ist. Aber schon hat sie ein Grabkreuz mit Bild und den Daten von Geburtstag und Todestag: Das geht prompt hier. Vor einem Jahr am letzten Karwochenmontag war die Verstorbene wohl noch bei den vier alten Frauen, die in zwei der vorderen Bankreihen im sonst völlig menschenleeren Kirchenschiff den Rosenkranz beten: ein Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wie auf Kommando laut und wie aus einer Kehle: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wieder laut und deutlich und bedrohlich: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Das „Gegrüßet seist du, Maria“ ist hier kein Gruß und kein Gebet, sondern eine Beschwörung. Aber es geht ja auch um alles, um Leben und Tod. Um den Tod vor allem. Wer schert sich da um Fruchtbarkeit! Nach dem Abendessen flanierte ich, weil es noch zu früh war, auf mein Hotelzimmer zu gehen, die Untermarktstraße entlang, schaute die Schaufenster an und gelangte durch eine Passage auf den Eduard-Wallnöfer-Platz, wohin, während die Glocken der nahen, aber leeren Pfarrkirche Peter & Paul zur Abendmesse läuteten, immer mehr Telferinnen strömten: Schöne und Hässliche, Dicke und Dünne, Junge und Mittelalte und Junggebliebene, Große und Kleine, Attraktive, Rassige, Unansehnliche, grell Herausgeputzte und Unscheinbare, in Gruppen Zusammenstehende, laut Plaudernde, allein an einer Hauswand Lehnende, mit verschränkten Armen, sich an ihre Handtasche anhaltend, rauchend, wartend. Immer mehr kamen, immer mehr und allesFrauen. Wenn ich die Größe von Telfs bedenke und die Einwohnerzahl hochschließe, werden vermutlich ausnahmslos alle Einwohnerinnen von Telfs vor dem Klimakterium auf den Eduard-Wallnöfer-Platz geströmt sein. Ich war unter all den Frauen
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dem Veranstaltungsplakat „erotische Tanzdarbietungen“ verhießen. Da waren also all die Telfer Frauen, die nicht zu Maria Heimsuchung hinaufpilgern und zum Mohrele beten wollen! Und die Schar der Frauen, die sich nicht zu genieren schien, aber auch keine gierige, überbordende Lust zeigte, bewegte sich in immer höherer Dichte dem Eingang zu und schob mich förmlich in den Telfer Rathaussaal hinein, sodass ich erst vor dem kleinen improvisierten Merchandising-Shop wieder zu Stehen kam, wo ein Chippendale – ich bin momentan unsicher, ob es sich bei dem Wort um ein Pluraletantum handelt – in schwarzen Stiefeln, schwarzer Lederhose, mit nacktem, brusthaarrasiertem, womöglich auch eingeöltem Oberkörper mit Tätowierung über der linken Brustwarze – der Schriftzug Marines und ein Schiff – mit weißer Manschette und schwarzer Fliege am Hals und viel Gel in den Haaren Zeitschriften, Plakate, Videos, TShirts und pinke Herren-String-Tangas verkaufte. Eintrittskarten gab es zu 35, 40 oder 45 Euro. Ich habe aber keine gekauft, weil es mir peinlich wäre, in einem ausschließlich aus Frauen bestehenden Publikum zu sitzen, das möglicherweise triefend geil auf halbnackte Männer mit Waschbrettbäuchen ist, die möglicherweise gar nicht geil auf die Frauen im Publikum sind und keinerlei außer eben finanzielles Interesse an ihnen haben: eine ganz alte Geschichte, nur dassFrauen Männer, aus MännernFrauen geworden sind. Ich habe keine Eintrittskarte gekauft, weil „erotische
handelt“. Und so ist draußen am Kirchfriedhof vor ein paar Stunden eine über neunzig Jahre alte Frau begraben worden, die erst vor drei Tagen gestorben ist. Aber schon hat sie ein Grabkreuz mit Bild und den Daten von Geburtstag und Todestag: Das geht prompt hier. Vor einem Jahr am letzten Karwochenmontag war die Verstorbene wohl noch bei den vier alten Frauen, die in zwei der vorderen Bankreihen im sonst völlig menschenleeren Kirchenschiff den Rosenkranz beten: ein Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wie auf Kommando laut und wie aus einer Kehle: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wieder laut und deutlich und bedrohlich: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Das „Gegrüßet seist du, Maria“ ist hier kein Gruß und kein Gebet, sondern eine Beschwörung. Aber es geht ja auch um alles, um Leben und Tod. Um den Tod vor allem. Wer schert sich da um Fruchtbarkeit! Nach dem Abendessen flanierte ich, weil es noch zu früh war, auf mein Hotelzimmer zu gehen, die Untermarktstraße entlang, schaute die Schaufenster an und gelangte durch eine Passage auf den Eduard-Wallnöfer-Platz, wohin, während die Glocken der nahen, aber leeren Pfarrkirche Peter & Paul zur Abendmesse läuteten, immer mehr Telferinnen strömten: Schöne und Hässliche, Dicke und Dünne, Junge und Mittelalte und Junggebliebene, Große und Kleine, Attraktive, Rassige, Unansehnliche, grell Herausgeputzte und Unscheinbare, in Gruppen Zusammenstehende, laut Plaudernde, allein an einer Hauswand Lehnende, mit verschränkten Armen, sich an ihre Handtasche anhaltend, rauchend, wartend. Immer mehr kamen, immer mehr und alles Frauen. Wenn ich die Größe von Telfs bedenke und die Einwohnerzahl hochschließe, werden vermutlich ausnahmslos alle Einwohnerinnen von Telfs vor dem Klimakterium auf den Eduard-Wallnöfer-Platz geströmt sein. Ich war unter all den Frauen der einzige Mann. Die Telferinnen waren aber nicht wegen mir gekommen, der ich in Telfs auch nicht mehr zu tun hatte als mir ein wenig die Beine zu vertreten, sondern weil, wie ich schnell bemerkt hatte, an diesem Karwochenmontagabend im Rathaussaal The Chippendales gastierten, eine Gruppe muskulöser junger Männer, die auf
dem Veranstaltungsplakat „erotische Tanzdarbietungen“ verhießen. Da waren also all die Telfer Frauen, die nicht zu Maria Heimsuchung hinaufpilgern und zum Mohrele beten wollen! Und die Schar der Frauen, die sich nicht zu genieren schien, aber auch keine gierige, überbordende Lust zeigte, bewegte sich in immer höherer Dichte dem Eingang zu und schob mich förmlich in den Telfer Rathaussaal hinein, sodass ich erst vor dem kleinen improvisierten Merchandising-Shop wieder zu Stehen kam, wo ein Chippendale – ich bin momentan unsicher, ob es sich bei dem Wort um ein Pluraletantum handelt – in schwarzen Stiefeln, schwarzer Lederhose, mit nacktem, brusthaarrasiertem, womöglich auch eingeöltem Oberkörper mit Tätowierung über der linken Brustwarze – der Schriftzug Marines und ein Schiff – mit weißer Manschette und schwarzer Fliege am Hals und viel Gel in den Haaren Zeitschriften, Plakate, Videos, T-Shirts und pinke Herren-String-Tangas verkaufte. Eintrittskarten gab es zu 35, 40 oder 45 Euro. Ich habe aber keine gekauft, weil es mir peinlich wäre, in einem ausschließlich aus Frauen bestehenden Publikum zu sitzen, das möglicherweise triefend geil auf halbnackte Männer mit Waschbrettbäuchen ist, die möglicherweise gar nicht geil auf die Frauen im Publikum sind und keinerlei außer eben finanzielles Interesse an ihnen haben: eine ganz alte Geschichte, nur dass aus Frauen Männer, aus Männern Frauen geworden sind. Ich habe keine Eintrittskarte gekauft, weil „erotische Tanzdarbietungen“ von Männern bei mir, wenn überhaupt, nur unangenehme Empfindungen auslösen, weil ich ohnehin schon Vivaldi, Phil Collins, John Travolta und El Padre an der Arbeit und das Letzte geben gesehen habe, weil schließlich keiner der Chippendales Pascal heißt, und wenn, dann ist er sicher nicht nach dem Philosophen der berühmten Pensées benannt, sondern hat einfach den Vornamen Pascal bekommen, wie er heute in Mode gekommen und schick, aber bedeutungslos und nichtssagend ist. Von keinem der Chippendales stammt der Satz: Die einzige Sache, die uns von unseren Nichtigkeiten tröstet, ist die Zerstreuung, und sie ist doch die elendste unserer Nichtigkeiten. Sie hindert uns am hauptsächlichsten, an uns zu denken. Ohne sie wären wir in der Langeweile, aber sie stieße uns zu einem verlässlicheren Mittel, aus ihr herauszutreten. Aber die Zerstreuung unterhält uns und führt uns empfindungslos zum Tod.
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* Herman Parret und Omar Calabrese: „Imaginaties“, in: Antwerpen 1993 „Vertoog en Literatuur“ (Cahier 1: Lijn, Grens, Horizon)
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„ … gerade das, was man sehen will“
Auf dem Umschlag des vorliegenden Heftes ist ein hypothetischer Raum von William Engelen, gebaut aus Holz, Pappe, Plexiglas – um ihn für Quart zu fotografieren: „Turning Point“ schwankt zwischen Bewegung und „Freeze“, zwischen Hoch- und Flachland. Dieses Hin- und Herpendeln ist weniger darauf zurückzuführen, dass Engelen, ein gebürtiger Holländer, mehrfach in Tirol weilte, als auf das Modell selbst: Über einer Bodenplatte schweben mehrere Schichten, dazwischen sind Kügelchen, die ein ständig sich bewegendes System simulieren und sich immer wieder in verschiedenen Formationen zusammenfügen – zu Trauben, Türmen, Bergen. In jeder Ebene sind Notationen eingeschrieben, die auf Tanzfiguren und Bewegungsabläufe im öffentlichen Raum verweisen oder als Texte zu lesen sind: Aussagen zur Umgebung, zur Wechselbeziehung der sich überlagernden Schichten, oft sehr persönliche Notizen. Generell entwirft Engelen in seinen hypothetischen Modellen Spiele zwischen Mensch und Natur /Architektur: „Das Spiel kennt keine Gewinner und Verlierer.“ Zu „Turning Point“ schickte er die folgenden Notizen:
von einem fantastischen Ort, von einem utopischen Ort, einem Ort außerhalb aller bekannten Orte. Fröhlich oder nachdenklich, Reise zur See, per Ballon, mit dem Orient Express, zum Feuer des Erdinnern, zu galaktischen Entfernungen an der Grenze des Universums, zu unbeschreibbar schwindelerregenden Wüsten …* Geografie Hypothetische Karten, imaginäre Karten. Die Schatteninsel, Utopia, Lilliput … Soviele Inseln, die genauso wie die Kontinente und die Städte erfunden sind und die in den Geschichten ihre Runde machen. Unser Planet ist genauso wie jeder andere ein Theater. Alles darauf ist in Perspektive gebracht, man sieht gerade das, was man sehen will. Die Begriffe selbst – von Kontinent, Stadt, Landstrich – sind Geschichten, Abenteuer. Kartografie der Welt, Kartografie meiner Seele.*
Reisen Horizont Wir sind alle Argonauten. Selbst der Mönch, der an seine Zelle gebunden ist. Denn die Vorstellung, vor allem sie, reist unaufhörlich. Vergessen und Suchen. Verdrängung einer bestimmten Anwesenheit, eines bestimmten Ortes. Traum von einer großen Zukunft,
Der Horizont steckt einen umschlossenen Raum ab. Nach traditionellem Verständnis markiert er den Raum dessen, was man sehen kann, er organisiert mit anderen Worten den visuellen Raum als ein Drin-
Raumordnung
* T. Kijser: „platteland“, in: Ommision „wwwikwoonhierpuntnl“, Rotterdam 2001
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** Boris Vian: „De Hartevreter“, Amsterdam 1966
nen, er macht das Draußen – die Landschaft – zu einem Drinnen. Der Horizont ist ein Drinnen. Der Horizont ist nicht dasjenige, an dem irgendetwas aufhört, sondern, so wie die Griechen es sahen, dasjenige, von wo aus etwas beginnt zu sein. Was mich als Flachländer mit den Bergen verbindet, ist der Horizont. Flachland Das Flachland ist flach. Weil das Flachland flach ist, kann man da gut fahrradfahren. Aus demselben Grund kann der Wind dort gut wehen. Wind und Fahrradfahren gehen nicht zusammen. Also fahren die Fahrradfahrer meistens gegen den Wind. Das Flachland ist flach. Weil das Flachland flach ist, kann man da gut liegen. Mit einem Mädchen zum Beispiel. Der Wind kann dann wohl gut wehen auf dem flachen Land, aber wenn man liegt und das Fahrrad steht, kann man den Wind am besten ignorieren und liegenbleiben. Mädchen liegen lieber, als dass sie fahrradfahren. Bevor sie liegen, können, müssen sie erst fahrradfahren. Auf dem flachen Land, gegen den Wind, mit einem Röckchen an. Weil: mit einem Röckchen an liegt sichs besser. Das wissen auch die Mädchen.*
sofort wird es trockengelegt. Eines der ersten Dinge, die einem Auswärtigen auffallen, ist die große Zahl von Wohltätigkeitseinrichtungen, und ich glaube nicht, dass es ein Land gibt, wo Wohltätigkeit so intensiv betrieben wird wie in Holland. Wir wollen nicht, dass jemand wirklich viel niedriger gestellt ist, aber wir wollen auch nicht, dass jemand wirklich viel höher gestellt ist. Alles, was irgendwo heraussticht, erweckt in den Niederlanden den unwiderstehlichen Drang, es gleichzumachen, denken Sie nur an den 2002 ermordeten Politiker Pim Fortuyn. Dieser Urinstinkt zum Gleichmachen wirkt schon bei Kindern. Das mit Kreide auf den Zaun geschriebene „Piet ist verrückt“ bedeutet nicht, dass Piet seelisch krank ist, dann würden wir sofort Spenden für ihn sammeln, es heißt, dass Piet sich auffällig benommen hat, und das soll er lassen. absurd (nach Boris Vian) „… der Fluss voll Blut, die Kreuzigung eines Pferdes, das Töten von Lehrlingen, die ihre Arbeit nicht gut tun, das Einsperren von Kindern, um sie zu beschützen, Boxkämpfe in der Kirche, der Verkauf von alten Leuten“ … sich vorzustellen, dass es einen Berg in Holland geben könnte.**
Niederländer Der Charakter eines Volkes wird vor allem durch die Landschaft bestimmt. Unser Boden ist … platt, wir kennen weder Berge noch Täler … aber wir vertragen sie auch nicht. Gibt es irgendwo ein Wasserloch,
[Es folgen acht Bildbeschreibungen zu Arbeiten von William Engelen:]
Raumordnung
„Fugen“ Bei Blinden wird das visuelle und räumliche Bewusstsein durch eine eigenartige Beziehung zur Zeit ersetzt; etwas, das John Hull „blinde Zeit“ nennt: „Bei Blinden ist das Bewusstsein, an einem bestimmten Ort zu sein, weniger deutlich … Der Raum wird auf den eigenen Körper reduziert, man weiß, wo sich der Körper befindet, nicht durch die Objekte, an denen man vorbeigegangen ist, sondern durch die Zeit, die die Bewegung in Anspruch nimmt.“ (…) „Menschen sind zeitlich, sie kommen und sie gehen. Sie kommen aus dem Nichts, und sie verschwinden … Für Blinde gibt es keine Menschen, es sei denn, sie sprechen.“ (John Hull, Touching the Rock, 1990)* Als ein Psychologe die Opfer des Bijlmer-Unglücks bat, die Videobilder zu beschreiben, die zeigen, wie das Flugzeug auf die Bijlmersiedlung stürzt, lieferten die Befragten sehr detaillierte Beschreibungen. Indes: Es gibt keine Videobilder des Absturzes.** Q. S. Serafijn * „De Groene Amsterdammer“, 25. September 1996 ** Am 4. Oktober 1992 stürzte ein israelisches Flugzeug auf zwei Hochhäuser in der Amsterdamer Bijlmersiedlung. Das Unglück kostete 43 Menschen das Leben. Jahre später versuchte eine parlamentarische Enquetekommission, die Umstände des noch immer rätselhaften Flugzeugunglücks aufzuklären.
„Parcours“ William Engelens Studio ist Teil unserer gemeinsamen Wohnung, seine Arbeit hat nicht nur gedanklich, sondern auch räumlich einen Platz in meinem Leben. Als er mich fragte, ob ich ein paar – wie er es nannte – „Tanzfiguren“ machen könne, befürchtete ich, auf eine Weise in seine Arbeit hineingezogen zu werden, die mir zu weit ging. Die Bewegungen von Tänzern, die er mir in einem Buch zeigte, sollten nachgestellt und fotografiert werden. Wozu? „Modellfiguren machen“, sagte er. Ich kannte bisher nur die Figuren aus dem Architekturmodellbau, die William oft in seinen Arbeiten verwendet. Es gefiel mir, wie er diese „Wesen“ zweckentfremdet – wie er mit ihnen ziemlich absurde, manchmal fast groteske, merkwürdig anrührende Konstellationen herstellt. Jetzt wurde ich neugierig, wie sich Fotos von mir in Modellfiguren verwandeln würden. Ich sagte: ja. Als zum ersten Mal die fertige Arbeit vor mir lag, sah ich mich durch eine riesige unbekannte Gedankenwelt tanzen. In meiner Vorstellung ging diese Welt weit über die sichtbaren Grenzen hinaus. Friederike Feldmann 46/47
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„Park“ Der Plan für „Park“ ist ein Rasterdiagramm, das sich aus Schach und Tanz ableitet. 21 Schachpartien sind in CAD* übertragen, überlagert von einer tänzerischen Choreografie, die sich auf der Fläche dieser Grundebene bewegt. – Diese gezeichneten Strukturen bestimmen die Position von Bäumen, Hecken, Wegsteinen und Rasenflächen, erzeugen einen Park. Im Entwurf „Park“ ist die Relation zwischen Ort und Bewegung gewendet: Er wurde aus Bewegung generiert, aus den Zügen von Schachfiguren und den Läufen von Tänzern. Es ist ein hypothetischer Raum. Er beruht auf einem Gedanken, von dem man glaubt, dass er irgendwo bereits einmal umgesetzt sein müsste, in Architektur, Landschaftsarchitektur oder urbaner Planung. Das würde bedeuten, Strukturen aus Ereignissen** zu entwickeln, aus untergründigen, gelenkten oder zufälligen Koordinaten, deren Auswirkung unbekannt ist: Das Schema könnte sich durch neue Einschreibungen verkomplizieren, mit jeder Bewegung Vorgaben für neue Räume schaffen. Susanne Titz * CAD (= Computer Aided Drawing), „elektronisches Zeichenbrett“ für rechnerunterstütztes Zeichnen ** In Gegenbewegung zu Roland Barthes, der die Strukturen als Basis für Ereignisse betrachtete, vgl. Roland Barthes, Die strukturalistische Tätigkeit, in: Kursbuch 5, Mai 1996, S. 190–196
„FM3D“ Wer jetzt auf den Pariser Stadtplan schaut, wird „la Bièvre“ vergeblich suchen. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kam sie aus dem Süden, über Tolbiac und La Butte aux Cailles, schlängelte sich an Gerbereien und Schlachthäusern vorüber und den 13. und 5. Arrondissements hinunter. Das idyllische Flüsschen wurde langsam zur offenen Kloake und dann der Hygiene halber zugedeckt. Übrig blieben die Wege, unter denen sie irgendwo versunken liegt, ein hinterlassenes Bett, durch das sich täglich Tausende bewegen. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie wieder fließen könnte. Vom Parc Kellermann an bin ich über Wochen immer wieder ihrer Spur gefolgt, in jeder Kurve des Parcours gesucht, was sie bewegt – bis ich auf der Höhe von Hôpital de la Pitié-Salpétrière die Seine erreichte. „La Bièvre“ ist nicht mehr da, im Plan der Stadt verschwunden. Manchmal aber, in einem unerwarteten Augenblick, kann man sie noch sehen, eilt sie durch die Stadt, schwappt gegen die Rue des Gobelins. In den Straßen von Paris liegen chats noir gewöhnlich regungslos und warten auf das, was kommen wird. Ungefähr bei jedem Gully ein Bündel gewickelter Stoff, mittlerweile schwarz, verdreckt. Zwei mal täglich dreht die Stadtreinigung die Hähne auf und strömendes Wasser bewegt sich vom höchsten Punkt hinab, die Bordsteinkanten entlang, bis es schließlich über den Kairand der Seine fließt. Ove Lucas 48/49
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„Doors for walls“ Offene Tür, die geschlossen bleibt. Es ist die Umkehrung des Gewohnten, die zu dieser Verfremdung führt. Die geschlossene Wand wird ersetzt durch die geschlossene Tür. Dieser Tür fehlt das Normale; die Verbindung von einem Raum zum anderen. Die Verfremdung wird noch verstärkt, indem auf die geschlossene Tür ein Bild projiziert wird, das zeigt, was man sehen könnte, wenn die Tür geöffnet wäre. Ist das wirklich unsere Wohnung? Die Einrichtung unserer Wohnung wird Stück für Stück durch die geschlossenen Türen sichtbar. Jeder Betrachter macht daraus sein eigenes Bild. Drinnen vor der Tür erlebt jeder seine eigene Wohnung; keine offene Tür. Robert Winkel und Katrien van der Eerden
„11 Floors 2“ Ich sah großformatige und doch fragile Blätter, die mich sofort an Architekturzeichnungen erinnerten. Doch wofür waren diese Pläne? Und was für Anweisungen waren das? Ich las Sätze, folgte einer Linie, schaute auf Details und schon war ich mitten drin im Assoziieren. Ich drehte Kopf und Körper, um den Sätzen zu folgen, imaginierte eine Bühne, einen Raum und die Abfolge von Bewegungen. Diese Arbeiten verleiten den Betrachter, nach Bedeutung zu suchen, vermeintliche Erklärungen und Bekanntes zu finden. Und gerade durch diese Suche lässt man sich fast unmerklich auf die Arbeit als Ganzes ein. Egal ob zwei- oder dreidimensional, egal ob Raum, Musik, Foto, Zeichnung oder Modell. Clementina Hegewisch 50/51
Raumordnung
„FM3D2“ Der Titel FM3D klingt für mich beim ersten Lesen wie ein Radiosender oder der Name einer Raumstation aus Science-Fiction-Filmen der 70er-Jahre. Mir stellt sich die Arbeit folgendermaßen dar: Der wie durch ein Zoom vergrößerte Mikrochip bildet den hermetischen Raum für eine Versuchsanordnung virtueller Schallbewegungen in einem begrenzten, klinisch-hellen Raum mit mehreren im Raum verteilten fixen Schallquellen. Es ist eine Spurensicherung, eine quasi-Sichtbarmachung von möglichen Klangbewegungen – so wie die Physikerin Lene Vestergaard uns in tiefster Finsternis Lichtgeschwindigkeit sichtbar machen ließ. Unterschiedliche mögliche Klangwege von Schallquelle zu Schallquelle werden beschritten und überlagern sich für uns Betrachter auf komplexe, vielschichtige Weise. Vergangene Zeit (Zeit der Bewegung) wird zusammengepresst auf Raum. Aber warum treten die Spuren des virtuellen Klanges nie aus ihren Grenzen des Raumes, der doch an der oberen linken Seite eine Öffnung besitzt, heraus? Olga Neuwirth „Turning Point“ Schwarze, klar umrissene Felder, Blick aus dem Hinterhof in den Himmel, so stelle ich mir das vor, wenn man aus dem Dunkel ins Helle blickt, dass sich dann die Verhältnisse umdrehen und die Bäume einen dunklen Luftraum durchdringen. Die Vorstellung, dass man sich direkt auf der Bildebene oder einer fiktiven Ebene 0 befindet und gleichzeitig vor und zurück, nach oben und nach unten schauen kann. Unten gibt es dann noch die andere Stadt, die sich zwischen den Gebäuden abspielt, zwischen den Wänden, dort wo man einen Boden unter den Füßen hat, wo man auf die Bewegungen innerhalb bestimmter Distanzen achtet. Die dreidimensionalen Kugeln orientieren sich an der Oberfläche und markieren genau diesen Übergang von der einen Stadt zur anderen. In der linken oberen Ecke türmen sie sich pyramidisch auf, als ob es einen Anfangs- und einen Endpunkt gäbe und dann eine mögliche Wiederholung des Spiels. „She didn’t allow him to enter the little cabinet.“ Birgit Schlieps
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Empfehlungsschreiben
„Tiroler Kultur zeigt sich in neuem Hochglanz.“ (Die Presse) – „Vielen Dank für euer außergewöhnlich schönes Heft. Gratulation. many warm greetings“ (Stefan Sagmeister, New York) – „Würdige Fenster-Nachfolge!“ (Osttiroler Bote) – „Wollte noch einmal sagen, wie gut mir eure Zeitschrift gefällt – also: die formale Konstruktion veräußert sinnlichste Lesbarkeit, das konsequente Konzept schafft intuitiven Raum für die Stoffe der Kunst und weiter“ (Ferdinand Schmatz, Wien) – „Für den Inhalt von Quart gilt, dass nur Erstveröffentlichungen, Auftragswerke und Uraufführungen zum Zug kommen. Das ist sehr klug, denn üblicherweise besteht der Inhalt von Provinz aus permanentem Nachmachen und Abschreiben (…) Die Aufmachung ist bemerkenswert genial.“ (Helmuth Schönauer, Tageszeitung Bozen) – „Modernistisches Machwerk. Angeblich ‚subversiv‘“. (Hans Haid, Programmvorschau Bierstindl) – „Erfreulich breit gestreut sind die Themen …“ (Tiroler Tageszeitung) – „Gratuliere und vielen Dank; das sieht sehr, sehr gut aus und fühlt sich beim ersten Durchblättern auch sehr gut an. Und es hat mir nach der Bauprobe ‚Turandot‘ eine vergnügliche Kaffeepause beschert!“ (Regula Rapp, Deutsche Oper Berlin) – „Wenn die Tiroler Provinzler auf international machen, produzieren sie nicht Topfen, sondern Quark. Daher der Name der neuen Kulturzeitschrift: Quark Heft für Kultur Tirol.“ (Alois Schöpf, Lans, Rundmail) – „Rechts und links darf man in der kürzlich vorgestellten Tiroler Kulturzeitschrift ‚Quart‘ nicht verwechseln.“ (ff, Südtiroler Wochenmagazin) 54/55
Art is definitely something.
Neuheiten
Und wenn wir diesen Popappeal hätten, was würde passieren? Dann würden ein paar spitzfindige Unternehmer sofort herausfinden, dass es jetzt hip ist, zur Neuen Musik zu kommen, dann gäbe es sofort das passende Styling dazu und die Sache wäre über kurz oder lang künstlerisch korrumpiert.
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Wer braucht Neue Musik?
Johannes Maria Staud ist einer der interessantesten und erfolgreichsten Komponisten Österreichs. Der 29-jährige Innsbrucker verkörpert exemplarisch eine neue Komponistengeneration, die zwar von den strengen Avantgardetechniken der Fünfziger- und Sechzigerjahre geprägt ist, aber dennoch mit der oft zum Dogma verkommenen Nachkriegsforderung nach dem „Traditionsbruch“ nicht mehr viel anzufangen weiß. Ein intellektuell gesichertes Fundament nimmt Staud für seine Musik ebenso in Anspruch wie die lange Zeit verpönte Emotionalität. Mit Carsten Fastner sprach er über den fehlenden Popappeal, die gesellschaftliche Relevanz und die politischen Möglichkeiten Neuer Musik, über die Aktualität des klassischen Werkgedankens und die Marktgesetze im Musikbetrieb. Carsten Fastner: Seit einigen Jahren kann man einen Boom der sogenannten Alten Musik beobachten, der vor allem deswegen besonders beeindruckend ist, weil er von einem überwiegend jungen, enthusiastischen Publikum getragen wird. Ist es für einen jungen Komponisten wie Sie frustrierend, wenn heute eine drei-, vierhundert Jahre alte Tonsprache besser verstanden oder zumindest besser angenommen wird als die unserer eigenen Zeit? Johannes Maria Staud: Auch die Alte Musik und sogar die Klassik sind heute ein Minderheitenprogramm. Und das war auch schon zu Mozarts Zeiten so. Auch damals fand Musik für eine kleine, elitäre Minderheit statt, für das gehobene Bürgertum und für den Adel. Ist es nicht eine konstruierte Vorstellung, wenn man glaubt, damals sei alles besser gewesen? Fastner: Mag sein. Aber auch im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Kunstgattungen wird der Neuen Musik kaum breitere Aufmerksamkeit zuteil, schon gar keine mediale. Wären Sie ein Schriftsteller oder ein DJ, ein Schauspieler oder vielleicht auch ein Maler, dann wären Sie sicher schon längst vom ein oder anderen Lifestyle-Magazin abgefeiert worden: als jung, attraktiv, clever, erfolgreich. Sollen derartige As-
pekte aus der so genannten ernsten zeitgenössischen Musik völlig ausgeblendet werden – oder würde ihr ein gewisser Popappeal nicht doch ganz gut tun? Staud: Ich bin wirklich kein Verächter der Pop- oder Clubmusik, ich weiß schon, dass die viel mehr Publikum haben. Nur geht es im Club eben nicht primär um die Musik, sondern darum, dass jeder ganz genau weiß, dort sind die schönen Frauen und da muss man hin. Und wenn wir diesen Popappeal hätten, was würde passieren? Dann würden ein paar spitzfindige Unternehmer sofort herausfinden, dass es jetzt hip ist, zur Neuen Musik zu kommen, dann gäbe es sofort das passende Styling dazu und die Sache wäre über kurz oder lang künstlerisch korrumpiert. Natürlich gibt es auch ernstzunehmende Versuche in Richtung Popappeal: Komponisten wie Bernhard Lang etwa, der ein Konzert für zwei DJs und Orchester schreibt, oder Wolfgang Mitterer, Christian Fennesz und überhaupt die Elektronik-Szene, die sich irgendwo zwischen Club und Konzertsaal tummelt. Es gibt Olga Neuwirth, die in jedem Interview die Zustände der Neuen Musik bemängelt. Und trotzdem glaube ich, dass die Neue Musik einfach nicht auf der Seite der Wohlfühler und der entspannten Chill-out-LoungeBenutzer ist. Sie ist eben auch eine Vergegenwärtigung unserer gesellschaftlichen Probleme und sie ist,
Neuheiten
Auch der ständige Vorwurf, wir säßen im Elfenbeinturm, geht mir auf die Nerven. Man braucht manchmal diese Elfenbeintürme, man braucht auch die Leute, die etwas schreiben, was kein Mensch hören will!
Ich würde in meiner Musik den Interpreten auch niemals improvisatorische Freiheiten lassen. Ich will da keine Klischees, die sich ein Musiker zurechtgelegt hat, das hat da nichts verloren.
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wie jede Kunst, ein Podium für Dinge, die in unserer Gesellschaft nicht funktionieren. Fastner: Wie kann die Neue Musik ein solches Podium sein, wo ihr die Breitenwirksamkeit fehlt? Staud: Einfach indem die Leute, die im Konzertsaal sitzen, sagen können: Siehst du, wenigstens sind noch ein paar andere da. – Aber was sollen diese andauernden Klagen, dass der Neuen Musik das Publikum fehlt? Es gibt sehr interessante Menschen, die sich für Neue Musik interessieren und begeistern. Das alles ist ein Dilemma, mit dem ich mich gar nicht so richtig beschäftigen kann. Auch der ständige Vorwurf, wir säßen im Elfenbeinturm, geht mir auf die Nerven. Man braucht manchmal diese Elfenbeintürme, man braucht auch die Leute, die etwas schreiben, was kein Mensch hören will! Eine Gesellschaft mag sich über das definieren, was von der Mehrheit sofort rezipiert wird, aber entscheidend ist, wie sie mit ihren Minderheiten, mit den unbequemen Denkern und den Gegen-den-Zeitgeist-Schreibern umgeht. Und was noch dazu kommt: Wir sind natürlich ein Überbleibsel aus der bürgerlichen Epoche mit ihrem Glauben an das Hehre und Bleibende. Nur ist das absolut kein unschöner Gedanke. Nichts gegen die Leute, die ihre Musik ausschließlich für den Moment schreiben, aber mir ist das ein bisschen zu wenig, weil dabei die Substanz schnell abhanden kommt. Fastner: Was ist die Substanz? Staud: Ein Beispiel: Ich werde oft gefragt, warum ich heute, im Zeitalter des Computers, meine Sachen noch so genau von Hand ausnotiere. Das sei doch altmodisch. Ich glaube, die Frage der Technologie ist noch keine Frage der Zeitgenossenschaft. Nur weil jemand mit Computern virtuos umgeht, kann er formal immer noch auf die ältesten und völlig abgestandenen dramaturgischen Modelle zurückgreifen. Da hat er sich noch lange nicht über das hinweg gesetzt, was seit Jahrhunderten wohlerprobt ist und völlig unreflektiert funktioniert. Ich verlange von Kunst, dass sie mir ganz neue Klänge zumutet, aber auch, dass sie
strukturell und intellektuell über das Patentrezept „Neue Musik meets coole Computerklänge“ hinausgeht. Der zeitliche Aufwand, den ich mit meiner Musik betreibe, wird in keiner Weise durch die paar Minuten Resultat gedeckt. Meine Musik ist total unökonomisch geschrieben – und genau dadurch bleibt ihr ein utopisches Moment erhalten. Eine tiefgründige Beschäftigung mit dem Material macht für mich einen Komponisten aus. Die absolute Verfügbarkeit von Fantasie im Augenblick ist mir suspekt. Es gibt Musikbereiche, wo so gearbeitet wird, wie immer man sie nennt: zwischen Elektronik, Improvisation und Komposition, Free Jazz und experimenteller Musik. Aber das ist überhaupt nicht mein Ding. Fastner: Sie sind ganz beim klassischen Werkgedanken? Staud: Absolut. Und den finde ich ungleich moderner als dieses Geschwätz von wegen „Musik zwischen den Stühlen“ und „Grenzbereiche ausloten“. Fastner: Was macht ihn moderner? Staud: Wahrscheinlich seine Unzeitgemäßheit. Natürlich ist die Musik eine flüchtige Zeitkunst, aber gerade deshalb sollte man als Komponist so schreiben, dass man es bedauert, wenn sie vorbei ist. Mit anderen Worten: Man sollte versuchen, diese flüchtigen Momente zu beschwören – nämlich mit absolut genauer, minutiöser Fixierung. Ich würde in meiner Musik den Interpreten auch niemals improvisatorische Freiheiten lassen. Ich will da keine Klischees, die sich ein Musiker zurechtgelegt hat, das hat da nichts verloren. Sicher spielen die Interpreten eine wichtige Rolle, können sie etwas neu gestalten oder beleuchten. Aber Improvisation? Bei mir nicht. Fastner: Tatsächlich ist in Ihrer Musik alles bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Betrachtet man Ihre Partituren, könnte man Ihnen durchaus einen gewissen Horror Vacui unterstellen: Kaum eine Note, unter der nicht irgendeine Spielanweisung stünde, keine Stimme, die nicht präzisest ausgefeilt wäre.
Neuheiten
Man beobachtet Kleinstbausteine, kommt damit eine Zeit lang aus, und wenn es zu schematisch wird, werden bestimmte Parameter verändert oder durchmischt. So entsteht in einem Arbeitsprozess laufend komplett neues Material, das sich vom Grundmaterial entfernt.
Ich bin mein optimaler Zuhörer, ich schreibe mir das, was ich selber hören will, was mir als Zuhörer Spaß machen würde. Ach was: Spaß – was mich in einen Strudel reißen würde, was mir die Füße wegzieht, weil so viel passiert, dass ich gar nicht mehr alles aufnehmen kann!
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Staud: Das stimmt schon, da ist immer irgendetwas los. All die Crescendi und Diminuendi, Sforzati und Akzente sollen der Musik Leben einhauchen. Ich gestalte sie bis ins letzte Detail liebevoll aus, damit alles möglichst plastisch wird. Ich muss dazu sagen, dass ich kein deduktiver Komponist bin, sondern ähnlich wie Morton Feldman ein induktiver. Man beobachtet Kleinstbausteine, kommt damit eine Zeit lang aus, und wenn es zu schematisch wird, werden bestimmte Parameter verändert oder durchmischt. So entsteht in einem Arbeitsprozess laufend komplett neues Material, das sich vom Grundmaterial entfernt. Es gibt also einen dauernden Zwang zu erfinden, um diesen ganzen Betrieb in Schwung zu halten. Man beobachtet permanent das System und die formale Gesamtstrategie, die eben nicht im Vorhinein festgelegt wurde, sondern sich beim Komponieren entwickelt. Diese Kompositionsweise ist doch letztlich genauso konsequent wie die serielle Musik mit ihrem deduktiven Ansatz. Fastner: Das klingt ja fast nach einer Verteidigung. Steht diese induktive Kompositionsweise in schlechtem Ruf? Staud: Sie bewahrt sich leichter die Möglichkeit flexibel einzugreifen, ohne ein vorher festgesetztes System zu verletzen. Fastner: Ist das ein Problem der seriellen Musik? Staud: Ich halte die serielle Musik für nicht so problematisch wie das viel zu viel getan wird. Die schlechten Komponisten dieser Zeit haben sich stur an ihren Bauplan gehalten, während die guten gleich ausgeschert sind oder ihr System so klug gewählt haben, dass sie es nicht zu sprengen brauchten. Pierre Boulez zum Beispiel. Fastner: Dann müssen Sie bitte noch den deduktiven Boulez definieren. Staud: Deduktion in dem Sinn, dass man schon vor dem Schreiben sein Material präorganisiert und das
dann durchexerziert. Bei Boulez rede ich nicht von der strengen, frühen Phase, sondern ab der mittleren, etwa ab dem Orchesterstück „Pli selon Pli“. Boulez schafft es, in einem vorher festgesetzten System mit seriell organisiertem Material immer noch, bei der Verarbeitung erfinderisch sein zu können und seine Systeme kollidieren zu lassen. Jedenfalls spürt man bei Boulez so etwas wie einen harmonischen Rhythmus, der nicht zufällig geschieht, sondern im Bauplan integriert ist. Auch mir geht es natürlich um Materialorganisation, aber eben nicht nur. Wenn ich eine bestimmte Konstruktion wähle oder auch, wenn ich in meiner induktiven Vorgehensweise an einen Punkt komme, an dem ich die Entwicklung immer rigider zuspitze, dann tu ich das doch nicht, um einem System zu genügen, sondern weil ich das musikalische Bedürfnis habe, etwas in dieser Form in die Wege zu leiten. Konstruktion und Inspiration fallen absolut zusammen. Fastner: Ihre Musik wird mittlerweile von hoch renommierten Interpreten wie dem Klangforum Wien oder dem Frankfurter Ensemble Modern gespielt; sie findet überdurchschnittlich viele Zuhörer, nicht nur im Rahmen von Fachmessen wie in Donaueschingen, sondern auch bei klassischen – um nicht zu sagen: konservativen – Veranstaltern wie dem Wiener Musikverein; und es gibt sicher auch schon einige Musikologen, die sich analysierend über Ihr Werk her machen. Mit Blick auf wen komponieren Sie? Staud: Immer mit Blick auf mich selbst. Ich bin mein optimaler Zuhörer, ich schreibe mir das, was ich selber hören will, was mir als Zuhörer Spaß machen würde. Ach was: Spaß – was mich in einen Strudel reißen würde, was mir die Füße wegzieht, weil so viel passiert, dass ich gar nicht mehr alles aufnehmen kann! Auch wenn das natürlich ein Anspruch ist, der sich niemals wirklich einlösen lässt, weil ich beim Hören ja schon viel zu genau weiß, wie die Musik komponiert ist. Fastner: Ein ziemlich emotionaler Ansatz.
Neuheiten
Ästhetische Fragen spielen bei vielen Komponisten oft auch in persönliche Beziehungen hinein. Das finde ich sehr bedauernswert. Im Grunde kommt das daher, dass man sich beim Komponieren nicht über die Schulter schauen lassen möchte.
Na sicher haben wir alle die Postmoderne mitbekommen, aber ich glaube trotzdem an die vielgeschmähten, in sich schlüssigen Gegenweltentwürfe, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstehen.
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Staud: Ja, aber der ist sehr genau kalkuliert. Ich schreibe jedenfalls niemals mit Blick auf das Publikum, ohne es deswegen unterschätzen zu wollen. Nur: Was ist das Publikum? Es ist eine Summe von Individuen. Der eine steckt in privaten Schwierigkeiten, der hat in dem Moment ganz andere Probleme als sich auf meine Musik einzulassen. Der nächste hat schlecht gegessen, und wieder ein anderer kann sich gerade voll konzentrieren – und dem gibt die Musik etwas. Was also soll das Publikum sein? Fastner: Im Fall der Neuen Musik insgesamt doch eine eher überschaubare Gruppe von interessierten Menschen, deren Erwartungen durchaus kalkulierbar sind. Staud: Ach, das sehe ich nicht so negativ. Musik wird sowieso produziert, egal, ob sie viel Publikum hat oder nicht. Die Werke entstehen, weil sie entstehen müssen. Deswegen mag ich auch diese Versuche nicht, dem Publikum möglichst bekömmliche Kost zu servieren, nach dem Motto: damit es sich in seinen beschränkten musikhistorischen Kenntnissen noch wohl fühlt und jeder was für sich findet – ein bisschen Techno, ein paar klassische Anklänge, ein schöner Streicherklang. Wem bringt das was? Ich höre lieber Barockmusik als Barock-Zitate, und bevor ich im Konzertsaal Technoklänge serviert bekomme, geh ich lieber gleich ins „Flex“. Wer braucht wirklich einen Thomas Adès, der seine Musik nur aus Versatzstücken zusammensetzt? Er schreibt mit Blick auf kurzfristigen Erfolg, auf Akzeptanz des bildungsbürgerlichen Genusspublikums, auf große Bejubelung. Das ist jetzt natürlich eine Unterstellung, aber wenn ich mir das anhöre, muss ich sagen: So klingt es. Na sicher haben wir alle die Postmoderne mitbekommen, aber ich glaube trotzdem an die vielgeschmähten, in sich schlüssigen Gegenweltentwürfe, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstehen. Fastner: Sie sind Mitglied des „Gegenklang“, einer Gruppe von acht Komponisten, die sich noch während ihres Studiums an der Wiener Musikuniversität zusammengetan haben um gemeinsam leichter Auftrittsmöglichkeiten organisieren zu können. In an-
deren Kunstgattungen sind solche Gruppen keine Seltenheit. Im Bereich der zeitgenössischen Musik aber war der „Gegenklang“ zumindest in Österreich und in dieser Form ein Novum. Ist das Zufall oder nicht doch bezeichnend für die oft sehr akademische Prägung Neuer Musik? Staud: Sicher, und es ist eigentlich auch bezeichnend für die Persönlichkeitsstruktur vieler Komponisten. Wir waren zufällig alle aus der gleichen Klasse von Michael Jarrell, wir konnten menschlich miteinander und waren auch ästhetisch nicht gerade wie Tag und Nacht. Ästhetische Fragen spielen bei vielen Komponisten oft auch in persönliche Beziehungen hinein. Das finde ich sehr bedauernswert. Im Grunde kommt das daher, dass man sich beim Komponieren nicht über die Schulter schauen lassen möchte. Wenn du Probleme hast, willst du das nicht zugeben, und diese Scheu war bei uns lange Zeit nicht vorhanden. F: Der Gegenklang betreibt mit der Edition 21 auch seinen eigenen Verlag. Sie sind als einziger nicht dabei, sondern bereits seit drei Jahren bei der renommierten Universal Edition (UE). Welche Rolle spielt dieser große Verlag für Ihre Karriere? Staud: Ich muss mich nicht um die Materialherstellung kümmern, nicht um die Zustellung der Partituren oder um die Promotion. Und natürlich wird ein Name eher in Umlauf gebracht, wenn ein solcher Verlag dahinter steht. Das heißt aber nicht unbedingt, dass man deswegen gleich mehr Aufträge bekäme. Alles, woran ich zur Zeit schreibe, wurde bereits vor meiner Zeit bei der UE beauftragt. Aber der Verlag kümmert sich dann schon um Wiederaufführungen. Es ist ein Geben und Nehmen: Die brauchen ja auch junge Komponisten, und selbst, wenn sie sich derzeit leider nicht mehr so viele Junge leisten können, sind sie doch daran interessiert, dass wir über kurz oder lang etwas einspielen. Der Verlag schneidet ja auch zu einem Drittel mit. Fastner: Warum hat sich die UE ausgerechnet für Sie entschieden?
Neuheiten
Ich schreibe meine Musik so, wie ich es muss, und wäre selbstverständlich froh, wenn das Schule machen würde. Abgesehen davon ist es mir natürlich klar, dass auch wir Komponisten den Marktgesetzen unterworfen sind.
Es wird mit geteilten Kontrabässen beginnen, aber mehr weiß ich noch nicht.
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Staud: Das kann ich eigentlich kaum beantworten. Sie wollen jetzt wahrscheinlich darauf hinaus, dass über meine Musik oft gesagt wird, sie vollführe einen gewissen Spagat zwischen Anspruch und Gefälligkeit, oder dass sie jedenfalls nicht so klingt, wie man sich Hardcore-Avantgarde vorstellt? Fastner: Ich gehe davon aus, dass Verlage auch längerfristig denken, und frage mich, welche ästhetische Richtung eingeschlagen wird, wenn man sich für Johannes Maria Staud entscheidet. Sind Sie aus Verlagssicht ein Beispiel für einen zukunftsträchtigen Komponisten? Staud: Das kann ich wirklich nicht beantworten. Ich kann meine Stellung oder meine Position nicht beurteilen, denn ich bin mir gegenüber ja voreingenommen. Ich schreibe meine Musik so, wie ich es muss, und wäre selbstverständlich froh, wenn das Schule machen würde. Abgesehen davon ist es mir natürlich klar, dass auch wir Komponisten den Marktgesetzen unterworfen sind. Es ist eben ein kleinerer Markt, aber auch dieser Markt braucht ein neues Gesicht. Fastner: Es gibt derzeit, vor allem im anglo-amerikanischen Raum, zahlreiche Versuche, den NeueMusik-Markt durch einen gefälligen Eklektizismus neu zu beleben. Wie auch schon in unserem Gespräch deutlich wurde, lehnen Sie diese Kompositionsweise strikt ab. Der Dirigent Simon Rattle, der Ihnen für 2005 einen großen Auftrag der Berliner Philharmoniker verschafft hat, ist ein bekennender Eklektizismusfan. In einem Interview mit der Wiener Stadtzeitung „Falter“ wurde er im März auch auf Ihre strenge Haltung in dieser Frage angesprochen – und antwortete zwar nicht uncharmant, aber doch verhältnismäßig scharf: „Oh, Stauds Musik ist wirklich sehr streng konstruiert und sehr mitteleuropäisch. Für uns Engländer ist das unglaublich altmodisch, beinahe charmant altmodisch. Was er schreibt, mag aus einer anderen Zeit sein, aber er hat ein fantastisches Ohr für den Klang, für Dramatik und für den großen Bogen – obwohl ich glaube, dass derzeit die Mu-
sik interessanter ist, die aus Skandinavien oder aus Amerika kommt.“ Staud: Ehrlich gesagt, ich glaube, Rattle hat sich über die Anspielung mit dem Eklektizismus geärgert, das hat ihn in seinem Nationalstolz getroffen. Seine Antwort hat mich an das Rumsfeld-Zitat vom „alten Europa“ erinnert: dass wir hier so altmodisch seien, weil wir noch an gewissen Dingen festhalten, die die ach so modernen Amerikaner und Briten längst schon überwunden haben. Aber schauen Sie sich diese Länder an: Die Gewerkschaften sind zerschlagen, die Sozialgesetze miserabel, das Gesundheitssystem liegt darnieder, und in der Kunst beschreitet man dort in der Regel den kommerziellsten aller Wege. Ich will ja nicht zu pathetisch klingen, aber wir haben hier in Europa doch wirklich etwas zu verteidigen! Fastner: Sie sind ein sehr politisch denkender Mensch und haben sich etwa im Jahr 2000 im Vorwort zu Ihrem Orchesterstück „gleichsam als ob“ scharf gegen die schwarz-blaue Bundesregierung geäußert. In Ihrer Kunst jedoch bleibt Ihnen die Möglichkeit zu konkreter politischer Stellungnahme weitgehend versagt. Leiden Sie darunter? Staud: Total! Ich würde gerne konkreter Stellung beziehen. Aber ich kann eben nur komponieren, und damit geht es einfach nicht. In der Musik kann man keinen „Heldenplatz“ schreiben. Was mir bleibt sind Äußerungen wie in diesem Einführungstext. Natürlich war mir klar, dass das nur ein paar Leute lesen werden, die ohnehin großteils meiner Meinung sind. Aber trotzdem hab ich ihn schreiben müssen. Fastner: Wissen Sie schon, was Sie für Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker schreiben werden? Staud: Es wird mit geteilten Kontrabässen beginnen, aber mehr weiß ich noch nicht. Ich werde natürlich die Möglichkeit, für die Berliner Philharmoniker zu schreiben, voll ausnutzen und wirklich aus dem Vollen schöpfen.
Fernwärme
Klappe 1
Wenn einer mit Schlabberkleidung, Sandalen und Rauschebart von seiner Indienreise zurückkommt, kann er uns bestimmt viel erzählen. Wahr ist immer auch das Gegenteil. Stammt nicht auch der aktuelle Schachweltmeister aus Indien? Sind die Computergurus aus Bangalore, von denen im letzten Jahr alle Welt sprach, in Deutschland angekommen? Niemand ist so schlau wie die Südinder, behauptet schließlich auch Bill Gates, außer vielleicht die Chinesen.
Klappe 2
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Eine Handvoll Gangesflut Abgefüllt in Axams Tirols Bergkulisse ist die Würze im guten indischen Film. Von Clemens Lindner Klappe 1 Denkt man an Indien und den Film kommen einem zuerst, falls man nicht gerade ein Kenner ist, üppige Ausstattungsdramen wie „Gandhi“ von Richard Attenborough aus dem Jahr 1982 und opulente Filmepen nach Romanen von E.M. Forster oder Rudyard Kipling in den Sinn. Ein koloniales Indien tritt einem entgegen in vielen Farben und Gerüchen mit Schlangenbeschwörern, Fakiren und Gurus. Politisch weiß man vom Kaschmirkonflikt und den ständigen Scharmützeln und Drohgebärden gegen den Nachbarn Pakistan und umgekehrt. Beide Staaten verfügen über nukleare Waffen. – „Am Nachmittag hatte sich der Wind über Pokhran gelegt. Um 15.45 Uhr wurden mittels einer Schaltuhr drei Sprengkörper gezündet. Die rund 200 bis 300 Meter tief in der Erde erzeugte Hitze entsprach einer Million Grad Celsius, das ist so heiß wie auf der Sonne. Augenblicklich verdampfte Gestein mit einem Gewicht von tausend Tonnen, ein kleiner unterirdischer Berg. Die Druckwellen der Explosion schoben einen Erdhügel von der Größe eines Fussballfeldes einige Meter nach oben. Ein Wissenschaftler sagte bei diesem Anblick: Jetzt glaube ich die Geschichte, in der Krischna einen Berg hochhebt.“ (India Today, The Bomb Makers 1998) Die Teilung Indiens zugelassen zu haben war der größte Fehler Mahatma Gandhis, behaupten deshalb nicht nur nationalistische Inder im Brustton der Überzeugung. Der große Staatsmann ist einer der wenigen Inder, die auch bei uns uneingeschränkte Hochachtung genießen. Vielleicht besitzt der eine oder andere gar eine persönliche Erfahrung mit Indien, war bereits auf einer Technoparty in Goa, die in den letzten Jahren so in Mode gekommen sind, oder schwebt auf einer Esoterikwolke, Erleuchtung suchend, und möchte immer noch Sannyassin im Ashram von Poona werden. Die Hippies haben uns das eingebrockt, Hermann Hesse tat das Seine dazu und nicht zuletzt ist die berühmteste Popgruppe aller Zeiten aus Liverpool mit ihrem Privatguru dafür verantwortlich zu machen.
Wenn einer mit Schlabberkleidung, Sandalen und Rauschebart von seiner Indienreise zurückkommt, kann er uns bestimmt viel erzählen. Wahr ist immer auch das Gegenteil. Stammt nicht auch der aktuelle Schachweltmeister aus Indien? Sind die Computergurus aus Bangalore, von denen im letzten Jahr alle Welt sprach, in Deutschland angekommen? Niemand ist so schlau wie die Südinder, behauptet schließlich auch Bill Gates, außer vielleicht die Chinesen. Klappe 2 Wenn eine Filmcrew die Location Tirol in Richtung Haidarabad verlässt, im Gepäck einen neuen Erfolg an den Kinokassen für ein filmverrücktes Land, schneit bereits eine andere Gruppe aus Bombay nach Tirol herein und freut sich, dass es hier regnet, weil es in der 5000 km entfernten Metropole immer schön ist. Eine Woche bleibt der vierzigköpfigen Truppe, um die exotischsten Drehorte der Alpen samt schneebedeckter Bergspitzen im Hintergrund in ihren Zauberkasten zu kriegen. In den Kasten fliegt ein Vogel, unbekannt und schön. Vier Uhr in der Früh: Auf in die Maske. Die Anmut und natürliche Würde der Hauptdarstellerin Shilpa Anand ist auch ohne Make-up unerreicht. Ihre Mutter begleitet die junge Frau, lässt sie nicht aus den Augen. So muss die Göttin Tara aussehen, die von den Mahajana-Buddhisten verehrt wird. Dann werden alle mit dem Bus vom Hotel in die Berge gekarrt. Der Busfahrer ist ein untersetzter Tiroler Spaßvogel, der in holprigem Englisch die Crew bei Laune hält. Die Tiroler sind freundliche Leute, hört man sachlich und höflich als Dankeschön der Inder. Der Kontakt zu den Einheimischen scheitert oft an den Sprachbarrieren und an der Zurückhaltung der Orientalen. Außerdem hat das Filmteam nicht viel Zeit, sich Land und Leute zu Gemüte zu führen. Tirol ist ihnen mehr Bühne als geografischer Ort. Während ihres Aufenthalts ist ihnen jedenfalls kein in der Morgensonne glitzernder Bergsee zu entlegen, kein
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schneebedeckter Gipfel zu hoch oder Aufstieg zu mühsam, kein Baum zu unscheinbar, keine von Löwenzahn, Vergissmeinnicht und Frühlingsnelken übersäte Wiese zu kitschig und keine Alpenkuh zu heilig, um damit dem Publikum zu Hause im fernen Kalkutta, Madras oder Bombay eine Spielfilmlänge Glück ins Herz zu pflanzen. Es soll inzwischen sogar vorkommen, dass indische Hochzeitspaare nach Tirol pilgern, weil sie ihre Flitterwochen an einem idyllischen Ort verbringen möchten, den sie aus einem Bollywoodfilm kennen. Die Gäste sind dann nicht darauf vorbereitet, dass barfuß im Schnee zu wandeln, wie ihre Helden aus den Filmen, nicht wirklich zu empfehlen ist. Klappe 3 Ein Drehbuch existiert meist nur in Ansätzen. Als eingespieltes Team spricht man sich bei der Anreise im Flugzeug ab. Einige Schauspieler arbeiten ohnehin an mehreren Filmprojekten gleichzeitig, weshalb sich also mit Nebensächlichkeiten aufhalten? Der Regisseur – in Indien lässt das Nennen seines Namens viele Herzen höher schlagen – geht so weit zu behaupten, dass eigentlich immer nur drei oder vier Plots variiert werden. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte von zwei in der Kindheit getrennten Geschwistern, die in verschiedenen Milieus aufwachsen und sich als Erwachsene wiederbegegnen. Oder die Story, in der ein reicher Mann ein armes Mädchen liebt, und sich das Liebespaar nach unendlichen Verwirrungen am Ende in die Arme fällt. Zu solchen Szenen wird eifrig getanzt und gesungen. Ein Film wird durch mindestens fünf solcher Musikeinlagen unterbrochen, das ist dramaturgisch festgelegt. Am Set herrscht kreatives Chaos. Blendenhalter, Schirmträger, Choreographen, Schauspieler, der Kameramann samt Assistenten – alle sprudeln über vor Lebhaftigkeit. Ist ein Film erfolgreich (und meist ist er das), werden ihn gut 50 Millionen Menschen sehen. In Indien liebt man das Kino mehr als irgendwo sonst. Das Medium Film ist nicht nur ein Gemeinschaftserlebnis für die ganze Familie, sondern bietet auch die Möglichkeit nationaler Integration in einem vielsprachigen, von extremen regionalen Unterschieden gekennzeichneten Land. Zwischen Norden und Süden
werden über ein Dutzend offizielle Sprachen gezählt, die zahlreichen Mundarten und Idiome nicht inbegriffen. In Indien entstehen jährlich mehr als 800 Filme, die bei uns im Westen nur wenigen Cineasten bekannt sind. Einzig „Monsoon Wedding“ von Mira Nair (ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig 2001) und „Lagaan – Once Upon A Time In India“ von Ashutosh Gowariker (für den Oskar nominiert als bester ausländischer Film) fanden auch bei uns einige Beachtung. Klappe 4 Die Schauspieler heißen Anil Kapoor, Rani Mukherjee, Shah Rukh Khan, Juhi Chawla oder Sonali Bendres und spielen in Filmen mit Titeln wie Mohabbatein (Liebe); Satyam shivam sundaram (Wahrheit, Gunst, Schönheit); Tera jadoo chal gaya (Dein Zauber ist verflogen). In Indien würden sich die Leute erschlagen, um eine Haarlocke oder ein Lächeln von ihren Lieblingen zu erhaschen. Man würde Julia Roberts, Cameron Diaz, George Clooney und Tom Cruise mit Nichtbeachtung strafen. Das indische Publikum bevorzugt einheimische Stars, die man bewundert und verhätschelt. Die Götter kommen in Indien noch zu den Menschen, wenn sie auch nur von der Leinwand heruntersteigen. In den Axamer Almwiesen tanzt der Kinoheld vergnügt um seine Geliebte herum wie der blauhäutige Gott Krischna mit seiner Radha im Zauberhain. Oder er vergnügt sich mit seiner Angebeteten auf einem Schneefeld unterhalb der Serles wie Gott Shiva mit seiner Gemahlin Parvati am Fuße des heiligen Berges Kailash im Himalaya. „Liebste! Bring mit Blickespielen hin die wenigen Tage nur! Spielen mag ich nur mit Blicken, wo nicht öde steht die Flur. Kommen werd ich. Du wirst kommen, Freunden bringen frohen Mut. Und was soll ich dir mitbringen? – Eine Handvoll Gangesflut.“ (aus dem Sanskrit übersetzt von Friedrich Rückert) Das Publikum im Kinosaal ist verzückt.
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Klappe 6
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Warum übt in den letzten Jahren Tirol eine große Anziehungskraft auf indische Filmemacher aus? Die Schweiz, die eine lange Tradition als Drehort in indischen Filmen hat, ist beinahe ausgereizt. Man kennt das Jungfraujoch, Gstaad oder den Genfer See und ist auf der Suche nach neuen, unverbrauchten Motiven. Alpine Bergwelt gilt den Indern als paradiesisch, als Elysium auf Erden. Also Tirol. Dafür ist nicht zuletzt die „Cine Tirol“ verantwortlich, ein Tochterunternehmen der Tirol Werbung, das Filmteams ins Land bringt und sie vor Ort betreut. Die Kaschmirregion, früher ein beliebter Drehort, scheidet wegen der unsicheren politischen Lage im Konflikt mit Pakistan – und weil sich dort indische Filmteams gegenseitig auf die Füße treten – zunehmend aus den Überlegungen der Filmproduzenten aus. Außerdem möchte man dem heimischen Publikum zeigen, dass die Produktionsfirma keinen Aufwand scheut. Jeder Produzent, der auf sich hält, und jeder Film, der erfolgreich sein will, muss Drehorte im Westen vorweisen.
Klappe 6 Ich war beim Adelshof oberhalb von Axams und besah die Umgebung, nicht ohne das verwirrende Gefühl – Inder in westlicher Kleidung und Österreicher in farbenprächtigen Saris sprangen fröhlich um mich herum – ich befände mich im Indischen Teil von Tirol oder im Tiroler Teil von Kashmir. Keine gestandenen Tiroler weit und breit, erst später zog die Schönheit des Frühlingsmorgens Wanderer ins Freie. Ich hatte gerade mein indisches Frühstück verzehrt, Reis scharf gewürzt, Tee und Brot mit Honig. Die Schaulustigen im Gastgarten, die jetzt immer zahlreicher wurden, beobachteten mit lächelnder Skepsis das Treiben der Fremden. Die Schönheit der Hauptdarstellerin vergoldete wohl auch ihren Tag. Die Filmleute tummelten sich auf der Wiese. Der Choreograph gab letzte Anweisungen. In der Ferne schlossen Baumgruppen die Aussicht ab. Zwischen den Ästen der Fichtenbäume zogen Blütenstaubwolken dahin. Das gelbe Pulver bedeckte bald die bunten Saris der Tänzerinnen und die Kamera, einfach alles. Und das ist jetzt Tirol.
Das romantische Idyll sucht man im Ausland.
Coming Soon: Vishnu Producer: Dr. M. Mohanbabu Executive Producer: M. Lakshmi Austria Head: Gopi Krishna Hero: M. Vishnu Heroine: Shilpa Anand
Dann schwatze ich mich fest. Mrs. Parveen Shivananda, die Mutter der Hauptdarstellerin, schüttet mir ihr Herz aus. Zuerst fing sie freilich an, von der schönen Landschaft und der reinen Luft zu schwärmen, beides unverfängliche Themen. Doch plötzlich erzählt sie, durch meine Fragen angestachelt, von den Schattenseiten der Branche. Beide Töchter hat sie an den Film verloren, die ältere war in über 30 Streifen zu sehen und die jüngere, die vor uns auf der Wiese tanzt, muss sich erst einen Namen schaffen. Es ist ein hartes Geschäft. Zu viel Geld im Spiel. Viele Schauspieler und Regisseure pflegen Kontakte zur Unterwelt. Natürlich gibt es auch eine casting-couch, sagt die Frau. You know. Der Erfolg ist nichts. Wenn er kommen soll, wird er kommen. Wenn nicht, wen kümmert’s. Wenn die ganze Welt dich liebt, weil du ein Filmstar bist, was nützt es. Du musst deinen Körper verlassen und eines Tages gehen. Das Kharma ist wichtig. Die Seele ist überall gleich. Was zählt ist: ein gutes Herz, Liebe und Spiritualität. So viel Altersweisheit macht mich verlegen und mundtot. Ich bedanke mich höflich, nicht ohne mich noch einmal nach ihrer Tochter umgedreht zu haben. Sie lächelt ihrem Filmpartner zu.
Drehorte: Indien und Tirol
Eine Krähe stürzte sich vom Himmel.
Die Gesangseinlagen eines Films laufen schon vorab im Fernsehen, um ihn entsprechend zu bewerben. Die Leute sollen die Lieder im Kinosaal mitsingen und als Geschenk mit nach Hause nehmen können. Der Kinobesuch soll eine große Party sein. paridhira-ravam jalam darisu prapataty adbhutarupa-sundarisu, sarva-kalam avalanghya toyada agata stha dayito gato yada, nava-kadamba-siro vanata mi te vasati yan madanah kusuma-smite. (Ghatakarpara) Klappe 5
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In welchem Zustand haben Sie das Hotel vorgefunden? 72/73
Welzenbacher weiterbauen
Dieter Henke und Marta Schreieck über die Frage, wie man bedeutende Architektur erweitert. Ein Baustellenbesuch von Roland Schöny Das von Lois Welzenbacher in den Jahren 1930–31 errichtete Parkhotel Seeber in Hall in Tirol, ein herausragendes und international richtungsweisendes Bauwerk der Moderne, sollte revitalisiert und damit wieder wahrnehmbar gemacht werden: Die Stadtwerke Hall hatten das im Laufe seiner Geschichte vielfach veränderte Gebäude 1997 erworben und wollten es gemeinsam mit dem angrenzenden Kurhaus zu einem wirtschaftlich tragfähigen Seminarhotel mit Wellnessbereich erweitern. Nach einer Debatte um die Erfüllung der gewünschten funktionalen Erfordernisse fiel die Entscheidung schließlich für den Entwurf des Architektenduos Dieter Henke und Marta Schreieck, das den reaktivierten Bau Lois Welzenbachers im Dialog mit einem neuen runden Turmgebäude zeitgemäß lesbar macht (ab 4. Juli 2003). Roland Schöny: Das Parkhotel Seeber gilt in seiner ursprünglichen Konzeption als Ikone der alpinen Moderne. Im Laufe von Jahrzehnten wurde es bis zur Unkenntlichkeit verändert. Hatten Sie Ehrfurcht, als Sie sich an das Vorhaben einer zeitgemäßen Renovierung heranwagten? Dieter Henke: Ehrfurcht ist nicht das richtige Wort. Wir hatten und haben natürlich allerhöchste Wertschätzung für den Bau Lois Welzenbachers. Unsere Absicht war schon die Rekonstruktion des Hotels, aber es ging nicht nur darum. Das Ganze sollte als Wellnessund Seminarhotel neu konzipiert werden, wobei das in unmittelbarer Nähe gelegene Kurhaus, ein denkmalgeschützter Bau aus den 1930er-Jahren, eingebunden werden sollte. Hier lag die große Schwierigkeit, denn aus diesem Grund wurde eine Verbindung vom Welzenbacher-Turm zum Kurhaus notwendig. Daraus folgte die Frage: Wieviel kann man machen un-
ter der Voraussetzung, dass der Welzenbacher noch bestehen bleibt und nicht neuerlich verbaut wird? Schöny: Die Erwartungen an ein Hotel sind heute ja grundsätzlich andere: Was damals ein Zeichen setzender Bau der Avantgarde war, entspricht heute – vor allem was die Innenräume betrifft – nicht mehr den Vorstellungen. Henke: Interessant ist, dass Welzenbacher in der Urkonzeption ganz anders gedacht hat. Das Parkhotel Seeber war eigentlich als Sommerhotel geführt worden, weil es in Hall keinen Wintertourismus gab. Wir stießen im Zuge unserer Recherchen darauf, dass der sehr kleine Frühstücks- oder Restaurantraum früher alles war – auch Wohnstube. Offensichtlich hat er ausgereicht, weil die Leute früher einfach die Terrasse oder den Garten frequentiert haben, was im Winterbetrieb natürlich nicht möglich gewesen wäre. Deswegen folgten später Zu- und Anbauten. Marta Schreieck: Die Gestaltung der Innenbereiche wurde zu einer zentralen Frage. Um den Geist des Hauses zu erhalten, haben wir darauf geachtet, die Erschließungszonen – das Stiegenhaus, das ja wirklich der gestalterische Höhepunkt im Innenraum ist – wieder zu rekonstruieren, wiederherzustellen. Zugleich hat es die Struktur des Gebäudes erlaubt, die Zimmer völlig anders zu organisieren. Es gab keine statischen Bindungen. Wir konnten aus 5 Zimmern 4 machen und Bäder integrieren, um den Standard eines Viersternehotels zu erreichen, ohne die ursprüngliche Räumlichkeit zu verändern. Schöny: In welchem Zustand haben Sie das Hotel vorgefunden? Anfang der 1990er-Jahre hätte man ja auf
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Licht, Luft und Sonne
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Grund der vielfachen Umbauten kaum noch vermutet, dass es sich im Kern um einen signifikanten Entwurf der Moderne handelte. Henke: Man musste tatsächlich Insider sein, um an Hand der Fragmente, die nach außen irgendwie noch sichtbar waren, das Hotel Lois Welzenbachers auszumachen. Es war einfach völlig verbaut und verstümmelt. Vom ursprünglichen Turmgedanken konnte man auf Grund der Zubauten nichts mehr ablesen und das Innere war einfach zugekleistert. Schreieck: Wenn man sich diese Dogmen der Moderne vergegenwärtigt – Licht, Luft und Sonne –, diesen Zeitgeist, der sich in der Hotelarchitektur spiegelte, so hat man davon überhaupt nichts mehr vorgefunden. Wir kannten den ursprünglichen Zustand natürlich nur aus Publikationen. Schöny: Mit Licht, Luft und Sonne ist ein entscheidender Gedanke formuliert: Das historische Gebäude war darauf ausgerichtet, dass man sich von innen nach außen wendet, um die Berge im CinemascopeFormat wahrzunehmen. Die Balkongeländer waren – ganz im Gegensatz zu den verschnörkelten Verschlägen manch heute gebauter Tiroler Häuser – auf äußerste Transparenz angelegt, um einen Durchblick in die Landschaft zu öffnen. Mit seinen urbanen Qualitäten hat das Parkhotel städtischen Besuchern eine Plattform geboten, die Berglandschaft als visuelles Ereignis zu erleben. Henke: Das hat natürlich damit zu tun, dass Lois Welzenbacher ganz einfach ein urbaner Architekt war – zwar geprägt von der Landschaft, speziell der Südtiroler Landschaft, die er sehr gut gekannt hat – aber gelebt und gearbeitet hat er in der Stadt. Als urbaner Mensch mit Distanz zur Landschaft konnte er diese umso stärker erfassen. Das erkennt man daran, wie er sie inszeniert hat, wie er mit der Topographie seiner Bauten umgegangen ist.
Schreieck: Das Hotelgebäude ist absolut für den Standort konzipiert – es kann nur dort stehen. Der Bau ermöglicht von den Zimmern aus ganz gezielte Blickbeziehungen mit der Landschaft. Schöny: Lois Welzenbacher hat ja auch das Mittel der Fotografie eingesetzt, um ganz spezielle Perspektiven darzustellen. Henke: Vor allem hat Welzenbacher selbst fotografiert, um die eigene Arbeit zu analysieren und seine Bauideen zu illustrieren. Interessant ist, dass bestimmte Bauten – selbst nach ihrer Fertigstellung – nicht unbedingt der von ihm erstrebten Idealvorstellung entsprachen. Dann wurden manchmal sogar Fotos retuschiert, um die von ihm gedachte Sichtweise herbeizuführen. Schöny: Noch einmal zurück zu den Balkon- und Stiegengeländern, einer inhaltlich sehr bedeutungsgeladenen Komponente sowohl bei Welzenbacher als auch im heutigen Tirol. Lois Welzenbacher hat mit sehr schlanken Querverstrebungen eine ganz spezielle Idee realisiert. Henke: Ja, die Geländer sind bei Welzenbacher tatsächlich ein charakteristisches formales Element, das einfach die Bewegungslinien all seiner Häuser unterstreicht. Es ist weniger funktionell gedacht – dass man sich irgendwo anhalten muss, damit man nicht hinunterfällt. Wir haben versucht, originalgetreu zu rekonstruieren, haben aber Stahlnetze vorgehängt, damit eine Absturzsicherung gegeben ist. Schöny: Wie war nun letztendlich ihre Aufgabe definiert? Spricht man von Erneuern, Adaptieren oder Altes in eine neue Form Bringen? Schreieck: Zunächst einmal war es eine Aktivierung. Die größte Schwierigkeit war eigentlich, diesem bestehenden Bau ein relativ großes neues Volumen gegen-
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Der Welzenbacher ist weiĂ&#x; und wir sind schwarz. Sehr dunkel.
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übersetzen zu müssen. Das Hotel Welzenbachers hatte 20 Zimmer und sollte um 40 Zimmer sowie Restaurants und Seminarräume erweitert werden. Wie man die notwendige Baumasse dimensioniert und auf das Grundstück setzt, ohne den Maßstab vor Ort zu sprengen, war eigentlich die Hauptaufgabe. Unser Lösungsansatz ist primär aus städtebaulichen Überlegungen heraus entstanden. Wir haben uns für einen zweiten Turm, für die Höhe entschieden, wollten den öffentlichen Park nicht verbauen und in der Nähe der Straße bleiben. Wir haben das Kurhaus, den Welzenbacher-Bau und das sehr dominante Bürgerhaus gesehen und wollten – ergänzt durch den neuen Turm – ein zum Park hin visuell durchlässiges Ensemble schaffen. Außerdem sollten die Zimmer des neuen Hotels qualitativ mindestens so anspruchsvoll sein wie die des Welzenbacher-Hotels. Das Konzept des Turmes war einfach am schlüssigsten. Es war faszinierend zu verfolgen, wie leistungsfähig die runde Form ist und wie wenig Fläche und Volumen sie benötigt. Wenn man sich vorstellt, dass sich im Welzenbacher-Turm 18 Zimmer befinden, in unserem neuen dagegen 42, ist es schon verblüffend, dass beide Türme ein annähernd gleiches optisches Volumen aufweisen. Schöny: Das heißt aber, dass Sie Welzenbacher aus der Perspektive der Gegenwart relativiert haben? Henke: Nein. Unser Bestreben war es, uns mit dem neuen Haus eigenständig zu positionieren, ohne uns vor dem Welzenbacher zu vergraben oder zu ducken. Der neue Turm ist als Antwort auf den WelzenbacherTurm zu verstehen und in keiner Weise als Konkurrenz. Wir sehen das als Dialog. Unser Turm wäre gar nicht möglich gewesen ohne Welzenbacher. Jetzt steht einfach unser runder, gläserner, skelettförmig aufgelöster Turm einem trapezförmigen, massiven Baukörper gegenüber, der mit seinen Balkonen und den Pergolas mit ihren präzise gearbeiteten Details sehr fein ausdifferenziert ist. Da einen Bau daneben zu stellen, der Ähnliches versucht, kann nur zum Scheitern
verurteilt sein. Dem – glaube ich – entziehen wir uns mit dieser abstrakten Form. Schöny: Wie materialisiert man in diesem Kontext eine große abstrakte Form? Henke: Die Frage der Materialisierung war natürlich wichtig: Was stellen wir diesem gemauerten, geputzten, massiven Baukörper gegenüber? Nicht des Kontrastes wegen, sondern weil wir uns in einem größeren Kontext befinden: Die Türme erscheinen vor dem Hintergrund der Berghänge. – Der Welzenbacher ist weiß und wir sind schwarz. Sehr dunkel. Wir wollten uns da gar nicht so aufdrängen und spielen dadurch den Welzenbacher wieder frei. Wenn man jetzt über die Haller Innbrücke fährt, leuchtet wirklich der weiße Bau heraus und unseren nimmt man gar nicht wahr, weil er sich einfach mit der dunklen Bergfläche verwischt. Problematisch könnten vielleicht die wenigen Ansichten sein, wo sich die Türme miteinander verschneiden. Aber selbst da bildet der schwarze Turm einen dezenten Hintergrund, der die Konturen des Welzenbacher-Baus hervorhebt. Schreieck: Die Entscheidung, den Turm schwarz zu machen, ist erst sehr spät gefallen. Da ist eigentlich dieser gläserne Turm schon gestanden, allerdings ohne Sonnenschutzlamellen. Da haben wir viele Renderings gemacht, sehr viel probiert um herauszufinden, welche Farbe da wirklich richtig ist. Schöny: Auf einer anderen Ebene erscheint diese Lösung fast wie eine Metapher für das binäre Zeitalter. Es sind zwei totale Gegensätze, die dennoch unauflöslich zusammengehören. Schreieck: Ja, das war unser Wunsch. Der Welzenbacher-Bau war ein eigenständiges Zeitdokument, und wir wollten das Neue ebenso als eigenständig lesbares Zeitdokument positionieren – in einem Dialog, dessen Elemente einander bedingen.
Kurzmitteilung
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WELCOME DILEMMA! In diesen Tagen sucht Deutschland so händeringend wie händeschüttelnd nach seiner Rolle in der weltpolitischen Ordnung. Deutschland sucht nach einem Standpunkt, einem Gesicht, aber vor allem sucht Deutschland in diesen Tagen nach dem einen: dem Superstar. In einem amerikanischen TVSendeformat. Einem Talent Contest. Da fallen mir nur drei Buchstaben ein: DER HAMMER! a) Der Contest ist bereits Trademark, Markenzeichen, DSDS b). Und die Einschalt-Quote steigt proportional zu den Verlusten an mehr oder minder talentierten Stars. Im Vorprogramm zu Desert Storm II schmeißt man sich auf den Boden und vergießt Tränen, wenn mal wieder ein KonkurrentenKamerad das Zeitliche segnet. The gentle art of making enemies c) ist Business as usual im Talent Contest. Manch einer in der Politik mag sich danach sehnen in diesen Tagen. Nach dem Business as usual. Stattdessen rücken sich Traum und Traumata beängstigend näher und bestimmen auch die aktuelle Politik: „‚Nie wieder 9/11‘, sagen die Amerikaner und folgen Bush. ‚Nie wieder wehrlos‘, sagen die Israelis und folgen Scharon. ‚Nie wieder Krieg‘, sagen die Deutschen und folgen Schröder.“d) Wenn je ein Bomber aus dem Nahen Osten Deutschland erreicht, will ich Meier heißen. e) Unsere Selbstüberschätzung geht in diesen Tagen wieder einher mit dem Rückzugsgebaren in unsere kleine Welt. Kein Taliban mehr im Ferienflieger, der unsere Urlaubspläne durchkreuzt, kein Muezzin mehr in Oberbayern, der unsere Ruhe stört, kein Krieg mehr im TV, der uns den Sender wechseln lässt. Das Interesse an der PlayStation Afghanistan f) ist längst geschwunden. Und wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis die gleichen Bilder im Bundestag hervorgeholt werden, um die deutsche Anti-Kriegs-Haltung zu legitimieren, wie sie einst den Nato-Einsatz in Jugoslawien legitimieren sollten. Definitionssache eben. Denn wir sind gegen Terror, aber nicht im Kampf aller gegen alle, sondern im Kampf gegen uns selbst. Das Böse besiegen heißt demnach uns besiegen. Deshalb lesen auch wir Michael Moores Stupid White Men g) und besinnen uns erneut auf unser christliches Credo: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; oder etwas weltlicher: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu. Nur: Uns führt der Weg aus der Legitimations- in die Identitätskrise. Denn: Wer oder was ist uns eigentlich am nächsten? Unser Alter Ego Wir sind entschieden unentschieden im Zwist und Gefecht mit uns selbst und dem Wunsch, das politische Primat zurückzugewinnen. Die Frontlinie zieht sich mitten durch unser Gesicht. Michael Hardt und Antonio Negri haben ein treffendes Bild für unser Dilemma gefunden. Sie beschreiben in ihrem Theorie-Bestseller Empire h) ausgerechnet den k.u.k. Doppeladler als eine mögliche Darstellung der neuen Weltordnung. „Doch während im älteren Wappen beide Köpfe nach außen schauten, als Symbol der relativen Selbstständigkeit und des friedlichen Miteinanders der verschiedenen Territorien, müssten in diesem Fall die beiden Köpfe sich nach innen wenden, einer den anderen angreifen. [...] Der erste Kopf des imperialen Adlers steht für die Rechtsstruktur und die konstituierte Macht, die aus der Maschinerie biopolitischer Herkunft hervorgehen. [...] Der andere Kopf des imperialen Adlers steht für die Multitude, die vielseitige Menge produktiver, kreativer Subjektivitäten in der Globalisierung, die gelernt hat, diesen gewaltigen Ozean zu befahren.“ i)
Dieter Bohlen auf RTL in: Deutschland sucht den Superstar. Sendung vom 8. Februar 2003, vgl. auch I b) Die Macher von Deutschland sucht den Superstar versuchen nach dem Muster der Kult-TV-Soap GZSZ (Gute Zeiten, Schlechte Zeiten) das Kürzel DSDS zu etablieren. c) Songtitel der Rock-Band Faith No More d) Leserbrief von Dr. Franz Brück aus Düsseldorf in: Der Spiegel, Nr. 6, 3. Februar 2003, S. 10. e) In Anlehnung an das Zitat von Hermann Göring: „Wenn je ein britischer Bomber Deutschland erreicht, will ich Meier heißen.“ Keine gesicherte Quelle. f) Begriff von Klaus Theweleit in: Theweleit, Klaus: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt/M. 2002, S. 13. g) Moore, Michael: Stupid White Men. Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George W. Bush. München, 2002. h) Hardt, Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M., 2002 i) Ebenda, S. 73, s. auch II a)
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Richard Hoeck Orginalbeilage Nr. 2
Herausnehmen, auseinanderfalten, aufhängen, nachdenken. So lautet die von der Redaktion empfohlene Reihenfolge. Andere Möglichkeit: Nachdenken, wie man die Beilage herausnimmt, ob man sie aufhängt und wenn ja welche Seite. Das praktische Wendeposter ist jedenfalls die aktuelle Arbeit aus Richard Hoecks Aktion „Taliban Talent Contest“ (kurz: TTC). Anmerkungen von Karin Pernegger (re. Seite) – mit Fußnoten von Peter Gorschlüter (li. Seite) Die Katastrophe ist zur Kategorie geworden, geordnet in Tagesnachrichten, ganz ungeschminkt ohne Verheißung und Voraussagung. Die Panikkultur1 empfiehlt sich in ihrer expertenhaften Einstellung zur Katastrophe. Aber: „Eine panische Kultur würde man sofort an ihrem Respekt vor Wasserhähnen erkennen; es könnte doch sein, daß man an einem dreht, und der Ozean kommt heraus,“ kommentiert Peter Sloterdijk I 1989 das Selbtverständnis der modernen Gesellschaft, das bis heute unverändert scheint. Der „quasi“ durch die Medien bereitgestellte Besitz über Wissen, eine Katastrophe von der Ferne einschätzen und kommentieren zu können, suggeriert Sicherheit. Nein Überlegenheit. So wie uns die tägliche kleine Dosis Ozean aus unserem häuslichen Wasserhahn glücklich macht – der korrekte Name eines Selbstmordattentäters, seine Herkunft und der attestierte Grund für seine Entscheidung zu töten lässt uns aber lange nicht den Konflikt verstehen und die Situation beurteilen. Stattdessen wird das Fremde in auflistbaren Stereotypen geordnet, in ihren jeweiligen Kategorien bestätigt, um als Folgerung unser Verständnis von Gerechtigkeit zu gewährleisten. Die daraus entstehenden Fremdbilder sind nicht nur die Quellen von Rassismen und Xenophobien, sondern auch beweisführende Parameter unseres zunehmenden Ver-
sagens, die Komplexität der Zeichen und Codes unserer Welt zu lesen. Denn wir brauchen Wasser, es kommt aus der Leitung und wo viel Wasser ist, ist ein Ozean, der unsere Wolken speist und uns durch den Regen fruchtbaren Segen spendet, genauso selbstverständlich, wie unsere „Wahrheit“ durch die Wissenschaft abgearbeitet wird. Richard Hoeck bedient sich dieser blind versagenden Begriffsfolge, so, als ob er selbst kurz an dem Wasserhahn drehen und die Dosis bestimmen würde, um die Traumata einer Panikkultur ins unendliche fortzupflanzen. Er sucht nicht identifizierbare Konterfeis zweier unterschiedlicher Männer arabischer Herkunft für seine Plakatserie aus, um die in der westlichen Welt inzwischen standardisierte Vorstellung von einem Al kaida-Kämpfer einer Prüfung zu unterziehen, die sich automatisch mit dem abrufbaren System der Medien in unseren Köpfen verselbstständigt: Wir können den jeweiligen Lebenslauf – vor Monaten schon veröffentlicht – eben doch zuordnen. Doch bis wir wissen, was wir auf den Plakaten sehen und der rot gezeichneten Linie durch die aneinander gereihten Abbildungen folgen können, verschwindet auch schon das gezeigte Einzelbild II. Denn es gibt gar keinen Ozean hinter dem Wasserhahn, nur einen Dichtungsring und den regulierenden Wasserdruck der Wasserwerke.
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Pergine: Vom Narrenhaus zum Geisterhaus
Pergine? Mit Pergine sind wir aufgewachsen. Unsere Welt war nicht so groß, damals, und jemanden „auf den Mond schicken“ wäre uns nicht eingefallen. Man sagte, um einem das Schlimmste anzuwünschen: „Du gehörst nach Pergine!“ Wo das war, wussten wir nicht, und eher als an einen Ort, dachten wir an einen Zustand. Von Florian Kronbichler, Fotos von William Guerrieri (S. 88– 93) Pergine, das war dort, wo sie die Dorftrottel hintaten, wenn sie sich nicht benahmen. Solang sie Ruhe gaben und nur schief gingen (das taten sie nämlich) oder auch wenn sie nur ab und zu den Kindern nachrannten, wurden sie „behalten“. Der Dorftrottel gehörte zum Dorfbild. Ohne ihn kein Dorf. Und bezogen auf ihn war eigentlich nie von Pergine die Rede. Erst später erfuhr ich, dass diese Leute meistens einmal in Pergine waren. Von dorther sind sie dann so zurückgekommen: gestaucht und blöd, aber ruhig. „Er tut nichts“, beruhigten uns die Nachbarn. Wie bei Hunden, die angeblich nicht beißen. Pergine, das war dort, wo die Narren hausen. Und wenn du nicht tust, wie es sich gehört, „tun wir dich nach Pergine“. Mit der Zeit erst erfuhren wir, dass Pergine italienisch war; „irgendwo bei Trient“, was nichts hieß. Denn Trient war aus Südtiroler Sicht nicht weniger weit weg als Mailand oder Rom, und politisch war es im Zweifelsfall noch ärger. Oh, was wir Trient verachten mussten: dort fuhren unsere Burschen zur Musterung hin; Trient war die walsche Hinterhältigkeit; von Trient wollten wir immer los, und dort irgendwo war auch Pergine. Einmal kam der Vater von Bruneck heim, wohin er wie alle richtigen Bauern der umliegenden Dörfer zweimal oder dreimal die Woche ging, um die 9-UhrMesse bei den Kapuzinern zu besuchen, anschließend einige Gänge zu erledigen und abschließend in der Poststube einen Karter zu machen. Beim Mittagessen erzählte er dann: „Heute haben sie den Hanslmoar-Knecht von St. Georgen nach Pergine geliefert.“ „Was hat er denn getan?“, fragten wir Kinder. (Die Mutter interessierten solche Nachrichten nicht. Sie hielt sie für „Gasthausgerede“, dem man keinen Glauben schenken sollte, weil davon
alles nur schlimmer wird.) „Dem Doktor Leiter eine heruntergeschmiert hat er“, sagte der Vater. „In Bruneck, am Graben, mitten am helllichten Vormittag.“ Das war der Moment, an dem ich begann, misstrauisch auf Pergine zu werden. „Der Doktor Leiter“, das war der erste Advokat am Platz, die allseits gefürchtete Respektsperson. Und der HanslmoarKnecht war einer jener verbitterten Weichenden, wie es sie seinerzeit auf jedem zweiten Hof gab: tatsächlich oder vermeintlich betrogen von dem grausam ehernen Tiroler Erbrecht und dran halt ein bisschen zerbrochen. Dass so einer der Stadtautorität auf offener Straße eine Ohrfeige versetzt, ist Grund „nach Pergine zu kommen“? Ohne eine Ahnung zu haben, was Pergine wirklich war, mir schien das ein bisschen unverhältnismäßig. „Wegen einer Watsche ins Narrenhaus?“, erlaubte ich mir zu fragen. Der Vater antwortete darauf nichts Genaues. Dass er mich nicht rügte, legte ich so aus, dass auch er Mitleid mit dem armen Hanslmoar-Knecht hatte. Denn eines war damals sowohl dem Vater als auch mir kleinem Buben klar: Wenn einer nicht schon spinnt, einmal in Pergine, würde er auf jeden Fall und lebenslang spinnen. Später erfuhr ich, dass Pergine außer ein Narrenhaus auch noch eine Ortschaft ist, und zwar eine gar nicht kleine. „So groß wie Bruneck fast“, hieß es, und das war unser Maßstab für Stadt. Wie könnten unbescholtene Menschen nur so gestraft sein, sich als Bürger von Pergine bezeichnen zu müssen? Diesen Ort im Personalausweis zu tragen? Sich „Perginer“ nachschreien lassen zu müssen, ohne es in jenem besagten Sinn zu sein?
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Als wir noch später erfuhren, dass es auf Erden nicht nur ein Pergine gibt, sondern mehrere, und dass das Pergine von Nordtirol Hall ist, dann war es eine beliebte Frage, was denn weniger schlimm sei: Hall oder Pergine? Und ob die Haller bei den Nordtirolern auch so endgültig unten durch seien wie die Perginer bei uns Südtirolern. Wir hätten es uns nicht vorstellen können. Hall? Wird schon ein Narrenhaus haben, aber dass Hall deswegen ein Schimpfwort wäre? Wir wollten es uns nicht vorstellen. Hall? Das war ja Münzturm, Geschichte, Tirol. Auch sprach man von den „Haller Kranken“, was irgendwie respektvoll klang. Ganz im Gegensatz zu Pergine. Da sagte doch der Name schon alles. Pergine, 12 Kilometer von Trient am Eingang des Valsugana-Tales gelegen und noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ruf einer Kurstadt ausgestattet, war in kürzester Zeit zum Synonym für die Psycho-Deponie des südlichen Tirols geworden. „Pergine“ und alles, was in diesem Wort mitschwingt, ist eine Südtiroler Verdrängungsgeschichte: angefangen von der Eröffnung der kaiserlich-königlichen Irrenanstalt im Jahr 1882 bis zu seiner offiziellen Schließung durch das republikanischdemokratische Italien genau hundert Jahre später, 1982, und heute noch, da es das „psychiatrische Krankenhaus“ schon zwanzig Jahre lang nicht mehr gibt und trotzdem noch 43 Südtiroler dort leben. Verbotenermaßen dort leben, muss es heißen. Denn das selbstgerechte Südtirol tut alles um glauben zu machen, es gebe heute „Pergine“ nicht mehr. Es zwingt sich zu glauben, dass es nicht gibt, wofür es nicht zahlt. Das war immer so. Südtirol hat seine Geisteskranken immer abgeschoben. Mal sanfter, mal gröber, aber immer. Zunächst, als es Südtirol noch gar nicht gab, gab es Hall. Wer durchdrehte, wurde dorthin gebracht. Die Landesirrenanstalt in Hall wurde 1830 eröffnet und zeit ihres Bestehens – das scheint eine Konstante von Irrenanstalten, Gefängnissen und Spitälern generell zu sein – war sie zu klein. Den italienischen Trentinern im Tiroler Landtag und nicht den Deutsch-Südtirolern ist es zu danken, dass irgendwann anstatt an die x-te Erweiterung des ehemaligen Klarissenklosters in Hall an den Bau einer zweiten Anstalt im südlichen Teil Tirols gedacht wurde.
Wie aufgeklärt und menschenfreundlich angesichts hundertjähriger Südtiroler Abschiebungstradition die damaligen Bemühungen der Trentiner doch anmuten! In seiner Begründung für „die Notwendigkeit einer eigenen Irrenanstalt in der Regentschaft Trient“ schrieb 1850 der Arzt Francesco Saverio Proch an den Tiroler Landtag: „Wie kann man denn auf Deutsch Psychiatrie betreiben, wenn der Patient nur Italienisch versteht und spricht?“ Das sonst so muttersprachempfindliche Deutsch-Südtirol hat solche Fragen erst hundert Jahre später gestellt, und das nur bezogen auf gesunde Menschen. Man freute sich, damals, auf die Psychiatrie. Auch das zu erwähnen ist wichtig im Südtirol des Zeitalters 2000, in dem jeder Ort, der „Gefahr läuft“, eine Einrichtung für psychisch Kranke aufnehmen zu müssen, zum Notstandsgebiet erklärt wird. Wo immer seit fünfzig Jahren das Land Südtirol psychisch Kranke unterbringen wollte, waren „Kulturgrundnot“ und „tourismusschädigend“ erlaubte – und letztlich schlagende – Argumente dagegen. Das Land hat Angst vor einem eigenen „Pergine“. Rührend, im Vergleich, wie es damals war. Als der Marktflecken Pergine 1877 den Zuschlag für den Bau einer eigenen Irrenanstalt fürs südliche Tirol erhielt (in einem harten Ausscheidungswettbewerb gegen die Stadt Trient sowie die Orte Mezzocorona im Etschtal und Cles im Nonstal), wurde seinem Abgesandten zum Tiroler Landtag, Francesco Crivelli, bei seiner Rückkehr aus Innsbruck ein begeisterter Empfang mit Fackelzug durchs eigene Dorf bereitet. Natürlich war es nur Ausdruck von Güte und Menschenfreundlichkeit. „Si spera grandi e comuni vantaggi“ – großen Nutzen für alle erwartete man sich. Aber wer sagt, dass Sozialinvestitionen heute nicht wirtschaftlich interessant sein können? So entstand „Pergine“. Und wollten wir auch sonst nichts zu tun haben mit den „Polentoni“, den Polentafressern, als welche wir die Trentiner verhöhnten, unsere Narren schickten wir ihnen in Massen. Hall war ab 1919 Ausland und, was schwerer wog, gebührenpflichtig. Pergine war zwar walsch, aber im Vergleich zu Hall wurde daran das Essen gelobt – „buono e molto abbondante“.
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Giuseppe Pantozzi, ein Bozner Jurist, den seine Landesbeamten-Arbeit nicht ausfüllte, schrieb ein schönes Buch über die Geschichte der Psychiatrie in Tirol. „Gli spazi della follia“, heißt es. „Die Orte des Wahnsinns“. Es ist eine Chronik des Wegschauens und Wegsperrens, mit dem „ospedale psichiatrico“ von Pergine als Hauptkriegsschauplatz … Es muss einmal ein größerer Glaube in die Kunst der Psychiatrie geherrscht haben, als dies heute der Fall ist. Was „Heilanstalt“ hieß, war auch als solche gedacht. Man vertraute auf die heilende Wirkung der Natur, der Ruhe und der guten Luft, und dementsprechend war die Anlage konzipiert: die Gebäude im Stil der Zeit, was kein bescheidener war; mit reichlich „Kunst am Bau“, wie man heute sagen würde, und mit weitläufigen, mediterran-üppigen Gärten in schönster Lage. Es muss den Erbauern von „Pergine“ zugute gehalten werden: Sie glaubten an Besserung. Dass aus einer Heil- rasch eine Entsorgungsanstalt wurde, war wohl das Produkt einer Gesellschaft, die mehr an sich selber dachte als an ihre Kranken. „Pergine“ wächst von Anfang an wie ein Krebs. Erbaut für 200 Patienten, werden „zu den besten Zeiten“, das sind die 60-er und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, das Zehnfache dort interniert sein. 2.000 Patienten und 1.000 Angestellte war die Spitzenbelegung. Die Hausregeln verkamen schnell zur Lagerordnung. Besuche waren nur Ärzten, Forschern und engsten Verwandten gestattet. Auf keinen Fall „Wohltätern, Förderern oder Freunden“. Mittlerweile, um das vorwegzunehmen, steht der Zutritt jedem frei. Nur, es kommt niemand mehr. Man kann sich vorstellen, welchen Wirtschaftsfaktor das „Narrenhaus“ für die Gegend darstellte. Andauernd wurde erweitert, Kaserne um Kaserne hinzugebaut. Ob die Nachfrage das Angebot in die Höhe trieb oder umgekehrt das Angebot („Bettenangebot“ heißt es) die Nachfrage – schwer zu sagen. So wie die Entwicklung lief, wird man zum Schluss kommen müssen: Angebot bedingt die Nachfrage. Unweigerlich. Die Irrenanstalt von Pergine wurde so lang erweitert, bis der italienische Staat geschlossene Anstalten für psychiatrische Patienten einfach ver-
bot. Das geschah im Jahr 1978, und so emphatisch dieses Ereignis heute, zum 25-jährigen Bestehen des sogenannten Bisaglia-Gesetzes, als Fortschritt gepriesen wird, so sehr verbreitete es damals Panik: Hilfe! Der Staat lässt die Narren laufen. Südtirol hatte sich wieder einmal umsonst Sorgen gemacht. Die jahrhundertlange Abschieb-Möglichkeit (zuerst nach Hall und dann nach Pergine) hatte die angenehme Nebenerscheinung gezeitigt, dass es im Land so gut wie keinen psychiatrischen Dienst gab. „Pergine“ wurde 1982 offiziell aufgelöst, und Südtirol spielte den Ahnungslosen: Pergine? Das ist Trient. Auf keinem anderen Gebiet übte das Land Südtirol derart Autonomieverzicht wie bei seinen Geisteskranken. Es benahm sich, als hätte es mit „denen in Pergine“ nichts zu tun. Flossen früher zumindest regelmäßig Zahlungen von Seiten des Landes an die Sanitätsverwaltung von Pergine, so wurden diese irgendwann einfach eingestellt. Begründung: mit der gesetzlichen Auflösung der Irrenanstalten war auch die Rechtsgrundlage für Zahlungen an sie abhanden gekommen. So fährt „Pergine“ fort zu existieren, mit den Südtirolern als seiner ehernen Belegschaft. Schlimmer noch: Es hält sich das Gerücht, wonach die ehemals Kaiserlich-Königliche in den letzten Jahren ihres legalen Betriebs, so zwischen 1978 und 1982, noch kräftig mit Südtiroler Patienten aufgefüllt worden sei. Man habe noch untergebracht, was unterzubringen war. Denn 100 Jahre Leben mit „Pergine“ hatten gelehrt: Von dort kehrt keiner zurück. So war es dann: Südtirol überließ sein menschliches Strandgut einer Geisteranstalt. „Pergine“ gibt es zwar nicht mehr, nur: 43 Südtiroler leben immer noch dort. Es gibt kein Geld aus Südtirol; keine Sozialassistentin aus Südtirol fährt mehr hin; kein einziger Pfleger versteht Deutsch; nicht einmal eine deutschsprachige Zeitung findet mehr hin; und der Franziskanerpater Markus, Bozens Mann fürs Asoziale, liegt inzwischen selber unheilbar krank in der Marienklinik. Besuche von daheim sind zur Ausnahme geworden. Die Mehrheit der Patienten bekommt keine. In der
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Regel muss sogar allein gestorben werden. Die Totenkapelle in schönstem Jugendstil, hundert Jahre lang so gut wie einziges Ausfallstor aus der Anstalt, ist geschlossen und verfällt. Don Mario Motter, langjähriger Anstaltskaplan, ist auch schon gestorben. Er hatte es sich als Großzügigkeit ausgelegt, dass er einigen die Lossprechung erteilte, obwohl sie auf Deutsch beichteten und er nichts verstand. Beerdigt werden die Leutchen seit je am öffentlichen Friedhof von Pergine. Meistens ohne Angehörige. Allenfalls, sagt Anstaltsleiter Vivaldelli, ließen diese sich blicken „sobald etwas zum Erben da ist“. Normalerweise ist nichts da. Pergine wartet hart, dass „Pergine“ stirbt. Von dem Dutzend Gebäuden, die einmal das Ospedale psichiatrico bildeten, ist der Großteil schon neuen Zweckwidmungen zugeführt worden. Wo einst Kranke zum Elektroschocken anstanden wie Schafe zum Scheren, bilden sich heute Warteschlangen vor Büroschaltern. Es verwaltet sich komfortabel in ehemaligen Massenschlafsälen. Die Eisenvergitterungen an den Balkonen sind, wo nicht abgenommen, verglast worden und ergeben eine angenehme Wintergartenatmosphäre. Das Hauptgebäude am Eingang rechts, ein wahrer Repräsentationspalast in Kaisergelb und mit Stiegenaufgängen wie in Wien, ist in ein Gymnasium umgewidmet worden. Die Kirche, die in ihrer historisierenden Pracht das Elend ihrer ehemaligen Gemeinde mehr überspielt als ausdrückt, wollten die Professoren sich als Konferenzraum unter den Nagel reißen. Dagegen zumindest ist das Denkmalamt eingeschritten. Zwar ist der Raum nicht mehr Kirche geworden, aber jede Profanierung hat ihre Grenzen. Überall ist die Ungeduld zu spüren, mit der die Gemeinde Pergine und die Provinz Trient dem definitiven Aus von „Pergine“ entgegenharren. Die Verwalter haben fertige Pläne in den Schubladen, und von den Rändern der einmal mit einer drei Meter hohen Mauer und drei Stacheldrahtringen umfriedeten Anstalt rücken überall Baumaschinen vor. Die letzten „Perginer“ sterben nicht rasch genug. Ihrer 167 waren sie in diesem Frühjahr noch. Davon 43 Südtiroler. Man hat sie inzwischen in die letzten drei Häu-
ser hinten links zusammengestockt, aufgeteilt nach Schwere der Fälle. Probeweise wurden erstmals die acht „Besten“ zu einer geschlechtlich gemischten „Wohngemeinschaft“ zusammengetan. „Es passiert nichts“, bilanziert Oberpfleger Marco. 120 Jahre lang herrschte strenge psychiatrische Geschlechtertrennung. Der Verfall der Struktur lässt auch manche überholte Ordnung verfallen. Es ist ein milder Abend in Pergine. Die „Besten“, mehr Frauen als Männer, waren zur Erholung ein bisschen durch den Wald getrieben worden. Und jetzt kommen sie „heim“: stumm, standesgemäß verwahrlost und mit jenem unendlich traurigen Schritt, den man an kranken Menschen kennt. Wie die Überlebenden eines vernichtend geschlagenen Heeres. Schafen gleich trippeln sie dem heimatlichen Stall zu. Mechanisch die Bitte: „una sigaretta!“ Die Zigarette ist das einzige, was diese Menschen wärmt. Ich hab keine Zigaretten, also bitten sie: „un Euro!“ Früher betrug der Betteltarif 1.000 Lire. Mit Einführung der neuen Währung haben sie das sofort mit 1 Euro umgewechselt, obwohl es das Doppelte ist. Den Sinn fürs Praktische haben sich die Menschen hier bewahrt. Ich schließ mich dem Letzten des Zuges an und komm mit ihm ein bissl ins Gespräch. 78 sei er und „immer schon da gewesen“. Richard heißt er. Er stammt aus der Gegend um Meran und ist stolz drauf, dass er „teitsch ist“. „Da“ sei er, „weil dahoam alles der Bruder gekriegt hat“. Ich verstehe – es muss ihm ergangen sein wie dem Hanslmoar-Knecht. Besuch von daheim war, seit das Personal sich erinnert, für Richard nie einer da. Aber der Mann hat eine Rolle hier: Er gilt als „der Politische“ im Lager, und das muss dem Richard wohl einen Rest an Lebenssinn bewahrt haben. Alles elend, natürlich, gibt der Mann mit dem halben Jahrhundert „Pergine“-Dienstalter zu verstehen, alles elend, „ja, ja, obr die Hoamat, die sell hobn sie ins net dernummen“. „Die Hoamat net dernummen.“ Südtirol ist deutsch geblieben und „Pergine“ muss zusperren.
Š Freytag-Berndt u. Artaria, 1231 Wien
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Landvermessung No. 1, Sequenz 2 Beschreibung Tirols entlang der Linie Hochwilde – Sandhof – Hochplatte
Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Stefanie Holzer und Walter Klier folgen südlich des Alpenhauptkammes einer pfeifgeraden Linie, die vom äußersten Winkel des Südtiroler Vinschgaus zur Wallfahrtskirche von Obermauern im Osttiroler Virgental führt. Auf dem zweiten Teilstück kehren die Autoren beim „Sandwirt“ im Passeier ein, um ein 12-gängiges Menü zu lesen, treffen auf einen „Christus als Apotheker“ sowie Sportalm-Hervorbringungen der Extraklasse und wissen zu berichten, dass Mücken unter Umständen stärker sind als eine Kuh.
1. Landvermessung vor Ort Alpine Fun. Innsbruck – Pfandler Alm und retour Da Anfang Mai nur Pensionisten reisen, verläuft die Anreise bis Sterzing problemlos. Die Gewerbe- und Industriezone im Westen der Stadt wächst beängstigend schnell. Moderne Zweckbauten schauen aus wie gigantische, kurios noble Wellblechhütten. Sie sind nicht für die Ewigkeit gebaut wie die Ziegelbauten des 19. Jahrhunderts, sondern für einen Konjunkturzyklus oder zwei. Die alten Fabriken werden, wenn das Produkt, das in ihnen hergestellt worden ist, nicht mehr gebraucht wird, bisweilen als Veranstaltungszentren für Kulturelles genutzt, die Hightech-Blechbüchsen werden nicht einmal zu Bierdosen verarbeitet werden können. Die Straße auf den Jaufen ist von blühenden Büschen gesäumt. Um zehn am Vormittag kommt schon die erste Radlerin auf dieser Seite des Jaufen herunter von ihrer schweißtreibenden Tour. Schlüsselblumenteppiche liegen über den eben ergrünenden Wiesen. Kurz vor dem Weiler Kalch annoncieren Schilder einen „Gosthof“. Der Unkundige meint, es handle sich um einen Schreibfehler. Und irgendwie hat er recht, denn der Gosthof ist ein Gast- und Bauernhof. Je höher wir hinaufkommen (Kehre 5, 1620 m), desto matter ist das Grün der Wiesen; bald recken sich nur mehr gelbe Huflattichblüten und weiße Pest-
wurzstengel aus dem Winterbraun. Da tritt zum ersten Mal die Jaufenspitze ins Blickfeld: Sie ist tatsächlich spitz, ein kecker Gipfel. Wir hatten soeben das Jaufenhaus bei Kehre 8 passiert, als ein Herr auf der Gegenfahrbahn neben seinem abgestellten Auto uns zuwinkte. W. blieb stehen, kurbelte das Fenster hinunter und fragte, was los sei. „Hallo!“, sagte eine tiefe Stimme einschmeichelnd. Der Mann war ungefähr fünfzig, offenkundig war seine Muttersprache nicht Deutsch, soviel konnte man schon nach dem gedehnten „Hallo!“ sagen. „Ich habe Schmuggelware“, fuhr er fort. „Hast du Interesse?“ Was konnte der Mann in seinem kleinen PKW haben, das wir brauchen könnten? Das einzige, was W. interessiert hätte, wären Kunstschätze aus dem Irak gewesen, doch die Tafeln des Hammurabi sind nun doch nicht außer Landes gebracht worden. Schmuggelware, denkt man, müsste hinter der Grenze angeboten werden, aber nicht kurz vor einem innersüdtirolischen Pass. Vielleicht war ja der Jaufen ein idealer Verkaufsplatz? Jede Menge Touristen zockeln in beiden Richtungen zwischen Sterzing und St. Leonhard in Passeier. Von der Passhöhe auf 2094 m bewunderten wir nicht nur die Aussicht auf die umgebende Mondlandschaft inklusive Hoher Kreuzspitze (2743 m), sondern beobachteten weitere Versuche der Geschäftsanbahnung drunten bei Kehre 8. Unser Verhalten war typisch für
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die zufällig gebildete Gruppe der Jaufenpassfahrer gewesen: Auch alle anderen, die der Vertreiber von unrechtem Gut (Raubkopien von CDs oder Rolex?) anhielt, blieben bereitwillig stehen – und fuhren nach einem Weilchen weiter, ohne auch nur ausgestiegen zu sein, um den Kofferraum des abgestellten Wagens zu inspizieren. Möglicherweise sollte der Jaufener Geschäftsmann seine Strategie überdenken. Er hielt nicht alle Autos auf. Vielleicht sind seine Parameter falsch, und die anderen, denen er kein Angebot gemacht hatte, wären ganz wild auf seine Waren gewesen. Die Straße über den Jaufen ist in einem viel besseren Zustand als sie es schon einmal war. Dennoch sind der fehlende Mittelstreifen, die nicht überall durch Leitplanken ersetzten rostigen Geländer und die Schilder, die vor Felsvorsprüngen (rocce sporgenti!) warnen, keineswegs arm an Reizen. Auf der anderen Seite des Passes bewillkommnete Walten, genauer „Lina’s Hofschenke“ den Reisenden. Wie im intensiven Obstbau stehen Beregnungsanlagen in den trockenen Wiesen, wo gerade wunderschöne Kuckucksnelken blühen. Walten ist der Geburts- und Heimatort von Georg Klotz. Unser Ziel war jedoch das Geburtshaus eines älteren und noch berühmteren Helden des Passeiertales, nämlich der Sandwirt an der Straße zwischen St. Leonhard und St. Martin. Die Dimension des Parkplatzes vor dem Haus lässt darauf schließen, dass der Sandwirt heutzutage eine Goldgrube ist. Endgültig zum Krösus wird der Wirt wohl nur deshalb nicht, weil manche ältere und/oder gehbehinderte Menschen es nie schaffen, vom Parkplatz über die vielbefahrene Straße ins Gasthaus zu kommen. Denn in St. Martin haben Zebrastreifen noch nicht jene Autofahrer domestizierende Wirkung entfaltet, die sie in größeren Ortschaften durchaus haben. „Das Andenken Andreas Hofer’s ehrend weilte Se. Majestät unser Allergnädigster Kaiser Franz Joseph I. umjubelt vom begeisterten Tiroler Volk am 21. Sep-
tember 1899 am Sandhof. In bleibender Erinnerung an dieses freudige Ereignis setzt die Tiroler Adelsmatrikel diesen Gedenkstein“, liest man an der Fassade des Sandwirts im Passeiertal, der im Übrigen immer noch ein Gasthaus ist. Allerdings nicht mehr im Besitz der Familie Hofer, die den Hof 1890 hoch verschuldet für 8.835 Gulden an die Tiroler Adelsmatrikelstiftung (früher Adels-Matrikel-Genossenschaft) verkaufte. Hofers Nachfahren kamen überdies in den Genuss von Leibrenten. Der Eingang des Gasthauses wurde seit Hofers Tagen verlegt. Man betritt das geschichtsträchtige Haus durch einen Anbau, der für den Kaiserbesuch 1899 aufgeführt wurde: eine ausnehmend schöne Veranda mit Kassettendecke, Holzboden und einfachen Tischen und Stühlen aus Holz war der Ort, in dem der Kaiser mit seiner Entourage bewirtet wurde. Das Kaisermenü, erfährt der Besucher des angeschlossenen Museums, war folgendermaßen zusammengestellt: Kraftbrühe vom Huhn Caviar und Sardinen Passeirer Forellen, gesulzt Schinken und Zungen Ochsenlenden, Rehrücken Gänseleberpastete, Hasenbrot, Rebhuhn Gefüllter Fasan Steirischer Kapaun Verschiedene Salate Kleine Bäckerei Verschiedene Käse Butter Kaiser Franz Joseph ist berühmt für seine Genügsamkeit, angesichts solch üppiger Menüs wundert einen seine sonst gepflogene asketische Zurückhaltung nicht mehr so sehr. „Hasenbrot“ ist übrigens eine Bezeichnung für ein Stück trockenes Brot. Der bizarre Gastgarten des Sandwirts ist liebevoll gestaltet mit Birke, Föhre, Yucca, Wandelröschen,
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Oleander, Lorbeer – alles in riesigen Blumentöpfen, die zum Überwintern ins Haus gebracht werden. Wein gegen die Straße hin vervollständigt das grüne Bild dicht neben der Straße, das seine Abrundung mit Fuchsie, Begonie und Kaktus am Fenster findet. Das rundheraus Wahnsinnige an diesem Gastgarten ist eine unauffällig angebrachte Lautsprecherbox, aus der ein auch friedvolle Bürger rasend machender, wie maschinell hergestellter, frohsinniger Ziehharmonikasound erklingt. Kaum ist ein Stück glücklich zu Ende gebracht, fängt das nächste an. Es bleibt nicht soviel Zeit, auch nur einmal durchzuatmen. Bemerkenswert im Inneren des alten Hauses ist die renovierte Gaststube, in der Hofers Getreue ein oder zwei Glasl getrunken und das Pfeiferl geschmaucht haben mögen. Allfällige Spuren davon wurden gründlich getilgt. Die Gaststube ist heute den Nichtrauchern vorbehalten. Die getäfelten Wände schmücken u.a. Bildnisse von Hofers nobilitierten Nachfahren, zum Beispiel von dem in Fischamend geborenen Enkel Hofers, Dr. Andreas von Hofer; er war ein „Edler von Passeier“.
wurde es nur mehr vertrauenswürdigen Reisenden wie Steub gezeigt, dem man den Reliquienstatus der Kleidung des Tiroler Freiheitshelden nicht erklären musste. „Sonst hat man immer große Sorge, es vor den Engländern zu hüten, welche verschiedene Summen dafür geboten …“ Im Gedenkbuch fand Steub viele Eintragungen von Engländern und Tiroler Studenten. „Einer von letzteren gab als seine Gedanken an dieser Stelle Folgendes: Ganz nahe an der Passer Strand Ich Hofers kleines Häuschen fand. Wohl, dacht’ ich mir, du großer Held, Dich nennet schier die ganze Welt – Doch leb’ ich lieber ungenannt, Als wie gestorben weltbekannt.“
Eines der Wirtschaftsgebäude neben dem Gasthof wurde zum „Museum Passeier“ adaptiert. Nicht ein jeder, der im Gasthaus einkehrt, zahlt auch die fünf Euro Eintritt ins Museum. Als wir die Aufsicht habende Dame in ein Gespräch verwickeln, nutzt eine Touristin die Gelegenheit und schleicht sich, ohne zu zahlen, ins Museum ein. Als nach einer Weile auch noch der Mann der Einschleicherin auftritt, um nach dem Verbleib seiner Frau zu forschen, wird ihm kundgetan, sie sei in die Schauräume verschwunden. Ob er auch hineinwolle? Rätselhaft seine Antwort: „Ich weiß es nicht.“
Kaiser Franz Joseph wohnte 1899 der Einweihung der Andreas-Hofer-Kapelle bei, die von niemand Geringerem als dem Kardinal und Erzbischof von Salzburg Johannes Evangelist Haller (1825–1900) vorgenommen worden war. Haller stammte übrigens wie der mit der Kapelle Geehrte aus St. Martin in Passeier. Aus diesem Grund ist im Museum auch die „Vollständige Ordnung des Leichenzugs zur Bestattung der irdischen Hülle Seiner Eminenz des Hochwürdigen Hochgeborenen Herrn Herrn Johannes Evang. Haller“ ausgestellt. Dieses kuriose Dokument listet 58 Punkte auf. Die Kreuzträger führen mit zwei Laternenträgern den Zug standesgemäß an. Waisenmädchen, Volksschulen, Witwen- und Waisenunterstützungsvereine und und und folgen bis endlich – auf Platz 48 – „die hohe Leiche von Geistlichen getragen und begleitet“ an der Reihe ist. Den Abschluss macht unter Punkt 58 „die übrige Begleitung weiblichen Geschlechts“.
Als der bayerische Schriftsteller Ludwig Steub (1812– 1888) 1871 in der „Wirtschaft am Sand“ zukehrte, wurde er von der Kellnerin in die Schlafkammer „des Sandwirts“ geführt, um dort seine Sachen zu sehen. 1838 wurde das Gewand Hofers von seinem Schwiegersohn zum letzten Mal öffentlich getragen. Seither
Im Halbstock des Museums, sozusagen im Übergang zwischen Hofer- und Heimatbereich steht als Bindeglied ein Touch-Screen, auf dem man sich Begleitmusik zum Schauen aussuchen kann: Die Palette reicht von Volkstümlicher Musik über Chormusik und Volksmusik weiter zur Modernen Musik. Unter
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letzterer Überschrift wurde unter anderem angeboten: Quo vadis mit dem Titel „I hon lei getramp“ und „Have you ever seen the rain“ von Santoni Peter. Unfähig, hier eine Wahl zu treffen, entschieden wir uns für Stille. Als das Museum im Jahr 2000 eröffnet wurde, gaben ältere Passeirer ihre Sicht auf das Museum zu Protokoll: „Wegen den olten Plunder brauch i nit ins Museum zi gian … des hoben mir derhuam kopp!“ Jüngere Bewohner des Tals, die damit aufgewachsen sind, in fahrbaren Untersätzen über den Jaufen zu brausen und die viel zu langsam dahinzockelnden Touristen waghalsig zu überholen, begegnen im Museum einem modernen Phänomen: Eine Kopfkraxe steht für den Warentransport über die Alpen, dafür, dass das Passeier das Tal der Träger war. Die Passeirer waren „privilegierte Fernfahrer von früher“. Sie transportierten Obst, Wein und Schnaps ins Inntal und nach Bayern hinaus. Auf dem Rückweg trugen sie Flachs, Salz und Getreide. Als 1903 die Jaufenpassstraße eröffnet wurde, kam es zu Protesten, da die gutverdienenden Träger als Modernisierungsverlierer um ihre Existenz fürchteten. Wie man sieht, zurecht. Ob die Südtiroler Frächter von heute als Symbol für den Niedergang ihres Gewerbes dereinst eine oder zwei Nummerntafeln im Heimatmuseum abgeben werden, hängt einerseits von der Halsstarrigkeit der EU und andererseits, möglicherweise maßgeblicher, vom mangelnden Verhandlungsgeschick der Österreicher ab. Nach der letzten Bergiselschlacht versteckte sich der Sandwirt bekanntlich in der Pfandleralm, wo er von Franz Raffl verraten worden ist. Vor dem Aufstieg zur Alm stärkten wir uns in Prantach beim Pfandlerhof mit einer Speck- und Käsejause. Der Pfandlerhof lässt nichts Geschichtsträchtiges erahnen. Wohnhaus und Stallungen sind neu erbaut, das Holz ist noch so frisch – beinahe zitronengelb. Weder Mensch noch Tier hat den Hof bezogen. Deswegen gibt es auch die auf einem Schild annoncierte Buttermilch nicht, die erhitzte Wanderer gern verkostet hätten. Die Gastlichkeit wirkt insgesamt rudimentär. Vor dem
Stallgebäude steht ein Baustellenkabäuschen, aus dem die Getränke geholt werden. Franco, der Wirt, und die Kellnerin, die im Kontakt mit ihren Gästen immer wieder „So, woll, bitte“ sagt, essen eine bloße heiße Wurst zu Mittag. Die deutschen Gäste rufen immer wieder begeistert nach Franco, vielleicht weil dieser Name für sie eine Intensivierung des Urlaubsgefühls mit sich bringt. Die Tiroler Tageszeitung berichtet an diesem Tag in landeseinheitlicher Sorge, dass in Latsch eine Kuh an den zahlreichen Stichen der Kriebelmücke gestorben ist. Kühe erleiden einen Schock, wenn Kriebelmückenschwärme über sie herfallen. Der zuständige Südtiroler Landesrat riet, die Kühe nur mehr vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu weiden. Der Aufstieg zur Pfandleralm erfolgt auf einem gut markierten Weg durch den Wald. 350 Höhenmeter sind es vom Hof zur Alm auf 1350 m Seehöhe. Dieser Weg wurde nicht nur vom Tiroler Helden eilig zurückgelegt, sondern seither von vielen Wanderern, die auf dem Europäischen Fernwanderweg E5 vom Bodensee an die Adria unterwegs sind. Als erstes sieht man die Fahnen der Alm: die grün-weiße der Schützen und die rot-weiße des Landes Tirol. Dann taucht das neue Almgasthaus auf und dann erst findet der suchende Blick die historische Almhütte hinter den Fahnen. Unten ist ein Einstellplatz für Vieh und darüber lagert das Heu. In dieser Hütte nahmen die Franzosen Hofer gefangen. Der Hauptort des Passeiertals trägt den Namen des Hl. Leonhard. Dieser beliebte Heilige ist auch einer der 14 Nothelfer, auf dessen Beistand Bauern, Stallknechte, die Ställe selbst, das Vieh und die Pferde, die Schlosser, Schmiede, Fuhrleute, Lastenträger, Fassbinder, Obsthändler und Bergleute ebenso zählen wie Wöchnerinnen und Gefangene. „Leonhard erscheint oft als der bayerischste unter den bayerischen Heiligen“, in Bayern gab es in alter Zeit rund 150 Leonhardi-Wallfahrten. Heute sind es immer noch fünfzig. In Nord- und Südtirol zusammen gibt es sechs
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Ortschaften, die den Namen des Heiligen tragen: St. L. (Fraktion der Gemeinde Abtei), St. L. im Pitztal, St. L. (Fraktion der Gemeinde Brixen), St. L. (Weiler in der Gemeinde Kundl), St. L. (Rotte in der Ortschaft Äußere Großrotte der Gemeinde St. Jakob im Defereggen) und eben St. L. in Passeier. Der Hl. Leonhard von Limoges hat leider nicht verhindert, dass der Hochaltar von der Hand des Tiroler Meisters Hans Klocker aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Zuge der Barockisierung der Kirche verkauft wurde. Zwei Figuren sind im Museum für mittelalterliche Kunst in Wien zu finden, zwei weitere stehen in Seefeld in Tirol. Und zu allem Überfluss musste später der barocke Altar wiederum einem neogotischen weichen. Auf den ersten Blick einnehmend ist die Gewölbedekoration im gotischen Altarraum: Wo zwei Gewölberippen aufeinandertreffen, wurde ein Strauß Blumen (oder Heilkräuter, wie der Kirchenführer meint) hingemalt, die im Zusammenhang mit Glaubensfragen auf das Bild „Christus als Apotheker“ hinweisen: Christus bereitet „als Apotheker die Seelenarzneien zur Erlösung des an ihn glaubenden Menschen in seiner ,geistlichen Apotheke‘ selbst und ,dispensiert‘ umsonst, also ohne Gegenleistung, eigenhändig. Seit etwa 1650 taucht das Motiv auch in der katholischen Volkskunst auf. Der ursprünglich als Apotheker beim Wägevorgang dargestellte Christus wird dabei zum mit erhobener Rechten den Betrachter segnenden Heiland, der mit der Linken eine gleichgewichtige Handwaage als Symbol der Gerechtigkeit hebt. In enger Anlehnung an diese Motivgestaltung ist das katholische Sinnbild bis ins 19. Jahrhundert immer wieder als Andachts- und Kultbild und bis in die Gegenwart als besinnliches Schmuckbild in Apotheken und für Apothekerwohnungen gemalt worden.“ Über dem spätgotischen Taufstein aus dem Jahr 1545 wurde nicht nur Andreas Hofer 1767, sondern 1783 auch der nachmalige Beamte und Heimatkundler Johann Jakob Staffler getauft.
Auf der Anschlagtafel der Gemeinde sind unter dem Titel „Mädchen sein, Frau werden“ „Drei Gesprächsabende mit Mädchen ab 14“ angekündigt. Am 8. 5. behandelt man das Thema „Liebe, Freundschaft, Beziehungen“, am 13. 5. steht „der weibliche Körper“ im Zentrum des Interesses. Am 21. 5. wird das weite Feld des Frauseins auf eine praktische Frage eingeengt: „Verhütungsmittel und Methoden“. Der Nachsatz auf dem Plakat lautet: „Wichtig: Teilnahme nur mit Einverständnis der Eltern.“ Aus dem Frickhof, Johann Jakob Stafflers (1783– 1863) Geburtshaus, ist das Hotel Frick geworden, das sich auch als Restaurant, Café und Pizzeria bewirbt. Wir suchten nach einer Kaffeehausterrasse im Freien, doch damit allein war uns noch nicht geholfen, wir brauchten Schatten nach der sonnigen Mittags-Wanderung auf die Pfandler-Alm bei 30 Grad Celsius. Solchen Luxus bot der Stroblhof gleich nebenan. Die Kellnerin war eine fesche Person im Mini-LeinenDirndl, am ehesten vergleichbar mancher firlefanzreicher Sportalm-Hervorbringung aus der Speziallinie „Alpine Fun“, denn auf dem Kittel des Dirndls stand in Fraktur zu lesen: „Lebende Frau“. Sie war sozusagen als „weapon of mass seduction“ eingesetzt. Das hatte der Wirt gar nicht nötig, denn der Eiskaffee war verführerisch genug. Der Franzosenfriedhof ist ein kleines Stück Rasen. Alle „im Gefechte beim Kolber und Ortsfriedhof allhier vom 19. bis 22. November 1809 gefallenen Franzosen“ liegen hier begraben. Es handelt sich um 200 Soldaten und 30 Offiziere. Auf Passeirer Seite kamen in diesen Kämpfen 23 Männer um. Weiter hinten im Tal Richtung Timmelsjoch liegt die Gemeinde Moos in Passeier. Die berührendste Sehenswürdigkeit in Moos ist ein Grabstein an der Außenwand der Kirche zu Mariä Himmelfahrt, genauer die Tafel der ehemaligen „Haller’schen Grabstätte“. Das Bildnis des Alois Haller, Wirt in Moos, geboren 1874 in Walten und nach langem schweren Leiden in Moos 1922 gestorben, ist links und rechts
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von zwei Fotos flankiert. In der Mitte Vater Alois mit markantem Schnauzer, links sein Sohn Alois mit den Lebensdaten 1911–1917, rechts ist der nächste Sohn Alois abgebildet, ein Baby im weißen Kleidchen. Seine Lebensdaten lauten 1919–1920. Der Grabspruch „Das stille Grab erschreckt den Frommen nicht. Er hofft auf Gott und fürchtet kein Gericht“ klingt wie eine katholische Durchhalteparole angesichts des übergroßen Kummers, der Alois Haller senior angesichts seiner toten Buben bedrückt hat. Auf Friedhöfen werden Geschichten am lakonischsten erzählt: Der Protagonist der Geschichte lebte, bis er starb. Allfällige Bilder auf den Grabsteinen geben vor, ob die jeweilige Kürzestgeschichte in Dur oder in Moll zu denken ist. Alois Haller war, das ist sicher, ein trauriger Mann. Der Pfelderer Bach hat sich tief in die Steine eingegraben. Donnernd stürzt und stäubt – Stuibenfall oder Stieberfall! – das Wasser ins Tal hinunter, um in die wilde Passer zu münden. Auf dem Rückweg nach St. Leonhard passierten wir den Schildhof Gomion. Die Schildhöfe hatten besondere Rechte. Die Besitzer mussten keine Steuern zahlen, dafür hatten sie für kriegerische Auseinandersetzungen gerüstet zu sein. Die Schildhöfe selbst sind wehrhafte Gebäude, die Wohlstand anzeigen. Beim Schildhof Gomion steht eine im Jugendstil gestaltete, der Maria von Lourdes geweihte Kapelle. Stuanegg, Waldegg und Tannenheim heißen, den Tatsachen entsprechend, Häuser außerhalb von St. Leonhard auf dem Rückweg in Richtung Jaufen. Und der Milchhof in Sterzing heißt Bayernland. Das wird wohl auch zu Recht so sein, eigenartig wirkt es doch. Was man darüber denken soll, überlegen wir uns bei der nächsten Etappe der Landvermessung in Sterzing. 2. Aus der Geschichte der Tiroler Freiheitskämpfe Zwei der wichtigsten Tiroler Helden stammen aus dem hinteren Passeier: Die Geburtshäuser von And-
reas Hofer und Georg Klotz liegen nur wenige Kilometer auseinander südlich bzw. nordöstlich von St. Leonhard. Nur wenig weiter im Süden beiderseits des Tales liegen zudem die Almen, auf denen sich die schicksalhaften Szenen von Verrat, Flucht und Niederlage abspielten: für Hofer die Pfandleralm östlich über St. Martin (s. Teil 1), für Klotz die Hütte auf den Brunner Mahdern etwas talaus hoch am westlichen Talhang. Die vier Punkte bilden ein sehr langgestrecktes Parallelogramm, wie eine Kompassnadel, deren Spitzen nach Südwest bzw. Nordost weisen und eine Linie bilden, die unter anderem Ortler und Olperer, St. Prokulus bei Naturns und Maria Rast bei Hainzenberg verbindet. Die in diesem Landstrich verwurzelte Neigung, sich gegen übermächtige Feinde und ohne alle Hoffnung auf Erfolg mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzen, könnte man vulgärhistorisch auf die Tradition der Schildhöfe im Passeier zurückführen oder vulgärgeografisch auf den Umstand, dass dieses Tal, wiewohl ziemlich genau in der Mitte des alten Tirol gelegen, so fern der Welt und von so hohen Bergen umgeben ist, dass ein realistischer Blick auf die Verhältnisse verunmöglicht wird. Nach dem Frieden von Schönbrunn (14.10.1809) war die Sache der Tiroler bereits ganz offensichtlich verloren, die vierte Bergiselschlacht am 1.11. endete im Desaster, doch rief Hofer am 11.11. neuerlich zum Widerstand auf. „Fast alle Gerichte in Tirol ersuchten mich, gegen den Feind auf zu sein. Brüder, es ist nur um ein Kleins zu tun. Wenn wir nachgeben, ist Glaube, Religion, Volk und alles hin. Wer widerstrebt, ist ein Feind Gottes und des Vaterlandes.“ Doch von jenen Scharen, wie sie Hofers Laufzettel im Mai und August aus dem Boden gezaubert, war wenig mehr zu sehen. So mancher seiner vertrautesten Freunde blieb zu Hause trotz wiederholten Aufrufes oder machte sich unsichtbar, um den Insulten [= Anpöbelungen] Rasender zu entgehen. Der Sandwirt selbst zeigte sich abgespannt und unsicher. Er schreibt:
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„Wenn die guten Patrioten die Sache noch nicht verstehen wollen, so wird es ihnen ergehen, wie es mir ergangen ist; hätte ich nicht freiwillig mitgewirkt, so hätten sie mir warmes Blei angetragen, und so wird es jedem gehen, der nicht mit der guten Sache halten will. Also tut ihr, was ihr nur könnt, damit wir miteinander leben und sterben.“ Am Abend des 17.11. marschierte eine französische Militärkolonne, vom Jaufen her kommend, in St. Leonhard ein. Die Franzosen sahen sich alsbald eng umschlossen, selbst die von ihnen noch besetzte nahe Jaufenburg mussten sie räumen und auf das Dorf sich beschränken. Eine eigenartige Kampfesszene entwickelte sich. Die festgebauten und höher ragenden Dorfhäuser wandelten sich in Festungstürme, in denen sich die einzelnen Soldatentrupps einnisteten. Gleich daneben in den anderen Hütten bargen sich die Bauern zur Blockierung, Beschießung und Stürmung des benachbarten Gegenüber. Vier Tage lang tobte ein erbarmungsloser Kampf. Am Morgen des 22. sahen sich die Franzosen in die Dorfkirche und den Friedhof zusammengedrängt und mussten schließlich bedingungslos kapitulieren. An die tausend wurden gefangen genommen und vollständig ausgeplündert. Wilde Leidenschaft hatte zu lange regiert, als dass sogleich menschliche Regungen hätten Platz greifen können. Geld und Uhren waren besonders begehrt, auch die Mäntel und selbst die Rasierzeuge fanden Anwert. Hofer ließ aber die Beute bei sich im Hause aufstapeln, sie sollte jenen zugute kommen, die durch die Franzosen und Bayern ins Elend geraten waren. Nach seiner Flucht wurden Geld und Uhren verstreut und vergraben. Manches kam in den folgenden Jahren zum Vorschein. 1817 wurden darüber viele Verhöre angestellt. Bis dahin waren von den 40 erbeuteten Uhren 29 zustande gebracht und wurden in Bozen versteigert. Der Erlös, 272 Gulden, wurde dem Militärerziehungshaus in Hall zugewiesen. Unmittelbar nach dem großen Sieg in St. Leonhard verliefen sich die Kämpfer, und was um Hofer im
Sandhof zurückblieb, zechendes und lärmendes Gesindel, zusammengelaufenes Volk aus der Fremde und fragwürdige Existenzen der Heimat, das war jedem ruhigen und vernünftigen Gedanken unzugänglich. Als kurz darauf eine größere Truppe, 3000 Mann unter General Barbou, im Tal eintrifft, hat alles sich verlaufen; nicht ein Schuss empfängt sie. Auch Hofer wird nicht mehr gesehen. Die Stimmung im Lande sei „sehr schlecht“, berichtet der bayerische königliche geheime Rat Baron Josef von Weichs anfangs Dezember. „Es blutet mir das Herz, wenn ich bei mir selbst überlege, wie die Gnade und Humanität unserer Regierung von dieser dummen, fanatisierten, hinterlistigen und doch feigen Nation gelohnt wird. Ich möchte stets mit Cato rufen, ceterum puto Tyrolim esse delendam. Wir erleben noch eine fünfte Insurrektion dieser niederträchtigen Kerls. Und wenn man mich in München auslacht, so erinnere ich daran, dass ich am 11. April auch ausgelacht wurde [d.h. vor der ersten Bergiselschlacht, Anm.].“ Hofer hielt sich im Pfandlerhof im Weiler Prantach, etwa eine Gehstunde über dem Tal, verborgen. Eine Delegation besonnener und geachteter Männer des Tales suchte ihn auf, um ihn dazu zu überreden, sich entweder den Franzosen zu stellen oder aber nach Österreich zu fliehen. Hofer lehnte dies barsch ab, immer unfreundlichere Worte folgten hin und her, bis er die Unterredung in barschester Weise abbrach: sie sollten sich marschieren! General Baraguay d’Hilliers setzte einen Preis von 1500 Gulden auf dessen Ergreifung. Hofer fand es in seinem Aufenthalt nicht mehr geheuer. Er suchte mit seinem Schreiber Kajetan Sweth, genannt Döninger, die Alphütte seines Unterstandsgebers auf. Das eingelegte Heu war ihr Lager, ein Futtertrog das einzige, was sich als Möbelstück verwenden ließ. Gegen die grimmige Kälte mussten die Lucken zwischen den roh gefügten Bäumen notdürftig verstopft wer-
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fer in Mantua nach einer Gerichtsverhandlung, deren Ausgang durch den Befehl Napoleons im voraus feststand, erschosse * Material nach Josef Hirn,
Tirols Erhebung im Jahre 1809, 2. Auflage, Innsbruck 1909, S. 785 ff.
** Lit. Walter Klier, Aufrührer, Roman, Wien 1991. Eva Klotz, Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biographie. Wien 2002.
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den. Nicht bloß zum Kochen, sondern schon des Wärmens halber musste in dem unwohnlichen Raume tagsüber das Feuer beständig unterhalten bleiben. Noch immer gab es regelmäßigen Botendienst, doch mit einer gewissen Vorsicht. Hofer selber sprach von Flucht, doch der Gedanke daran, zu dieser Jahreszeit auch schwer ausführbar, gewann in Wirklichkeit niemals die Herrschaft über ihn. Wie festgewurzelt lag er in seiner Hütte. Gleich dem scheuen Wilde, das, aufgehetzt, in das Dunkel der Höhle sich birgt, um dann widerstandslos sich vom nachsetzenden Jäger fangen zu lassen, so blieb Hofer im unwirtlichen Versteck, taub gegen alle Vorstellungen der Getreuen. Sein Hauswesen am Sand gehörte jetzt zu den ärmsten Häusern des Tales. Schon Mitte Dezember sprach man vom drohenden Konkurs. Die Gläubiger mussten, um das Wirtsgewerbe, die einzige noch mögliche Einnahmsquelle, nicht veröden zu lassen, mit eigenem Gelde Wein in den gänzlich entleerten Keller schaffen. Gegen die Jahreswende erschien, nicht aufgehalten vom tiefen Schnee, Hofers Frau mit dem Sohne Johann; wenige Tage später gab es auf der Alm wieder eine Überraschung – keine willkommene. Angelockt durch Fußspuren und den aufsteigenden Rauch war Franz Raffl zur Hütte vorgedrungen, ein Mensch schlechtesten Leumundes. Höchlich erschraken die Insassen, mit einem Geldgeschenk hoffte der Sandwirt vom Unheimlichen Stillschweigen zu erkaufen. Doch umsonst! Alle Welt kennt die Erzählung, wie der Kommandant von Tirol, sein Weib und Kind und sein treuer Döninger unter herzlosen Misshandlungen nach Meran geschleppt wurden. Tief ergriffen sah das Landvolk, das übrigens an diesem Tage nicht auf den Straßen Merans geduldet wurde, seinen gefesselten Führer einziehen, totenbleich, aber lebhaften Auges herumblickend, mit großen blutunterlaufenen Flecken im Gesicht und gerauftem Bart – Erinnerungszeichen an die Rohheit derer, welche sich seiner bemächtigt hatten. Das war am 28. Jänner; am 20. Feber wurde
Hofer in Mantua nach einer Gerichtsverhandlung, deren Ausgang durch den Befehl Napoleons im Voraus feststand, erschossen.* Georg Klotz, geboren 1919 in Walten in Passeier, gehörte zu jener Fraktion der Südtiroler Freiheitskämpfer, die in dramatischer Fehleinschätzung ihrer Kontrahenten die Italiener mit einem Schützenbataillon „bis hinter Trient“ hinunter jagen wollten. Darüber, was hinter Trient dann geschehen sollte, gab es keine detaillierteren Planungen. Nach den spektakulären Anschlägen des Jahres 1961 und dem brutalen Zurückschlagen der italienischen Staatsmacht gab es nur wenige, die nicht aufgeben wollten, unter ihnen Luis Amplatz und Georg Klotz, die nach Österreich geflüchtet und hier zum Aufenthalt in Wien verpflichtet worden waren. Die Geschichte von der letzten gemeinsamen Aktion der beiden, dem Grenzübertritt, dem Feuerüberfall in der Nacht vom 6. auf 7. September 1964 in der Hütte auf den Brunner Mahdern über Saltaus im Passeier, bei dem Amplatz erschossen wurde und Klotz sich schwer verwundet und barfuß über die Berge zurück nach Österreich retten konnte, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Der dritte im Bunde, Christian Kerbler, höchstwahrscheinlich ein Agent der Italiener, seither wegen Mordes gesucht, ist bis heute flüchtig und unbekannten Aufenthalts. Klotz, schon vorher kein einfacher Zeitgenosse, wird in einer Zeit der intensivierten Versuche, zu einer gütlichen Einigung in der Südtirolfrage zu kommen, ob seiner unbeugsamen Haltung zunehmend zum „Störfaktor“, wie seine Tochter, die Südtiroler Politikerin Eva Klotz, schreibt. „Gesundheitlich angeschlagen, vom ,Gastland‘ Tirol im Stich gelassen, zieht er sich in die Waldeinsamkeit zurück. Dort ereilt ihn, den Heimwehgeplagten, 1976 der frühe Tod.“ Zuletzt hatte er unter elenden Umständen als Köhler in der Sillschlucht bei Innsbruck gelebt.** Fortsetzung folgt.
Triebmittel
machte, so wie die bäuerlichen Tischdeckenmuster zum gefragten Interieur im Beamtenhaushalt geworden sind. Die bürgerliche Küche: es ist schwieriger geworden sie zu beschreiben, seit sich das kulinarische Mittelmaß flächendeckend verbreitet hat. Die Zutaten sind – dank Billa, Spar und Hofer – fast überall die gleichen, vieles ist halbgar, manches schon fertig, alles leicht und schnell am Teller. Im Supermarkt aber habe ich den Pustertaler Kirchtagskrapfen noch nicht entdeckt. Dafür gibt es dort einen anderen Krapfen zu kaufen und auch der entfaltet sich wie durch ein Wunder von selbst. Aber das ist nur die fahle Kopie meines Kirchtagskrapfenwunders. Es ist ein Kipferl zum Selbermachen, eine Art do-it-yourself-Krapfen. Eine Salzburger Firma (mittlerweile habe ich schon Epigonen in anderen Gegenden entdeckt) etwa bietet die Zutaten des Kipferls, fertig vermischt, in einem netten Aludöschen verpackt an. Unter dem Etikett „Meine Bäckerei“ enthält die kleine gekühlte Packung 6 Kipferl im Embryo-Zustand: „Frischteig zum Selberbacken“, heißt es darunter. Und so wird’s gemacht: „Rohr 5 Minuten vorheizen, Etikett der Dose an der markierten Stelle nach links abziehen. Die Packung öffnet sich automatisch mit einem ‚POFF‘. Frischteig entrollen und in vorgestanzte Dreiecke teilen. Mit der Breitseite beginnend locker zu Kipferln aufrollen. Für eine appetitliche, goldgelbe Farbe mit Milch oder Eigelb bestreichen. Auf dem Backblech ca. 15 Minuten goldgelb backen. Ob natur oder gefüllt, am besten schmecken Ihre Kipferln ofenfrisch.“ Das wärs. Ach ja, die Zutaten: „Weizenmehl, Wasser, Weizenkleber, Backtriebmittel, (Natriumkarbonat, Phosphat), Zucker, Traubenzucker, Fett, Margarine, Speisesalz.“ Spaghetti und Speckknödel Vom Pustertaler Kirchtagskrapfen zum Aludosenkipferl. Eine kulturpessimistische Diagnose könnte in dieser Entwicklung den Niedergang der lokalen Esskultur und die Allmacht der kulinarischen Globalisierung festmachen. Aber so einfach liegen die Dinge natürlich nicht. Die regionalen Küchen und die na112/113
Kipferl, Krapfen, Wunder
Von der kleinen Küche in der großen Welt. Von Anton Holzer Einmal im Jahr gab es in meiner Kindheit ein Wunder. Und zwar am ersten Sonntag im September. Oder eigentlich bereits ein paar Tage davor. Dann nämlich wurden die Kirchtagskrapfen vorsichtig aus dem heißen Öl in der Pfanne gehoben. Ein einfacher Teigfleck verwandelte sich im Handumdrehen in einen schönen großen Krapfen. Er teilte sich plötzlich in zwei Hälften, ging auseinander als ob jemand Luft in sein Inneres geblasen hätte und schwamm dann, getragen durch die zerbrechliche Schale, stolz im Öl. An den beiden „Schweißnähten“ ließ sich noch erahnen, dass die Urform des Krapfens ein unscheinbarer Teigfleck gewesen war, der sich wie durch ein Wunder mit Luft füllte. Der fertige Krapfen wurde vorsichtig aus der Pfanne genommen, er tropfte auf einem weißen Tuch ab und wurde dann zu den bereits fertigen Krapfen auf ein Brett gelegt. Und wehe, wer einen von ihnen unvorsichtiger Weise fallen ließ. Er zersprang in tausend Stücke. Heute erinnert mich seine Form ein wenig an einen amerikanischen Baseball, oval, innen hohl, ein wenig kleiner, gewiss, und natürlich bei weitem nicht so bunt, aber magenschonender. Der Kirchtagskrapfen ist eine wunderliche Speise, aufgeblasen, dünnwandig und knusprig, leicht und zerbrechlich. Tagelang, wochenlang freuten wir Kinder uns darauf, dann, wenn es soweit war, mit einem Finger eine winzige Bresche zu schlagen und dann vorsichtig, Stück für Stück, die Wand des Krapfens abzubrechen. Der Kirchtagskrapfen war, wiewohl für Familie und Verwandte in Serie zubereitet, eine seltene Speise. Nur einmal im Jahr kam er auf den Tisch, als Besonderheit. Auch wenn mittlerweile längst schon die Touristen daran knabbern dürfen: seinen Platz als feierliche Dorfspeise hält er immer noch. Der Kirchtagskrapfen ist eine bäuerliche Speise. Und heute, da die Bauern fast ausgestorben sind, ist dieser Krapfen, so könnten wir sagen, eine Art Nachhall der Kluft zwischen bäuerlicher und bürgerlicher Küche. Der Krapfen hat den Weg vom Bauernhof hin zur Mittelschicht eingeschlagen, so wie die Bauernstube in den 1950erJahren sich in den Neubauten der Kleinbürger breit
machte, so wie die bäuerlichen Tischdeckenmuster zum gefragten Interieur im Beamtenhaushalt geworden sind. Die bürgerliche Küche: Es ist schwieriger geworden sie zu beschreiben, seit sich das kulinarische Mittelmaß flächendeckend verbreitet hat. Die Zutaten sind – dank Billa, Spar und Hofer – fast überall die gleichen, vieles ist halbgar, manches schon fertig, alles leicht und schnell am Teller. Im Supermarkt aber habe ich den Pustertaler Kirchtagskrapfen noch nicht entdeckt. Dafür gibt es dort einen anderen Krapfen zu kaufen und auch der entfaltet sich wie durch ein Wunder von selbst. Aber das ist nur die fahle Kopie meines Kirchtagskrapfenwunders. Es ist ein Kipferl zum Selbermachen, eine Art Do-it-yourself-Krapfen. Eine Salzburger Firma (mittlerweile habe ich schon Epigonen in anderen Gegenden entdeckt) etwa bietet die Zutaten des Kipferls, fertig vermischt, in einem netten Aludöschen verpackt an. Unter dem Etikett „Meine Bäckerei“ enthält die kleine gekühlte Packung 6 Kipferln im Embryo-Zustand: „Frischteig zum Selberbacken“, heißt es darunter. Und so wird’s gemacht: „Rohr 5 Minuten vorheizen, Etikett der Dose an der markierten Stelle nach links abziehen. Die Packung öffnet sich automatisch mit einem ‚POFF‘. Frischteig entrollen und in vorgestanzte Dreiecke teilen. Mit der Breitseite beginnend locker zu Kipferln aufrollen. Für eine appetitliche, goldgelbe Farbe mit Milch oder Eigelb bestreichen. Auf dem Backblech ca. 15 Minuten goldgelb backen. Ob natur oder gefüllt, am besten schmecken Ihre Kipferln ofenfrisch.“ Das wärs. Ach ja, die Zutaten: „Weizenmehl, Wasser, Weizenkleber, Backtriebmittel (Natriumkarbonat, Phosphat), Zucker, Traubenzucker, Fett, Margarine, Speisesalz.“ Spaghetti und Speckknödel Vom Pustertaler Kirchtagskrapfen zum Aludosenkipferl. Eine kulturpessimistische Diagnose könnte in dieser Entwicklung den Niedergang der lokalen Esskultur und die Allmacht der kulinarischen Globalisierung festmachen. Aber so einfach liegen die Dinge natürlich nicht. Die regionalen Küchen und die na-
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konservativer postmoderner
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tionalen Rezepte feiern gerade im Zeitalter der Globalisierung Auferstehung. Im Krapfen das Bodenständige und im Do-it-yourself-Kipferl das Degenerierte zu lokalisieren kann schon deshalb nicht recht gelingen, weil die Küchenkultur in der Welt der Ökonomie und der Politik nicht eindeutig unterzubringen ist. Sie ist resistenter gegen nationale Anschlüsse als wir denken, sie ist konservativer als angenommen, und sie ist postmoderner als es den Bewahrern des angeblich so Angestammten lieb ist. Aber statt vom scheinbar Urtümlichen zum letzten Schrei der Schnellküche eine gerade Linie zu ziehen, könnte man fragen: Gibt es denn also so etwas wie eine nationale Küchenkultur, kocht man in den einzelnen Regionen wirklich so unterschiedlich? Und wenn ja, wie lassen sich diese Eigenheiten des Kochtopfs beschreiben? Das Kochbuch meiner Mutter, das auch heute noch in ihrer Küche steht, stammt aus dem Jahr 1959. Es heißt Spaghetti und Speckknödel und war in der Nachkriegszeit weit verbreitet. Auf fünf Auflagen hatte es das Kompendium bis Ende der 50er-Jahre bereits gebracht. Der Autor, Hans Debeljak, damals „Küchenchef in Meran“ – wie es auf der Impressumseite heißt – wagte, lange bevor die Welt der Politik in Südtirol die nationalen Gräben übersprang, den Blick über den sprachlichen und kulinarischen Gartenzaun. „Weit verbreitet ist die italienische Küche infolge ihrer Einfachheit, Bekömmlichkeit und ihres guten Geschmacks, mit ihren vielen Spezialitäten und Gerichten.“ So beginnt das Werk. Sogleich kommt der Autor dann auf die regionalen Besonderheiten der Küche zu sprechen. Und hier, so fällt auf, weht noch ein Hauch der Vergangenheit durch seine Küchensprache: „Die italienische Küche ist nach Regionen (Gaue oder Provinzen) zusammengesetzt“, fährt Debeljak fort. Als ob die Küche dem großen Reich noch nicht entkommen wäre! Wenn man genau hinsieht, zeigt sich, dass Spaghetti und Speckknödel eigentlich ein Nachschlagewerk der gutbürgerlichen österreichischen Küche ist. Die Tiroler Küche und die Rezepte italienischer Herkunft fügt der Autor in diesen traditionellen Aufbau ein. Daher ist den Spaghetti, also den Nudelspeisen, kein eigenes Kapitel gewidmet. So finden wir unter der Rubrik „Warme Vorspeisen“ die „Schlutzkrapferl“ gleich
vor den „Agnelotti alla piemontese“, die der Autor mit „Hütchen nach Piemonteser Art“ übersetzt. Und bei den Nachspeisen schielt er dorthin, wo in seinen Augen Kuchen und Torten zu Hause sind, nach Österreich und in den süddeutschen Raum, vielleicht könnten wir sagen: nach Mitteleuropa. Er liefert Rezepte für Mohnstrudel und Germschnecken, für Gugelhupf und Apfelstrudel, für Nussroulade und Mohrenköpfe, für Windbeutel und Apfel im Schlafrock; traditionelle italienische „dolci“ suchen wir vergebens. Nachtisch und Revolution Mitteleuropa. Ein Begriff, der in der Politik abgegriffen ist, und dennoch: Im Reich der Küche macht er vielleicht noch am ehesten Sinn. Also fragen wir: Wo liegt denn nun dieses „Mitteleuropa“ der Küche? Rolf Schwendter hat vor einigen Jahren gezeigt, das die bürgerliche Esskultur Zentraleuropas, deren Rezepte wir auch in den traditionellen Kochbüchern finden, nicht viel älter als eineinhalb Jahrhunderte ist. Und eigentlich handelt es sich um eine Küche, die unter dem Etikett „gutbürgerlich“ ein Amalgam unterschiedlichster Richtungen abheftete. Mittelständisch ist diese Kochkultur vor allem in der Abgrenzung nach unten. Und wenn im Folgenden von Süß- und Nachspeisen die Rede ist, ist diese mittelständische Küche gemeint, die lange Zeit der Aristokratie ein wenig in den Topf schielte. Am Nachspeisenteller, also im Überbau der Küche, kommen die Umrisse der bürgerlichen mitteleuropäischen Küche wohl am deutlichsten zum Ausdruck. Die Verbreitung der Kuchen und Torten überschreitet die nationalen Grenzen. Gerade sie, die Nachspeisen, sind, wiewohl fest vor Ort verankert, die Internationalisten der Küchengemeinschaft. Sachertorte und Mohnkipferl, Gugelhupf und Topfenstrudel, Linzertorte und Biskuitroulade reichen weit über die Grenzbalken hinaus, wir bekommen sie von Ungarn bis in die Schweiz, von Oberitalien bis Tschechien. Beginnen wir unseren kleinen Ausflug in die Küchengeschichte also am besten dort, wo die Rezepte über die Grenzen hinweg am ähnlichsten sind, wo die Tradition den Ton angibt, bei den altehrwürdigen Nachspeisen. Da wäre einmal der Gugelhupf, dessen deutsche Variante Napfkuchen genannt wird. Der Gugelhupf ist das Produkt einer Hohlform: Dem
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Kochbuch nach ist der Teig „in eine bebutterte, mit Mehl ausgestaubte Gugelhupfform zu füllen und etwa 60 Minuten bei mittlerer Hitze
von einfachen oder auch ganz raffinierten Oppositionen. Das Eigentliche, der Kern, das Innere der Speise macht sich rar, hüllt sich ein, wird verdeckt und offenbart sich erst im Akt des Verzehrs. Als Anfang der 60er Jahre der Streit um die „originale“ Sachertorte zwischen dem Haus Sacher und dem Haus Demel ans Wiener Oberlandesgericht gelangt war, war der Tortenkampf schon jahrelang im Gange. Es ging um die Frage, wer von beiden Konditoreien das alleinige Recht haben sollte, die Bezeichnung „Original-Sachertorte“ zu führen und das schokoladene Rundsiegel zu verwenden. In diesen Gerichtskonflikt mischte sich auch Friedrich Torberg ein, um, wie er behauptete, „gastromischen Doppeldeutigkeiten vorzubeugen“. Er wurde sogar als Zeuge zur Verhandlung vorgeladen. In der Urteilsbegründung spielte die Opposition zwischen innen und außen, oben und unten eine entscheidende Rolle. War, so lautete eine der zentralen Frage, die ursprüngliche Sachertorte durchgeschnitten und hatte sie eine Marmeladefüllung? Mitnichten, meinte Torberg. Vor Gericht bezeugte er „(...) daß die Original-Sachertorte zu Anna Sachers Lebzeiten in der Mitte nicht durchgeschnitten und nicht mit Marmelade gefüllt war; daß lediglich unter der Schokoladeglasur, um sie der Tortenmasse haltbar zu verschwistern, eine dünne Marmeladenschicht angebracht wurde; und daß die Torte in dieser originalen Form heute nicht von dem in andere Hände übergegangenen Hotel Sacher, sondern von der Konditorei Demel hergestellt wird, die das Rezept in den dreißiger Jahren von Eduard Sacher, dem letzten männlichen Sproß des Hauses, erworben hat.“ Die Richter entschieden anders. Demel verlor, Sacher gewann. Torberg als Demel-Anhänger geriet, wie er schreibt, „ins Lager der Verlierer“. Aber „der harte Schlag des zweitinstanzlichen Urteils“ rüttelte nicht an seinem Glauben
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Kochbuch nach ist der Teig „in eine bebutterte, mit Mehl ausgestaubte Gugelhupfform zu füllen und etwa 60 Minuten bei mittlerer Hitze zu backen.“ Das „Ergebnis“ wird dadurch gewonnen, dass die noch heiße Form „gestürzt“ und dann mit Staubzucker bestreut serviert wird. Womit wir schon einen Begriff gewonnen hätten, der in der Kultur jener Länder, in denen der Gugelhupf verzehrt wird, eine zentrale Rolle spielen: das Stürzen, jene Bewegung, die das Innere nach außen kehrt, das aus der negativen Hohlform den Kuchen herausschält. Aus Schein wird Sein, freilich kein dauerhaftes Sein, sondern ein temporäres: eigentlich wiederum Schein. Der Gugelhupf ist zum Verzehr gedacht, nicht zum Verewigen. Das Stürzen des Gugelhupfs könnte vielleicht sogar eine Art Sinnbild für die (alt-)österreichische Variante der „Revolution“ darstellen: Das Ergebnis ist nicht das Chaos, nicht die Zerstörung, sondern die Bewahrung des Alten im Neuen. Die Revolution von 1848 hat den Staat nicht etwa auf den Kopf gestellt, sondern ein weiteres Mal auf dieselben Füße. Und um in die Küche zurückzukehren: Auch der Gugelhupf wird gestürzt, aber anders als in der großen Revolution: Er wird nicht den Kopf gestellt, sondern vom Kopf auf die Füße. Sein schützender Mantel wird entfernt, um einem anderen, feineren Mantel Platz zu machen, dem Staubzucker. Der Mantel und die Füllung Ein Gugelhupf ohne Staubzuckerhaube wäre kein Gugelhupf. Sie ist sozusagen die Krone. Die traditionelle Küche ist keine revolutionäre Einrichtung, sie legt Wert auf gute Fundamente. Sie ist Neuerungen gegenüber zwar nicht unaufgeschlossen. Aber sie begegnet ihnen durchaus mit einer Portion Misstrauen. Jedenfalls unterscheidet sie sehr genau zwischen oben und unten, innen und außen. Die mitteleuropäische Mehlspeisenkultur weist dem Mantel eine zentrale Rolle zu, sei es die feine, braunschwarze Schokoglasur der Sachertorte, sei es das schlichte Staubzuckerweiß des Gugelhupfs. Immer schließt das Sein mit dem glänzenden Schein ab. Erst hinter der Fassade, die genüsslich durchbrochen werden muss, dringt der Mehlspeisenliebhaber zum köstlichen Kern vor. Schwarz und weiß, innen und außen, die Nachspeisen leben
von einfachen oder auch ganz raffinierten Oppositionen. Das Eigentliche, der Kern, das Innere der Speise macht sich rar, hüllt sich ein, wird verdeckt und offenbart sich erst im Akt des Verzehrs. Als Anfang der 60er-Jahre der Streit um die „originale“ Sachertorte zwischen dem Haus Sacher und dem Haus Demel ans Wiener Oberlandesgericht gelangt war, war der Tortenkampf schon jahrelang im Gange. Es ging um die Frage, wer von beiden Konditoreien das alleinige Recht haben sollte, die Bezeichnung „Original-Sachertorte“ zu führen und das schokoladene Rundsiegel zu verwenden. In diesen Gerichtskonflikt mischte sich auch Friedrich Torberg ein, um, wie er behauptete, „gastronomischen Doppeldeutigkeiten vorzubeugen“. Er wurde sogar als Zeuge zur Verhandlung vorgeladen. In der Urteilsbegründung spielte die Opposition zwischen innen und außen, oben und unten eine entscheidende Rolle. War, so lautete eine der zentralen Frage, die ursprüngliche Sachertorte durchgeschnitten und hatte sie eine Marmeladefüllung? Mitnichten, meinte Torberg. Vor Gericht bezeugte er „… daß die OriginalSachertorte zu Anna Sachers Lebzeiten in der Mitte nicht durchgeschnitten und nicht mit Marmelade gefüllt war; daß lediglich unter der Schokoladeglasur, um sie der Tortenmasse haltbar zu verschwistern, eine dünne Marmeladenschicht angebracht wurde; und daß die Torte in dieser originalen Form heute nicht von dem in andere Hände übergegangenen Hotel Sacher, sondern von der Konditorei Demel hergestellt wird, die das Rezept in den dreißiger Jahren von Eduard Sacher, dem letzten männlichen Sproß des Hauses, erworben hat.“ Die Richter entschieden anders. Demel verlor, Sacher gewann. Torberg als Demel-Anhänger geriet, wie er schreibt, „ins Lager der Verlierer“. Aber „der harte Schlag des zweitinstanzlichen Urteils“ rüttelte nicht an seinem Glauben an die nichtdurchgeschnittene, nichtmarmeladegefüllte Sachertorte. Die wirkliche Sachertorte blieb für ihn die ungeteilte Torte. Zwischen innen und außen ist nichts, kein Schnitt, keine Marmelade. Das Barockhörnchen Das raffinierte Changieren zwischen Innen und Außen, das Spiel mit den Oppositionen, die Kunst der
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Verhüllung und der Offenbarung, diese Kunst verweist, genaugenommen, auf den Barock. Wenn es also einen Begriff gibt, der die mitteleuropäische Küche ebenso charakterisiert wie seine Kultur und seine Politik, dann ist es der Barock. Was hat nun die Küche mit dem Barock zu tun? Schlagen wir zuerst einen kleinen Umweg ein. Als der französische Romancier Dominique Fernandez vor zwanzig Jahren auf den Spuren des Barock durch Europa reiste und die Reiseeindrücke in seinem Buch „Das Bankett der Engel“ zusammenfasste, machte er – nahezu nebenbei und ein wenig augenzwinkernd – eine interessante Entdeckung. Die Barockkultur, die sich in der Oper ebenso ausdrückt wie in der Architektur, die in der Bühnenarchitektur ebenso sichtbar wird wie in der Esskultur, diese Barockkultur also umfasst ein Gebiet, das von Neapel bis nach Prag, von Wien bis nach Turin reicht. „Sehen wir uns einmal eine Europakarte an,“ fordert uns Fernandez auf: „Die Barockkultur formt darauf ein Hörnchen, dessen Südwestspitze sich in Süditalien befindet und dessen Nordspitze über Prag hinausweist.
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des französischen Textes schlägt das halbmondförmige Backwerk, dessen Form die Grenzen der Barockkultur umschreibt, irrtümlicherweise der protestantischen Welt zu. Nennen wir das Gebiet, das Fernandez beschreibt, getrost die Gegend des Barockkipferls. Dass Tirol ziemlich genau im Zentrum dieses Hörnchens zu liegen kommt, ist nicht mehr als ein Zufall. Denn das Kipferl hat seine Hochburgen nicht im abgelegenen alpinen Raum, sondern in den größeren Städten. Am Land wurden die Feinheiten der urbanen Kochkultur viel später heimisch als in der Stadt. Man könnte auch sagen: Vielleicht dauerte hier der Widerstand des Krapfens gegen das Kipferl ein bisschen länger.
Verhüllung und der Offenbarung, diese Kunst verweist, genaugenommen, auf den Barock. Wenn es also einen Begriff gibt, der die mitteleuropäische Küche ebenso charakterisiert wie seine Kultur und seine Politik, dann ist es der Barock. Was hat nun die Küche mit dem Barock zu tun? Schlagen wir zuerst einen kleinen Umweg ein. Als der französische Romancier Dominique Fernandez vor zwanzig Jahren auf den Spuren des Barock durch Europa reiste und die Reiseeindrücke in seinem Buch „Das Bankett der Engel“ zusammenfasste, machte er – nahezu nebenbei und ein wenig augenzwinkernd – eine interessante Entdeckung. Die Barockkultur, die sich in der Oper ebenso ausdrückt wie in der Architektur, die in der Bühnenarchitektur ebenso sichtbar wird wie in der Esskultur, diese Barockkultur also umfasst ein Gebiet, das von Neapel bis nach Prag, von Wien bis nach Turin reicht. „Sehen wir uns einmal eine Europakarte an“, fordert uns Fernandez auf: „Die Barockkultur formt darauf ein Hörnchen, dessen Südwestspitze sich in Süditalien befindet und dessen Nordspitze über Prag hinausweist. Dieses Hörnchen umgreift mit seinem Bogen Rom, Genua, Turin, die Ostschweiz, Venedig, Süddeutschland, Österreich und Böhmen. Die Entstehung dieses Walls aus Kirchen und Klöstern wird mit der Notwendigkeit erklärt, der Front mit Luthers und Calvins strengen Geboten eine Front ansprechender und reich geschmückter Bauten entgegen zu setzen, die der katholischen Religion die verlorene Anziehungskraft wiederbringen sollten.“ Gewiss, meint Fernandez, ist die Gegenreformation eine politische und religiöse Bewegung, die die Entstehung dieses kulturellen Raums zu erklären hilft. Aber vielleicht müsste man sich, so meint er, diesem eigenartigen Hörnchen, das über Jahrhunderte hinweg Staaten höchst unterschiedlicher Ausdehnung und politischer Coleur umfasst, auch von einer anderen Seite her nähern, nämlich von der Seite der Küche. „Man wird sich fragen müssen, warum die Völker des Hörnchens zugleich die größten Kuchennascher sind, warum sie so viel lustvoller als anderswo backen. Zufall? Oder eine geheimnisvolle, bruchlose Kette, die Barockkunst, Oper und Konditorei in einer sinnlichen und gefräßigen Runde verbindet?“ Das Hörnchen, von dem Fernandez spricht, ist in Wahrheit wohl ein Kipferl. Die deutsche Übersetzung
des französischen Textes schlägt das halbmondförmige Backwerk, dessen Form die Grenzen der Barockkultur umschreibt, irrtümlicherweise der protestantischen Welt zu. Nennen wir das Gebiet, das Fernandez beschreibt, getrost die Gegend des Barockkipferls. Dass Tirol ziemlich genau im Zentrum dieses Hörnchens zu liegen kommt, ist nicht mehr als ein Zufall. Denn das Kipferl hat seine Hochburgen nicht im abgelegenen alpinen Raum, sondern in den größeren Städten. Am Land wurden die Feinheiten der urbanen Kochkultur viel später heimisch als in der Stadt. Man könnte auch sagen: Vielleicht dauerte hier der Widerstand des Krapfens gegen das Kipferl ein bisschen länger. Das Kipferl, nicht der Krapfen, hat den Weg in das bürgerliche Kochbuch geschafft. Seine Form umschreibt nicht nur die Grenzen einer imaginären Landkarte, jener des Barockhörnchens. Das Kipferl fand tatsächlich seine Verbreitung vor allem dort, wo die Kultur des Barock seine Spuren hinterlassen hat. Der Fall ist interessant: Gibt es, so könnte man fragen, womöglich eine geheime Querverbindung zwischen dem Barock und der Nachspeisenkultur? Nehmen wir als Beispiel das Mohnkipferl. Aus gerolltem Germbutterteig, lautet die Anweisung im Kochbuch, sind spitze Dreiecke zu schneiden. An der breiten Seite einen Teelöffel Mohnfülle auflegen, zur Spitze hin einrollen. Kipferln formen, auf ein leicht befettetes Blech setzen, gehen lassen, mit Ei bestreichen und im mittelheißen Rohr backen. Mit heißer Marillenmarmelade bestreichen und mit Rumglasur glasieren. Also auch hier wieder: „Gehen lassen“ und „glasieren“. Zuerst die säkularisierte Variante der katholischen Transsubstantiation (also die im Messopfer sich vollziehende Verwandlung von Substanz), die den Teig verformt und unverändert lässt, zugleich, und dann der krönende Abschluss: die Rumglasur, die das Innere des Kipferls verhüllt, im gleichen Atemzug dem Auge darbietet. Das ist barocke Mehlspeisenkultur in höchster Vollendung. Das Ende der nationalen Küche Die Kochbücher geben sich heute laizistisch. Es würde keinem der Spitzenköche einfallen, die Wunderwelt des Barock zu bemühen, um die eigene Küchenkrea-
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tion zur Sprache zu bringen. Auch ein Blick in die populären Kochbuchreihen zeigt sehr schnell, dass der Geist der Kßchenkultur
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tion zur Sprache zu bringen. Auch ein Blick in die populären Kochbuchreihen zeigt sehr schnell, dass der Geist der Küchenkultur sich nicht gerne auf die Geistesgeschichte beruft, sondern lieber in überschaubaren Kategorien Zuflucht sucht, etwa in den heutigen nationalen Grenzen. In jeweils einem Kompendium finden daher Platz: die italienische, die französische, die spanische Küche. Heute löst sich diese nationale Erzählung aus der Welt der Küche oft in Wellness- und Lifestyle-Kategorien auf. An die Stelle nationaler Einteilungen tritt das „Wohlfühlen“ und „Entspannen“, die Wirkung der Vitamine und Mineralstoffe, des Apfels und des Essigs. Wir können in der Welt der Küche eine zunehmende Durchlöcherung des Nationalen beobachten. In der alltäglichen Esspraxis macht sich der Hang zur internationalen Schnellküche bemerkbar, die viel Zeitersparnis verspricht und anscheinend keine Grenzen kennt. Dem gegenüber wird die regionale Küche als Rettungsinsel im Sog des Internationalen entdeckt, so als ob der Wut des allzu Großen der Widerstand des Kleinen entgegengesetzt werden müsste. Tiroler Schlutzkrapfen als subtiler Akt gegen die Globalisierung sozusagen. Die Kochbuchautoren interessieren sich kaum für Geschichte. Welches die historischen Zutaten der gutbürgerlichen Küche sind, welche regionalen Rezepte aus welchen Gründen wo überlebt haben, das erfahren wir meist nicht. Dabei wäre es spannend, den Weg mancher Speisen zu verfolgen, den Verzweigungen der Rezepte nachzugehen. Im Barockhörnchen verbindet sich die Küchengeschichte mit der Kulturgeschichte. Seine Form zeigt, dass sich unter der Oberfläche der nationalen Grenzen und jenseits der Welt der Vitamine und Fette andere, komplexere Umrisse der Küchenkultur abzeichnen. Um diese zu erkennen ist es notwendig, über den Rand des Kochtopfs hinauszublicken, die nackten Tatsachen mit der Welt der entrückten Erscheinungen zu verbinden, die Nachspeise mit der Literatur, die Kochtechnik mit dem Wunder. Das Wunder Der Kirchtagskrapfen braucht lange Vorbereitungen, bevor er unter kundigem Blick die atemberaubende
Form und den unübertroffenen Geschmack annimmt. Der Kirchtagskrapfen kann aber auch das „Aufgehen“ verweigern. Diese verunglückten Exemplare waren es, die die besondere Aufmerksamkeit von uns Kindern erregten. Denn sie wurden schon am Vortag des Kirchtags freigegeben für den Verzehr. Als Kind wünschte ich mir nichts sehnlicher, dass nicht nur einer, nicht zwei, sondern dass viele der Krapfen sich im heißen Öl dem Diktat der Schönheit verweigern, dass sie hässlich bleiben und auf die Seite gelegt werden. Diese Krapfen voller Dellen und Löcher schmecken, das wusste ich, gleich wie jene Exemplare, die für das Auge bestimmt sind. Sie waren es, die das Wunder zwar nicht in Zweifel zogen, aber durch ihre Unvollkommenheit in Reichweite gelangten. Das Wunder entrückte den Krapfen, das halbe Wunder brachte ihn uns Kindern näher. Das Aludosenkipferl „gelingt immer“. Scheitern ist ausgeschlossen, ein wirkliches Wunder findet nicht statt. Das Wunder in der Küche. Vielleicht ist es das, was, bei aller Unterscheidung, immer noch die Grenzlinie zwischen der traditionellen bäuerlichen und der bürgerlichen Kochtradition – also den Varianten regionaler Küchen – auf der einen Seite und der globalisierten Schnellküche auf der anderen Seite zieht. Das Wunder ist ein Prozess, in dem die Dinge auf unerklärliche Weise ihre Gestalt oder ihre Eigenschaften verändern. Das Wunder braucht Zuschauer und Gläubige, es braucht aber auch den Pfarrer, den Magier oder eben den Koch, die Köchin. Das Kochen als säkularisiertes Wunder ist, genau genommen, ein Akt der Gemeinschaft. Der Kirchtagskrapfen ist ein Wunder. Er hält (oder besser: hielt), im Konzert mit dem Pfarrer, der am Kirchtagsfest den geistigen Überbau zelebrierte, die Menschen des Dorfes zusammen. Der geistliche Herr hat an Einfluss verloren. Und dennoch: Die Krapfen gibt es in meinem Dorf immer noch am ersten Sonntag im September. Womöglich sind die Gläubigen vom Reich des Pfarrers endgültig ins Reich der Küche gewechselt. Denn: Auch dort geschehen Wunder.
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1 Hans Weigel/Paul Flora, Tirol für Anfänger (= Reihe Humor in der Tasche, Bd. 18), Innsbruck 1981, S. 17. 2 „Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn“; siehe: Franz Hadamowsky, Reinhardt und Salzburg, Salzburg [1963], S. 16 ff. Anders, aber vermutlich nicht ganz zuverlässig: Gusti Adler: Max Reinhardt. Sein Leben. Biographie unter Zugrundelegung seiner Notizen für eine Selbstbiographie, seiner Briefe, Reden und persönlichen Erinnerungen, Salzburg 1964, S. 77. Ihr zufolge war Reinhardt mit seinem Hellbrunn-Vorschlag unmittelbar vor dem Krieg „durch das Obersthofmeister-Amt an den alten Kaiser“ herangetreten. Der Weltkrieg und der Tod Kaiser Franz Josephs, der die Pläne bewilligt hätte, hätten die Verwirklichung verhindert. Kaut hingegen berichtet von der Zustimmung Kaiser Karls zu Salzburger Festspielen unter Einbeziehung des Hoftheaters und unter der Leitung Max Reinhardts (nach einer Intervention Andrians 1918): Josef Kaut, Die Salzburger Festspiele 1920–1981, Salzburg-Wien 1982, S. 36; vgl. Edda Fuhrich/Gisela Prossnitz, Max Reinhardt. The Magician’s Dream, Salzburg-Vienna 1993, S. 105, 108–111. 122/123
Wie Max Reinhardt in Innsbruck (doch nicht) die Salzburger Festspiele gründen wollte …
Was ist dran an dem Gerücht, Max Reinhardt habe ursprünglich daran gedacht, seine Festspielpläne ausgerechnet in Innsbruck in die Tat umzusetzen; aus provinzieller Borniertheit der maßgebenden Herren seien diese Festspiele dann aber letztlich doch nur „Fastspiele“ geblieben – wodurch, wie Hans Weigel 1981 aufatmend festhielt, „Innsbruck sich und uns viel erspart“ hätte? 1 Nur heiße Luft, um verschmähten Künstlern Gelegenheit zu geben, sich gegenüber der Politik ins Recht zu setzen? Oder vielleicht doch eine heiße Spur, die uns am Ende gar zum verheimlichten Sündenfall der Tiroler Kulturpolitik führt? Von Roman Urbaner Dem Handwerk der Historie sind selbst Gespenster nicht fremd. Zwar hat man es gewöhnlich nur mit verstaubten Aktenbündeln und Dokumenten zu tun, aus deren Inhalt man sich ein sinnfälliges Bild vom Gestern zusammenreimt. Doch manchmal tritt die Vergangenheit (oder was wir dafür halten) dergestalt an uns heran, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man nun mit den Waffen der Wissenschaft einem flüchtigen Gespenst hinterherjagt – oder in der Tat einer lange verschütteten historischen Wahrheit, die als Gerücht die Jahrzehnte bis heute überdauert hat.
zu geben: fernab des Molochs der Großstadt und inmitten einer bezaubernden Altstadt- und Naturkulisse, die vor allem Scharen von Sommerfrischlern anziehen würde. Im Sommer 1917, also mitten im Krieg, der die Monarchie an allen Ecken und Enden ächzen ließ, tat man in Salzburg und Wien den entscheidenden Schritt, um die Salzburger Festspielidee endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Nach jahrelangem Zaudern konnte sich nun die „FestspielhausGemeinde“ konstituieren, die alle Vorbereitungen treffen sollte, um nach Kriegsende die kulturelle Wiederauferstehung Österreichs zu begehen.
Nicht anders ist es mit dem Verweis auf Max Reinhardts gescheiterte Innsbrucker Festspielpläne, der einem mit sicherer Regelmäßigkeit immer dann zu Ohren kommt, wenn (vermeintlich oder tatsächlich) verkannte Genies der Tiroler Kulturpolitik die lange Tradition ihres (tatsächlichen oder vermeintlichen) Versagens unter die Nase reiben wollen. Nicht die ehrwürdige Mozartstadt Salzburg hätten die Festspielgründer, allen voran der in Berlin tätige Theatergigant Max Reinhardt, zunächst im Auge gehabt, sondern Innsbruck. Am Inn und nicht an der Salzach hätte um 1917/18 dem protestantischen Bayreuth ein katholisch-barockes Pendant gegenübergestellt werden sollen, um dem krisengeschüttelten Habsburgerreich – und dann dem schmerzlich geschrumpften Restösterreich – einen neuen kulturellen Angelpunkt
Max Reinhardt aber stand dieser Initiative noch fern. Den Salzburger Festspielverfechtern galt er zu diesem Zeitpunkt sogar als übler Konkurrent, denn bereits im April 1917 hatte Reinhardt, dessen Stern in Berlin allmählich zu sinken schien, auf eigene Faust eine Denkschrift an die Generalintendanz des k. u. k. Hoftheaters in Wien gerichtet, in der er die Etablierung eines Festspielhauses „abseits vom Getriebe der Großstadt“ propagierte. Doch nicht Innsbruck war es, das ihm als Standort vorschwebte, sondern das Salzburger Schloss Hellbrunn.2 Schon einige Monate zuvor waren Reinhardts Salzburger Absichten in der Stadt bekannt geworden. Der Salzburger Festspiel-Befürworter Friedrich Gehmacher fürchtete, dass Reinhardts Pläne sein eigenes Fest-
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3 Weiter heißt es: „und bei den Verbindungen, über die der Genannte verfügt, ist es nicht ausgeschlossen, daß ihm die Verwirklichung derselben gelingt.“ Zit. nach: Oskar Holl, Dokumente zur Entstehung der Salzburger Festspiele. Unveröffentlichte Korrespondenz der Gründer, in: Maske und Kothurn, 13. Jg. 1967, S 148–179, hier: S. 158. 4 „Eventuell müssen wir sogar eine Verbindung mit ihm eingehen, nur damit wir einen bestimmten Einfluß auf das Festspielhaus gewinnen und Reinhardt nicht alleine herrschen soll.“ Zit. nach: Edda Fuhrich/Gisela Prossnitz, Die Salzburger Festspiele, Bd. I, 1920–1945. Ihre Geschichte in Daten, Zeitzeugnissen und Bildern, Salzburg-Wien 1990, S. 11. 5 Andres Müry (Hg.), Kleine Festspielgeschichte, Salzburg 2002, S. 14. 6 Die im Tiroler Landesarchiv einsehbaren Repertorien der Präsidialakten („Theaterwesen“) und der Abt. III b („Kunstförderung“) der Statthalterei für Tirol und Vorarlberg bzw. der Akten des Landesausschusses für die Kriegsjahre enthalten keinen Hinweis auf Innsbrucker Festspielpläne. 7 Durchgesehen wurden im Stadtarchiv Innsbruck die Kartons der Kommunalakten 1916/1–3 (424– 426), 1917/1–3 (427– 429) und 1918/1–2 (430–431), der Karton „Coml.-Theater 1904–1915“ (513) sowie die Ratsprotokolle des betreffenden Zeitraums; der nicht mehr auffindbare Sonderfaszikel „Stadttheater“ hätte den Kommunalakten des Jahres 1930 beiliegen müssen. Kein Hinweis findet sich weiters in: Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik, Innsbruck 1929 bzw. Franz Hölbig (Hg.), Theater in Innsbruck. Überblick über drei Jahrhunderte. Festschrift, Innsbruck 1967. 8 Abgedruckt bei: Holl, S. 174–178; vgl. Reinhardts Schreiben an Baron Leopold von Andrian vom 5.9.1918; abgedruckt in: Fuhrich/Prossnitz, Max Reinhardt, S. 108 –110. Folgt man den Angaben des Architekten Oskar Strnad, hat Reinhardt noch im Herbst 1917 vorübergehend daran gedacht, ein Festspielhaus in der Schweiz zu realisieren (Susanne Höper, Max Reinhardt: Theater – Bauten – und Projekte. Ein Beitrag zur Architektur- und Theatergeschichte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Univ. Diss. Göttingen 1994, S. 55). 9 Mit dem Kauf von Leopoldskron habe Reinhardt 1918 „auch alle Pläne, in Zürich oder in Innsbruck Festspiele zu gründen, aufgegeben“; Kaut, S. 36; vgl. Höper, S. 101: „Konkurrierende Orte wie Zürich, München, Darmstadt oder Innsbruck, deren Bürgerinitiativen oder Stadtväter sich des bedeutendsten Regisseurs versichern wollten, um durch ihn in ihren Städten Festspiele zu etablieren, scheiden damit aus.“ 124/125
spielprojekt durchkreuzen könnten, und teilte seinem Wiener Mitstreiter Heinrich Damisch Ende August 1916 besorgt mit, „daß Max Reinhardt auch zu denen zählt, die sich mit dieser Idee näher beschäftigen“.3 Anfang 1918 schrieb Gehmacher, dass seinen Bemühungen ja nicht zuletzt die Absicht zugrunde liege, zu „verhindern, daß Reinhardt das Festspielhaus baut“; schließlich habe ihm dieser „doch schon vor zwei Jahren erklärt, daß er nach Salzburg will und hier mit Freilichtaufführungen beginnen wird“.4 Wie ernst es Reinhardt mit seinen Zukunftsplänen war, signalisierte er im April 1918 mit dem Kauf des Salzburger Barockschlosses Leopoldskron, das er zum bekanntesten künstlerischen Salon der Zwischenkriegszeit machen sollte: „Damit war die Entscheidung für die Stadt, die er von seinem ersten Schauspielengagement 1893/94 her kannte, unmissverständlich kundgetan.“5 Die Salzburger Festspielhaus-Gemeinde sprang schließlich über ihren Schatten und suchte im Juli 1918 den Kontakt zum in Bad Gastein urlaubenden Berliner Schauspielpapst; Reinhardt zeigte sich interessiert und verfasste ein ausführliches Schreiben, in dem er Salzburg als idealen Festspielort und die Realisierung der Pläne gar als Erfüllung seiner „Lebensaufgabe“ feierte. Schon im August mündete die so angebahnte Kooperation der bisherigen Konkurrenten in die Konstituierung eines „Kunstrats“, dem neben Reinhardt auch Richard Strauss und Franz Schalk angehörten; später erst stießen auch Alfred Roller und Hugo von Hofmannsthal, der sich fortan als Chefideologe der Festspiele stilisierte, hinzu. Die Entscheidung war also bereits 1918 endgültig für Salzburg gefallen; Reinhardts Salzburgpläne hatten zwischen 1916 und 1918 immer konkretere Formen angenommen und strebten nun zielbewusst ihrer Verwirklichung entgegen. Schenkt man der Tiroler Reinhardt-Legende Glauben, müsste der Festspielstandort Innsbruck folglich in oder unmittelbar vor
diesem Zeitraum erwogen und verworfen worden sein. Die Tiroler Tagespresse und die Archivalien in Stadtund Landesarchiv6 aber schweigen sich dazu beharrlich aus. Dabei wären gerade die Kommunalakten und Ratsprotokolle der Stadt die wahrscheinlichste Quelle für eine Anfrage oder ein Ansuchen Max Reinhardts, gehörte doch das heutige Landestheater als „Stadttheater“ damals der Stadt Innsbruck, die das Direktorium alle paar Jahre neu ausschrieb. Allerdings: Gerade die Spezialakten zum Stadttheater der Jahre 1916 bis 1918 sind, nach einer Übertragung in einen verschollenen Sonderfaszikel, heute unauffindbar. Es bleiben also nur jene Theater-Angelegenheiten dieser Jahre greifbar, die auch in den allgemeinen Gemeinderatssitzungen zur Sprache kamen. Wären Festspiele damals wirklich ernstlich in Erwägung gezogen worden, hätte es die Causa sicherlich auch auf die Tagesordnung des Gemeinderats geschafft, eine beiläufige Anfrage Reinhardts vielleicht aber nicht.7 Es scheint in der Tat Überlegungen gegeben zu haben, die Festspiele an einem anderen Ort aus der Taufe zu heben. Max Reinhardt selbst brachte gegenüber der Festspielhaus-Gemeinde im Juli 1918 andere Varianten ins Spiel. Er hätte, ließ er nicht ohne taktisches Kalkül fallen, auch von München, Darmstadt und Zürich Angebote für die Ausrichtung von Festspielen bekommen. – Nicht aber, möchte man hier hinzufügen, von Innsbruck.8 Von Innsbruck-Absichten ist auch in der Literatur zu Salzburg bzw. Reinhardt, mit vereinzelten Ausnahmen – nicht zufällig ausschließlich jüngeren Datums, und da stets nur beiläufig und vor allem ohne jeden Beleg –, nirgendwo die Rede.9 Auch Reinhardts Assistentin Gusti Adler weiß nur zu berichten, dass dieser im Frühjahr 1917 seiner späteren Frau „von seinen fernsten Plänen [erzählte]: ein Theater in Hellbrunn oder der Schweiz“.10 Von einer Tiroler Option also auch hier kein Wort.
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10 Adler, S. 65 f. Andres Müry hat zuletzt in Hinblick auf Reinhardts Festspielpläne während des Krieges auf den Kontakt zu Georg Fuchs, dem „Münchner Verkünder von ‚Volksfestspielen‘“ aufmerksam gemacht. Andres Müry, Jedermann darf nicht sterben, Geschichte eines Salzburger Kults 1920–2001, Salzburg-München 2001, S. 17 f. 11 Die Hundertjahrfeier des Tiroler Freiheitskampfes gedachte er mit Festaufführungen im Herbst 1909 zu begehen, und für 1910 schwebten ihm Wagner-Festspiele vor, für die er bereits die Zusage von Siegfried Wagner erwirkt haben wollte. Stadtarchiv Innsbruck, Karton „Coml.-Theater 1904–1915“ (513); „Theater-Vergebung, Bewerbungsansuchen“, liegt in: Fasz. „Stadttheater 1908“. 12 Auch dem „Max-Reinhardt-Archiv“ bzw. dem „Archiv der Salzburger Festspiele“ in Salzburg ist „kein Nachweis dafür bekannt, dass Max Reinhardt in Innsbruck Festspiele etablieren wollte“; hinsichtlich eines eventuellen Tirol-Bezugs machte mich Gisela Prossnitz nur auf die Erwähnung Innsbrucks in der Korrespondenz mit Berthold Held aus dem Jahr 1894 aufmerksam, die hier aber nicht von Belang ist (Auskunft G. Prossnitzs v. 25.4.2003); vgl. Max Reinhardt. Leben für das Theater. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, hrsg. von Hugo Fetting, Berlin 1989, S. 50, 53. Auch die Festspielforscher Holger Stunz und Constanze Schuler (Mainz) teilten mir mit, dass ihnen kein Beleg bekannt sei. 13 Adler, S. 28; Reinhardt selbst schrieb später (in seinen unveröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen): „Es war eine wundervolle Zeit. Niemals seither war ich so glücklich. Das Ganze war eine herrliche, schmetternde Ouvertüre. Alles war neu. Und alles war schön.“ Zit. nach Leonhard M. Fiedler, Max Reinhardt und Salzburg. Die Geburt des Festspiels aus dem Geist des Rituals, in: Peter Csobádi/Gernot Gruber u. a. (Hg.), „Und jedermann erwartet sich ein Fest“. Fest, Theater, Festspiele. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1995 ( =Wort und Musik, Salzburger akademische Beiträge, Bd. 31), Anif-Salzburg 1996, S. 65–77, hier: 72. 14 Vgl. Hermann Bahrs Aufsatz „Die Hauptstadt von Europa: Eine Phantasie in Salzburg“. 15 Man traf sogar erste Vorbereitungen für den Bau eines Festspielhauses, als dessen Architekt Henry van de Velde vorgesehen war. Fuhrich/Prossnitz, Festspiele, S. 7 f. 126/127
Warum auch hätte Max Reinhardt, den seine Biografie so stark mit Salzburg verband, an Innsbruck und nicht an die Stadt seines künstlerischen Durchbruchs denken sollen? Immerhin nicht ganz auszuschließen wäre die Möglichkeit eines Kontakts zu Leopold Thurner, der 1908 von Berlin, wo er mit Reinhardt gearbeitet und dessen Lehrerkollegium angehört hatte, ans Innsbrucker Stadttheater wechselte, das er bis Mitte 1916 leitete. Diese mögliche Verbindung zu Innsbruck gewinnt an Plausibilität, wirft man einen Blick in Thurners Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1908. Schon damals hegte der gebürtige Tiroler Festspielpläne für Innsbruck: „Unsere schöne Heimatstadt Innsbruck ist, wie kaum eine andere, durch ihre Lage geradezu berufen, [...] durch wirklich künstlerische Festspiele das Fremdenpublikum anzuziehen und festzuhalten.“11 Dienten Thurners Festspielideen als Anknüpfungspunkt für Reinhardts eigene Pläne? Im Hinblick auf das Fehlen weiterer Hinweise auf diese mögliche Tirol-Verbindung wohl kaum.12 Reinhardts Nahverhältnis zu Salzburg, das er nach einem ersten Schauspielvertrag 1893/94 nur widerwillig für sein Berliner Engagement aufgab, lässt die Wahl eines alternativen Festspielorts zudem nicht sehr naheliegend erscheinen: „Er war so selig in Salzburg, daß er am liebsten dort geblieben wäre“; dort hatte er „Wurzeln geschlagen, dort hatte er die ersten entscheidenden Erfolge errungen, dort war ein Freundeskreis [...], und er war in das Salzkammergut verliebt“.13 Angesichts dessen hatte Innsbruck in der Festspielfrage äußerst schlechte Karten. Während der Kriegsjahre also begann sich Reinhardt – aus privaten wie beruflichen Gründen – allmählich von Berlin ab- und seiner österreichischen Heimat wieder zuzuwenden. In der Konkretisierung seines Vorhabens vor dem zeitlichen Horizont der Kriegserfahrung hallten alte und offenbar nie ganz begrabene Pläne wider, die er an der Seite des Literaten Hermann Bahr seit 1903/04 gehegt hatte. Schon
damals nämlich war Bahr mit der Idee an ihn herangetreten, in Salzburg – das er an anderer Stelle großzügig gleich als „Hauptstadt von Europa“ proklamiert hatte – festspielähnliche Theateraufführungen mit Eleonora Duse, Isadora Duncan, Hofmannsthal und Strauss abzuhalten;14 die Vorbereitungen verliefen aber mangels ausreichender Geldmittel letztlich im Sande. Zwei Jahre später wurde die Idee in Form einer Einbeziehung Salzburgs in einen nie realisierten Fünf-Städte-Theaterverband, umfassend Berlin, Hamburg, München und Wien, erfolglos reaktiviert, und 1908 brachte Bahr dann die Salzburger Festspielpläne gegenüber Reinhardt noch ein letztes Mal ins Gespräch.15 Interessant ist hier vor allem, dass zwar mit Reinhardt, Hofmannsthal und Strauss gerade die späteren Kunstrats-Mitglieder der Salzburger Festspielhaus-Gemeinde eine zentrale Rolle hätten spielen sollen, der Standort Salzburg (den bereits Hermann Bahr ins Spiel gebracht hatte) jedoch von vornherein feststand. Bei den zeitgenössischen Quellen greift man bei der Spurensuche also ins Leere. Zugegeben, die parallele Erwägung alternativer Austragungsorte ist dadurch nicht mit Sicherheit auszuschließen. Nicht alles, was sich zugetragen hat, fand tatsächlich auch seinen Niederschlag in den Akten und Zeitungsnotizen seiner Zeit; und nicht alles, was schriftlich archiviert wurde, konnte die Zeit bis heute überdauern. – Die Lücken von Archivierung und Quellentradierung lassen der Innsbruck-Legende noch eine letzte argumentative Türe offen. Die mediale Rezeption, die den Siegeszug der 1920 erstmals veranstalteten Salzburger Festspiele in Tirol begleitete, gibt jedoch bezüglich der Plausibilität der Innsbrucker Festspiellegende Auskunft – allerdings weniger durch das, was sie aussagt, als durch das, was sie ausspart. Denn geht man davon aus, dass es sich bei Reinhardts Vorstoß um mehr als bloß eine retro-
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16 Untersucht wurden folgende Innsbrucker Tageszeitungen: „(Allgemeiner) Tiroler Anzeiger“, „Innsbrucker Nachrichten“, „Neueste (Morgenzeitung)“, „Alpenland“ und „Volkszeitung“. 17 Allgemeiner Tiroler Anzeiger v. 27.8.1920, S. 2 (Dr. Otto Drinkwalder) bzw. 1.9.1920, S. 1 f. (Horst Dietrich); vgl. auch die Meldung in den Innsbrucker Nachrichten v. 23.8.1920, S. 3; vgl. zur Pressereaktion 1920: Steinberg, S. 80 bzw. 190–195 und Müry, Festspielgeschichte, S. 20. 18 Alpenland v. 21.8.1920, S. 7; 25.8.1920, S. 6 bzw. 28.8.1920, 3 f. (Hans Seebach). 19 Innsbrucker Nachrichten v. 3.9.1920, S. 5 bzw. Allgemeiner Tiroler Anzeiger v. 3.9.1920, S. 1. 20 Obwohl er in einem Brief an Theodor Haecker 1920 am Rande – und eher spöttisch – auf die Salzburger Festspieleröffnung zu sprechen kam, enthält auch die Korrespondenz des in Mühlau bei Innsbruck Hof haltenden Ludwig von Ficker, als Herausgeber des „Brenner“ zweifellos die Zentralfigur des Tiroler Kulturlebens, keinen Hinweis auf gescheiterte Innsbruck-Absichten Reinhardts. (Brief an Theodor Haecker vom 5.10.1920, abgedruckt in: Ludwig von Ficker, Briefwechsel. 1914–1925, hrsg. von Martin Alber u. a. (= Brenner-Studien, Bd. 8), Innsbruck 1988, S. 278.) 21 Vgl. etwa Alpenland v. 19.8.1921, S. 2 bzw. 17.8.1922, 1 f. (Hans Seebach). 22 Die „Neueste“ (16.8.1922, S. 3) brachte einen ausführlichen Artikel über die „österreichische Sendung“ und die endliche Heimkehr des Österreichers Reinhardt nach Wien und Salzburg, das „Alpenland“ (19.8.1922, S.1 bzw. 23.8.1922, S. 6 f.) lobte die große Tat, die die Salzburger Festspielhaus-Gemeinde mit der Etablierung des Festivals und der Grundsteinlegung zum Hellbrunner Festspielhaus 1922 vollbracht hätte, und die „Innsbrucker Nachrichten“ (16.8.1922, S. 5 f.) bemühten sich 1922 zwar mit Blick auf Reinhardts Ensemble und die Lebensverhältnisse in Salzburg, einen Bezug zwischen den Salzburger Festspielaufführungen und Innsbruck herzustellen, ließen frühere Tiroler Festspielpläne aber unerwähnt. 23 Innsbrucker Nachrichten v. 27.8.1921, S. 4 f. (Dr. Franz Rziha). 24 Ebenda, 3.9.1921, S. 4 (Dr. N. Granichstaedten-Czerva). 25 Für die Zeit nach 1945 wurden die „Tiroler Nachrichten“ und die „Tiroler Tageszeitung“ herangezogen. 26 Alma Scope, Das Ambiente der Salzburger Festspiele, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, WienKöln-Weimar 1993, S. 191–207, hier: 203. 27 1973 jährte sich Reinhardts Geburtstag zum 100. und sein Todestag zum 30. Mal. Ebenso wenig nahm man den Tod Hofmannsthals im Mai 1929 zum Anlass, auch über die Frühzeit des Festspielprojekts zu berichten. 128/129
spektive Projektion handelt, müsste sich in der Tiroler Festspielberichterstattung und in den theaterpolitischen Debatten der Zwischenkriegszeit zumindest die eine oder andere Andeutung finden lassen.16 Als Reinhardt Hofmannsthals „Jedermann“ im August 1920 das erste Mal vor dem Salzburger Dom in Szene setzte, fand dies auch seinen Niederschlag in den Innsbrucker Zeitungen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der „Tiroler Anzeiger“ dem Salzburger Theaterereignis: In gleich zwei Besprechungen geißelte das katholische Blatt zunächst die Einbeziehung von Dom, Glocken und Orgel („Noch nie hat der stolze Salzburger Dom eine solche Demütigung sich gefallen lassen müssen“), bevor es nach einer 180Grad-Wendung kurz darauf die Festspiele gar als religiöse und künstlerische Großtat feierte („So führte Max Reinhardt das Theater wieder zur Kirche zurück, von der es einst ausgegangen, und dem Genie dieses Mannes stand der genius loci zur Seite.“).17 Kein Wort aber darüber, dass die umstrittene Aufführung ja eigentlich vor dem Innsbrucker Dom hätte stattfinden sollen! Auch das großdeutsche „Alpenland“ lobte die Leistung, die der „Bühnen-Napoleon Reinhardt“ da vollbracht hätte, verwies auf dessen Salzburger Vergangenheit und vergaß auch nicht, die Relevanz für den Fremdenverkehr zu unterstreichen. Und wieder: kein Wort darüber, welches Geschäft sich Innsbruck da entgehen ließ!18 Nur wenige Tage später hätte die Debatte über die Neuvergabe der Stadttheaterdirektion neuerlich Anlass gegeben, eine Verbindung zwischen dem Salzburger Festspielauftakt und Innsbruck zu ziehen.19 Doch weder im Gemeinderat noch in der Tagespresse fiel eine diesbezügliche Bemerkung.20 Das Echo, das die Neuauflage des „Jedermann“ 1921 und die Uraufführung von Hofmannsthals „Großem Welttheater“ 1922 in der Tiroler Presse fanden, gibt ebenfalls keine Auskunft über eventuelle ältere Festspielprojekte.21 Dabei hätten sich genügend Gelegen-
heiten geboten, das Thema geplatzter Innsbruck-Pläne zumindest kurz zu streifen.22 Besondere Aussagekraft hat hier ein Artikel, der – in Anspielung auf Bruckner-Festspiele in Linz – 1921 die Konkurrenzlosigkeit Salzburgs hervorhob: „Eine andere Stadt (ich denke an Linz [...]) müßte man erst mit Mühe und Fleiß zur Festspielstadt machen, Salzburg ist geographisch, verkehrstechnisch, architektonisch, historisch von Natur aus die Festspielstadt.“23 Und auch der Verfasser eines Artikels, der 1921 unter dem Eindruck des Salzburger Beispiels Festspiele auf Schloss Ambras anregen wollte, wusste offenbar nichts von einer verpassten Festspielchance: „Wir kennen Mozart-Festspiele in Salzburg. [...] Wir haben aber noch nie von Festspielen in Innsbruck [...] gehört.“24 Die Berichterstattung in den Jahren der Festspieljubiläen 1930, 1940, 1950 und – nach 50 Jahren – 1970, von der ich mir vielleicht doch noch einen Hinweis auf die Rolle, die Innsbruck in der Vorgeschichte des Festivals gespielt haben mag, erhoffte, ließ diese Frage gänzlich außer Acht.25 Die Annahme, dass die Geburts- oder Todestage der Festivalgründer Anlass gewesen sein könnten, auch über deren biografische Berührungspunkte mit Tirol zu berichten, wurde ebenso enttäuscht. Dass die Nachricht von Max Reinhardts Tod im New Yorker Exil 1943 nicht den Weg in die NS-Monopolpresse geschafft haben würde (auch wenn man ihm vor dem Krieg den bizarren Titel eines „Ehrenariers“26 verleihen wollte), war vorauszusehen. Doch auch in den Artikeln zum „Reinhardt-Jahr“ 1973 ist von Innsbruck keine Rede.27 Es könnte freilich sein, dass die früheren Festspielvorschläge nur an die Leitung des Stadttheaters bzw. die Gemeindepolitik herangetragen wurden, vielleicht also selbst den Redakteuren nicht bekannt waren. Allerdings müssten dann zumindest die städtischen Theaterakten, sofern sie später auf Salzburg zu sprechen kamen, auch die einst verworfene Innsbrucker
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16 Untersucht wurden folgende Innsbrucker Tageszeitungen: „(Allgemeiner) Tiroler Anzeiger“, „Innsbrucker Nachrichten“, „Neueste (Morgenzeitung)“, „Alpenland“ und „Volkszeitung“. 17 Allgemeiner Tiroler Anzeiger v. 27.8.1920, S. 2 (Dr. Otto Drinkwalder) bzw. 1.9.1920, S. 1 f. (Horst Dietrich); vgl. auch die Meldung in den Innsbrucker Nachrichten v. 23.8.1920, S. 3; vgl. zur Pressereaktion 1920: Steinberg, S. 80 bzw. 190–195 und Müry, Festspielgeschichte, S. 20. 18 Alpenland v. 21.8.1920, S. 7; 25.8.1920, S. 6 bzw. 28.8.1920, 3 f. (Hans Seebach). 19 Innsbrucker Nachrichten v. 3.9.1920, S. 5 bzw. Allgemeiner Tiroler Anzeiger v. 3.9.1920, S. 1. 20 Obwohl er in einem Brief an Theodor Haecker 1920 am Rande – und eher spöttisch – auf die Salzburger Festspieleröffnung zu sprechen kam, enthält auch die Korrespondenz des in Mühlau bei Innsbruck Hof haltenden Ludwig von Ficker, als Herausgeber des „Brenner“ zweifellos die Zentralfigur des Tiroler Kulturlebens, keinen Hinweis auf gescheiterte Innsbruck-Absichten Reinhardts. (Brief an Theodor Haecker vom 5.10.1920, abgedruckt in: Ludwig von Ficker, Briefwechsel. 1914–1925, hrsg. von Martin Alber u. a. (= Brenner-Studien, Bd. 8), Innsbruck 1988, S. 278.) 21 Vgl. etwa Alpenland v. 19.8.1921, S. 2 bzw. 17.8.1922, 1 f. (Hans Seebach). 22 Die „Neueste“ (16.8.1922, S. 3) brachte einen ausführlichen Artikel über die „österreichische Sendung“ und die endliche Heimkehr des Österreichers Reinhardt nach Wien und Salzburg, das „Alpenland“ (19.8.1922, S.1 bzw. 23.8.1922, S. 6 f.) lobte die große Tat, die die Salzburger Festspielhaus-Gemeinde mit der Etablierung des Festivals und der Grundsteinlegung zum Hellbrunner Festspielhaus 1922 vollbracht hätte, und die „Innsbrucker Nachrichten“ (16.8.1922, S. 5 f.) bemühten sich 1922 zwar mit Blick auf Reinhardts Ensemble und die Lebensverhältnisse in Salzburg, einen Bezug zwischen den Salzburger Festspielaufführungen und Innsbruck herzustellen, ließen frühere Tiroler Festspielpläne aber unerwähnt. 23 Innsbrucker Nachrichten v. 27.8.1921, S. 4 f. (Dr. Franz Rziha). 24 Ebenda, 3.9.1921, S. 4 (Dr. N. Granichstaedten-Czerva). 25 Für die Zeit nach 1945 wurden die „Tiroler Nachrichten“ und die „Tiroler Tageszeitung“ herangezogen. 26 Alma Scope, Das Ambiente der Salzburger Festspiele, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, WienKöln-Weimar 1993, S. 191–207, hier: 203. 27 1973 jährte sich Reinhardts Geburtstag zum 100. und sein Todestag zum 30. Mal. Ebenso wenig nahm man den Tod Hofmannsthals im Mai 1929 zum Anlass, auch über die Frühzeit des Festspielprojekts zu berichten. 128/129
spektive Projektion handelt, müsste sich in der Tiroler Festspielberichterstattung und in den theaterpolitischen Debatten der Zwischenkriegszeit zumindest die eine oder andere Andeutung finden lassen.16 Als Reinhardt Hofmannsthals „Jedermann“ im August 1920 das erste Mal vor dem Salzburger Dom in Szene setzte, fand dies auch seinen Niederschlag in den Innsbrucker Zeitungen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der „Tiroler Anzeiger“ dem Salzburger Theaterereignis: In gleich zwei Besprechungen geißelte das katholische Blatt zunächst die Einbeziehung von Dom, Glocken und Orgel („Noch nie hat der stolze Salzburger Dom eine solche Demütigung sich gefallen lassen müssen“), bevor es nach einer 180Grad-Wendung kurz darauf die Festspiele gar als religiöse und künstlerische Großtat feierte („So führte Max Reinhardt das Theater wieder zur Kirche zurück, von der es einst ausgegangen, und dem Genie dieses Mannes stand der genius loci zur Seite.“).17 Kein Wort aber darüber, dass die umstrittene Aufführung ja eigentlich vor dem Innsbrucker Dom hätte stattfinden sollen! Auch das großdeutsche „Alpenland“ lobte die Leistung, die der „Bühnen-Napoleon Reinhardt“ da vollbracht hätte, verwies auf dessen Salzburger Vergangenheit und vergaß auch nicht, die Relevanz für den Fremdenverkehr zu unterstreichen. Und wieder: kein Wort darüber, welches Geschäft sich Innsbruck da entgehen ließ!18 Nur wenige Tage später hätte die Debatte über die Neuvergabe der Stadttheaterdirektion neuerlich Anlass gegeben, eine Verbindung zwischen dem Salzburger Festspielauftakt und Innsbruck zu ziehen.19 Doch weder im Gemeinderat noch in der Tagespresse fiel eine diesbezügliche Bemerkung.20 Das Echo, das die Neuauflage des „Jedermann“ 1921 und die Uraufführung von Hofmannsthals „Großem Welttheater“ 1922 in der Tiroler Presse fanden, gibt ebenfalls keine Auskunft über eventuelle ältere Festspielprojekte.21 Dabei hätten sich genügend Gelegen-
heiten geboten, das Thema geplatzter Innsbruck-Pläne zumindest kurz zu streifen.22 Besondere Aussagekraft hat hier ein Artikel, der – in Anspielung auf Bruckner-Festspiele in Linz – 1921 die Konkurrenzlosigkeit Salzburgs hervorhob: „Eine andere Stadt (ich denke an Linz [...]) müßte man erst mit Mühe und Fleiß zur Festspielstadt machen, Salzburg ist geographisch, verkehrstechnisch, architektonisch, historisch von Natur aus die Festspielstadt.“23 Und auch der Verfasser eines Artikels, der 1921 unter dem Eindruck des Salzburger Beispiels Festspiele auf Schloss Ambras anregen wollte, wusste offenbar nichts von einer verpassten Festspielchance: „Wir kennen Mozart-Festspiele in Salzburg. [...] Wir haben aber noch nie von Festspielen in Innsbruck [...] gehört.“24 Die Berichterstattung in den Jahren der Festspieljubiläen 1930, 1940, 1950 und – nach 50 Jahren – 1970, von der ich mir vielleicht doch noch einen Hinweis auf die Rolle, die Innsbruck in der Vorgeschichte des Festivals gespielt haben mag, erhoffte, ließ diese Frage gänzlich außer Acht.25 Die Annahme, dass die Geburts- oder Todestage der Festivalgründer Anlass gewesen sein könnten, auch über deren biografische Berührungspunkte mit Tirol zu berichten, wurde ebenso enttäuscht. Dass die Nachricht von Max Reinhardts Tod im New Yorker Exil 1943 nicht den Weg in die NS-Monopolpresse geschafft haben würde (auch wenn man ihm vor dem Krieg den bizarren Titel eines „Ehrenariers“26 verleihen wollte), war vorauszusehen. Doch auch in den Artikeln zum „Reinhardt-Jahr“ 1973 ist von Innsbruck keine Rede.27 Es könnte freilich sein, dass die früheren Festspielvorschläge nur an die Leitung des Stadttheaters bzw. die Gemeindepolitik herangetragen wurden, vielleicht also selbst den Redakteuren nicht bekannt waren. Allerdings müssten dann zumindest die städtischen Theaterakten, sofern sie später auf Salzburg zu sprechen kamen, auch die einst verworfene Innsbrucker
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28 Siehe v. a. die vom Theaterreferenten Walther Pembaur angelegten Akten zum Stadttheater: Stadtarchiv Innsbruck, „Theater-Pemb. 1928– 1936“, Karton 515–520; ein Karton (mit den Fasz. 1–24) fehlt. 29 Anfang 1934 empörte man sich in einer Denkschrift etwa darüber, „dass Salzburg durch die Subventionierung seiner Festspiele ohnedies gegenüber allen anderen Hauptstädten eine bevorzugte Stellung einnimmt. Ebenda, Karton 518, Fasz. 72, 12.3.1934. 30 Ebenda, Karton 517, Fasz. 53 „Korrespondenz“ (1929/30), Bürgermeister Fischer an Intendant Klitsch, 24.12.1929. Diese Pläne blieben offenbar folgenlos; noch 1935 rief der Vorsitzende des Theaterbeirats Miller mit der Bemerkung, „dass Salzburg der Stadt Innsbruck als Fremdenverkehrsstadt bereits den Rang abgelaufen habe“, „das Dogana-Projekt wieder in Erinnerung“ (ebenda, Karton 520, Fasz. 88, Protokoll v. 4.7.1935). 31 Ebenda, Karton 514, Fasz. „Niederschriften der Ausschußsitzungen“ (1932/33), Protokoll v. 28.6.1934, S. 5 bzw. siehe den Briefwechsel in: Karton 517, Fasz. 53 „Korrespondenz“ (1929/30), Dez. 1929 bis Febr. 1930. 32 Ebenda, Karton 516, Fasz. 39 „Theatervereinigung“, Pembaur an Dr. Kerber v. 16.2.1933 bzw. Karton 514, Fasz. „Niederschriften“ (1932/33), Sitzungsprotokoll v. 7.3.1933, S. 15. 33 Ebenda, Karton 516, Fasz. 39 „Theatervereinigung“, Exposé Dr. Kerbers v. 21.5.1933 bzw. Hofstötter an Pembaur v. 28.22.1933. 34 Ebenda, Karton 514, Fasz. „Niederschriften“ (1931/32), Sitzungsprotokoll v. 8.9.1931, S. 5; 13.10.1931, S. 2– 4. 35 Ebenda, Fasz. „Niederschriften“ (1928/29), Sitzungsprotokoll v. 29.8.1928. 36 „Das Stadttheater in Innsbruck ist räumlich zu klein, um kostspielige grössere Veranstaltungen durchführen zu können. Es müssten, um die Veranstaltungen rentabel zu gestalten, so hohe Eintrittspreise festgesetzt werden, dass dieselben über die Kapitalkraft der hiesigen Bevölkerung gingen.“ Ebenda, Karton 517, Fasz. 53, „Korrespondenz“ (1929/30), Bürgermeister Fischer an Stadttheater Mainz, 24.12.1929; „ein gewisser Urban“ regte als Bewerber für die Stadttheaterleitung Festspiele an; ebenda, Fasz. „Niederschriften“ (1932/33), Ausschussprotokoll 21.6.1933, S. 14; vgl. das Angebot des Deutschen Rudolf Hartig, in Innsbruck sommerliche Festspielwochen einzurichten; ebenda, Karton 518, Fasz. 57 „Korrespondenz“ (1930/31), Pembaur/Hartig (Wernigerode) v. 2.12.1930 bzw. 25.3.1931. 37 Ebenda, Karton 514, „Hans Mair“, liegt in: Fasz. „Dilettantenbühnen“, Pembaur an Tiroler Landesregierung v. 30.8.1933. Dort heißt es weiter: „Bedauerlich ist obendrein, dass man in Salzburg über die Absichten, ‚Jedermann‘ nach Innsbruck zu verpflanzen sehr erregt war.“ 130/131
Option in irgendeiner Form anklingen lassen. Doch auch hier findet sich nicht der geringste Hinweis auf eine Initiative Reinhardts; und das, obwohl Salzburg immer wieder als Bezugspunkt der Tiroler Theaterpolitik diente.28
Salzburger Festspielen eine Beschäftigung findet“. Darüber hinaus schlug Salzburg sogar vor, „mit den Festspielen zum Teile auch nach Innsbruck zu kommen und allenfalls das Innsbrucker Orchester bei den Festspielen zu verwenden“.32
Das Innsbrucker Stadttheater schlitterte, nach einem bemerkenswerten Aufschwung während des Krieges (was ein Sprungbrett für expansive Theaterpläne hätte sein können), in schwere Finanznöte. Vor dem Hintergrund der drohenden Schließung schielte man mitunter nicht ohne Neid auf den Höhenflug der Salzburger Festspiele29, schreckte aber letztlich vor einer Anbindung an Salzburg oder der Realisierung eigener Festivalpläne zurück. Mehr oder weniger beherzte Vorstöße hat es allerdings immer wieder gegeben; sie blieben jedoch erfolglos oder wurden, nachdem Versuche des Theaterreferenten Walther Pembaur, „aus Innsbruck eine Festspielstadt zu machen“, „verunglückt“ waren, von der Stadtregierung konsequent sabotiert. Anfang 1930 fasste dieser nämlich eine Kooperation mit dem Mainzer Stadttheater für Sommerfestspiele in Innsbruck ins Auge, die aus Mangel an einem geeigneten Theatergebäude (allerdings mit der Zusage, „intensiv mit der Schaffung eines grossen Saalbaues beschäftigt“ zu sein)30 auf die lange Bank geschoben und schließlich fallen gelassen wurden.31
Bemerkenswert ist, dass diese letztlich ergebnislos verlaufenen Gespräche in besonderem Maße von der Salzburger Festspielleitung vorangetrieben wurden,33 die bereits 1931 angeboten hatte, regelmäßige Operngastspiele in Innsbruck abzuhalten, um so vielleicht sogar „durch Unterstützung des Salzburger Festspielhauses eine Art Filiale“ zu errichten. Offenbar fürchtete man in Innsbruck auch bei Kooperationen die Konkurrenz: dass nämlich „von fremden Schauspielern das Geld weggetragen wird“.34
Interessant in unserem Zusammenhang ist vor allem der 1933 verfolgte „Plan einer Cooperation Innsbruck-Salzburg“, der den finanziell schwer angeschlagenen Stadttheatern den Weg aus der Krise weisen sollte. Dabei wurde sogar daran gedacht, Innsbruck den gesamten Schauspielbetrieb zu übertragen und Salzburg – unter den Ägiden der Festspielhaus-Gemeinde – nur noch den Bereich der Opernund Operetteninszenierungen zu überlassen; auch eine Fusion der beiden Orchester zu einem „Alpenländischen Symphonieorchester“ wurde in Erwägung gezogen. Grundvoraussetzung für Innsbruck war hierbei, dass „ein Grundstock“ seines Ensembles „bei den
Nun deutet nichts darauf hin, dass es sich bei diesen Vorhaben um die Exhumierung von Max Reinhardts alten Innsbruck-Plänen gehandelt haben könnte. Auch als die Möglichkeit von Freilichtspielen angesichts der Salzburger Erfolge nicht mehr grundsätzlich verworfen wurde, stellte man keine Verbindung zu eventuellen früheren Plänen her; nicht einmal, als das Stadttheater sich 1928 anschickte, „Jedermann“-Aufführungen nach Salzburger Manier auf dem Platz vor dem Innsbrucker Dom zu veranstalten;35 und auch nicht, wenn hie und da von außen an Innsbruck herangetragene Festspielvorschläge mit dem Hinweis abgewehrt wurden, „dass der Festspielgedanke augenblicklich an der Raumfrage scheitert“.36 Selbst als die Behörden versuchten, die dubiosen Geschäfte eines Tiroler Theateraktivisten zu unterbinden, der u. a. ein Gastspiel der Salzburger „Jedermann“-Inszenierung nach Innsbruck bringen wollte (und „Reinhardt, ohne dass derselbe auch nur einen Schritt nach Innsbruck setzt, 10 % von der Bruttoeinnahme zugestanden“ haben soll), blieb das Festspielgerücht unerwähnt.37 Bleibt zu fragen, wann denn nun die Rede von Innsbrucks verpasster Festspielchance aufgekommen ist:
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38 Siehe dazu detailliert: Irmgard Plattner, Kultur und Kulturpolitik, in: Michael Gehler (Hg.), Tirol. „Land im Gebirge“: Zwischen Tradition und Moderne (= Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, Bd. 6/3), Wien-Köln-Weimar 1999, S. 223–314; hier: S. 269–273. 39 „Die Rolle, die anderwärts städtische Festspiele innehaben, ist im ‚Land im Gebirge’ den volkskulturellen Kräften (Volksmusik, Volksspiele, Volkstrachten) zugedacht.“ (Furche v. 17.3.1951, S. 6, zit. nach Plattner, S. 270.) 40 Tiroler Tageszeitung v. 28.12.1951, S. 3. 41 Abermals führte man hier die Tirol-Pläne Max Reinhardts ins Treffen: „Uns Innsbruckern liegt ja die vor Jahrzehnten verpaßte Reinhardt-Gelegenheit noch immer in den Gliedern.“ (Tiroler Nachrichten v. 30.7.1956, S. 3. 42 Tiroler Tageszeitung v. 7.8.1959, S. 2. 43 Fiedler, S. 72. 44 Plattner, S. 270. 132/133
Für die Zwischenkriegszeit konnte die ReinhardtLegende nicht belegt werden; erst nach 1945, vor dem Hintergrund der jahrelangen Tiroler Debatten über die Organisation eigener Festspiele, scheint sie dann sehr bald „zu einem fixen Bestandteil in der Argumentationsstrategie der Befürworter“ geworden zu sein.38 Die Tiroler Behörden erteilten schon 1949 konkreten Plänen für Freilichtaufführungen auf dem Innsbrucker Domplatz und Schloss Ambras mit Verweis auf die angebliche Unvereinbarkeit mit Tiroler Klima und Volkskultur eine herbe Abfuhr.39 Damit war die Festivalfrage natürlich nicht vom Tisch. Ende 1951 richtete der ehemalige Theaterintendant Ferdinand Skuhra einen Appell an die Stadt- und Landespolitik, Festspielplänen doch weniger ablehnend zu begegnen; als Argumentationshilfe rief er an dieser Stelle, wie es scheint, erstmals Reinhardts Tiroler Absichten, mit denen „er in Innsbruck keine Gegenliebe gefunden“ hätte, in Erinnerung.40 1956 flammte das Thema durch einen Vorstoß von außen neuerlich auf. Die Behörden stärkten – von den Festspielstädten Bregenz und Salzburg, die die Konkurrenz eines Tiroler Festivals fürchteten, bedrängt – Oskar Werners Projekt einer „Innsbrucker Schauspielwoche“ jedoch nicht den Rücken; die Pläne wurden – vorerst – fallengelassen.41 Doch Oskar Werner war entschlossen, sein Vorhaben auch gegen alle Widerstände durchzusetzen, und organisierte 1959 auf eigene Kosten Festspiele in Innsbruck. Dabei stellte er sein Unternehmen explizit in eine Reihe mit Reinhardts Tiroler Plänen und erinnerte daran, dass dieser „ursprünglich an die Tiroler Landeshauptstadt dachte, als er seinen Festspielgedanken erwog“. Das „Innsbrucker Bühnenexperiment“42 wurde realisiert, fand aber weder den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung noch die Unterstützung der Stadtpolitik – und endete schließlich in einem Finanzdebakel. Empirisch wird die Tiroler Reinhardt-Legende also durch nichts gestützt: Für den Zeitpunkt, als Rein-
hardts eigene Festspielpläne während des Krieges konkrete Gestalt anzunehmen begannen, lässt sich für die Erwägung Innsbrucks in den Quellen bei bestem Willen kein Beleg ausfindig machen. Weder die zeitgenössische Regionalpresse noch das verfügbare Archivmaterial stützen die These, dass Innsbruck im Gespräch gewesen sei, bevor 1917/18 die Entscheidung endgültig für Salzburg fiel. Es findet sich auch in der Tiroler Berichterstattung und den Theaterakten der Zwischenkriegszeit keine noch so bescheidene Anspielung, die das Gerücht untermauern könnte. Hinzu kommen Reinhardts enge emotionale Bindung an Salzburg und nicht zuletzt die Genese der Festspielidee, die sich von Anfang an dezidiert um Salzburg (und eben nicht um Innsbruck) drehte und als deren „treibende Kraft“43 zunächst Hermann Bahr (und eben nicht Max Reinhardt) die Fäden zog. Das Gerücht diente offenbar als eine vermeintlich „historisch belegte Metapher für die zögerliche und kurzsichtige Kulturpolitik der Tiroler Behörden“ – und war willkommene Munition im kulturpolitischen Richtungsstreit, der sich gerade in der Festspieldebatte nach 1945 manifestierte.44 Es ist folglich nicht der faktische Gehalt, der das Gerücht seit Jahrzehnten am Leben erhält; es nährt sich vielmehr aus dem masochistischen Impuls der lustvollen Selbstherabsetzung der Provinz und der narzisstischen Neigung, das kleine Innsbruck zur potentiellen Kulturmetropole zu erheben, die selbst Salzburg zum bloßen Ersatzort degradiert. Die paradoxe Tragik jeder Geisterjägerei liegt nun darin, dass man ein Phantom erst dann mit letzter Gewissheit als das entlarven kann, was es ist, wenn man seiner auch wirklich habhaft geworden ist. Und da dies nicht gelingen kann, wird die Legende von Max Reinhardts verschmähten Innsbruck-Ambitionen weiterleben. Denn: Gespenster sterben nicht.
Besetzung
Georg Diez, München → Berlin: Feuilletonredakteur der FAZ, vorher Theaterkritiker für den „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“. 2002 ist im Residenzverlag seine Hommage an den Regisseur Martin Kusej erschienen (= Band IV der Edition Burgtheater), im Herbst kommt im Verlag Kiepenheuer & Witsch der Sammelband „Hier spricht Berlin – Geschichten aus einer barbarischen Stadt“ heraus. William Engelen, Venlo → Berlin, Rotterdam: Bildender Künstler und Komponist. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen (u.a. in Rotterdam, Berlin, Mailand und New York), zuletzt: Stedelijk Museum Amsterdam (2002), NAK, Aachen (2003). Carsten Fastner, Heidelberg → Wien: Kulturredakteur der Wiener Wochenzeitung „Falter“. Publikationen vorwiegend zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: „Musik in Wien – Ein Begleiter durch das Musikgeschehen der Stadt“ (gemeinsam mit Elisabeth Kiss-Horvath, Falter-Verlag 2003). Friederike Feldmann, Bielefeld → Berlin: Bildende Künstlerin und Bühnenbildnerin (Staatsschauspielhaus Dresden, Schaubühne Berlin). Gastprofessorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Ausstellungen: Galerie Barbara Weiss, Berlin (2003); Die Kunst des Festes, Brixen (2002); Kunsthalle Wien (2001). Peter Gorschlüter, Mainz → Düsseldorf: Studium der Kunstwissenschaft und Medientheorie an HfG Karlsruhe, 2000–2002 Mitarbeiter der Meyer Riegger Galerie, Karlsruhe, mit Projektraum c/o Peter Gorschlüter. Seit 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthalle Düsseldorf. Veröffentlichungen in: FAZ, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, Kunst-Bulletin u.a. Egyd Gstättner, Klagenfurt → Klagenfurt. Freier Schriftsteller. Zuletzt erschienen: „Waidmannsdorfer Weltgericht“ (Edition Atelier, Wien 2002). Ebenda erscheint im Herbst 2003 der Roman „Horror Vacui“ (der dritte Teil der Trilogie „Die Nichtstuer des Südens“). William Guerrieri, Reggio Emilia → Modena: Fotograf, Koordinator des Projekts „Linea di Confine per la Fotografia Contemporanea“. Zuletzt Beteiligung an folgenden Gruppenausstellungen: „Atlante 03“, DARC, Roma, Milano (2003), „Le Bati/le Vivant“, Le Havre, Paris (2002).
Walter Klier, Innsbruck → Innsbruck: Freier Schriftsteller, Literaturkritiker, Essayist und Übersetzer. 1989–1997 Herausgeber der Literatur- und Kulturzeitschrift „Gegenwart“ (gemeinsam mit Stefanie Holzer). Zuletzt erschienen: Hotel Bayer. Eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert, Haymon Verlag (2003). Florian Kronbichler, Bruneck → Bozen: Freier Journalist. War Chefredakteur des Südtiroler Wochenmagazins ff und hat sich als politischer Porträtist und Glossenschreiber einen Namen gemacht. Margit Knapp, Schwaz → Berlin. Studium der Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in Innsbruck und Wien. Betreut das Literaturprogramm für das Festival „Klangspuren“. Lektorin im Verlag Klaus Wagenbach und Autorin verschiedener Dokumentarfilme. Clemens Lindner, Hall in Tirol → Götzens: Publikationen in diversen Zeitschriften und Anthologien (zuletzt: „Unterm Tibidabo. Katalanische Erzählungen“, Skarabaeus 2000; „Van Goghs Ohr“, Kellertheater Innsbruck 2002). Jüngstes Projekt: Uraufführung der Komödie „Solbad“, Burgspiele Hall in Tirol (Premiere: 8. August 2003, Burg Hasegg). Ove Lucas, Hamburg → Rotterdam: Selbstständiger Kurator und Redakteur. Olga Neuwirth, Graz → Berlin, Venedig: Komponistin. „Clinamen / Nodus“ – weltweite Tournee mit dem LSO unter Pierre Boulez (2000). Beim „steirischen herbst 2003“ wird ihr neuestes Musiktheater uraufgeführt (nach David Lynchs Film „Lost Highway“). Derzeit schreibt sie für die Salzburger Festspiele 2006 (in Koproduktion mit der Pariser Oper) ebenfalls ein Musiktheater nach einem Libretto von Elfriede Jelinek. Michaela Nolte, Witten/Ruhr → Berlin: Freie Autorin (u.a. Die Welt, Der Tagesspiegel). Katalogbeiträge u.a. zu Stefan Balkenhol, FLAP, Eva Hesse, Wolf Vostell. Ausstellungskuratorin von „sic!projects“, Berlin.
Clementina Hegewisch, Hamburg → Berlin: Filmproduzentin, Drehbuchautorin, Cocktailbarbesitzerin.
Karin Pernegger, Brügge → Wien: Freie Kuratorin und Kritikerin. Mitglied des Beirats für Bildende Kunst, österreichisches Bundesministerium. Aktuelle Projekte: Seit 2003 Projektentwicklung für Basis Archiv Kunst Wien, www.basis-wien.at, Jahresprogramm Kunstforum Montafon, Schruns 2003/04; Offspace, Wien; Freiraum Quartier 21, Wien; Galerie Lisi Hämmerle, Bregenz; Kunstbüro, Wien.
Ralf Herms/Rosebud, Inc., Nürnberg → Wien: Agentur für Brandpublishing, Herausgeber der international mehrfach ausgezeichneten Design Publikation +Rosebud. Zuletzt erschienen: +rosebud No. 4 „ACTION“.
Birgit Schlieps, Stuttgart → Berlin: Künstlerin. Fiktiv-dokumentarische Arbeiten zu Architekturen und fernen Landschaften. Mitbegründerin der Künstlergruppe „Stadt im Regal“, der ehemaligen Galerie Urban Issue und der Gruppe SARS.
Richard Hoeck, Hall i. Tirol → Wien, Istanbul: Künstler. Teilnahme u.a. an der 5. Internationalen Istanbul Biennale 1999 und der 6. Kunstbiennale in Lyon 2001 („Connivence“). Laufende Ausstellungen: Galerie Michael Neff, Frankfurt (Einzelausstellung) und „Faking Real“, Leroy Nieman Gallery, Columbia University, New York (Gruppenausstellung). Die Plakatserie von Richard Hoeck ist u.a. Teil der Gruppenausstellung „Klimatisch im Hoch“, Galerie Lisi Hämmerle, Bregenz, 12. Juli bis 31. August 2003, kuratiert von Karin Pernegger.
Roland Schöny, Wien → Wien: Autor, Kulturjournalist, Gestalter von Projekten und Ausstellungen: peripherie im fokus, Wien 1999; sounds & files, Künstlerhaus, Wien 2000; bis 2002 künstlerischer Leiter des Klangturm, St. Pölten, seit 2002 Kurator am OK Centrum für Gegenwartskunst in Linz. Zahlreiche Kunstund Architekturrezensionen im ORF Radio Österreich 1, Kunstredakteur der Zeitschrift skug.
Anton Holzer, Innsbruck → Wien: Arbeiten und Texte zu fotografie- und kulturgeschichtlichen Themen. Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie“. Stefanie Holzer, Ostermiething → Innsbruck: Freie Schriftstellerin. 1989–1997 Herausgeberin der Literatur- und Kulturzeitschrift „Gegenwart“ (gemeinsam mit Walter Klier). Soeben ist im Mandelbaum Verlag, Wien, das Reisebuch „In 80 Tagen um Österreich“ erschienen. 146/147
Q.S. Serafijn, Roosendaal → Rotterdam: Künstler. Aktuelle Projekte: Mediated Discourse, Workshop TU Delft (mit Maia Engeli, Zürich); Museum as Amusement Park! editor 3005 (in Kooperation mit dem Ministry of OCandW). Susanne Titz, Stolberg → Aachen: Studierte Kunstgeschichte, Geschichte, Literatur- und Sprachwissenschaften in Köln, Hamburg und Bonn. Seit 1997 Leiterin des Neuen Aachener Kunstvereins. Roman Urbaner, Sillian → Graz: Historiker (zuletzt Mitarbeiter der Österreichischen Historikerkommission), Lektor und Jour-
nalist. Herausgeber des E-Journals „eForum zeitGeschichte“. Arbeitet zurzeit an einer Studie zur Tiroler Presse 1914–1918. Katrien van der Eerden, Tilburg → Rotterdam: Freiberufliche Designerin. Arbeiten für: Stichting Maatschappij en Onderneming, Het Nationale Toneel, Internationale Beelden Collectie Rotterdam, Zwarts & Jansma Architecten, AKZO Nobel Art Foundation u.a.m. Zahlreiche Preise: Art Directors Club New York (ADCNY) 2002, Silver-Award für „What this country needs is a 5-cents sigar“. Klaus Wagenbach, Berlin → Berlin: Lehre in den Verlagen Suhrkamp und S. Fischer. Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Archäologie in München und Frankfurt am Main wurde er im S. Fischer Verlag Lektor für deutsche Literatur. Im Herbst 1964 gründete er in Berlin den bis heute unabhängigen Verlag Klaus Wagenbach.
Joseph v. Westphalen, Schwandorf → München: Lebt vom Schreiben. Neben diversen Essays entstanden Romane um den Diplomaten und Jazzfreak Harry v. Duckwitz. Westphalens jüngster Roman „Der Liebessalat“ beschreibt das chaotische Leben eines Frauenverehrers. Robert Winkel, Soest → Rotterdam: Architekt, Robert Winkel Architecten (gegründet 1996). Arbeitsverbände: 2003 G3 Architektur Städtebau Interieur, Fusion RWA mit Groep 5 Van der Ven. 2001 Gründung von „Smarthouse“ in Zusammenarbeit mit Holland Beton Groep. Gründer (1995) und Inhaber der „Archined“, der Architekturseite der Niederlande (www.archined.nl).
Quart Heft für Kultur Tirol
Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck (Austria), office@circus.at Abobestellungen und Anzeigen: Skarabaeus c/o Studienverlag, A-6020 Innsbruck, Amraser Straße 118, T 0043-(0)512 / 39 50 45, F 0043- (0)512 / 39 50 45-15, order@studienverlag.at, www.skarabaeus.at oder Skarabaeus c/o Studienverlag, I-39100 Bozen, Rosengartenstraße 1a, T 0039-0471/32 64 14, F 0039-0471/32 64 13, studienverlag@tin.it Chefredakteur: Andreas Schett Stv. Chefredakteure: Heidi Hackl, Rainer Köberl Geschäftsführer/Verleger: Markus Hatzer Mitarbeiter dieser Ausgabe: Georg Diez, William Engelen, Carsten Fastner, Friederike Feldmann, Peter Gorschlüter, Egyd Gstättner, William Guerrieri, Clementina Hegewisch, Richard Hoeck, Anton Holzer, Stefanie Holzer, Walter Klier, Margit Knapp, Florian Kronbichler, Clemens Lindner, Ove Lucas, Olga Neuwirth, Michaela Nolte, Karin Pernegger, Birgit Schlieps, Roland Schöny, Q. S. Serafijn, Susanne Titz, Roman Urbaner, Katrien van der Eerden, Klaus Wagenbach, Joseph von Westphalen, Robert Winkel Kuratoren: Othmar Costa, Eduard Demetz, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Jean-Louis Poitevin, Robert Renk, Arno Ritter, Helmut Reinalter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u.a. Korrektorat: Ingrid Fürhapter, Elfriede Sponring Art-Direction dieser Ausgabe: Ralf Herms / Rosebud, Inc. Grafische Realisation: Rosebud, Inc. (Ralf Herms, Katja Fössel, Fritz Magistris) und Circus (Michaela Wurzer, Stefan Rasberger) Layoutkonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Druckvorstufe: Lanarepro, Lana Druck: Athesia-Tyrolia Druck GmbH, Innsbruck Verwendung der Karte „Tirol – Vorarlberg 1:200.000“ auf den Seiten 94 –104 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt