Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 35 / 20 € 16,–
Atelier Rens Veltman . Schwaz
Foto: GĂźnter Richard Wett
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* Die Zeichnungen auf allen linken Seiten – in Reaktion auf die rechts stehenden Texte – sind von Sven Sachsalber.
Inhalt
Rens Veltman „Zoom, exakt“
„Gestohlene Buchstaben“ / „… und nun das Wetter“ Typografie im Kopf von Anneliese Schrenk
69–79
Linke Seiten: Sven Sachsalber* 4 Inhalt 5
Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte Über Christine Lavant und verschiedenerlei Anfänge. Von Peter Clar
81–87
Fließtext Von Irene Dische
Verena Dengler Originalbeilage Nr. 34
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Allerhand in Affenhausen Eva Maria Bachinger zu Besuch beim Steindrucker Stecher
91–97
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Halotech Lichtfabrik 2–3
Hebamme der Umweltbewegung Jens Soentgen über die Chemikerin Erika Cremer Brenner-Gespräch (20): „Kunst kennt keine Kriterien“ Der Kunsthändler Rafael Jablonka im Gespräch mit Andrea Grill
7–9
11–19
Von einem Zustand zum nächsten Nicolas Jasmin stapelt Bilder. 21–31
Öl Farben Landschaft Anette Freudenberger erkundet Rens Veltmans Untersuchungen der Ölmalerei. 33–37 Rens Veltman „Zoom, exakt“ 500 Rosen oder: Die Tage des Klopapiers und des Konjunktivs Landvermessung No. 6, Sequenz 6 Von Anna Weidenholzer
38–47
48–59
Das Lied, das nie gesungen wird Aus dem Reisetagebuch des Musikethnologen Raymond Ammann 61–67
Marginaltext (8): „Neubeginn nach der großen Stille“ Auszüge aus Texten und Reden des Architekten Josef Lackner
99–107
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Spuren von Einsamkeit Eine quarantänebedingt unterlassene Feldrecherche von Simone Mair / Lisa Mazza und Nicolò Degiorgis 117–123 Eigenwerbung
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Besetzung, Impressum
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Fließtext*
Von Irene Dische
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— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.
Als wir in New York ankamen, wollten wir eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Aber dann fing das gute alte Europa an, in den Covid-Fluten zu ertrinken. Unsere Rückflüge wurden gestrichen. Also blieben wir in New York, wo der Covid-Pegel bald ebenfalls bedrohlich stieg. Unsere Arche Noah ist ein großer Heuschober auf einer Farm, 90 Meilen von NYC entfernt. Das erste Mal seit über 30 Jahren lebe ich wieder in einer Kleinfamilie mit einem Baby. Es gibt kein Entkommen vor meiner Tochter, die vor Jahrzehnten mein erstes Baby war, vor ihrem libanesischen Mann, vor ihrem gemeinsamen Kind, das bei unserer Ankunft gerade mal elf Monate alt war. Ebenso wenig können die drei vor mir, einer leicht reizbaren Großmutter, fliehen. Als uns alle Fluchtwege gesperrt wurden, ergänzten wir unsere Kompaktgruppe um ein gesundes Kindermädchen, also um jemanden, der so gut wie keine sozialen Beziehungen hatte: eine 180 Kilo wiegende israelische Buchhalterin. Covid-19 hatte ihr Büro geschlossen. Sie hatte noch nie eine Windel aus der Nähe gesehen, aber erwies sich als gutmütig, liebevoll und lernfähig. Das Kind mag ihren weitläufigen Körper. Es wird eng hier. Wenn ein kleines Kind einzieht, schrumpft ein Haus. Ein hübsches Lesekabinett wurde zur Wickelstube, der Salon zum Krabbelzimmer. Die Arsenale der Kinderpflege liegen überall offen herum. In diesem abgeschotteten Raum sprechen die Einwohner Arabisch, Englisch, Hebräisch, Deutsch und Babysprech. Von jeglicher Körperform gibt es hier etwas. Man liest über den enormen Anstieg an häuslicher Gewalt, aber wir sind bisher nicht betroffen, weil wir uns alle an der kurzen Leine der Toleranz halten. Schimpfen und Keiffen ist total verboten, obwohl es Angriffsflächen noch und noch gibt. Zwei von uns halten auf Ordnung, zwei teilen dieses Interesse nicht und eine bemüht sich, Ameisen und Mäuse mit ihrem Essen zu versorgen, indem sie es zu ihnen auf den Boden schleudert oder ihnen in kleinen Spritzern hier und dort zuspuckt. Einer von uns raucht noch – in dem Wort „noch“ kann man das laute Rasseln gebrochener Versprechungen hören. Eine von uns ist betagt und benutzt ihren schlechten Rücken als Vorwand, niemals und zwar wirklich niemals das Kind zu wickeln. Das wird geduldet, obwohl es orthopädisch keinen Sinn macht. Eine von uns wird kurz extrem wütend, zwei von uns schmollen lange, eine von uns kreischt so, wenn sie ihren Kopf nicht durchsetzen kann, dass es einem durch Mark und Bein geht, eine von uns bleibt einfach im Bett, weil sie deprimiert ist, was wiederum die anderen drei in Chaos und Bedrückung versetzt, weil ohne sie die Arche abzusaufen droht. Wenn das geschieht, kämpft der junge Mann feurig und witzig mit der jungen Frau, die ihm, was Feuer und Witz anlangt, in nichts nachsteht, um die Anerkennung seines unveräußerlichen Männerrechts, nicht für die Kinderpflege verantwortlich zu sein; die Alte versteckt sich hinter ihrem Laptop mit der Behauptung, ihre Arbeit sei wichtiger als die der anderen; ein Warnsignal für schlechte Laune schrillt, und wir besinnen uns. Aber an guten Tagen, und das sind die meisten, funktioniert die Gelassenheit. Mein starker Schwiegersohn trägt schwere Lasten, ohne zu klagen, ich wische den Boden auf allen vieren, meine Tochter zieht furchtlos ihr Kind an, das jeden Kleiderwechsel zum Nahkampf ausarten lässt. Nur einmal in der Woche, früh am Morgen, verlasse ich unseren Zufluchtsort, um nach meinem Bruder zu sehen, der im Zentrum der Virusexplosion direkt am Rande von Manhattan lebt. Maske tragen, Abstand halten, ermahnen die anderen beim Abschied. Sie geben sich besorgt, sind aber eher neidisch auf die vier Stunden, die ich alleine auf der Autobahn verbringen darf. Gleichzeitig wissen sie, dass meine Reise nötig ist. Mein Bruder ist ein viel größerer Geist als ich, er versteht die Sprachen der höheren Mathematik und der Philosophie, aber er hat Asperger und kommt mit den einfachsten Problemen des täglichen Lebens nicht zurecht. Er lebt alleine in einem großen Haus. Das Haus ist für ihn nicht nur seine Freundin, sondern auch sein Feind, mit anderen Worten: Es ist wie ein Ehepartner. Vor Covid-19 pflegte einer von uns alle zwei Monate mal nach ihm zu sehen und alles in Ordnung zu bringen, was in der Zwischenzeit in seinen Lebensverhältnissen
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schiefgegangen war. Nicht selten entdeckte man einen ernsten Notfall, knietiefes Wasser im Keller, oder jüngst Eichhörnchen, die im Gästezimmer im dritten Stock eine Niederlassung gegründet hatten. Einmal, an einem schönen Frühlingstag, besuchte ich ihn und bemerkte, dass die rückwärtige Eingangstür verschwunden war. Der Türrahmen stand einfach offen zum Hof. Ich fragte ihn, was los sei. Er erwiderte: „Die Tür fiel aus den Angeln.“ Ich fragte ihn, ob er das so lassen wolle. Immerhin lebe er in einer ziemlich kriminalitätsbelasteten Gegend. Nun sei es zwar Mai und warm, es würde aber auch irgendwann Winter und dann werde der Schnee ins Haus wehen. Mein Vorhalt ärgerte ihn. Er fauchte zurück, er habe ja versucht, einen Zimmermann anzurufen. „Na und?“, fragte ich. „Es war besetzt“, antwortete er. Schließlich wurde eine neue Tür angebracht. Alles, was neu ist, findet er problematisch. Auch Covid-19 ist neu. Seine Situation hat sich geändert. 30 Jahre lang arbeitete die gleiche Putzfrau bei ihm. Sie war zuletzt 80 geworden, seit zehn Jahren konnte sie sich nicht mehr bücken. Ihre Putzresultate waren entsprechend. Er weigerte sich trotzdem, jemand anderen zu engagieren; er sei an sie gewöhnt. Als sie infolge Covids endlich nicht mehr erschien, besorgte ich ihm online drei Staubsauger, für jedes Stockwerk einen, und drei Schrubber. Ich fertigte ihm Anleitungen an, wie man putzen solle und übte mit ihm. Und ich nahm ihn mit zum Einkaufen, weil er die kniffligen Mechanismen des Maskeanlegens – die Schlaufen gehören hinter die Ohren, um das Stoffteil vor Mund und Nase zu halten – ebenso wenig begreift wie das fachgerechte Aufbringen von Handdesinfektionsmitteln. Schon seit 50 Jahren praktiziert er soziales Abstandhalten, aber am Tag, als die Geschäfte das letzte Mal offen hatten vor dem Closedown, fuhr er während der Rushhour per Bus und U-Bahn nach Midtown Manhattan, um sich noch sechs Zitronentorten zu kaufen, von denen er glaubte, sie würden ihn über den kommenden Monat bringen. Sie reichten dann doch nicht, also fingen meine Besuche an. Es ist gar nicht so leicht. Der Lebensmittelladen in einer Gegend der vielen Kranken und der vielen Sterbenden hat die ermunternde Atmosphäre eines Grenzübergangs. Wachtmeister schnarren einen an, das Publikum ist nervös, exakter Abstand muss eingehalten werden und das Sortiment erinnert an den alten Ostblock – leere Regale, wenig Obst und Gemüse. Letzte Woche habe ich den letzten Kohlkopf erstanden, für mehr als sechs Dollar. Mein Bruder kauft vorsichtig nur das Nötigste für sich, aber teure Luxusdelikatessen für die Wildtiere, die er durchfüttert. Neuerdings kommt auch ein Stinktier als regelmäßiger Gast. Aber es stehen auch lauter geschniegelte Katzen mit Halsband vor seiner Tür, und ihre Besitzer im Ort wundern sich, wieso ihre Tiere so dick geworden sind, obwohl sie zu Hause an Appetitlosigkeit leiden. Die Tierschar wartet schon, als ich ihn nachmittags mit seinen Einkäufen absetze und ich mein Auto wieder gen Norden lenke. Wenn ich abends nach einem Tag Abwesenheit zu Hause eintreffe, stelle ich unweigerlich große Veränderungen in unserer Arche fest – das Kind macht seinen ersten Schritt oder fügt ein neues Wort seinem Vokabular hinzu. Ich gleite zufrieden zurück in das Leben der Kleinfamilie, bin glücklicherweise auch rechtzeitig angekommen: Um 6 Uhr abends – und das ist eine eiserne Regel – halten wir die Familienzeit in demselben Raum ab, in dem vor 20 Jahren noch Lämmer zur Welt kamen. Als wir dort einzogen, rissen wir die Ställe heraus und bauten eine Küche ein, stellten einen großen Esstisch hin. Aber man fühlt sich noch geborgen wie im Stall. Jetzt hören wir dort arabische und klassische europäische Musik. Wir singen und tanzen. Wir werden laut. Wir essen ganz schön viel. Wir haben keine Angst vor der Krankheit, sondern nur vor Trump, der in den Bäumen heult. Aber wir vergessen ihn, weil wir aufräumen müssen. Um 19.30 Uhr wird das Baby von beiden Eltern gebadet. Um 20 Uhr wird es in den Schlaf gelockt. Die Lichter gehen langsam aus. Wir segeln leise durch die Nacht. Man schläft gut in der Sicherheit, dass die einen brauchen, die man liebt und wenn man weiß, dass es vorläufig keinen Sinn macht, Pläne zu schmieden. (Aus dem Englischen übersetzt von Annette von Tümpling)
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Hebamme der Umweltbewegung
Die Chemikerin Erika Cremer erfand Ende der 1940er Jahre in Innsbruck die Gaschromatographie. Seitdem können chemische Substanzen auch in kleinsten Mengen nachgewiesen werden. Von Jens Soentgen
Ruhm setzt voraus, dass einem viele großartige Taten zugeschrieben werden. Großartige Taten muss man entweder vollbringen, es reicht aber oft auch, dass andere glauben, man habe sie vollbracht, damit sich Ruhm einstellt. Man muss hier nicht gleich an Hochstapelei denken. Doch die eigenen Verdienste ein wenig zu mehren, scheint vielen notwendig, ja sogar gerechtfertigt. In dieser Kunst sind Männer, wie man immer wieder feststellt, deutlich talentierter als Frauen. Liest man zum Beispiel die Werke des britischen Chemikers und Schriftstellers James Lovelock, der inzwischen 100 Jahre alt ist und sich als „independent scientist“ bezeichnet,1 dann wird man von der meisterhaften, volkstümlichen Darstellung sogleich eingenommen und immer mehr gewinnt man den Eindruck, dass man es mit einem Universalgenie zu tun hat, der nicht nur exakter chemischer Forscher, sondern auch genialer Erfinder und zu allem Überfluss auch ahnungsreicher Denker ist, der ein grundlegend neues, nie dagewesenes Bild der Natur entwickelt hat. In seiner Autobiographie Homage to Gaia, die eher Homage to Lovelock heißen sollte, widmet er dem von ihm erfundenen Electron Capture Detector ein ganzes Kapitel. Voller Bewunderung ist er für „this simple device that fits easily into the palm of my hand“2. Es sei „ohne Zweifel die Hebamme der frühen Umweltbewegung“, stellt er fest. „Denn ohne dieses Gerät hätten wir nicht entdeckt, dass chlorierte Pestizide wie DDT und Dieldrin sich über die ganze Welt ausgebreitet hatten.“3 Letztlich scheint er davon auszugehen, dass Silent Spring (Der stumme Frühling), das Urbuch der frühen amerikanischen ökologischen Bewegung, in dem die Biologin Rachel Carson den Einsatz chemischer Pestizide, etwa von DDT, kritisiert, und in dem sie das Bild eines stummen Frühlings ohne Vogelgesang
entwirft, ohne sein kleines Gerät keine größere Wirkung gehabt hätte. Weil es für die Identifizierung von feinverteilten Umweltchemikalien eine Analytik braucht, die weitaus empfindlicher ist als die traditionellen nasschemischen Verfahren, klingt das Statement des britischen Chemikers überzeugend, und Lovelock beeilt sich auch, festzuhalten, dass er drei große Preise für seine Erfindung erhalten habe, den Prize for the Environment 1990, den Volvo Prize 1996 und den Blue Planet Prize 1997.4 Der durchschnittliche Leser wird kaum Anlass haben, irgendeine von Lovelocks Behauptungen in Zweifel zu ziehen, zumal einige seiner Aussagen unumstritten sind. Er hat tatsächlich als Erster, wie er schreibt, die globale Verteilung der FCKW in der Atmosphäre nachgewiesen. Und dann gibt es da noch berühmte Leute, etwa Bruno Latour, die ihn für ein Genie halten und mit Galileo Galilei vergleichen. Nun soll keineswegs bestritten werden, dass Lovelock ein kreativer Erfinder und Denker ist. Aber wenn man festgestellt hat, dass Lovelocks Gaia-Prinzip eigentlich schon fünfzig Jahre vor 1 Was von anderen Naturwissenschaftlern übrigens mit guten Gründen bezweifelt wird, siehe etwa Paul J. Crutzen: Eine kritische Analyse der Gaia-Hypothese als Modell für die Wechselwirkung zwischen Klima und Biosphäre, ursprünglich in Gaia 11(2), (2002), S. 96–103, jetzt auch in Paul J. Crutzen: Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München: oekom Verlag 2019, S. 175–204. 2 Lovelock: Homage to Gaia. The Life of an Independent Scientist. Oxford University Press, Oxford, New York 2001, S. 191. 3 Lovelock: Homage to Gaia. The Life of an Independent Scientist. Oxford University Press, Oxford, New York 2001, S. 191. (Meine Übersetzung) 4 Lovelock: Homage to Gaia. The Life of an Independent Scientist. Oxford University Press, Oxford, New York 2001, S. 192.
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ihm und deutlich klarer von dem russischen Chemiker Vladimir Vernadsky erdacht wurde, wird man doch ein wenig skeptisch und überlegt, ob nicht womöglich auch seine Beiträge zur Analytik etwas geringer sind als gedacht. Kritische Literatur zu Lovelock gibt es nicht allzu viel, da seine These so sympathisch ist. Aber immerhin, es gibt ein paar durchaus kritische Schriften, die wichtigste scheint mir die des Atmosphärenchemikers Paul Crutzen zu sein, der zum Beispiel anhand zahlreicher Zitate herausarbeitet, dass zwar Lovelock tatsächlich die globale Verbreitung der FCKW nachgewiesen habe, aber lange insistiert habe, dass von diesen keinerlei Gefahr ausgehe.5 Doch inwieweit Lovelocks Behauptung, seine Erfindung sei die Hebamme der frühen Umweltbewegung gewesen, zu Recht oder zu Unrecht besteht, dazu finden wir auch bei Crutzen keine Hilfe. Wir müssen uns selbst auf den Weg machen in das faszinierende, aber auch sehr weitläufige Reich der Umweltanalytik. Was ist das wichtigste Gerät in diesem Reich? Es ist keineswegs der Elektroneneinfangdetektor, den Lovelock patentiert hat. Was wir aber in allen Labors weltweit finden, ist der Gaschromatograph. Es gibt kein Umweltlabor, ja inzwischen kaum ein Labor für analytische Chemie, in dem kein Gaschromatograph steht. Mit diesem Gerät, heute meist in Gestalt eines großen Kastens, in dem ein langer Schlauch aufgewickelt ist, ist es möglich, winzigste Substanzmengen nachzuweisen, die Gaschromatographie hat die gesamte analytische Chemie revolutioniert und die chemische Umweltforschung überhaupt möglich gemacht. Lovelocks Gerät ist eine Art Aufsatz, den man auf den Gaschromatographen schrauben kann. Es gibt aber viele solcher Aufsätze. Doch das grundlegende Gerät ist immer mehr oder weniger dasselbe. Wollte man wirklich eine Erfindung auswählen, die zur Hebamme der modernen Umweltbewegung wurde, man müsste diese benennen. Keine andere Erfindung hat so viele umweltpolitisch wichtige Daten geliefert. Ohne die Gaschromatographie hätte tatsächlich die DDT-Diskussion einen ande-
ren Verlauf genommen und auch über das Ozonloch hätte man wahrscheinlich anders diskutiert. Von sehr vielen äußerst wichtigen industriellen Anwendungen, von der Erdölchemie bis hin zur Parfümerie einmal ganz abgesehen. Mit der Erfindung der Gaschromatographie hat Lovelock nichts zu tun, sie wurde von der Chemikerin Erika Cremer in den späten 1940er Jahren vollbracht, und zwar an der Universität Innsbruck. Erika Cremer, die 1900 geboren wurde und 1996 starb, zählt zu der verschwindend geringen Anzahl Frauen, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts Chemie studierten und anschließend wissenschaftlich tätig blieben. Das war kein einfacher Weg, dabei war ihr die Naturwissenschaft gewissermaßen in die Wiege gelegt, denn bereits ihr Vater, Max Cremer, war Forscher, er hatte die sogenannte Glaselektrode erfunden, die für die exakte Messung, wie stark diese oder jene Säure oder Lauge ist, auch heute noch eingesetzt wird. Nach ihrer Promotion 1927 war Erika Cremer lange Zeit ohne feste Anstellung, sie war an verschiedenen Orten immer nur befristet beschäftigt. Am Ende hatte sie vor lauter Verzweiflung eine Stelle in der Bioklimatischen Forschungsstelle in Westerland auf Sylt angenommen. An der Nordsee weht ein rauer Wind, und eines Tages riss ein Sturm so heftig an der Eingangstür, dass sie aus den Angeln flog und der Forscherin auf den Kopf schlug. Sie erlitt eine Gehirnerschütterung und trug eine große Beule davon. Die Kunde von ihrer Beule erreichte Otto Hahn, der die junge Frau von der gemeinsamen Arbeitszeit in Berlin her kannte, und bewog ihn, die talentierte Frau von der sturmumtosten Insel zu retten, ihr ein Stipendium zu 5 Paul J. Crutzen: Eine kritische Analyse der Gaia-Hypothese als Modell für die Wechselwirkung zwischen Klima und Biosphäre, ursprünglich in Gaia 11(2), (2002), S. 96–103, jetzt auch in Paul J. Crutzen: Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München: oekom Verlag 2019, S. 175–204 (197).
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verschaffen, damit sie weiter wissenschaftlich arbeiten konnte. Offenbar musste in der damaligen Zeit schon ein Nordseesturm eingreifen, bis sich die Pforten der Naturwissenschaften für eine Frau öffneten. Und von Öffnen kann man eigentlich kaum sprechen, denn dass sie je eine Professur erhalten könnte, wurde von den etablierten Professoren kategorisch ausgeschlossen. Doch es kam anders. Sie erhielt eine Dozentenstelle für Physikalische Chemie an der Universität Innsbruck und trat diese 1940 an. Sie musste dann freilich noch 19 Jahre, bis 1959, warten, ehe die Universität sie zur Lehrstuhlinhaberin ernannte. Erika Cremer hatte zunächst, in ihrer Dissertation, über Kettenreaktionen geforscht und schon dabei außergewöhnliche Ergebnisse erzielt, von denen sie später meinte, dass sie durchaus nobelpreisverdächtig gewesen seien. Während des Zweiten Weltkriegs, schon in Innsbruck, hatte sie sich mit den chemischen Verbindungen Ethen und Ethin befasst und über ein neuartiges Verfahren geforscht, wie diese recht ähnlichen Stoffe getrennt werden könnten. In einem Aufsatz für die Zeitschrift Naturwissenschaften, der 1944 erscheinen sollte, hatte sie bereits einen Grundgedanken dazu skizziert, doch die Ausgabe der Naturwissenschaften, in der ihr Artikel stehen sollte, wurde aufgrund der Kriegsereignisse nicht mehr ausgeliefert. Nach dem Krieg widmete sie sich dieser Frage erneut, diesmal mit ihrem Schüler Fritz Prior (1921–1996), der an einer Mittelschule unterrichtete und sie daher gebeten hatte, ihm ein Dissertationsthema zu geben, das er mit den simplen Mitteln, die dort vorhanden waren, auch wirklich bearbeiten könne. Und tatsächlich: Mit den wirklich einfachsten Mitteln wurde ein ganz neues Analyseverfahren ersonnen. Mehr als einfachste Mittel waren damals ohnehin nirgends erhältlich, weder an der Mittelschule noch an der Universität. Worum geht es dabei? Wie so oft, bewahrheitet sich auch hier die Einsicht Lichtenbergs, der einst festhielt,
„daß die wichtigsten Dinge durch Röhren getan werden. Beweise erstlich die Zeugungsglieder, die Schreibfeder und unser Schießgewehr, ja was ist der Mensch anders als ein verworrnes Bündel Röhren?“ Auch bei der später so genannten Gaschromatographie ist der Kern des Verfahrens eine lange Röhre. Unten bringt man das Gemisch auf, das man testen möchte. Mit etwas Wärme lässt man es verdampfen. Der Dampf durchwandert nun mit dem Gasstrom die Röhre. Anfangs war die Röhre mit Aktivkohle oder Kieselgel beschickt. Auf die Gase, aber nicht auf alle gleichmäßig, wirken diese Substanzen wie ein Hindernis, das sie aufhält, aber nicht festhält. Die Gaschromatographie ist eine Variante der normalen Chromatographie, die jeder schon einmal gesehen hat: Wenn man auf einen dicken Fleck, der mit dem Filzstift auf ein Blatt Papier gezeichnet wurde, Wasser tropft, dann zieht das sich allmählich ausbreitende Wasser den Fleck auseinander und oft werden dabei verschiedene Schichten sichtbar, unterschiedliche Bestandteile der Filzstiftfarbe. Diese nasse Chromatographie arbeitet nach demselben Prinzip wie die gasförmige, nur ist die Trägersubstanz hier flüssig, dort gasförmig. Wir können uns das Ganze wie einen langen Marathonlauf vorstellen. In einem dicken Pulk starten die Sportler, aber schon bald zieht sich der Pulk auseinander und eine Spitzengruppe hagerer, gut trainierter Läufer setzt sich ab. Ganz hinten sind die übergewichtigen Tollkühnen unterwegs, die trotz schlechten Trainings, schlechter Blutwerte und dickem Bauch unbedingt mitlaufen wollen, aber schon nach wenigen Kilometern die erste Pause brauchen. Auch sie erreichen am Ende vermutlich das Ziel, nur eben viel später und vielleicht erst mit der Kehrmaschine. Der Vergleich ist nur eine ungefähre Näherung, bei der der Fachmann wohl Einwände haben wird. Immerhin gibt das Bild aber eine grobe Vorstellung. Denn ganz ähnlich kommen auch die schlanken, kleinen Moleküle in dem von Erika Cremer ersonnenen Verfahren als Erste oben an
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der Röhre heraus. Man kann also auf diese Weise Stoffgemische auftrennen. Das klingt wenig aufregend. Man gibt unten in die Röhre etwas Unsichtbares hinein, oben kommt etwas Unsichtbares heraus, nur eben gut getrennt. Vergessen wir’s. So etwa dachten und sagten Erika Cremers Kollegen, die ihre Methode für eine Eintagsfliege hielten. Erika Cremer brachte am Ende der Röhre einen Detektor an, ein Gerät, das ihr zwar nicht sagte, welcher Stoff da gerade austrat, das aber immerhin anzeigte, dass gerade ein Stoff herauskam. Zunächst war dieser Detektor eine Wärmeleitzelle. Damit war bereits alles beisammen, was auch heute noch einen Gaschromatographen ausmacht: ein Rohr und ein Detektor. Die geniale Idee besteht in der Einsicht, dass jeder besondere Stoff eine nur für ihn charakteristische Laufzeit durch die Röhre hat, die man genau bestimmen und an der man ihn erkennen kann. Cremer und ihr Mitarbeiter Prior arbeiteten das Verfahren so weit aus, dass deutlich wurde, dass damit selbst kleine Substanzmengen getrennt und auch auf eine neuartige Weise nachgewiesen werden können. Dies ist insofern ein völliger Paradigmenwechsel, als die klassische Analytik immer der Auffassung war, dass man für eine exakte Analyse gerade viel Substanz braucht. Heute stehen in allen chemischen Analyselaboren auf der ganzen Welt Gaschromatographen. Die mit Kieselgel gefüllte Röhre ist durch einen sehr langen, sehr dünnen, innen beschichteten Schlauch ersetzt, durch den man ein Trägergas strömen lässt, das die Probe mitreißt. Mit den Gaschromatographen werden die chemischen Substanzen im Tabakrauch ebenso nachgewiesen wie Pestizidrückstände in Bio-Gemüse. Und damit ist auch klar, worin die gesellschaftliche und politische Bedeutung der neuen Technik liegt. Chemische Stoffe, die in der Umwelt unterwegs sind, liegen sehr oft in feiner Verdünnung vor. Mit herkömmlichen Methoden der analytischen Chemie waren sie nicht oder nur sehr ungenau zu identifizieren. Doch mit der Gaschromatographie wurde zum Beispiel die Anreiche-
rung von Pestiziden wie DDT in der Umwelt und in vielen Organismen auch fernab vom Einsatzort nachweisbar. Die rein wissenschaftliche Bedeutung dieser Spurenanalytik ist immens, denn es gibt Chemikalien, die auch in sehr feiner Verdünnung noch Wirkungen entfalten. Auch die kulturelle Bedeutung ist kaum zu überschätzen, denn die publizierten Ergebnisse der Spurenanalytik führten vielerorts zu einem Umdenken, oft zu einer Abkehr von der modernen, technisierten Wohlstandswelt und zur Suche nach alternativen Produktions- und Lebenswegen. Damit kommen wir auf James Lovelock zurück. Lovelock hielt, wir sagten es bereits, seine Erfindung für die Hebamme der modernen Umweltbewegung. Doch was Lovelock entwickelt hat, war nicht die Gaschromatographie, die man zu Recht so bezeichnen könnte, sondern ein neuer Detektor, der am Ende der Röhre arbeitet. Der Detektor ist wichtig, aber Detektoren gibt es viele. Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Detektor unwichtig wäre – er ist von großer Bedeutung. Und Lovelock machte auch durchaus innovative Messungen, so war er der Erste, der nachwies, dass sich eine bestimmte Substanzgruppe, die FCKW, inzwischen über den gesamten Globus verteilt hatten. Aber es ist doch etwas anderes, ob man als Erster ein ganzes Analyseprinzip entwickelt hat oder aber nur eine – wenn auch wichtige – Ergänzung dieses Prinzips. Übrigens wurden ähnlich leistungsfähige Detektoren zeitgleich auch in der Arbeitsgruppe von Erika Cremer entwickelt, auch mit demselben Ziel, nämlich Umweltchemikalien nachweisen zu können. Viele umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien lassen sich heute mit der Gaschromatographie noch in winzigsten Spuren nachweisen, das heißt, in Verdünnungen, für die es zuvor nicht einmal Worte gab. Heute spricht man von ppm, ppb und sogar ppt, also Teilchen pro Million, pro Milliarde und pro Billion, und kann solche verschwindend kleine Mengen auch wirklich nachweisen. Noch die feinste Menge an
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Dopingmitteln, Drogen oder Schadstoffen lässt sich nunmehr aufspüren. Natürlich ist auch bei vielen Produktionsprozessen eine genaue Analytik wichtig, um die Qualität zu sichern, und so stehen auch in allen Chemiewerken heute solche Geräte. Ebenso ist es möglich geworden, Prozesse in der Natur mit zuvor nicht bekannter Genauigkeit zu verfolgen. Die Lehre, dass die Erde ein großer lebendiger Zusammenhang sei, hat durch Messergebnisse der Gaschromatographie wesentlich an Überzeugungskraft gewonnen. Erika Cremers Entdeckung ist also aus der modernen Naturwissenschaft nicht mehr wegzudenken. Sie selbst hat wenig davon gehabt. Und anders als ihre männlichen Kollegen verfügte sie nicht über Netzwerke, die ihr wichtige Preise zugetragen hätten. Obwohl sie unbestritten die Erste war, die einen vollständigen Gaschromatographen entwickelt hat, wurde den zwei britischen Forschern Archer John Porter Martin und Richard Lawrence Millington Synge, nicht ihr, für Arbeiten zur Chromatographie der Nobelpreis für Chemie zugesprochen. Wohlgemerkt: Die britischen Forscher wurden für ihre eigenen, unabhängig entstandenen und auch sehr wichtigen Arbeiten ausgezeichnet. Man rätselt dennoch, weshalb die Erfindung der Erika Cremer, die unbestritten eine enorme praktische und auch theoretische Bedeutung hat, nicht viel mehr gewürdigt wurden. Noch 2002 erschien in einem englischsprachigen Journal ein wissenschaftshistorischer Aufsatz über die Gaschromatographie, in dem Erika Cremer nicht einmal erwähnt wurde. Auch in einem deutschsprachigen Artikel aus dem Jahr 2010 über den Elektroneneinfangdetektor und die Gaschromatographie hielt man einen Verweis auf die Chemikerin für unnötig. Um sich in der von Männern dominierten Chemikerwelt zu behaupten, hatte Erika Cremer sich eine Haltung der Bescheidenheit zugelegt: „Du darfst Wissenschaft machen. Du darfst eine männliche Arbeit machen. Frühere Generationen durften das nicht, also, du mußt dafür bescheiden sein.“ Ihre Bescheidenheit
schützte sie sicherlich vor Angriffen, aber etwas mehr Geltungsdrang hätte man ihr schon gewünscht. Denn ihre Bescheidenheit verhinderte nicht nur, dass sie reich wurde – anders als Lovelock hat sie sich ihre epochale Erfindung nie patentieren lassen. Ihre Bescheidenheit verhinderte auch, und zwar bis heute und sogar im deutschsprachigen Raum, dass Erika Cremer die Anerkennung erhielt, die sie verdient hätte. Doch man muss diese Bescheidenheit nicht als Schwäche deuten. Es liegt auch Stärke darin. Ruhm war Erika Cremer offensichtlich nicht wichtig. Dagegen war ihr dies eine wichtig – dass ihre Erfindung zum Wohl der Menschen beiträgt. Und das tut sie tatsächlich wie nur wenige andere Erfindungen aus dem Chemielabor.
Literatur: Peter Wöllauer: „Wir müssen leider eine Frau nehmen, denn sie ist von allen Kandidaten die beste“ Erika Cremer und die Entwicklung der Gaschromatographie. In: Kultur und Technik 1/1997, S. 29–33. Ortwin Bobleter: In memoriam em. Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. rer. Nat. H.c. Erika Cremer (1900–1996) 96 Jahre eines Forscherlebens. In: Berichte des naturwissenschaftlich medizinischen Vereins Innsbruck, Bd. 84, S. 397–406. James Lovelock: Homage to Gaia. The Life of an Independent Scientist. Oxford. Oxford University Press, Oxford, New York 2001 Cremer, E., Moesta, H., Hablik, K.: Zur Anwendung des thermionischen Halogen-Detektors in der Gas-Chromatographie. In: Chemie-Ing.-Technik 38. Jahrgang 1966, Heft 5, S. 580–583 (mit weiteren Nachweisen). Karl Hübner: Pionier der Umweltanalytik. 50 Jahre Elektroneneinfangdetektor. In: Chemie in unserer Zeit, 2010, 44, S. 86–89. Paul J. Crutzen: Eine kritische Analyse der Gaia-Hypothese als Modell für die Wechselwirkung zwischen Klima und Biosphäre, ursprünglich in Gaia 11(2), (2002), S. 96–103, jetzt auch in Paul J. Crutzen: Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. München: oekom Verlag 2019, S. 175–204.
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Brenner-Gespräch (20) „Kunst kennt keine Kriterien“
So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause. Folge 20: Rafael Jablonka, ehemals Kunsthändler und Galerist, hat zeitlebens auch Kunst gesammelt. Seine große Leidenschaft gilt Künstlern seiner eigenen Generation – und Häusern. So erwarb er 2010 eine in den 1950er Jahren von Gottfried Böhm errichtete Kirche unweit von Köln, restaurierte sie und eröffnete sie neu als Raum für zeitgenössische Kunst. Auf einem Waldgrundstück in Tirol ließ er eine Arbeit Thomas Schüttes mit dem ursprünglichen Titel Ferienhaus für Terroristen als Bauwerk realisieren (1) [Anm.: Die jeweiligen Abbildungen sind auf den Seiten 30/31 zu sehen]. Davor steht eine Skulptur von Eric Fischl (2) mit dem Titel Tumbling Woman. Nun überlässt er der Wiener Albertina den Kern seiner Sammlung als Dauerleihgabe. Die erste Ausstellung mit Werken aus dem Besitz Rafael Jablonkas wird im Herbst 2020 eröffnet. Eine dem italienischen Künstler Francesco Clemente gewidmete Sonderschau ist ebenfalls in Planung. Die Schriftstellerin Andrea Grill traf Rafael Jablonka in Seefeld zu einem Gespräch.
Andrea Grill: Welche ist Ihre Lieblingsfarbe? Rafael Jablonka: Gestern waren wir auf der Wildmoosalm spazieren. Die dominante Farbe war Weiß und keine Wolke am Himmel. Was Kunst betrifft, habe ich viele Lieblingsfarben: Erdfarben und Mineralfarben, Blau aus Lapislazuli gewonnen wie in den Fresken von Giotto, Purpur-Rot im Papstportrait Innocent X von Velazquez, Weiß in Manets Olympia, Rosa in Pontormos Kreuzabnahme in der Kirche Santa Felicità in Florenz und Ocker der Höhlenmalerei und viele andere. Das Gelb und Grün der Neonleuchten in einem Werk von Dan Flavin in der Sammlung von Panza di Biumo in Varese hat mich vor dreißig Jahren unvergesslich umgehauen. Und vor allem Matisse. Eine „Lieblingsfarbe“ gibt es für mich nicht. Es ist immer ein Werk, das im Vordergrund steht. A. G.: Sie sagen „Kunst kennt keine Kriterien“. Wie wählen Sie dann das aus, was Sie für Ihre Sammlung
erwerben? Ist das Intuition, stellt sich da ein Kribbeln ein in der Magengegend und das Herz schlägt schneller, also eine Liebe auf den ersten Blick zu dem Kunstwerk? Oder denken Sie an das, was Sie im Studium der Kunstgeschichte gelernt haben? R. J.: Man kann ein Kunstwerk nicht auf die Waage stellen, um seine Bedeutung zu wiegen. So meinte ich das. Ein Kunstwerk bringt die Kriterien mit sich und verbirgt sie. Das ist auch das Geheimnis. Wie entscheide ich? Mit Augen, mit Wissen, mit Gefühlen, der ganze Mensch ist im Spiel. Deshalb gibt es neben den sogenannten Treffern auch Fehlentscheidungen. A. G.: Was ist die wichtigste Eigenschaft eines Kunstsammlers? Kann man das überhaupt werden oder ist man sozusagen als solcher geboren, frei nach dem Schriftsteller Harry Mulisch, der auf die Frage, warum er Schriftsteller geworden sei, immer geantwortet haben soll, Schriftsteller kann man nicht werden, das
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muss man sein. Kunstsammeln bedeutet ja in gewisser Weise auch die Arbeit an einem eigenen Gesamtkunstwerk, das aus der Sammlung besteht, die man besitzt. R. J.: Der wichtigste Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Sammler ist, dass der Erstgenannte, trotz seiner Berufung, auch einen Beruf ausübt. Das heißt, er verdient damit auch seinen Lebensunterhalt – oder sollte ihn verdienen. Sammeln ist ein Freizeitvergnügen, vor allem aber ist es eine Passion, die eine Verantwortung mit sich trägt. Ich sehe mich selbst nicht als Sammler, eher als Türsteher, manchmal als Mäzen oder Produzent – ein Ermöglicher, denn auch die Kunst braucht manchmal einen Hebamm. Eine Sammlung ist kein Gesamtkunstwerk, sie besteht immer aus einzelnen Kunstwerken. Nur nach der Bedeutung dieser kann sie bewertet werden und das braucht, im Falle einer Sammlung von Gegenwartskunst, Zeit. Ich folge keinem Leitfaden, habe keinen vorgefassten Plan, keine Strategie und dennoch versuche ich, mich zu konzentrieren, mir selbst treu zu bleiben. Die Woche hat nur sieben Tage. Die Künstler, hauptsächlich Leute aus meiner Generation, deren Werke ich einmal beschlossen habe zu sammeln, arbeiten ja weiter, und ihre Werke will ich verbreiten, auch durch Ausstellungen, Publikationen und, wenn ich es kann, durch das Sammeln. Intuition steht über dem Rationalismus, also dem Wissen. Wissen ohne Instinkt, ohne Vorahnung und auch ohne Zweifel ist gut für Statistik, oder vielleicht nicht einmal dafür. Wissen ohne Erfahrung ist akademisch und statisch. Man muss sich bewegen, den eigenen gewohnten Rahmen verlassen und damit auch die Kriterien, nach denen Sie vorher gefragt haben, vergessen, um auf etwas Neues zu stoßen – auf eine Erkenntnis. A. G.: Das Sammler-Sein klingt so, wie Sie es beschreiben, eher bescheiden, eigentlich zurückgezogen. Fällt das schwer, so im Hintergrund zu bleiben? Der Türsteher ist ja im Grunde eine undankbare Rolle, die, die er reinlässt, vergessen ihn, sobald sie drinnen sind, und die, die er draußen aufhält, sind ihm böse. Sie sind,
wenn ich einen biologischen Vergleich strapazieren darf, eigentlich wie ein Hormon, das dem Publikum ermöglicht, etwas zu sehen, das ohne Sie verborgen geblieben wäre. Bekommt man dafür genug Anerkennung? R. J.: So ist es, eine Geburtshelferin wird auch bald vergessen und dennoch ist sie notwendig. Und wer kennt heute noch Felix Pappalardi, den Produzenten und Studiomusiker von Cream? Eric Clapton kennt jeder. Anerkennung ist eine Fata Morgana. Sie ist mir nicht unwichtig und tut auch manchmal gut, aber sie ist nicht das, was mich im Leben motiviert. Ich tat, was ich konnte, und ich tue, was ich kann. Am liebsten wäre ich Violinvirtuose geworden, hatte auch als Kind eine Geige, das schönste Weihnachtsgeschenk meines Lebens, noch heute sehe ich sie vor mir glänzen. Aber ein musikalisches Gehör, geschweige denn das Genie wurde der Geige nicht beigelegt. Meine berufliche Eignung fand ich erst nach langer Suche. Ich habe zunächst Bauingenieurwesen studiert, Kunsthändler kam später, obwohl ich den Akzent mehr auf das unschöne Wort Galerist setzen würde, und daraus ergab sich alles andere. Wir dürfen das Materielle nicht vergessen. Ich war vom Leben gezwungen, wie wir alle, einen Beruf zu finden, der mir ein Auskommen garantiert, ohne mich zu langweilen und ohne mich zu verleugnen. Als Kunsthistoriker – das war mein zweiter Versuch, eine Ausbildung zu machen, ich studierte bei Max Imdahl in Bochum – war ich auf dem besten Wege, ein Pseudo-Intellektueller zu werden. Das spürte ich und dann kam die Aufforderung: „Du musst dein Leben ändern“, wie ein berühmtes Gedicht von Rilke endet. So wurde ich Galerist. Was die Hormone betrifft, so lässt sich sagen, dass sie keinen freien Willen besitzen. Sie haben mich vermutlich angetrieben, die Entscheidungen traf ich. A. G.: Sie haben vollkommen recht, die Entscheidungen werden aus freiem Willen getroffen. Dieser Wille hat Sie zu bemerkenswerten Künstlern geführt, die Sie oft über Jahrzehnte begleiten, also tatsächlich Förderer und Freund – ein Galerist, wie ihn sich Künstler nur
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wünschen können. Sie haben sich auf sehr zeitgenössische Kunst spezialisiert, Menschen Ihrer Generation, die bei ihrer Entdeckung noch so jung waren wie Sie damals ebenfalls. Ich denke dabei beispielsweise an Francesco Clemente, den Sie in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts kennengelernt oder vielmehr entdeckt haben. Was mich dabei erstaunt, ist, dass offenbar die Künstler, deren Werke Sie ansprechen, Ihnen dann auch sympathisch sind. Oder ist es umgekehrt? Ein Maler ist Ihnen sympathisch und Sie mögen dann in der Folge auch seine Werke? Wie beeinflusst dieses Zwischenmenschliche Ihre Arbeit? Oft suchen sich Galeristen ja lieber Künstler aus, die bereits tot sind, weil sie dann von ihnen wenigstens nicht bei der Arbeit gestört werden. Sie haben sich oft Leute ausgesucht, die zu Ihrer Generation gehören. R. J.: Sympathie zur Person spielte immer mit, aber die Künstler sind nicht meine Freunde gewesen, es gab wohl eine Beziehung, die aber eher als respektvoll zu bezeichnen ist, basierend auf gegenseitigem Vertrauen. Meine Entscheidung für einen Künstler traf ich, ohne den Urheber zu kennen, auf Grund der Werkerfahrung. Die Person kam später dazu. Die große Ausnahme ist die jahrelange Arbeit mit dem Nachlass von Andy Warhol. Als ich zum ersten Mal 1986 im Atelier von Clemente in New York saß, wusste und spürte ich, dass mir gegenüber ein großer Künstler – ein Meister – saß. A. G.: Clemente macht Arbeiten, die mich persönlich auch sofort ansprechen. Ich sah bei Ihnen ein Bild von einem Pferd und einem Reiter, einer Reiterin, die vielleicht gerade vom Pferd fällt oder steigt (3), in Pastellfarben, ein Licht scheint aus diesem Bild zu strahlen und aus vielen Bildern, die ich von Clemente gesehen habe, etwas Überirdisches, das mich auf seltsame Weise an religiöse Malerei erinnert, obwohl seine Themen nicht direkt religiös sind. Ihre Galerie für Gegenwartskunst in Köln, die Böhm Chapel (4), war in den 50er Jahren eine Kirche. Ich weiß gleichzeitig aus unseren Gesprächen, dass Sie herkömmliche Religionen, wie der Katholizismus in Ihrer polnischen Heimat, abstoßen. Doch scheint mir, dass es für Sie eine Ver-
bindung zwischen Kunst und Religion gibt? Oder irre ich mich? R. J.: Ich weiß, dass ich mich auf einem dünnen Eis bewege mit meinen Äußerungen, der Winter ist mild, man spürt schon einen Anflug des Frühlings – im Januar auf 1200 m Meereshöhe. Über das Verhältnis Kunst und Religion sind viele Bücher geschrieben worden. Ich kann hier nicht viel Neues sagen. Das Unfassbare, das Transzendentale oder vielleicht besser gesagt das Mystische ist die Essenz der Kunst. Deshalb scheitert das Rationale ohne Intuition vor einem Kunstwerk. Ein Kunstwerk, das in Einzelteile zerlegt und analysiert wird, verbirgt vor dem Wissenden immer noch sein wahres Gesicht. Der Satz von Bruce Nauman, einem der wichtigsten Bildhauer der Gegenwart, „The true artist helps the world by revealing mystic truths“, gilt. Aber was ist sie, diese mystische Wahrheit? Was bedeutet die Wahrheit in Angesicht eines Kunstwerks? Doch keine einfache Gleichung, denn die Kunst bedient sich der Täuschung, ja, sogar der Lüge und in der Kunst kann 2 + 2 auch 1 ergeben. Diese Frage können wir vielleicht ehrlicherweise nur mit weiteren Fragen beantworten. Früher dachte ich, dass ich bloß Agnostiker wäre, heute bin ich zu der Überzeugung gekommen, auch Atheist zu sein. Und wenn es einen Gott geben sollte, dann lass ihn uns als Bonus betrachten – war es nicht Rubinstein, der Pianist, der das sagte? Und dennoch, ein Fluidum der Transzendenz umgibt uns und nur die große Kunst lässt uns es verspüren. Kunst ist kein Konsumgut, wie es heute viele meinen. Kunstwerke werden ständig um die Welt auf Ausstellungen geschickt, es gibt Studiengänge für Kuratoren, es gibt unzählige Biennalen und Kunstmessen. Aber es gibt gleichzeitig Kunst, die keiner sehen kann, selbst wenn er es wollte; Skulpturen auf den Dächern der Kathedralen, Höhlenmalerei an Stellen, die kein Mensch sehen konnte, ich meine, die damaligen Zeitgenossen. Auch Werke amerikanischer Land Art von Michael Heizer oder Walter de Maria oder dem Engländer Richard Long, der auf langen Wanderungen irgendwo in der Wüste Steine zusammenträgt und zu einer geraden Linie anordnet, können wir nicht sehen.
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Für wen sind diese Kunstwerke gedacht, geschaffen? Für den Himmel? Sind es etwa Opfergaben? Elitärer geht es nicht. Und ich bestehe auf dem Elitären, auf dem Sublimen, das heißt, dem Erhabenen. Was Massen glauben, überzeugt mich nicht, Massenpsychosen stoßen mich ab. A. G.: Auch von Philip Taaffe habe ich bei Ihnen ein Bild gesehen (5), das mir sofort ins Auge sprang, wie man so sagt, das mich ergriffen hat, nach dem ich jetzt, wo ich es nicht mehr sehe, sogar eine gewisse Sehnsucht feststelle. Wie löst Philip Taaffe, Ihrer Ansicht nach, diese Anziehungskraft aus – bei manchen Menschen zumindest? Sind es die Fragen, die seine Bilder stellen? R. J.: Ich akzeptiere Wundertäter, lass uns sie hier Schamanen nennen, ausschließlich unter den Künstlern. Auch Clemente und Taaffe gehören zu denen, die mit „höheren Wesen“ in Verbindung zu stehen scheinen. Philip Taaffe hat in seinem Bild „Martyr Group“ polizeiliche Zielscheiben benutzt, durch Kolorierung hat er die Kreise um die Köpfe der menschlichen Silhouetten in Heiligenscheine umgedeutet und dadurch ebenfalls ein Bild religiösen Inhalts geschaffen – ein Andachtsbild. Und wenn ich an Gott nicht mehr glaube, wieso die Kirche in meinem Lebenslauf? Ich habe Philip Taaffe beauftragt, für die fünf Apsiden der Böhm Chapel fünf Bilder zu malen, die sich der Symbolik der fünf großen Weltreligionen bedienen. Er arbeitet daran seit zwei Jahren. Mit großer Sorgfalt entwickelt er die Ikonographie dieser Bilder. Meine Absicht ist, wenn sie vollendet sind, in der ehemaligen St.-Ursula-Kirche – heute ein entweihtes Gebäude, von mir nach dem Architekten Gottfried Böhm so benannt – einen Ort der Andacht zu schaffen, in dem der allmächtige Vater des „ewigen Gemetzels“, der Gott der Christen, der Juden, des Islam, des Hinduismus und des Buddhismus, durch seine Abwesenheit leuchtet. Eine Utopie! A. G.: Sie haben ein besonderes Interesse an Häusern. Darf ich fragen, wie Sie wohnen? Zwischen Kunst?
Gibt es für Sie auch etwas wie Freizeit-Räume? Oder trennen Sie das in Ihrem Leben nicht und es gibt einfach die Zeit, die vierundzwanzig Stunden jeden Tag, die wir alle zur Verfügung haben, und in der Küche lässt es sich genauso gut arbeiten wie im Büro? R. J.: Ich gebe zu, dass ich Wert auf das lege, was mich umgibt. Welche Bilder an den Wänden hängen, welche Möbel ich täglich benutze. Man kann sich nicht mit dem Schönen beschäftigen und mit dem Unschönen umgeben und das Unschöne ist bereits hässlich. Nicht nur die Kunst, auch die Rahmen der Bilder, die Sockel für die Skulpturen, falls sie welche brauchen, die Beleuchtung, d. h. die Lampen, die Fenster und die Vorhänge, der Fußboden und die Wandfarbe und wenn wir hinter uns die Tür schließen, um mal allein zu sein, auch die Türgriffe und auch die Blumenvase und die Teller, von denen man isst, und auch das, was auf dem Teller liegt und wie es liegt. Und wenn man selbst endlich liegt, auch all das, was man zum Liegen braucht. Das Schöne ist in allen diesen „Details“, und auch in den Socken und der Unterwäsche steckt menschliche Kreativität. Ich arbeite tatsächlich am liebsten in der Küche. In der Küche weiß ich, was ich zu tun habe, wenn ich im „Büro“ bin, weiß ich es nicht mehr. Es liegt nicht an der Kunst, denn die Bilder hängen überall, und in der Küche steht sogar eine Skulptur. So, jetzt wissen Sie, wie ich lebe. Freizeiträume, nach denen Sie fragen, gibt es, wenn überhaupt, nur im Kopf, das heißt überall und nirgends. A. G.: Das Wort Museum geht ja auf das lateinische mūsēum zurück, also ein Ort für gelehrte Beschäftigung oder auch der Musensitz. Als es im 16. Jahrhundert ins Deutsche kam, hieß es zunächst Studierzimmer, erst später wurde es zu dem, was wir heute darunter verstehen. Ist Ihnen Ihre Sammlung das liebste Museum? Oder gibt es ein anderes Museum, das Sie im Sinne eines Musentempels besonders inspirierend finden?
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R. J.: Museum? Ich habe in Museen heute oft das Gefühl, dass die Musen sich wo anders ihre Zeit vertreiben … Aber es gibt sie noch, die Häuser, die es sich lohnt zu besuchen. Ich meine hier nicht die klassischen „Musts“, die stehen sowieso durch ihre Bestände wie Felsen in der Brandung und außer Diskussion, die sind das Fundament unserer Zivilisation. Die Häuser, die ich meine, wohin es sich wirklich lohnt zu reisen, eigentlich will ich sagen, zu pilgern, haben alle „fast“ ausnahmslos eine Privatperson – einen passionierten Sammler, einen Stifter – als Gründer im Hintergrund – tot oder noch lebendig, eher selten einen großen Museumsleiter. Übrigens, auch die Gründer der klassischen Museen waren Personen aus Fleisch und Blut, keine Beamten. Es waren Monarchen, Päpste, Banker, reiche Industrielle, Kunsthändler, nicht selten auch Künstler. Um nur ein paar zu nennen: die Medicis, August der Starke, Guggenheim, De Menil, Peter Ludwig, Donald Judd, Ernst Beyeler, Franz Meyer, der langjährige Direktor des Kunstmuseums Basel. Nur die Zeit kann die Bedeutung meiner im Umfang eher bescheidenen Sammlung zeigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Künstler, die ich gesammelt habe und weiter sammle, die Klassiker der Zukunft sind. Es ist verhältnismäßig einfach, mit viel Geld große Namen zu kaufen. Wo bleibt aber die menschliche Entdeckungslust, der Reiz des Risikos, die schlaflosen Nächte, der Glaube an die Zukunft, dass es das Alte nur dann gibt, wenn das Neue es mit Leben ausfüllt? Und noch eines: Eine große Sammlung wird nicht nach der Quantität der Bestände bemessen, wie es heute oft der Fall ist. A. G.: Die ersten beiden Ausstellungen in der Albertina, die gänzlich aus Werken aus Ihrer Sammlung zusammengestellt sein werden, sind Zeitgenossen von Ihnen gewidmet, Menschen Ihrer Generation. Das ist ungewöhnlich. Viele Kunstverständige scheinen gerade vor den Alterskollegen und -kolleginnen Angst zu haben. Sind Sie furchtlos? R. J.: Ein großer Vorteil davon, mit den lebenden Künstlern zu arbeiten, ist, dass man sie auch kennenlernt und
zumindest versuchen kann, sie zu „durchschauen“, zu sehen, was sie antreibt. Man verfolgt eine Zeitlang aus der Distanz ihren Werdegang. Man beobachtet, für welche Wege sie sich entscheiden. Aber man „folgt“ ihnen nur, wenn man ihnen vertraut, wenn man an ihre Größe glaubt. Man engagiert sich, auch finanziell. So wird man zum Zeitgenossen, zum Komplizen und gewissermaßen zum Mittäter. Man wird manchmal zum Geheimnisträger und übernimmt auch einen Teil der Verantwortung für das, was geschieht. Wir alle haben Vorbilder. Mein unerreichbares Vorbild ist der Kunsthändler, Sammler und Gründer der DIA Art Foundation, Heiner Friedrich, der sich sein Leben lang für einige wenige Künstler einsetzte, dafür aber mit größter Intensität, die möglicherweise manchmal zu weit ging. Alle radikalen Entscheidungen bringen Risiken mit sich. Ich dachte, wenn die Woche nur sieben Tage hat, dann kann ich mich bei meiner Arbeit an dieser Zahl orientieren – theoretisch. Und praktisch? In der Ausstellung My Generation (Anm.: Ab dem 2. Oktober 2020 in der Albertina zu sehen) werden 14 Künstler gezeigt, also doppelt so viele. Manche nur mit einer Arbeit oder mit einer Handvoll an Arbeiten. Von anderen werden ganze Werkkomplexe präsentiert. Einige Künstler aus meiner Sammlung konnte ich aus verschiedenen Gründen, die wichtigsten waren materieller Natur, nicht weiterverfolgen. Von Nobuyoshi Araki (6), Ross Bleckner (7), Eric Fischl, Mike Kelley (8), Sherrie Levine, Andreas Slominski (9) und Philip Taaffe wird es glücklicherweise mehr zu sehen geben. Ich bin auf dieses Abenteuer sehr neugierig.
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Öl Farben Landschaft
Rens Veltman hat für die vorliegende Ausgabe von Quart den Umschlag und die folgenden Bild-Doppelseiten gestaltet. Er taucht dabei in die Tiefen der Ölmalerei ein und lässt sie zur Skulptur werden. Anette Freudenberger über eine Möglichkeit, das Leinwandbild neu zu sehen.
1890 verkündete der französische Maler Maurice Denis, Mitbegründer der Künstlergruppe Les Nabis, ein Bild sei, noch bevor es irgendetwas darstellt, „im Wesentlichen eine plane Fläche, die in bestimmter Ordnung mit Farben bedeckt ist“. Dieser Ausspruch wird immer wieder zitiert, um die Bedingungen des Mediums Malerei als Zusammenspiel von Flächigkeit, Farbmaterial und Anordnung zu definieren. Von nun an konnte der Bildgegenstand in seiner Bedeutung hinter den rein bildnerischen Mitteln zurücktreten. In der aktuellen Kunst lässt sich die Frage nach den Verfahrensformen der Malerei nicht mehr am Bild allein festmachen. Vielmehr werden andere Faktoren, soziale, ökonomische und technologische mit einbezogen. Wie verhält sich das Bild, das einerseits eine räumliche Illusion erzeugen kann, andererseits als plastisches Objekt selbst Raum einnimmt, zu eben diesem Raum? Wie ist er strukturiert, mit wem oder welchen Dingen wird er geteilt? In welchen Netzwerken zirkuliert das Bild und vor allem in welcher Datenform? Für Quart fotografiert Rens Veltman abstrakte Malerei mit einem Makroobjektiv. Die Aufnahmen zeigen nicht die Bilder, sondern Ausschnitte, ungewöhnliche Perspektiven aus extremer Nähe: pastose „Farblandschaften“, die seltsam unbewohnt erscheinen, wie Kulissen nach einer Aufführung, stillgestellt im Moment der Aufnahme. Die Ölfarben werden ungemischt auf die Leinwand aufgetragen, hier erst treffen sie aufeinander, ziehen aneinander vorbei oder verbinden sich, sowohl im plastischen Material als auch im Auge der Rezipienten, denn was aus der Ferne womöglich zu aleatorisch, zu unorganisiert wirkt, entpuppt sich von nahem als Akkumulation unterschiedlichster leuchtender Farben, die man immer noch präzise auseinanderhalten kann. Dunkle Biotope mit bunten, schillernden Schlie-
ren, aus denen sich einzelne Formen, Verdickungen, Wülste und Grate herauslösen, die dramatische Schatten auf Täler und Ebenen werfen. Immer wieder reißt die Farbe auf und zeigt darunterliegende Schichten. Die dynamischen Spuren und Abdrücke der malerischen Geste werden im Streiflicht theatralisch inszeniert. Der Eindruck täuscht allerdings, denn der Farbauftrag erfolgte mit kleinem Spachtel oder Pinsel, also eher kontrolliert aus dem Handgelenk, als aus einer expressiven Armbewegung heraus ausgeführt. Es geht demnach um die Objektivierung des Vorgangs. Betrachtet man die skulpturale Qualität des Farbkörpers und die fotografischen Eigenarten der Abbildungen, wird einmal mehr deutlich, dass sich Rens Veltman zwischen den Medien bewegt. Statt die Operationsmodi von Malerei, Fotografie und Objektkunst separat zu untersuchen, wendet er sie lieber aufeinander an. Dementsprechend haben die Aufnahmen keinen dokumentarischen Charakter, sondern sind eigenständige Arbeiten für den gedruckten Raum des Printmediums. Sie geben einen Zustand und eine Handlung wieder, die in der Vergangenheit liegen – unwiederbringlich, denn die Bilder, die man auf den Fotografien zu sehen glaubt, existieren gar nicht in dieser Form. Sie wurden nacheinander auf demselben Bildträger gemalt, der mehrfach überarbeitet wurde, um sie als Bildstrecke reproduzieren zu können. Die gemalten Vorlagen sind nie ganz zu sehen, dafür liefern die Makroaufnahmen aber mehr Information über die Beschaffenheit der Faktur. Veltman zoomt die Bildoberfläche so nah heran, wie man ihr in einer Ausstellungssituation vermutlich niemals käme. Man kann die satte, noch feuchte Ölfarbe fast riechen. Teilweise ist ihre Topografie jedoch in verschwommenem Nebel versunken. Der Fokus auf die Details geht mit einer partiellen Unschärfe
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der Aufnahmen einher. Damit tritt die Bedeutung von spezifisch fotografischen Qualitäten, wie Lichtführung, Belichtung, Bildausschnitt, Tiefenschärfe und die Position der Kamera in den Vordergrund. Mit einem Mal wird auf diesen Fotos wichtiger, wie die malerische Aktion inszeniert wird, als was dort abgelichtet ist, nämlich ein abstraktes Bild. Malerei wird heute überwiegend auf Abbildungen betrachtet. Ein Bild kann auf allen möglichen Oberflächen auftauchen. Die Leinwand, die für Maurice Denis noch grundlegend war, ist nur ein möglicher Träger unter vielen. Wesentlich häufiger existieren Bilder in digitaler Form. Aber wo genau befindet sich diese Form, im Quellcode, auf dem Server oder dem Bildschirm? Auf den Übertragungswegen von Malerei in andere Medien gehen zwar viele Details verloren, wie Materialität, Haptik oder Farbqualität, auch die Möglichkeit, die Distanz zum Bild selbst zu bestimmen, aber es kommen neue Eigenschaften hinzu. Wenn man die Malerei „rein“ halten wollte, was längst obsolet ist, müsste man tatsächlich bei ihren Grundkomponenten bleiben. Veltman dagegen verbindet seine Materialuntersuchungen mit der Fotografie. Ihn interessiert nicht die Totalität des einzelnen Bildes, sondern Verknüpfungen. Alle Arbeiten des Künstlers – der auf erstaunlich vielen Gebieten zu Hause ist (Medienkunst, elektronische Kunst und Robotik, Zeichnung, Malerei und Fotografie) – kann man als Versuchsanordnungen betrachten, die dazu dienen, das Verstehen zu verstehen. 2020 hat sich Veltman eine Maschine zur Produktion von Ölfarben zugelegt, die aus Pigment und diversen organischen Ölen (wie Leinöl, Walnussöl, Distelöl etc.) Farbe emulgiert. Mit der Maschine der Marke Exakt betreibt er Grundlagenforschung zur Malerei und darüber hinaus. Ölfarbe ist ein hochwertiges, vielseitiges Material, das sich auf unterschiedlichste Art über einen längeren Zeitraum hinweg verarbeiten lässt. Es ist elastisch, viskos und modellierbar. Die oberflächliche Trocknung mag nach ein paar Tagen beendet sein, abgeschlossen ist die Oxidation selbst nach Jahrhunderten nicht. Für gewöhnlich kommt Ölfarbe aus der
Tube oder aus einem Eimer, dem Gebinde. Das war aber nicht immer so. Zunächst musste ein geeignetes Behältnis erfunden werden. Es war eine einfache Tube, die die Malerei revolutionieren sollte. 1841 meldete John Goffe Rand, ein amerikanischer Maler, der sich über die ihm ständig austrocknende Farbe ärgerte, ein gefalztes Zinnrohr mit Schraubverschluss zum Patent an. Bis dahin mussten die Künstlerinnen und Künstler die benötigten Farben selbst anrühren. 1851 wurden die ersten Farbtuben der britischen Firma Windsor & Newton auf der Weltausstellung in Paris vorgestellt und begeistert aufgegriffen. „Ohne die Tubenfarbe wären Monet, Pissarro, Cézanne und eigentlich der ganze Impressionismus nicht denkbar gewesen“, befand Pierre-Auguste Renoir. Die Malerinnen und Maler konnten sich von der aufwändigen Farbherstellung im Atelier unabhängig machen, die noch dazu gesundheitsschädlich war. Das giftgrün leuchtende Schweinfurter Grün etwa war tatsächlich äußerst giftig, weil es Arsen enthielt. In mehrfacher Hinsicht ist die Tubenfarbe Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergingen. Die malfertigen Ölfarben erlaubten es auch, größere Formate im Freien zu malen, statt wie zuvor Skizzen anfertigen zu müssen, um sie zurück im Atelier in „richtige“ Gemälde umzusetzen. Die Praxis, sich aufs Land zu begeben, verweist auch auf ein zunehmendes Selbstbewusstsein des Bürgertums, das einerseits vom industriellen Wachstum in den Städten profitierte, andererseits oder gerade deshalb die Natur verklärte. Für die neue Malerei fand sich mit ihnen auch eine neue Käuferschicht, die mit der Malerei der Pariser Salons nichts mehr anfangen konnte. Die erste noch selbstorganisierte Ausstellung der Impressionisten 1874 richtete sich dezidiert gegen die Salons und die verkrusteten Machtstrukturen, die den Kunsthandel bis dahin bestimmten. Die Ausstellung machte die Impressionisten mit einem Schlag bekannt, unter anderem, weil sie bis in den Abend hinein zu besichtigen war. Die Künstlerinnen und Künstler, die sich in ihrer Malerei so sehr mit Farbwirkungen und Licht beschäftigten, hatten Gaslampen installiert,
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ein Novum im Ausstellungswesen der Zeit. Das fahle Licht wurde, ähnlich wie das Neonlicht des White Cubes, für ungemein städtisch gehalten, waren doch die Straßen und Lokale und der urbane öffentliche Raum des 19. Jahrhunderts mit diesen Leuchtmitteln ausgestattet. Erwähnenswert ist, dass die Ausstellung im Atelier des Fotografen Nadar ausgerichtet wurde, denn von der Tubenfarbe einmal abgesehen war es natürlich die Fotografie, die einen Paradigmenwechsel in der Malerei herbeiführte. Mehrere Aspekte können im Zusammenhang mit dieser historischen Position für die Betrachtung von Rens Veltmans Kunst fruchtbar gemacht werden: die analytische Auseinandersetzung mit Farbe durch die Impressionisten und ihr Verhältnis zur Fotografie und zum Atelier. Immer wieder hat Veltman sich nämlich diesem ebenso idealisierten wie umstrittenen Arbeitsraum zugewendet. Für seine Ausstellung „Loop“ im Ferdinandeum 2014 verlegte Veltman sein Atelier kurzerhand ins Museum und hielt sich dort mehrere Wochen lang regelmäßig auf, um an dem Projekt weiter zu arbeiten. Bereits 2003 hatte er 360°-Ansichten aus über 50 Ateliers von Tiroler Künstlerinnen und Künstlern ins Landesmuseum projiziert und als interaktive Präsentation auch ins Netz gestellt. Das Gebäude befand sich gerade in einer Umbauphase und Veltman nutzte das Vakuum, um den institutionellen Raum für die Künstlerschaft zu reklamieren und nach außen zu öffnen. Damals war die Omnipräsenz des World Wide Web noch nicht in seiner heutigen Ausdehnung zu ermessen. Es war schwer vorstellbar, dass wir einmal alle via Skype, Zoom oder ähnlicher Programme miteinander kommunizieren und mehr oder weniger unfreiwillig schräge Einblicke in unsere Arbeitsräume gewähren würden. Die neue Bewegungsfreiheit dank der Erfindung der Tubenfarbe im 19. Jahrhundert bezahlten die Malerinnen und Maler mit einer neuen Abhängigkeit. Bis heute sind sie auf die Verfügbarkeit der Instantfarbe angewiesen, selbst wenn sich die Produktpalette erweitert hat, gibt es nur mehr wenige Hersteller, die
die genormten Farben weltweit vertreiben. Wem kein Lieferant seines Vertrauens zur Verfügung steht, der bestellt die benötigten Malutensilien bei führenden Onlinehändlern. Dennoch, Gleiches ist nicht immer gleich: Produktionsbedingt können einzelne Chargen minimal voneinander abweichen, Rezepturen sich verändern oder Unternehmen in Konkurs gehen. Schmerzlich bewusst wurde dies bei der Restaurierung von Barnett Newmans Gemälde Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue. Obwohl man eine Farbe derselben Firma mit derselben Produktnummer verwendete, fielen die Ausbesserungen auf den monochromen Flächen deutlich ins Auge. Die Firma hatte zwischenzeitlich die Zusammensetzung verändert. Inwiefern hat nun Rens Veltman mit dem Besitz der Produktionsmittel etwas gewonnen, außer der Möglichkeit, Farbe günstig und nach eigenem Gusto mischen zu können? Wenn er die Farben selbst herstellt, ist das etwas ganz anderes als beispielsweise bei Balthus, der das Anrühren der Farben zu einem quasireligiösen Dienst an der Malerei stilisierte. Es hat auch weniger mit den Autonomieversprechen von Do-ItYourself-Konzepten zu tun, sondern ist eher die Reproduktion eines industriellen Vorgangs, den Veltman sich erneut aneignet und nachvollzieht. Damit stellt er seine eigene künstlerische Praxis in Relation zu anderen Formen der Produktion. Die Arbeit an der Kunst ist in komplexer Weise in gesellschaftliche Abläufe in einer globalisierten Welt involviert. Diese Wechselbeziehungen beginnen nicht erst mit dem handelbaren Kunstwerk, sondern mit der Bildung von Referenzsystemen, in denen Produktionsvorgänge ebenso Faktoren sind wie künstlerische Entscheidungen. In der digitalen Kultur regulieren Algorithmen das stetig wachsende Volumen an Informationen, wobei die technische Infrastruktur immer mehr Raum einnimmt. Rens Veltman fokussiert in seiner Arbeit auf die Anfänge solcher Prozesse und macht sie transparent. Genau darin liegt die Leistungsfähigkeit seines Modells.
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500 Rosen oder: Die Tage des Klopapiers und des Konjunktivs Landvermessung No. 6, Sequenz 6 Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Anna Weidenholzer musste wegen der Corona-Reisebeschränkungen zu Hause bleiben, weil die Länge eines Babyelefanten einen nicht viel weiter bringt als in den nächsten Park. So nutzte sie die Zeit nicht nur dafür, in den stillen Himmel zu schauen, sondern suchte nach der Welt vom Schreibtisch aus.
18. März 2020, 10:32 Uhr, Wien: Ich lege meine Wege öfters so, dass ich an einem Globus vorbeigehe, der im Schaufenster eines Altwarenhändlers steht. Er ist kleiner als ein Kopf, man könnte mühelos die Welt in Händen halten, wäre nicht das Glas zwischen uns, das uns trennt. In diesen Tagen gehe ich viel auf vertrauten Wegen. Die Löwengasse hinauf, die Rasumofskygasse entlang, die Marxergasse hinunter. Die Tage sind hell und der Frühling legt sich freundlich über die Stadt. Eineinhalb Monate ist es her, dass ich in Berlin in der Ausstellung von Marianne Strobl war. Eineinhalb Monate, die sich wie eineinhalb Jahre anfühlen, oder noch viel länger. Damals in Berlin hatte ich kurz zuvor eine Nachricht aus Hongkong bekommen. „Due to the current health crisis in relation to the novel coronavirus, I regret to inform you“ – seit Monaten hatte ich auf Hong Kong Free Press die Proteste in Hongkong verfolgt, ich hatte damit gerechnet, dass mein Aufenthalt abgesagt werden könnte, an ein Virus hatte ich nicht gedacht. Jetzt sah ich auf meinem Telefon Bilder von Menschen, die stundenlang Schlange standen, um Masken zu kaufen. Masken, die den Demonstrierenden der Demokratiebewegung ein paar Wochen vorher noch verboten worden waren. Ich sah das Foto eines Mannes in China, der die Zufahrt seines Dorfes bewachte, damit sich keine Fremden näherten. Wie aus einem Katastrophenfilm, dachte ich, kurz vor dem Weltuntergang. Ich war mit den Gedanken in Hongkong, als ich auf einer von Strobls Fotografien etwas Vertrautes ent-
deckte: die Marxergasse, mein Grätzel, mein Wien. Zig Männer, mit dem Bau des Kanals beschäftigt, blickten dort vor hundertzwanzig Jahren zu Marianne Strobl, die zugleich Fotografin und Regisseurin war. Strobl gilt heute als erste Industriefotografin der Habsburgermonarchie, mit ihrer großformatigen Holzkamera war sie auf Großbaustellen und in Industriebetrieben unterwegs, sie fotografierte Arbeitssituationen und Spuren davon. Mit perfekter Komposition und Perspektive machte sie gestochen scharfe Aufnahmen vom Wiener Bauwesen um die Jahrhundertwende. Dort, wo heute Autos fahren, war die Marxergasse aufgerissen. Manche Männer hielten Schaufeln, andere legten ihre Hände auf Scheibtruhen ab, alle schauten sie mit ernsten Gesichtern in Richtung Kamera. Aus dem Fenster eines Hauses lehnten sich zwei Jugendliche und beobachteten die Szene. Um dieses Bild zu bekommen, brauchte Strobl absoluten Stillstand, anders ließ sich die emsige Tätigkeit nicht festhalten. Nur ein Arbeiter widersetzte sich ihrer Anweisung, vielleicht hörte er schlecht, vielleicht ließ sich genau in diesem Moment eine Fliege auf seinem Gesicht nieder, vielleicht hielt er nichts von der modernen Technik der Fotografie. Was auch immer passierte, sein Kopf war nur verschwommen zwischen den Holzbalken zu erkennen, die den Kanal stützten. Ich überlegte, ob Strobl ihn verfluchte. Genauso, was aus den Männern wurde: Überlebten sie den Ersten Weltkrieg, starben sie an der Spanischen Grippe, in den Februarkämpfen, was dachten sie, als sie zum ersten Mal von Hitler hörten, verfielen sie der NS-Propaganda, überlebten sie den
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Zweiten Weltkrieg, wie gingen ihre Leben weiter – ich stand lange vor dem Bild. Dieser Moment, den Strobl festgehalten hatte, wo alles zum Stillstand kommt, die Spuren der Betriebsamkeit, die Zukunft, die sich wie ein Schleier über das Bild legt, ließen mich nicht los. 13. März 2020, 16:48 Uhr, Wien: Während ich mich mit der Blumenhändlerin über die bevorstehenden Ausgangsbeschränkungen unterhalte, schaut ein Mann zur Tür herein, er trägt vier Packungen Klopapier. Ich möchte gern fünfhundert Rosen hamstern, sagt er. Ein Schriftsteller, flüstert die Blumenhändlerin, nachdem er gegangen ist. Eineinhalb Monate nach Berlin sind der Stillstand und der Schleier zur Normalität geworden. Es sind die Tage des Klopapiers und des Konjunktivs. Ich wäre Anfang März aus Hongkong zurückgekehrt, ich hätte ein paar Tage in Wien verbracht, bevor ich nach Norditalien gefahren wäre, an den Punkt, wo eine Linie einen Kreis berührt. Über Wochen habe ich immer wieder auf eine Karte geblickt, die mir aus Tirol geschickt wurde, auf die kleineren und größeren Kreise darauf und diesen einen Kreis, der meiner werden sollte. „Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien.“ Das war mein Auftrag. Ich bin eine intuitive Geherin und ich habe Respekt vor Karten. Angemessen gut vorbereitet wäre ich demnach aus dem Zug gestiegen, ich hätte mich zur Pension begeben, die ich gebucht hätte, eine möglichst kleine, ich hätte mich über die Wesensart der Wirtin gefreut, die an solchen Orten meistens Gutes verspricht. Ich wäre gegangen, mehrere Stunden am Tag, ich hätte genau auf die geachtet, die mir begegnet wären, ich hätte mich über den Funken gefreut, der eine Geschichte auslöst und zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits alle Pläne verworfen gehabt, die ich vorab geschmiedet hätte. Aber noch bevor ich dazu kam, mir zu überlegen, wo genau ich starten und in welcher Unterkunft ich unterkommen werde, begannen sich andere Kreise über Italien zu ziehen als die, die ich geschickt bekommen
hatte. Coronakreise, die wir aus China kannten, über Italien, Europa und bald der ganzen Welt. 24. März 2020, 18:00 Uhr, Wien: Auf der anderen Straßenseite wird ein Fenster geöffnet. Ein Mann versucht ein Alphorn hinauszuhalten, er bemüht sich, an den Blumentöpfen vorbeizukommen. Es sind nicht nur die Tage des Klopapiers und des Konjunktivs, es sind die Tage der Orte, an die wir nicht können. In Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen schreibt Georges Perec: „Wenn man nur ein einziges Detail betrachtet, zum Beispiel die Rue Férou, und dies ausreichend lange (ein bis zwei Minuten), so kann man sich ohne die geringste Schwierigkeit vorstellen, man befände sich in Étampes oder in Bourges oder sogar irgendwo in Wien (Österreich), wo ich übrigens nie war.“ Ich denke öfters an Perec in diesen Tagen, wenn ich meine immer gleichen Runden gehe, nicht nur, wenn ich gern woanders wäre. In Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen beschäftigte er sich mit den Mikroereignissen des Alltags, „was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken“. Im Oktober 1974 saß Perec an drei aufeinanderfolgenden Tagen in Cafés rund um den Place Saint-Sulpice und beobachtete von dort aus den großen Platz, er notierte alles, was er sah, Aufzählungen von Tauben, vorbeieilenden, verweilenden Menschen und 111 Autobussen, die dem Text einen einmaligen Rhythmus geben. Perec interessierte nicht das Außergewöhnliche, das „extra-ordinaire“, sondern das scheinbar Belanglose, „l’infra-ordinaire“, wie er es nannte. Nicht, was in den Zeitungen steht, sondern das, „was wirklich geschieht, das, was wir erleben, das Übrige, alles Übrige“. Auf meinen Spaziergängen im Prater begegne ich in den ersten Coronatagen weit mehr Menschen als sonst. Eine alte Frau lacht mich aus, als ich zuerst einem Kinderwagen und dann ihr ausweiche, sie schüttelt den Kopf, den Blick zu ihrem kleinen langen Hund gewandt. Ich treffe mitten im Wald auf singende Menschen, die allein unterwegs sind, unzählige Bärlauchpflückende, Zweigeschneidende, zwei Frauen in Fitnesskleidung, die mit ernsten Gesichtern zu griechischer Musik Synchrontanz ausüben. Ich halte nach
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der siebzigjährigen Blumenhändlerin Ausschau, die mir erklärte, es sei ihr schon sehr leid, dass sie während der Ausgangsbeschränkungen nicht zum Line Dance könne. Ich sehe sie nicht. Aber immer wieder Hunde, die verloren wirken. Sie stehen im Wald und starren konzentriert geradeaus, wie Marianne Strobls Männer in der Marxergasse. Der Alltag ist ein anderer geworden und mit ihm der öffentliche Raum. Als ich vier Jugendlichen begegne, die sich zur Begrüßung umarmen, erschrecke ich über die Geste und hoffe, dass sie niemand gesehen hat. Ich hoffe, dass niemand die Polizei ruft, wenn sich Menschen zur Begrüßung umarmen. 30. März 2020, 19:12 Uhr, Wien: Auf die Fenster einer Wohnung im dritten Stock hat jemand Buchstaben geklebt: Alleluia, steht auf dem ersten Fenster. Alleluia, auf dem zweiten. Wir alle sind Meisterinnen des Abstands geworden. Das Gemeinsame ist das Einsame, solidarisch ist, wer sich zurückzieht und sich isoliert. Eng ist es trotzdem in der Stadt, es fällt schwer, stets einen Babyelefanten zwischen sich und anderen Personen zu lassen, wie uns geraten wird. Die geschlossenen Bundesgärten machen es nicht einfacher. Die wenigsten in Wien haben einen Balkon, noch weniger einen Garten, etwa eine Million lebt in dicht bebauten Verhältnissen. Dass es sich in kleineren Parks umso mehr drängt, wenn die großen Grünflächen der Stadt gesperrt werden, liegt auf der Hand. Hinausgehen, um „frische Luft zu schnappen, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt“, davon ist in Pressekonferenzen der Bundesregierung oft die Rede. Warum sie dann in Zeiten einer Pandemie große Grünflächen sperrt und damit in einer Großstadt unweigerlich noch mehr Leute auf noch weniger Fläche zusammenbringt, ist mir bis heute ein Rätsel. Erst am 14. April, als Geschäfte mit weniger als 400 Quadratmetern wieder öffnen dürfen, wird es erlaubt, durch den 160 Hektar großen Schönbrunner Schlosspark zu spazieren. Was Machtrausch in Krisenzeiten bedeutet, zeigt auch die Geschichte um den Integrationsfonds: Kurz vor Ostern verschickt dieser im Auftrag der Integrations-
ministerin Info-SMS an Menschen mit Migrationshintergrund. Von den fünf gesetzlich geregelten Anlässen, die es erlauben, während der Ausgangsbeschränkungen das Haus zu verlassen, werden darin allerdings nur drei erwähnt: Arbeit, dringende Einkäufe oder Arztbesuche. Verschwiegen wird das Spazierengehen. Dafür findet sich Platz für den Hinweis, dass bei Verstößen hohe Strafen drohen. Das alles wird bald Schnee von gestern sein. Aber mehr und mehr lässt mich in diesen Tagen das Gefühl nicht los, dass die Pandemie zur Geschichte zweier Österreichs wird: Da ist das Österreich, das zu Hause im Homeoffice sitzt und nach der Krise höchstwahrscheinlich seine Jobs behalten wird, das in zehn Jahren Geschichten von Klopapierhamsterkäufen erzählen wird oder wie wir damals so nett für die Leute klatschten, die das System aufrechterhielten. Und da ist das Österreich, dessen Kinder genauso wie alle anderen von zu Hause lernen sollten, nur dass sie keinen Computer für ihre Schulaufgaben haben, vielleicht nicht einmal einen ruhigen Platz in der Wohnung, oder auch keine Eltern, die sie dabei unterstützen, weil sie nicht ausreichend Deutsch können – und von offizieller Seite noch dazu falsch über ihre Rechte informiert werden. Sie werden es nachher noch schwerer auf dem Arbeitsmarkt haben. Viele der Systemerhalter, von denen nun so häufig die Rede ist, sind Frauen in schlecht bezahlten Jobs. Es ist nicht lange her, dass Pflegerinnen aus Osteuropa mit der Reduktion der Kinderbeihilfe, einer wichtigen Ergänzung zu ihrem ohnehin viel zu geringen Gehalt, signalisiert wurde: Ihr seid in Österreich nicht unbedingt erwünscht. Jetzt werden sie eingeflogen, weil ohne sie die Versorgung der Seniorinnen und Senioren in unserem Land nicht gewährleistet werden kann. 09. April 2020, 12:47 Uhr, Wien: In Belgien gehen seit Ausbruch der Coronakrise vermehrt Anrufe an die UFO-Meldestelle ein. Das sei naheliegend, sagt der Leiter der Meldestelle, die Menschen seien zu Hause und hätten mehr Zeit, in den Himmel zu schauen. Es ist viel von der Zukunft die Rede in diesen Tagen: wann welche Maßnahmen gelockert werden, wann uns
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wieder was erlaubt sein wird, wie tief die Rezession sein wird, in die wir fallen, wie das Virus Gesellschaften und politische Systeme umkrempeln wird, wie wir aus der Krise hinausgehen werden. Zur Zukunft gibt es zig Fragen und noch viel mehr Antworten, keiner weiß, wie die Welt nachher aussehen wird. Corona hat die neoliberale Logik zumindest durchbrochen, die Rettung von Menschenleben vor Profit gestellt. Aber wie es danach sein wird? „Ich bin Optimist durch und durch, aus Temperament und aus Prinzip. Aus Temperament – dafür gibt es weder Vorwurf noch Entschuldigung, aus Prinzip, weil ich glaube, bemerkt zu haben, dass nur der Optimismus was zuwege bringt. Der Pessimismus ist seiner Natur nach impotent“, schrieb Viktor Adler 1890 an seinen Bruder. Wir sind füreinander da, wie 2015 schon, als sich die Zivilgesellschaft um die Versorgung der Geflüchteten kümmerte. Wir achten aufeinander, wir gehen für Risikogruppen einkaufen, wir stellen einander Kuchen vor die Tür. Auch das ist eine wertvolle Erfahrung aus den Coronatagen: Der Nachbar kann hervorragend backen. Aber an vielen Tagen fällt es schwer, optimistisch zu sein. Nicht nur wegen der Pandemie selbst, den steigenden Todeszahlen, die bald zum Alltag gehören. Nein, auch wegen der massiven politischen Eingriffe, die der Ausnahmezustand ermöglicht und die zum Normalzustand werden könnten, man braucht nicht nur nach Ungarn zu blicken – wofür wir alle Zeit hätten –, wo das Parlament ausgeschaltet wurde und es viel zu still dazu ist. Plötzlich leben wir in einem Europa, das von Grenzen durchzogen ist, wo sich jeder selbst der Nächste ist. Und das Denken in Grenzen und Nationalitäten bekommt der Welt nicht gut. Irgendwann werden wir erzählen, was damals im 20er Jahr geschehen ist. Jetzt stehen wir vor dem Punkt, wo wir entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Denn selbst wenn alles wieder zur Normalität zurückkehrt, wird es anders sein als zuvor. Wir werden einander lange Zeit nicht umarmt haben. 10. April 2020, 18:57 Uhr, Wien: Auf einem Fenster im Erdgeschoß hängt eine Zeichnung von einem Regenbogen, in bunten Buchstaben ist zu lesen: Wir bleiben zu
Hause ALLES WIRD GUT. Daneben eine Ergänzung in Kinderschrift: Das ist richtig. Zwischen den Lemurenköpfen von Franz West ist einer meiner liebsten Plätze in Wien. Stehe ich hier auf der Stubenbrücke und schaue auf den Stadtpark und das InterContinental Hotel, fühlt es sich an, als wäre ich in Warschau und Paris zugleich. In Woche zwei der Ausgangsbeschränkungen bleibe ich lange: Die Fenster des Hotels sind in Herzform beleuchtet. Jemand muss von Zimmer zu Zimmer gegangen sein, Stock für Stock das Herz zum Leuchten gebracht haben. Ich möchte nicht an eine automatische Steuerung glauben, die so etwas könnte. Es muss ein Mensch gewesen sein. „Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen immer neue Wasser zu und (immer neue) Seelen entsteigen dem Nass“, auf einer verwaschenen Tafel hinter mir ein Zitat von Heraklit. Schaue ich nach rechts, ist es nicht weit bis zu den Blumenständen am Ring, die mich jedes Mal an H. C. Artmanns wunderschönes Liebesgedicht alanech fia dii denken lassen, von einem, der sich in ein Standl voll Tulpen und Rosen, voll trauriger Astern und Nelken verzaubert: „und ima hed e daun offm / und ima ded e daun woatn / auf da belarea oda bein e-wong / oes wia r a lewentecha goatn / und nimoes schberad e zua“. Jetzt sind hier keine Blumen mehr. Die Kaffeehäuser sind geschlossen, die Türen des Gartenbaukinos bleiben zu. Aber der erste Bezirk ist immer noch hier, mit all der Geschichte, die er an jeder Ecke atmet, und wo es mir nach Jahren in Wien immer noch passieren kann, dass ich plötzlich an einer anderen Stelle herauskomme als gedacht. Ich gehe gerne hier, nachts, wenn die Gassen leer sind, untertags zwischen all den Touristinnen und Touristen fühlt es sich wie Urlaub an. Jetzt sind sie nicht mehr hier. Ich vermisse die Menschen aus aller Welt, ihre Telefone und Fotoposen, ich vermisse die Sprachen. Nach drei Coronawochen vermisse ich sogar die Menschen vor dem Hundertwasserhaus, die ansonsten in meinem Grätzel den Weg blockieren. Am 14. März traf ich dort auf das letzte Touristenpärchen, es stand in Funktionskleidung vor dem Bäcker, der Mann faltete einen Stadtplan, die Frau schaute auf
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die Straßenbahngleise. Sie wirkten seltsam aus der Zeit gefallen. Ich vermisse die Welt, die bloße Möglichkeit, einander zu begegnen. 12. April 2020, 20:00 Uhr, Wivenhoe / Wien: Es könnte sein, dass Freddie Mercury im Körper meines Neffen wiedergeboren wurde. Es ist Sonntagabend, mein siebenjähriger Neffe gibt in seinem Kinderzimmer in England ein Konzert. Er liebt Freddie Mercury und Flugzeuge, kennt Flugzeugtypen und Flughäfen, von denen ich noch nie gehört habe. Seit er sprechen kann, beschäftigen ihn das Fliegen und die Welt. Er hat eine Airline gegründet, Superbird heißt sie. Er kennt die Flughäfen mit den kürzesten Landebahnen, die gefährlichsten Landeanflüge, er weiß, an welchen Orten man Vorsicht walten lassen sollte. Vor einigen Jahren las ich bei Helen Macdonald: „Flugzeuge hatten Flügel. Sie flogen und flohen, und wer sie kannte, beobachtete und ihre Bewegungen verstand, konnte ebenfalls irgendwie fliegen und fliehen. Wer die Tupolew 104 abheben sah, wusste, dass sie Grenzen überfliegen würde, die man selbst nur in der Fantasie überwinden konnte. In ein paar Stunden wird sie auf einem verschneiten sowjetischen Flugfeld landen. Oder auf irgendeinem anderen der vielen Tausend. Beim Beobachten der Flugzeuge fliegst und fliehst du mit ihnen. Sie erweitern deine kleine Welt und breiten sie über die Meere aus.“ Ich markierte die Stelle für spätere Jahre. Mein Neffe war damals zu klein, um das zu verstehen, aber im Grunde machte er schon mit drei Jahren nichts anderes. Jedes Mal, wenn wir ein Flugzeug am Himmel sahen, verlangte er, man möge bitte sofort nachschauen, wo es hinfliege und woher es komme. Es ging nicht nur um das Technische, sondern auch darum, wer mit wem verbunden ist. Das Virus, das sich über die Welt gelegt hat, hat uns voneinander isoliert. Wir alle sind eingeschränkter geworden, wir leben in Nationalstaaten, wie wir es vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten hätten. Wir leben mit Grenzen, mit der Ungewissheit, wann wir wieder wohin reisen können, wann es uns mög-
lich sein wird, unsere Familien, unsere Freundinnen und Freunde wiedersehen zu können. Tröstlich ist an dieser Situation einzig der Himmel, der still geworden ist und endlich seine Ruhe bekommt, weil die CO2Emissionen zumindest für eine Weile sinken. Aber es darf uns nicht verloren gehen, dass wir außerhalb unserer Grenzen denken. Nach der Phase des Einsamen braucht es das Gemeinsame, sonst verlieren wir unsere Menschlichkeit, Nationalismus ist das zweite Virus, das uns droht. Eine österreichische Solidarität wird nicht genügen, ja, nicht einmal eine europäische. Es braucht eine globale Solidarität, denn wenn uns Corona etwas gezeigt hat, ist es, wie verbunden wir alle miteinander sind. Dazu noch eine Geschichte: Als Premier Modi in Indien Ende März abrupt eine Ausgangssperre verordnete, haben sich Millionen arbeitsloser Wanderarbeiter auf den Weg in ihre Heimatdörfer gemacht. Hunderte Kilometer gehen sie zu Fuß, weil keine Busse mehr verkehren, kommt doch einer, versuchen zig Menschen, sich oder zumindest ihre Kinder hineinzuquetschen. Die Verordnung, die physischen Kontakt vermindern sollte, hat das Gegenteil bewirkt. Arundhati Roy sprach mit den Frauen, Männern und Kindern auf ihren Märschen, ihr sehr empfehlenswerter Artikel The pandemic is a portal erschien Anfang April in der Financial Times. Alle Interviewten hatten Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19, aber noch mehr fürchteten sie die Arbeitslosigkeit, den Hunger und die Polizeigewalt. Zwei Sätze des Tischlers Ramjeet, der 700 Kilometer Fußmarsch vor sich hatte, gehen mir seither nicht mehr aus dem Kopf: „Vielleicht hat ihm niemand von uns erzählt, als Modi beschlossen hat, das zu tun. Vielleicht weiß er nichts von uns.“ „Uns“, schreibt Roy, „bedeutet ungefähr 460 Millionen Menschen.“ 09. April 2020, 12:40 Uhr, Wien: Die Nachbarin unterhält sich mit ihrem Partner über das Tragen von Masken. Ich schneide Zwiebeln und höre im Radio, dass Saudi-Arabien einen Waffenstillstand im Jemen verkündet. Erstmals verstehe ich ein Wort auf Arabisch: Corona.
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Das Lied, das nie gesungen wird Was verbindet Kehlkopfgesänge der Inuit mit rituellen Gesängen in der Südsee und alpinen Jodlern? Von Raymond Ammann
Die Hände vor die Augen gedrückt, saß die ältere Tschuktschen-Frau im kleinen Flugzeug mir gegenüber, als wir von Prowidenija auf der nordöstlichsten Halbinsel Asiens auf die St.-Lawrence-Insel im Beringmeer flogen. Meteorologen sagen, dass hier das Wetter des gesamten Planeten entsteht – auf diesem Flug konnten wir das fühlen. Das kleine Zweipropellerflugzeug wurde durchgeschüttelt, wie ich das noch nie erlebt hatte. Ich mag das gar nicht, doch was soll es nützen, die Augen mit den Händen zuzudecken, wenn das Rütteln und Schütteln am ganzen Körper gefühlt wird? Dennoch erkannte ich im Verhalten dieser älteren Dame eine Parallele zu den Lebensverläufen der Menschen. Ob wir die Augen offen oder geschlossen halten, wir sehen nicht, was auf uns zukommt und Erschütterungen fühlen wir erst, wenn sie da sind. Auch wenn wir mit offenen Augen unseren Lebensweg planen, kommt es vielfach anders, als wir denken. Polarregion Ich war damals in der Arktis unterwegs, um eine Feldforschung im Rahmen meines Dissertationsvorhabens durchzuführen. Nur wenige Musikethnologen führen Feldforschungen in dieser kalten Gegend durch. Mich hat es nach Alaska gezogen, da ich dort meine beiden Leidenschaften Schlittenhunde und Musik verbinden wollte. Vor dem Aufenthalt stellte ich mir vor, mit dem Aufnahmegerät auf dem Hundeschlitten zu den Musikveranstaltungen zu reisen und dort Film- und Audioaufnahmen zu tätigen. Nun, ich konnte in Alaska sehr interessante Tänze und Musik aufnehmen und hatte Schlittenhunde, mit denen ich unterwegs war. Meine musikethnologischen Untersuchungen hingegen fanden hauptsächlich in Sibirien statt. Auch wenn das Beringmeer dazwischen über mehrere Monate im Winter zugefroren ist, kann es nur schwerlich mit dem Hundeschlitten überquert werden. Als eine Folge der Glasnost-Bewegung war es zu Beginn der 1990er Jahre für Westeuropäer und Amerikaner erstmals möglich, von Alaska – quasi durch die Hintertür – nach Sibirien zu reisen. Im ersten Flugzeug, das von Nome in Alaska nach Prowidenija auf der Tschuktschen-Halbinsel flog, saß eine Fotografin,
die für eine Reportage im Auftrag des National-Geographic-Magazins unterwegs war. Auf ihrer Rückreise nach Alaska verbrachte sie ein paar Tage auf der St.-Lawrence-Insel, zwischen Asien und Amerika, wo sie mir über die besonderen Gesangsarten der Frauen auf der Tschuktschen-Halbinsel berichtete. Der Klang soll ganz tief in der Kehle gebildet werden und von sehr gutturalem Kolorit sein. Ich war vertraut mit dem kattajaq (throat singing oder Kehlengesang) der Inuit in Kanada. Dass auf der Tschuktschen-Halbinsel solche oder ähnliche Gesangsarten existierten, wusste man im Westen nicht, da keine europäischen oder amerikanischen Forscher dorthin reisen konnten, und einen Austausch mit russischen Forschern gab es damals keinen. Ich wollte mir selbst ein Bild von diesen Gesängen auf der TschuktschenHalbinsel machen und kehrte zurück auf das alaskanische Festland, um von Nome nach Prowidenija, dem neu eröffneten und nun internationalen Flughafen zu fliegen. Von dort wollte ich nach Sireniki weiterreisen, dem Ort, wo die Sängerinnen zuhause waren. Nun, das hat alles mehr oder weniger gut geklappt und einige Wochen später gelangen mir verschiedene Aufnahmen dieses Gesangs, der pic-eine’rkin genannt wird. Der Name in der Tschuktschen-Sprache meint so viel wie „Klänge mit der Kehle bilden“. Pic-eine’rkin wird aber nicht nur von den Tschuktschen-, sondern auch von den Yupik-Frauen praktiziert und sehr oft auch gemeinsam. Die sibirischen Yupik und die Küstentschuktschen teilen sich nicht nur denselben Lebensraum, sondern auch ihre ursprüngliche Wirtschaftsform (Fischfang und Jagd auf Meeressäugetiere) und Teile ihrer Kultur – außer der Sprache. Die Sprachen der Yupik, Inuit und der Bewohner der Aleuten gehören zur eskimo-aleutischen Sprachfamilie und Menschen dieser Sprachfamilie wurden gemeinhin Eskimo genannt. Der Name Eskimo wird von den Inuit in Kanada und Grönland als Schimpfwort verstanden und entsprechend wird heute vielfach der Begriff Eskimo durch den politisch korrekten Begriff Inuit ersetzt. Die beiden Begriffe Inuit und Eskimo sind aber nicht deckungsgleich, da Inuit nur für die in Kanada und Grönland lebenden Menschen steht und die Yupik in Alaska und Sibirien, die zur selben Sprachfamilie gehö-
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ren, ausschließt. Zudem ist mir öfters untergekommen, dass sich die Yupik mit Stolz Eskimo nannten. Neben einigen Inuit in Kanada und den Tschuktschen / Yupik im äußersten Nordosten Asiens wurden ähnliche Gesangstechniken auch von den im Norden Japans und in angrenzenden russischen Gebieten angesiedelten Ainus praktiziert. Die letzten Sängerinnen dieser Gesangsart, die rekkukara genannt wird, starben zu Beginn der 1970er Jahre. Basierend auf den wenigen existierenden Aufnahmen wird versucht, diese besondere Gesangsart wiederzubeleben. In den drei Regionen, die alle im „hohen“ Norden, aber tausende Kilometer auseinander liegen, wird diese Gesangstechnik nur von Frauen praktiziert und es handelt sich in allen drei Gebieten um ein Spiel oder einen Tanz. Lässt sich die Verteilung dieser einzigartigen Gesangstechnik durch die vor tausenden von Jahren stattgefundene Migration von Asien nach Amerika, Kanada, Grönland erklären, oder haben sich diese Gesangsarten jeweils unabhängig voneinander so entwickelt? Dieser Frage bin ich in meiner Dissertation nachgegangen, konnte sie aber nicht abschließend beantworten. Südsee Nach meiner Zeit in der Polarregion ergab sich für mich die Gelegenheit einer musikethnologischen Forschung in der Südsee. Aus geplanten sechs Monaten wurden 15 Jahre. Zu den Forschungsgebieten zählten Neukaledonien, Vanuatu und Papua-Neuguinea. Der Schwerpunkt lag bei diesen von den lokalen Kulturzentren gewünschten Untersuchungen hauptsächlich auf einer Bestandsaufnahme der Tänze und der Musik auf diesen abgelegenen Südseeinseln. Mich interessierte bei diesen Untersuchungen speziell die Bedeutung der Musik in Ritualen und Zeremonien. Menschen einiger Regionen auf den Inseln widersetzten sich einer Missionierung und verzichten noch heute weitgehend auf „westliche“ Güter. Ihre Glaubensvorstellungen können grob als animistisch (Beseeltheit der Natur) mit Ahnenverehrung bezeichnet werden. Andere Inselbewohner gehören „offiziell“ einer christlichen Glaubensgemeinschaft (katholisch, presbyterianisch, Church of Christ u. a.) an, doch die Ahnenverehrung und der Glaube an Ahnengeister nehmen auch bei ihnen einen wichtigen Bestandteil im täglichen Leben ein. Alle Bewohner dieser melanesischen Inseln erklären sich sowohl die mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbare Welt als auch die „Welt im Geiste“ anhand
von Mythen, in denen die verstorbenen Vorfahren als Protagonisten erscheinen. Diese Vorfahren können – auch wenn sie gemäß den Mythen verstorben sind – in anderen Daseinsformen weiterhin auf das Geschehen ihrer lebenden Nachfahren Einfluss nehmen. Die Verbindung der Menschen zu ihren Lebensgefährten reißt nach dem Tod nicht ab, vielmehr können die Lebenden durch bestimmte Rituale eine Verbindung zu den verstorbenen Ahnen aufbauen und dazu dient in den meisten Fällen Musik. Gesänge mit der Funktion, Ahnengeister anzurufen, werden nicht in einer alltäglichen Sprache gesungen, sondern in der Sprache der Ahnengeister, die von der allgemeinen Bevölkerung nicht verstanden wird. Auf den Banks-Inseln, im Norden Vanuatus, besitzen einige Menschen die Fähigkeit, von den Ahnengeistern Gesänge zu empfangen, und nur diese Personen – in den meisten Fällen Männer – verstehen die Sprache der Ahnengeister. Alle anderen Inselbewohner kennen die Texte solcher Lieder nicht. Die Texte werden auch nicht in eine für alle verständliche Sprache übersetzt, dann die Notwendigkeit des Bewahrens von Geheimnissen spielt hier eine wichtige Rolle. Kennt jemand diese Sprache, so gibt er dieses Wissen nicht an andere weiter – er würde so seine besondere Stellung als Verbindungsglied zwischen den Lebenden und den Ahnengeistern aufgeben und sein Prestige in der Gesellschaft verringern. Geheimhaltung von esoterischen Erkenntnissen ist essentiell in Kulturen, in denen nicht geschrieben wird, denn speziell wenn das esoterische Erkenntnis in Verbindung mit den Ahnengeistern steht, bringt es dem Wissenden enormes Prestige. Um sich solches Prestige aufzubauen, werden teilweise große Anstrengungen in Kauf genommen. Auf vielen Inseln in Vanuatu gipfeln im Zentrum aktive Vulkane und Erdbeben sind keine Seltenheit. Als im Jahr 2000 die Insel Pentecost von einem starken Erdbeben erschüttert wurde, haben sich anschließend zwei ältere Herren von dieser Insel dazu bekannt, dieses Erdbeben verursacht zu haben und gingen dafür ein Jahr ins Gefängnis. Nach ihrer Freilassung war ihr Prestige und der Respekt, den die Inselbevölkerung ihnen entgegenbrachte, enorm gestiegen, denn wer ein Erdbeben verursachen kann, muss eine starke und tiefe Beziehung zu den Ahnengeistern haben. Um Prestige zu erlangen und zu halten, müssen Personen die Gelegenheit haben, ihre Mitmenschen zu überzeugen, dass sie über Wissen und Macht – zum Beispiel
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in Form von Gesängen – verfügen. Gleichzeitig sind sie gezwungen, ihr geheimes Wissen zu behüten, so dass es nicht von anderen übernommen werden kann – zum Beispiel durch das Nachsingen dieser Gesänge. Solche rituellen Gesänge könnte jeder Zuhörer und jede Zuhörerin nachsingen und so ebenfalls eine Beziehung zu den Ahnengeistern aufbauen. Damit dieser „geheime“ Inhalt durch das Singen nicht an die Öffentlichkeit gelangt und die Gesänge ihren esoterischen Status verlieren würden, werden sie in einer nicht alltäglichen und für die Inselbewohner unverständlichen Sprache gesungen, wie zum Beispiel die Gesänge in der Sprache der Ahnengeister. Kraftvolle Gesänge, mit denen der Sänger oder die Sängerin Einfluss auf das Handeln der Menschen nehmen kann, können auch durch andere Regelungen „geschützt“ sein. Auf den Inseln Vanuatus wird der Zauber, der bewirkt, dass sich eine gewünschte Person in einen verliebt, als massing bezeichnet. Liebeszauber gehört in Melanesien zum täglichen Leben, so auch auf der Insel Ambrym, die allgemein den Ruf hat, dass deren Bewohner sehr wirksam mit solchen Kräften umgehen können. Von dort stammt das Lied mit dem Titel rembeng (Körper), in dessen Liedinhalt davon ausgegangen wird, dass der Sänger bei einer Menschenversammlung (Markt, Feier) singt. Der Inhalt lässt sich in folgenden Worten zusammenfassen: Mein Körper ist der beste und der schönste – schau, die beiden Mädchen da drüben, wenn ich sie anlächle und singe, werden sie zu mir kommen. Dieses Lied wird in einer der alltäglichen Sprachen der Insel gesungen und kann von jeder Person dieser Sprachregion verstanden und nachgesungen werden, und somit könnte jeder Mann und auch jede Frau in den Besitz dieses Liebeszaubers kommen, wenn die Kraft in den Worten oder der Melodie liegen würde. Das ist aber nicht der Fall, das Lied kann von allen gesungen werden, sein Liebeszauber wird sich aber nur entfalten, wenn der Sänger oder die Sängerin ein bestimmtes Baumblatt im Mund hält. Die Melodie kann ebenso auf der Bambus-Kerbflöte pao-bleeblabo nachgespielt werden und auch hier wird die Kraft erst dadurch ausgelöst, dass der Flötenspieler oder die Flötenspielerin dieses Blatt im Mund hält. Das Geheimnis, welcher Baum dieses Blatt liefert, muss von einem Geheimnisträger durch eine bestimmte Anzahl von Schweinen erkauft werden. Das Demonstrieren vor versammelter Menschenmenge, dass man ein Geheimnis kennt, es aber nicht verraten will oder kann, wird an einem Lied auf der Insel
Vanua Lava im Norden von Vanuatu so weit gesteigert, dass es gar nie gesungen wird. Wie kann der Sänger, der ein Lied kennt, das er nicht singen kann, seiner Gemeinschaft trotzdem zeigen, dass er ein solches Lied kennt? Auf der Insel Vanua Lava besitzt eine Familie den Tanz, der kurz Quat genannt wird, wie der Hauptprotagonist des lokalen Mythenschatzes. Der Tanz wird bei Zeremonien aufgeführt, wenn viele Menschen versammelt sind. Der wichtigste Bestandteil des Tanzes ist ein Lied, das aber nicht gesungen, sondern vom Besitzer des Tanzes – und einzigem Kenner des Liedes – nur gedacht wird. Vor dem Tanz instruiert er den Trommler darüber, wie dieser sein Instrument schlagen soll. Danach läuft der Besitzer des Tanzes um den Trommler und denkt sich das Lied, er summt es nicht, sondern denkt es nur. Wenn er seinem Lied in Gedanken nachgeht, kann er den Tänzern, die in zwei Kreisen um ihn und den Trommler tanzen, die Schrittwechsel nicht anzeigen, die natürlich auch nur er kennt. Die Tänzer kennen weder das Lied noch dessen Inhalt, sie wurden nur darüber informiert, wie die Tanzschritte auszuführen sind. Um den Tänzern den Moment des Schrittwechsels kommunizieren zu können, läuft der Sohn des Tanzbesitzers hinter ihm her. Mit einem Kopfnicken zu seinem Sohn zeigt er ihm an, dass dieser nun durch einen Pfiff das Zeichen für den Schrittwechsel an die Tänzer geben soll. Der Tanz dauert etwa eine Stunde und Besucher, die nicht wissen, um was es sich hier handelt, werden die Choreographie wahrscheinlich sehr monoton finden. Versteht man aber die Art und den Sinn der Behandlung von Geheimnissen, gewinnt der Tanz an Bedeutung. Durch diese Art der Vorführung kann der Besitzer des Tanzes sein Wissen behalten, in Verbindung zu den Ahnengeistern treten, und er hat dabei die Gelegenheit, der Gemeinschaft seine besondere Stellung als Wissensbewahrer zu bestätigen. Nur der Besitzer des Tanzes kennt das Lied und er wird es an seinen Sohn weitergeben. Dieser Akt der Vermittlung findet an einem abgelegenen Ort im Wald statt, wo niemand mithören kann. Nicht nur Lieder können Geheimnisse in Bezug zu den Ahnengeistern beinhalten, sondern auch instrumentale Musik, die bei Ritualen als Stimmen der Ahnengeister wahrgenommen werden. Diese Stimmen der Ahnengeister können so kraftvoll sein, dass sie den Zuhörern schaden können. Diese Stimmen werden auf verborgenen Instrumenten hervorgebracht, die nur Eingeweihte – erfahrene ältere Männer – kennen und spielen
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können. Bei einer „Tanzvorführung“ im Südosten der Insel Malakula wird vor der Aufführung eines Tanzes mit großen dichten Kokosnusspalmblättern ein kleiner Raum gebildet, in den man nicht hineinsehen kann. Vor der Tanzvorführung begeben sich zwei Männer mit kleinen Paketen in diesen Raum, der vielleicht 2 × 2 Meter misst. Für die Vorführung tanzen oder laufen Männer mit Kopfbedeckungen, die Ahnengeister darstellen, und mit aus großen Kernen hergestellten Rasseln an den Füßen singend um diesen kleinen Raum. Nach einer Weile lässt sich ein sonderbarer Klang hören, der sanft durch die laute Musik der Rasseln und den Gesang der Tänzer dringt. Dieser Klang „ist“ für die Inselbewohner die Stimme eines Ahnengeistes, die so kraftvoll ist, dass sie für Nichteingeweihte schädlich sein kann. Deswegen wird dieser Klang durch den Gesang und die Rasselgeräusche der Tänzer so „verwässert“, dass er für die Zuhörer nicht mehr schädlich sein kann. Der Tanz selbst steht nicht in Bezug zu diesem Ahnengeist, er hat ausschließlich die Funktion, die Stimme des Ahnengeistes zu „verdünnen“. Durch Ritualmusik und rituelle Gesänge in Melanesien können Ahnengeister herbeigerufen werden und gleichzeitig stellen sie Stimmen der Ahnengeister dar. Einerseits wird durch diese Möglichkeit der Verbindung zu den Ahnengeistern die Bevölkerung in ihren Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen bestätigt, andererseits dienen solche Gesänge dazu, der Gemeinschaft zu zeigen, dass der Sänger oder die Familie des Sängers in einem besonderen Verhältnis zu den Ahnengeistern steht oder esoterisches Wissen kennt. Dass mich meine Forschungen in Melanesien zu dieser Erkenntnis führen würden, war nicht vorauszusehen, eröffnete mir aber ganz andere Sichtweisen auf Musik, die sich von der Wahrnehmung und Auffassung von europäischer „Kunstmusik“ gänzlich unterscheiden. In Melanesien muss die Ritualmusik ihre Funktion als Verbindung zu den Ahnengeistern erfüllen, eine Klangästhetik ist Nebensache. Alpen Seit mehreren Jahren lebe ich wieder in Europa und reise so oft es geht in die Südsee, um meine Freunde zu besuchen und teilweise auch, um kleinere Forschungsprojekte durchzuführen. Einige Umstände haben mich vor einigen Jahren dazu geführt, über das Jodeln und das Alphorn zu forschen – Musik, die ich in meinen Jugendjahren eher abgelehnt und belächelt habe. Das Jodeln hat sich aber als sehr spannendes
Untersuchungsgebiet herausgestellt, speziell in einer Gegenüberstellung zu den erwähnten Gesängen der Polarregion und den rituellen Gesängen auf den melanesischen Inseln. Wie bei diesen Gesangsarten fällt auch beim Jodeln dem Text nicht die Rolle zu, einen Inhalt direkt zu erklären, sondern er unterstützt die Funktion des Gesangs. Durch die Textlosigkeit erhält der Jodler eine offenere emotionale Bandbreite. Ganz unterschiedliche Emotionen werden beim Jodeln oder dem Hören eines Jodlers geweckt, die individuell erlebt werden und sich nach der Lebenserfahrung und Emotionalität des Zuhörers respektive des Jodlers oder der Jodlerin ausrichten. Heute wird das Jodeln in seiner gegenwärtigen Popularität als kulturverbindend auf horizontaler (über Länder und Regionen hinweg) als auch vertikaler (über Gesellschaftsgruppen hinweg) Ebene eingesetzt. Dem war nicht immer so, denn speziell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den Zeiten der Weltkriege, sollte das Jodeln als Identitätsmarker für „germanisches Kulturgut“ herhalten und wurde instrumentalisiert, um damit einen kulturellen Abstand zu den Kulturen nicht jodelnder Alpenbewohner aufzuzeigen. Diese Instrumentalisierung für politische und ideologische Zwecke hat dem Ansehen des Jodelns in der Folge massiv geschadet. In der Nachkriegszeit und bis in die 1980er Jahre galt es als patriotisch, kitschig und wurde vom Großteil der urbanen Bevölkerung sogar belächelt. Das hat sich seit den 1990er Jahren vielleicht durch das Aufkommen der world music und der Neuen Volksmusik geändert. Jodlerinnen und Jodler sind gerne bereit, ihr Können und Wissen in Workshops und Seminaren weiterzugeben – auch über die Landesgrenzen hinweg. Jodeln nimmt heute eher eine Stellung als kulturelle Bastion gegen ein erneut aufkommendes nationalistisches Denken ein und da es ganz vielfältige Emotionen auslösen kann, stehen die Jodler und Jodlerinnen mit Kopf und Herz hinter ihrem Gesang. Wie die ältere Tschuktschen-Frau im Flugzeug über dem Beringmeer die Augen verdeckte, um nicht sehen zu müssen, was kommen wird, so können wir nicht in die Zukunft sehen. Unsere Zukunft bleibt ein Geheimnis und wir wissen nicht, wohin sie uns führen wird, doch was dieser kurze Text hier hervorheben soll, ist die Tatsache, dass überall interessante Fragestellungen und Aufgaben entdeckt werden können. Wenn wir sie erkennen und ihnen nachgehen, können sie unser Leben und unseren Geist bereichern.
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„Gestohlene Buchstaben“ / „ … und nun das Wetter“
Auf den Seiten 70–79 ist eine Arbeit von Anneliese Schrenk zu sehen, die uns dazu folgenden Text geschickt hat:
„Bilder und Wörter .... herausgerissen und gestohlen aus Filmen, aus Büchern, aus Prospekten, aus dem Internet, aus dem täglichen Leben ... Teile aus zwei Serien ... Teilinformation aus zwei Serien ... zusammengeklebt auf 5 Doppelseiten ... Wörter geschrieben, als ob jemand zu schreiben beginnen würde ... als ob jemand nicht schreiben kann ... mit links ... obwohl rechts domestiziert ... eine Kopfschablone über Bilder gelegt ... über andere Menschen gelegt ...... über Tiere gelegt ....... über Steine gelegt .. in ein Buch gelegt .. über den Screen gelegt .. auf den Tisch gelegt .. diese
Bilder teilweise wieder über Bilder gelegt ........... gibt es Sender*innen? ... gibt es Empfänger*innen? ... wo ist das Medium? ... wo ist die Botschaft? ........... wer spricht? ... aus welcher Position? ... mit welchem Hintergrund? ... warum? ... wo ist die Infoquelle? ..... wo Geräusche? ... wo der Stimulus? ..... ist das so eine Scheiß Störungsquelle? .... spricht jemand? .... Signale? ... Transmitter? .... Bilder erzeugen Wörter / Wörter erzeugen Bilder .... gibt es Verstärker? .... wo ist das Ziel? ... noch nie gehört ..... Response! ....“
Serie „Gestohlene Buchstaben“ (seit 2003): „Give me some fucking noodles“, 2019 (S. 70); „This is the one thing. The one thing you must never forget!“, 2019 (S. 71); „So sick of this shit“, 2019 (S. 72); „You will have done nothing …“, 2019 (S. 74); „Are you ready for what awaits us?“, 2019 (S. 79) Serie „… und nun das Wetter“ (seit 2007): „Palmfasersack“, 2019 (S. 73); „Ramsch“, 2019 (S. 75); „Charlie“, 2018 (S. 76); „Tonmaske“, 2018 (S. 77); „Eis“, 2018 (S. 78) Copyright: Bildrecht Wien
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Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte
Über Christine Lavant und verschiedenerlei Anfänge. Eine Nachforschung von Peter Clar
I „Wie schreiben Sie einen Antworttext?“, zwischenüberschriftet oder quasiuntertitelt Markus Köhle seine Frischmuth-Respondenz Froschhut. Tierisches. Poetisches. Verdrehtes und fährt fort: „Sie haben mehrere Bücher der betreffenden Autorin gelesen? Sie haben sich einen Überblick über Leben und Werk verschafft? Sie wohnten einigen Lesungen der Autorin und einigen Vorträgen über die Autorin bei, notierten fleißig und dürfen nun endlich loswerden, was Sie zu sagen haben? Wissen Sie schon, wie Sie beginnen werden?“ Nein, weiß ich nicht, antworte ich, und nicht nur, weil ich die Autorin, um die es hier gehen wird, schon aus biographischen Gründen (sie starb 1973, ich wurde 1980 geboren) nicht lesen hätte hören können, oft, so steht es geschrieben, habe sie ohnehin nicht öffentlich gelesen (und doch, die wenigen Aufnahmen, diese halb leiernde, halb gehetzte, die Versenden ignorierende Stimme; Kindheitserinnerungen an rosenkranzbetende Frauen, an Oma und Uroma). Wüsste ich, wie, ich begänne nicht so ungeschickt (ich sage nur „zwischenüberschriftet“, ich sage nur „quasiuntertitelt“), sondern begänne wie Mayröcker („Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun, nämlich die hingeweinten“) oder wie Lavant („Während ich, Betrübte, schreibe / funkelt in der Vollmondscheibe / jenes Wort, das ich betrachte / seit die Taube mich verlachte“). Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!“ Womit ich endlich beim Thema wäre, womit ich endlich bei jenem Thema wäre, das mir zum einen angetragen wurde, das ich mir zum anderen ausgesucht habe, nein, nicht die Wirklichkeit (und ja, doch die Wirklichkeit, geht es im Schreiben immer auch um Wirklichkeit oder, besser, um das Verfehlen derselben). Gebeten wurde
ich, einen Text zu verfassen, weniger über als vielmehr mit / entlang / um eine Autorin oder einen Autor mit Tirolbezug, der aber, so die Bitte, die Vorgabe, die Aufgabe – („Wenn es Gabe gibt, darf das Gegebene der Gabe […] nicht zum Geber zurückkehren […]. Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden“, schreibt Jacques Derrida.) – nicht zu offensichtlich sein solle. Der Tirolbezug solle also überraschen. Demnach wäre Markus Köhle ein schlechtes Beispiel, dieses Nassereither Urgestein, dieser mit Tiroler Literaturpreisen vielfach ausgezeichnete, dieser Papa-Slam nicht nur Österreichs, sondern Innsbrucks. Zu tirolerisch also, trotz Wienwohnsitzes und Weltgewandtheit, trotz (oder wegen) Dorfdefektmutantensatire. Demnach wäre aber ein gutes Beispiel Lavant, und ich meine damit nicht jene kleine Osttiroler Gemeinde mit ihren 331 Einwohnerinnen und Einwohnern und 333 Gästebetten, mit ihren 8 Gipfeln und 10 Wandertouren, mit ihrem 27-Loch-Golfplatz und ihren 13 Vereinen und Institutionen, der Freiwilligen Feuerwehr, der Sportunion Raiffeisen Lavant (natürlich Sportunion! natürlich Raiffeisen!), dem Union Reitsportverein, der Jungbauernschaft / Landjugend, dem Obst- und Gartenbauverein, der Ortsbauernschaft, dem Jagdverein, der Jagdhornbläsergruppe, dem Lauentna Blech, dem Pfarrgemeinderat, dem Ortsausschuss des Tourismusverbandes Lavant, der Gsellig’n und dem Golfclub. Und es geht auch weder um den River Lavant in West Sussex (obwohl ein Flussname wichtig sein wird) noch um den französischen Schauspieler Denis Lavant, bekannt vor allem als Alex aus Die Liebenden von Pont-Neuf (und wieder: ein Fluss). Auch der deutsche Autor Rudolf Lavant ist nicht Thema dieses Textes, für den mir, wie Sie vielleicht bemerkt haben, immer noch ein Anfang fehlt, auch wenn wir angeblich
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schon beim Thema sind oder diesem hier zumindest schon sehr nahe kommen. Denn Rudolf Lavant, der neben seinen kriegskritischen und sozialistisch geprägten Schriften zahlreiche Texte über diverse Bergtouren in Südtirol verfasste, verdankte seinen Künstlernamen, wie er selbst zu Protokoll gab, dem „grüne[n] Tal der Lavant“ und ebenfalls dem Lavanttal beziehungsweise dem dem Tal den Namen gebenden „weißglänzenden Fluß“, der Lavant, verdankt Christine Habernig, geborene Thonhauser, ihren Künstlerinnennamen. Und um Christine Lavant, jene 1915 geborene, 1973 gestorbene österreichische Schriftstellerin, soll es nun in weiterer Folge gehen, oder geht es eigentlich schon von der ersten Zeile an oder, richtiger noch, ging es im Grunde schon von vor dem Anfang dieses Textes an, wo dieser auch immer sein soll, als ich „mehrere Bücher der betreffenden Autorin gelesen [und] mir einen Überblick über Leben und Werk verschafft habe“ und dabei fleißig notierte, um „nun endlich loswerden“ zu dürfen, was ich zu sagen habe, um nun endlich anfangen zu dürfen. Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Stein, wann gehst du zum Abendmahl?“ und ich nicke und lege nach: „Sag mir ein Wort und ich stampfe dir / aus dem Zement eine Blume heraus / denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche.“ II „Sag mir ein Wort und ich stampfe dir / aus dem Zement eine Blume heraus / denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche“, liest du mir oder lese ich dir oder liest Christine Lavant uns vor (diese halb leiernde, halb gehetzte, Versenden ignorierende Stimme, denke ich, diese Kindheitserinnerungen, denke ich, das Flammen der Kerzen, die Kälte der Mauern, die Wärme der Mutter und Weihrauchgeruch), und wir sitzen und schweigen (was sollen wir auch sagen) und starren ins Leere oder hinauf, zu „verheimlichten Sternen“.
III 1954 erhält Christine Lavant gemeinsam mit Christine Busta, Michael Guttenbrunner und Wilhelm Szabo den erst zum zweiten Mal vergebenen Georg-TraklLyrikpreis. 1964 erhält sie ihn erneut – sie ist bis heute die einzige zwei Mal mit diesem Preis gewürdigte Lyrikerin. Georg Trakl lebte zeitweise in Innsbruck und ist dort auch begraben. Ob das als Querverbindung reicht? Ich glaube nicht. Aus Trakls Innsbrucker Zeit stammt übrigens sein Text Hohenburg („Es ist niemand im Haus. Herbst in Zimmern; / Mondeshelle Sonate / Und das Erwachen am Saum des dämmernden Wald“ undsoweiter). Die Hohenburg steht in Igls, und in Igls nahm Christine Lavant im September 1955 am 1. Internationalen deutschsprachigen Schriftstellerkongress über Dichtung der Gegenwart. Gehalt und Erscheinung teil, eine ihrer wenigen Reisen, die weiteste führte sie 1957, auf Einladung des dortigen St. GeorgKlosters, nach Istanbul. Das gerne gezeichnete Bild der Provinzdichterin stimmt also (stimmt trotzdem) nicht, war ein gutes Stück weit Inszenierung – „Kopftuch auf und Gebiss raus, das Fernsehen kommt“, so Theo Schneider über Christine Lavant. Zudem: Kann man nicht auch mit Worten reisen? „Nie hab ich dich gesehen nur geträumt / Durch kleine Verse oder zarte Bilder / erstandest du, so wie von Gott gesäumt …“, beginnt der Text Fujiyama, die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Wach dann nicht auf, schick jeden Alptraum her!“, und ich nicke und lege nach: „An so weißen Nachmittagen / trippeln pflaumenblaue Tauben …“. IV „An so weißen Nachmittagen / trippeln pflaumenblaue Tauben“, lese ich, eine Amsel durchwühlt die Blumenerde am Balkon, Wein und Rosen ranken sich / hanteln sich („Meine Hände nehmen sich vor, nimmer Hände zu sein“) das Geländer entlang, weißblühend der
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Apfelbaum im Nachbarhof, weiß fallend Schnee, in diesem Märzenfrühling, diesem Märzenwinter. V Von Lavants Innsbruck-Igls-Aufenthalt im September 1954 erfahren wir unter anderem aus dem Notizbuch Ingeborg Teuffenbachs, die am 9. September notiert: „[M]it Prof. Ficker am Bahnhof Christine Lavant abholen. Christl bei mir zum Abendessen.“ Teuffenbach, ebenfalls gebürtige Lavanttalerin, schon früh eine glühende Nationalsozialistin und eine der wichtigsten jungen Dichterinnen der „Ostmark“, verheiratet mit SS-Hauptsturmführer Heinz Capra, die Trauzeugen waren mit Friedrich Rainer und Odilo Globocnik zwei der größten Kärntner NS-Kriegsverbrecher, und ein Paradebeispiel für den österreichischen (Nicht-)Umgang mit der eigenen Vergangenheit nach 1945, lebte seit den 1950er Jahren in Innsbruck und wurde dort zu einer der führenden (no pun intended) Figuren nicht nur der Tiroler Literaturszene. Dies nicht zuletzt durch ihren Einsatz für die Österreichischen Jugendkulturwochen in Innsbruck (1950–1969), im Rahmen derer Autorinnen und Autoren wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl, Eugen Gomringer, Marlen Haushofer, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Friederike Mayröcker, Barbara Frischmuth oder Gerhard Rühm zum Teil ihre ersten großen Auftritte hatten: „nach einer durchzechten nacht / mit barbara f. animiert / in den innsbrucker hofgarten geschlendert / auf frisch bepflanzte blumenbeete gesunken / und sich froh darin umhergewälzt als schwebe man in flockigen wolken // für die stadtverwaltung eine infame schandtat / für uns gelebte poesie“ (Gerhard Rühm). Ludwig von Ficker, ebenfalls eine weit über Innsbruck hinaus wichtige Figur der österreichischen Gegenwartsliteratur, Schriftsteller, Gründer der Zeitschrift Der Brenner (1910–1954), Freund und Förderer Trakls und
Initiator des Trakl-Lyrik-Preises, und Lavant hatten einander bei der Preisverleihung zum Trakl-Preis 1954 kennengelernt. Sowohl mit Teuffenbach als auch mit Ficker stand Lavant im regen Briefkontakt. Und mehr noch: Die so gerne als einsam, ungebildet, zurückgezogen beschriebene Lavant kommunizierte mit zahlreichen Persönlichkeiten des literarisch-philosophischen Lebens der Zeit, mit Martin Buber und Nelly Sachs, mit Hilde Domin und Thomas Bernhard und vor allem mit Werner Berg, mit dem sie noch weit mehr verband als der intellektuell-künstlerische Austausch: Über 520 Gedichte schickt Lavant während ihrer vierjährigen Liebesbeziehung an Berg, er fertigt 15 Portraits von ihr an. 180 dieser Gedichte wurden bisher allein in Bergs Nachlass gefunden, darunter, datiert mit 9.1.51 und dem Zusatz „Christine f. Werner“, ein, wie fast alle, titelloses, mit folgenden Zeilen beginnendes: „Fröstelnd im Nebel steigt aus den Zweigen / allerlei Schweigen / hilflos empor.“ Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Ich will vom Leiden endlich alles wissen!“ und ich nicke und lege nach: „Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte / und eines Frühlingshimmels stilles Blau / möchte ich noch einmal, innig und genau / zutiefst erleben …“ VI „Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte / und eines Frühlingshimmels stilles Blau / möchte ich noch einmal, innig und genau / zutiefst erleben“, zitierst du und siehst mich an und ich nicke bloß, stumm. Das geht mir nach und nah, fährst du fort, das geht mir an die Substanz, fährst du fort, du hättest deine Energie verloren, als du dich mit ihrem Leben, ihrer Dichtung näher befasstest, du glaubst, sagst du (und ich dir aufs Wort / und ich dir die Worte), dass damals der Krebs begonnen habe um sich zu greifen, der Krebs, der dir an die Gurgel wollte, dessen Behandlung deinen Kehlkopfraum habe wund werden lassen, die den Sitz dei-
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ner Kreativität habe wund werden lassen. Der Krebs habe, sagst du, einen Anschlag verübt, habe einen Anschlag verübt auf deine Kreativität, das Leben Lavants, sagst du, wie jenes von Bachmann, der Schmerz im Leben Lavants wie in jenem Bachmanns, der Schmerz in den Texten Lavants wie in jenen Bachmanns, habe den Krebs zwar nicht entstehen, habe ihn bestimmt aber anwachsen lassen, habe deine Abwehrkräfte so geschwächt, dass sich das Plattenepithelkarzinom habe einnisten können, dass es sich habe vergrößern, es sich in der rechten Tonsillarloge, es sich zwischen der Ohrspeicheldrüse und Halsschlagader habe gemütlich machen können, sagst du, deine Kreativität habe bedrohen können, und ich sehe dich an und du weinst, oder ich? „Erlaube mir traurig zu sein / unter deinen Augen, den Sternen / […] erlaube mir, gänzlich verloren zu gehen / in den Büschen der Schwermut.“ VII In der Tiroler Tageszeitung vom 20.11.1956 findet man die Besprechung eines Abends des Innsbrucker Turmbunds. Nina Bacher vom Radio Tirol habe, so der Artikel, in Anwesenheit der Autorin Gedichte von Christine Lavant gelesen. Allein, weder der Rezensent noch die Dichterin waren am 14.11., dem Tag der Veranstaltung, anwesend. Lavant wusste zwar bereits im Juli, dass diese Veranstaltung geplant war, ging aber vom 21.11. als Termin aus, die Einladung für den 14.11. erreichte sie zu spät (auf keinen Fall vor dem 10.11.), wie sie in einem Brief an Ingeborg Teuffenbach schreibt. Ob es ein simples Missverständnis war, ob der Fehler bei Lavant selbst oder bei Rolf Hauser-Hauzwicka lag, der damals für die Organisation der Turmbund-Veranstaltungen zuständig war, oder bei einer dritten Partei, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, da der Briefwechsel zwischen den beiden verschollen ist. Ebenso als verschollen galt lange Zeit Lavants erster Gedichtband Die Nacht an
den Tag, Lavant macht ebenfalls Hauser-Hauzwicka dafür verantwortlich: „Er hat immer noch den Bürstenabzugband ‚Die Nacht an den Tag‘ und es existiert nur das eine Exemplar und der schickt es mir nicht und nicht zurück, obwohl ich ihm [sic!] schon zweimal darum gebeten habe. […] Hoffentlich hat er mir den Gedichtband nicht verwurschtelt. Dann reiß ich ihm die Haar einzeln aus! Glatzig wird er etwa doch nicht sein? Na, eine Nase hat er bestimmt. Muß halt die dran glauben.“ Viele Jahrzehnte später, werden die Texte im Besitz der Familie Purtscher, engen Freunden Christine Lavants, aufgefunden. 2017 wird Die Nacht an den Tag in Christine Lavant. Gedichte aus dem Nachlass schließlich erstmals veröffentlicht, über 70 Jahre nach der Entstehung. Die Sammlung beinhaltet 102 in den Jahren 1945 und 1946 entstandene Gedichte. Sie beginnt mit einem gleichnamigen Text und dieser wiederum mit den Zeilen: „Heute sah ich ihn wieder! Früh schon harrte / mein mondenes Auge / in seinem Gezelt.“ Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Ich danke dir für dieses Gift“ und ich nicke und lege nach: „Die Mondestropfen fallen durch den Raum / zwei setzen sich auf meine Augenlider …“ VIII „Die Mondestropfen fallen durch den Raum / zwei setzen sich auf meine Augenlider“, sagst du und ich sehe dich an oder an dir vorbei, in sternenlose Nacht („Sie fiel – wie Sterne fallen – jäh aus unseren Tagen“). Die Stimmen der Nachbarn, das Flackern der Kerzen in den Windlichtern, den Grablichtern (so kalt im Nebelnovember), das Zittern der Zweige im Spätsommerwind, Ende August, „ein Duft noch, von Rosen, den späten“. für Claudia Rosenwirth
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Verena Dengler Originalbeilage Nr. 34
Edition, signiert: Filmplakat zu dem großen Kunstwelt-Fortsetzungsroman auf dem Instagram-Account von Verena Dengler: @verenadengler
„Eine Klassenfeindin zu begehren, war eine Todsünde! Und doch lodert heißes Verlangen in dem Aktivisten und berüchtigten Frauenhelden Leon Goldberger, einem Spanier mit Migrationshintergrund, seit er die betörende Junggaleristin Sophie bei ihrer Suche nach neuen Talenten in den Slums von Mumbai kennengelernt hatte. Seine starken, von Lohnarbeit nicht befleckten Hände schoben ihr Becken sanft gegen ihre neue Bulthaup-Küche. Verbotenes Verlangen! Sündige Bilder quälen ihn. Zärtlich erklärt er ihr den NahostKonflikt und während er sie fest in den Armen hält,
vergisst er ihre indifferente Haltung dem Zionismus gegenüber. Heiß schießt Leon das Blut in die Adern, ein erregendes Prickeln durchläuft ihn. Dass sie sein interdisziplinäres Flüchtlingsprojekt auf dem Tempelhofer Flughafen finanziell unterstützen würde, gab ihm Grund zur Hoffnung. Doch würde sie ihn am Ende nur benutzen, um im Wettstreit der karitativen Projekte ihrer Erzrivalin, der Galeristin Evelyn von Abensberg, eins auszuwischen? Es scheint, seine Geliebte hat ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt …“
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Allerhand in Affenhausen
Die Familie Stecher in Wildermieming widmet ihr Leben einem aussterbenden Handwerk, dem Steindruck, auch Lithographie genannt. Diese „Königin der Drucktechniken“ wurde vor mehr als 200 Jahren erfunden und von Künstlern wie Picasso oder Chagall zur eigenständigen Kunstrichtung weiterentwickelt. Eva Maria Bachinger schaut in die alteingesessene Werkstatt und bekommt zur Stärkung Kiachl mit Schnaps.
Die Katzendame dreht eine Runde rund ums Haus. Beim Fenster der ebenerdigen Steindruckerei bleibt sie stehen und blickt erwartungsvoll in die Werkstatt. Um ihrem Wunsch nach Einlass Nachdruck zu verleihen, hebt sie die linke Vorderpfote und tapst gegen das Fensterglas. Sie hinterlässt einen KatzenpfotenSchmutzabdruck auf der Scheibe. „Das ist Mizzi. Sie schaut, wo sie reinkann und klopft immer an die Scheibe, weil draußen jagt er sie, unser Kater Morello, ein elf Kilo schwerer Kartäuser.“ Günther Stecher lacht und öffnet das Fenster. Die Katze schlüpft elegant in die Werkstatt, hebt ihren buschigen Schwanz und schreitet davon. „Sie stand eines Tages vor der Tür und ging nicht mehr weg. Schon damals hat sie angeklopft.“ Nicht nur die Hauskatze ist besonders, sondern die gesamte Familie Stecher, die – wie es heißt – letzten gewerblichen Steindrucker Österreichs. In der Häuseransammlung sind mittlerweile vier Generationen untergebracht, im Haupthaus die PR-Agentur unter der Leitung von Günthers Sohn, Clemens Stecher, und im Untergeschoß die Druckerei, die Günther Stecher führt. „Der untere Teil von Affenhausen ist in unserer Hand“, lacht er. Der Ortsteil von Wildermieming hat nur auf den ersten Blick einen lustigen Namen. Laut Überlieferung gilt die heilige Afra als Namensgeberin – früher hieß das Dorf auch „Afrahausen“. Sie ist die Schutzpatronin von benachteiligten Frauen, ihr Gedenktag ist der 7. August. Und hier schließt sich der Kreis: Das alljährlich stattfindende „Afra-Fest“, das die Familie Stecher im August seit nunmehr 16 Jahren ausrichtet, ist eine Benefizveranstaltung zugunsten von Frauen, die in Not ins Frauenhaus Tirol flüchten. Und das kam so: „Wir haben im Keller gerade gedruckt, als
im Radio verlautbart wurde, dass dem Frauenhaus die Hälfte der Subventionen gestrichen wurde. Da dachte ich mir, da müssen wir was tun! Wir haben dann spontan unser 20-Jahre-Betriebsjubiläum mit einem Benefizfest verknüpft.“ Zum Afra-Fest erscheint nun seit damals eine eigene Benefiz-Lithographie. In den vergangenen Jahren kamen rund eine halbe Million Euro zusammen, jährlich mindestens 40.000 Euro. Eines bleibt gleich in Erinnerung: Der Händedruck der Stechers ist fest. Kraft braucht man beim Steindruck, das sehe ich, als mir Günther Stecher später in der Druckerei zeigt, wie das Verfahren abläuft. „Zuerst aber eine Stärkung!“ Weil die Kiachl – Tiroler Krapfen mit, je nach Gusto, selbstgemachter Marmelade oder Sauerkraut – von Günthers Frau Annaliese so gut und begehrt sind, hat die versammelte Familie mit dem Mittagessen auf mich gewartet. Ich muss sie unbedingt auch kosten. Günthers Vater, Walter Stecher, hat bereits am gedeckten Tisch Platz genommen. Es ist offensichtlich: Der Schalk sitzt dem 89-Jährigen im Nacken. Neben ihm seine Paula. Sie hat auch schon 91 Lenze erlebt und ist ebenso redselig wie humorvoll. Gegenüber sitzt die 97-jährige Hilde, Mutter von Annaliese Stecher. Hilde, adrett in Seidenbluse gekleidet, bildet den Ruhepol am Tisch. Ihre Geburtsjahrgänge sind lange her, Weltwirtschaftskrise, noch eine Weile vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine andere Zeit, ein anderes Leben: Paula schildert, dass es in ihrer Kindheit den Luxus Kaffee am Morgen just in der dunklen Zeit von Allerheiligen bis Ostern nicht gab, sondern nur Brennsuppe. „Wir mussten knien und Rosenkranz beten. Mit dem Bruder habe ich immer darum gestritten, wer beim Ofentürl am nächsten knien
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darf, weil es so kalt war.“ Warum er gerade Drucker werden wollte? „Wollte ich ja gar nicht, ich wollte Tischler werden, doch ich habe keine Lehrstelle bekommen und dann nimmt man eben, was man kriegen kann“, erzählt Walter Stecher. In Telfs hat er Buchdrucker gelernt, später im Alpina-Verlag in Innsbruck gearbeitet. „Ich bin eigentlich in der Druckerei aufgewachsen“, sagt sein Sohn. So war es naheliegend, dass auch er alle Druckverfahren lernte. Den Steindruck haben sich die Stechers in Eigenregie beigebracht. „Letztlich muss man sich beim Steindruck das KnowHow langsam, über die Jahre erarbeiten, damit man das wirklich gut kann. Aber davon leben kann man nicht, das ist reine Liebhaberei“, sagt Günther Stecher.
doch auch der Literatur und Musik zugetan. Während eines Spaziergangs an einem Regentag soll er bemerkt haben, dass sich ein Blatt auf einem Kalkstein abgebildet hatte. Diese Beobachtung brachte ihn auf einen Gedanken: Weil er nicht so gut zeichnen konnte, wollte er Notenblätter mittels einer Drucktechnik vervielfältigen. Und so experimentierte er mit einem Stein, der in der Umgebung bereits in der Römerzeit in Form von Bodenplatten und später auch als Grabstein sehr präsent war und den er in dieser Reinheit nur dort vorfinden konnte: der Solnhofener Plattenkalk, ein feinkörniger Kalkstein, weltweit einzigartig, entstanden vor 140 bis 160 Millionen Jahren in der Oberjura der Fränkischen Alb in Bayern.
Die Eheleute necken sich, Walter Stecher erklärt schließlich: „Ich habe fünf Urenkerln und meine Paula“, und lacht. Man merkt, er sagt immer, was er sich denkt. Und sei das Gegenüber noch so berühmt und wichtig, wie sein Sohn erzählt. Walter Stecher hat mit dem Tiroler Maler Max Weiler jahrelang intensiv zusammengearbeitet. „Walter, kannst Dir ein Bild aussuchen, als Dankeschön“, soll er Weiler gesagt haben. Darauf Walter Stecher: „Max, mir gfallt kuans.“ – „Das wäre heute mein Erbe“, sagt Günther Stecher. Er nimmt es mit Humor. „Mein Vater hat schon mehrere Stückerln geliefert. Meine Eltern waren mal in der Kärntner Straße einkaufen, Vater wurde müde und in einer Auslage stand ein Bett. Er ist einfach ins Geschäft gegangen und hat sich dort hingelegt.“ Walter hat schmunzelnd zugehört und erzählt: „Nach dem schweren Herzinfarkt mit 50 haben mir die Ärzte den Rat gegeben: ,Gehen Sie lieber in Pension, dann haben Sie noch ein paar Jahre.‘ Nun bin ich fast 90.“ Der rüstige Seniorchef hat dem Sohn noch viele Jahre beim Steindruck assistiert, vor drei Jahren hat er sich ganz zurückgezogen. Meistens hilft nun Günthers Ehefrau Annaliese.
Senefelder zeichnete auf die Steinplatte mit fetthaltiger Tusche oder Kreide seitenverkehrt die zu druckenden Partien. Die Zeichnung blieb über Nacht liegen, das Fett zog in den Stein ein. Es entstand Kalkseife, sie löst sich nicht in Wasser auf. Die Stellen wurden dadurch wasserabweisend. Danach befeuchtete er die Druckform mit einer wässrigen Lösung aus Gummiarabikum, einem Baumharz aus Afrika, und verdünnter Salpetersäure. Das bewirkte, dass die nicht beschichteten Stellen Wasser abhielten und so fettabweisend wurden. Die Mischung ätzte den Stein, nicht tief, aber verstärkt so die Gegensätze. Die mit einer Rolle aufgebrachte fetthaltige Druckfarbe haftete nur noch an den wasserabweisenden Partien. Schließlich legte er einen Bogen Papier auf den Stein und die Farbe wurde mit viel Druck in einer Stangenpresse übertragen. Er nannte seine grandiose Erfindung „Chemische Druckerey“. „Darauf muss man erst einmal kommen! Diese Erfindung!“, ruft Günther Stecher anerkennend aus. Bis um 1950 war es noch eine häufig verwendete Drucktechnik. Am Verfahren hat sich bis heute nichts geändert. Günther Stecher macht es im Grunde genauso wie Alois Senefelder vor 200 Jahren. Nur die Zeichnung am Stein kommt von Künstlern.
Was ist nun eigentlich die Lithographie genau? In den Jahren 1797/1798 hat dieses chemische Flach-Druckverfahren ein gewisser Alois Senefelder aus München erfunden. Er war eigentlich Rechtswissenschaftler,
Die älteren Herrschaften ziehen sich zum Nachmittagsschläfchen zurück. Wir gehen in die Druckerei hinunter, wo die wuchtigen Plattenkalk-Steine liegen. „Hier
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ist die Druckerei, und gezeichnet wird hier.“ Günther Stecher zeigt auf den „Künstlertisch“ in einem kleinen Raum. Auf der Arbeitsfläche stehen Schüsseln mit Kreide, Gläser mit unzähligen Pinseln, Stiften, Bürsten, dazwischen ein Haarföhn – ein kreatives Durcheinander. Der Künstler kann auf dem geschliffenen und entsäuerten Stein sämtliche graphischen Techniken wie Kreide-, Feder- und Pinselzeichnungen bis zur Gravur am Stein umsetzen, selbst mit den Fingern könnte er malen. Deshalb sei das Verfahren künstlerisch interessant und das Ergebnis mit einem anderen Druck nicht vergleichbar. Das Zusammenspiel zwischen Künstler und Steindrucker ist aber entscheidend: „Wenn jemand eine Radierung machen will, kann er das mit einem gewissen handwerklichen Geschick selber machen. Steindruck ist ein Handwerk und wenn man es nicht so oft macht, kann es schon passieren, dass die Farben eintrocknen oder der Druck nicht gelingt.“ Stundenlang sitzen die Künstler, um zu zeichnen. Günther Stecher schaut ihnen immer wieder über die Schulter. Derzeit liegt ein Werk der Künstlerin Veronika Gerber auf der Arbeitsfläche. Ihr Bild „Porto San Nicolo“ ist heuer die Afra-Lithographie. Es werden etwa 140 Blätter aufgelegt, das bedeutet: tagelanges Drucken. Die Künstlerin wohnt in Salzburg und Arco – „und in meiner Werkstatt“, meint Günther Stecher. Viele Künstler waren schon wochenlang zu Gast. Da entwickeln sich Freundschaften, viele kommen immer wieder. „In der Früh bin ich der Erste unten. Meine Frau aber ist die Eule. Sie macht Nachtbetreuung für die Künstler, die Unterhaltung und Verköstigung. Wir brauchen oft mehr Wein als so manches Gasthaus.“ Eine langjährige Beziehung besteht mit der Künstlerin Maria Tomaselli, die ursprünglich aus Innsbruck stammt, nun aber in Brasilien lebt. „Sie reist extra an, ohne Skizze, zeichnet alles auf Steine, die sie erwischt, notiert, welche Farben wir verwenden sollen und reist wieder ab. Wir wissen, wie ihre Bilder aussehen sollen und drucken. Wenn sie wiederkommt, signiert und nummeriert sie, und wir verkaufen die Drucke.“ Das sei ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis. „Wenn man öfter miteinander arbeitet, kennt man einander.
Ich weiß genau, was der Künstler will.“ Die Künstler melden sich selbst oder werden von einer Galerie geschickt, die alles zahlt. „Bei den meisten Künstlern mache ich aber halbe-halbe. Mir gehört die Hälfte der Drucke, das ist der Lohn für meine Arbeit und ich muss schauen, wie ich die Drucke verkaufen kann. Das Afra-Fest hilft mir dabei natürlich. Da kommen 300 bis 400 Leute und sehen auch die vielen ausgestellten Lithographien im Haus.“ Günther Stecher kann nicht sagen, mit wie vielen Künstlern er schon gearbeitet hat, es sind aber vor allem Kreative aus Nord-, Süd- und Osttirol. Er zählt einige Namen auf: Herbert Danler, August Stimpfl, Paul Flora, Chryseldis Hofer-Mitterer, Franz Pöhacker, Heinrich Tilly, Patricia Karg, Walter Nagl, Robert Scherer, Anton Christian, Jos Pirkner, Elmar Kopp, Nino Malfatti, Franz Mölk, Leander Kaiser, Reiner Schiestl. An der Wand in der Werkstatt hängen „Gautschbriefe“, jeweils einer von Walter, Günther und Clemens Stecher. In diesem Gewerbe ist das quasi der Meisterbrief. Das „Gautschen“ ist eine alte Tradition des Druckereihandwerks aus dem 16. Jahrhundert. Der Brauch ist eine Art Initiationsritus, denn dabei wird der Lehrling nach bestandener Abschlussprüfung im Rahmen einer Feier in einer großen Wanne mit Wasser untergetaucht, je nach Lehrverlauf mehr oder weniger oft. Die Druckerei mutet fast wie ein Museum an: Da ist eine alte Papierschneidemaschine. „Ich sag’ euch, das ist das Schwerste, was ich bisher in der Hand hatte. Alles aus Guss. 150 Jahre ist sie alt, von Dietz und Listfink. Ich habe sie aus der ehemaligen DDR gerettet, solche Maschinen wurden auf den Müll geworfen. Mit einem Pressbalken presst sie das Papier, wenn ich Schwung hole, fährt das scharfe Messer raus und schneidet es.“ Günther Stecher hat auch eine 200 Jahre alte Steindruckerpresse. „Die habe ich aus Neunkirchen bei Wien. Ein Steindrucker musste aus gesundheitlichen Gründen aufhören. Solche Gelegenheiten gibt es selten, da muss man sofort zuschlagen.“ Auch eine Buchdruckpresse steht in seiner Werkstatt. Günther Stecher hat sie aus dem Waldviertel geholt, wo sie zum Schluss für die
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Produktion von Kranzschleifen für Begräbnisse noch im Einsatz war. Bei all den Geschichten verfliegt die Zeit, die alte Uhr schlägt zu jeder Stunde. Fest steht: Der Steindruck ist ein sehr aufwändiges, körperlich anstrengendes Verfahren. „Das ist meine Fitnesskammer.“ Ein Stein ist 70 bis 80 Kilo schwer, der größte in Stechers Werkstatt wiegt 160 Kilo. Den hat er vorsorglich versteckt, damit niemand auf die Idee kommt, ihn verwenden zu wollen. „Das Tragen ist nicht so das Problem, dafür aber das Niederlegen auf die Arbeitsfläche.“ Wir stehen vor der alten ReiberHandpresse in seiner Werkstatt: „Hier wird gedruckt, und das zeig’ ich dir jetzt.“ Günther Stecher legt einen Lederschurz an. „Beim Drucken muss man den Stein immer wieder einfeuchten, einfärben, Papier drauf und durchziehen. Für jede Druckfarbe wird ein eigener Stein verwendet. Gedruckt wird auf hochwertigem Büttenpapier“, erklärt der Meister. „Veronika Gerber muss ihr farbenfrohes Bild in alle Farben zerlegen. Bei ihrem Bild sind vierzehn Durchgänge nötig.“ Den ersten Abzug macht Günther Stecher in Schwarz-Weiß mit Federfarbe, um die Qualität zu kontrollieren und ob die Zeichnung auch exakt am Stein ist. Erst dann wird mit Farbe gedruckt. „Man sieht am Schluss die Arbeit nicht. Laien glauben, es ist ein Offset-Druck. Wenn jemand aber sieht, wie aufwändig der Prozess ist, wird auch der Preis der Lithographien akzeptiert.“ Bei einer Radierung oder einem Holzschnitt sollte man aus Qualitätsgründen auf eine möglichst niedrige Nummer achten. Beim Steindruck ist das egal, weil sich die Qualität nicht ändert. Nach dem Druck wird der Stein wieder geschliffen, auch mit der Hand. Dafür wird der Stein auf eine weitere Arbeitsfläche gehievt, auf dem Regal darüber befindet sich in einer Reihe von Behältern Schleifsand, geordnet nach Sandkorngröße, von grob bis fein. Alle Körner in einem Behälter sind exakt gleich groß. Früher war dieser Arbeitsschritt schwieriger, weil die Sandkorngröße variierte. War ein größeres Sandkorn unter den vielen feinen dabei, entstand leicht ein Kratzer. Dieser Sand wird von einer Firma in Kärnten hergestellt. Der Nach-
schub ist bis auf Weiteres gesichert, denn aus dem Sand wird auch Schmirgelpapier gemacht. Andere Produkte sind mittlerweile schwieriger zu bekommen: „Die Farben, die ich brauche, werden nur noch von zwei Firmen weltweit hergestellt. Die Fabrik in der Toskana, wo ich das Büttenpapier immer gekauft habe, hat vor zwei Jahren die Produktion eingestellt. Ich habe alles aufgekauft, was ich noch kriegen konnte. Nun produzieren sie wieder, aber sie haben nicht mehr die gesamte Produktpalette im Angebot.“ Günther Stecher schleift, dann säubert er den Stein mit einem Schwamm, dann ist die nächstfeinere Sandkorngröße dran. Die Zeichnung wird blasser und blasser, bis sie sich wie durch Zauberei ganz in Luft auflöst. Der Stein ist nun fettfrei. Günther Stecher nimmt den schweren Stein vorsichtig am Rand und trägt ihn weg. Dann geht alles wieder von vorne los. Ein neuer Stein hat eine Stärke von acht bis zehn Zentimetern und kann je nach Format auf fünf bis sechs Zentimeter abgeschliffen werden. „Ab dieser Stärke würde er den Druck nicht mehr aushalten und brechen, da er ja keine Maserung hat. Es können ungefähr 70 bis 100 Motive gedruckt werden. Somit ist ein Stein auch leistbar, denn ein neuer kostet je nach Größe 500 bis 8000 Euro.“ Wir haben uns nun wieder eine Stärkung verdient, findet Günther Stecher: „Jetzt trink ma no a Schnapsl.“ Versteckt befindet sich im Untergeschoss auch ein „Giggus-Löchl“. Dort hat er feine, edle Schnäpse gehortet. „Giggus“ ist ein altes rätoromanisches Wort für „scharfes Wasser“, also Schnaps, der zur Arbeit im Wald oder auf der Hochmahd mitgenommen wurde. Beim Afra-Fest würden sich zu späterer Stunde sämtliche Gäste in dem kleinen Kellerabteil zusammendrängen. Zu Recht: Auch der aus Obst gepresste Alkohol bürgt im Hause Stecher für beste Qualität.
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Von einem Zustand zum nächsten
Nicolas Jasmin hat die folgenden vier Doppelseiten für diese Ausgabe von Quart gestaltet. Hier ein Einführungstext des Künstlers zu seiner Arbeit:
„Der Fund, die Fehlfunktion, der Abstand. Drei Merkmale, mehr Merk-male. Die Erzählung als Zündelement. Die Anwendung des Monochroms. Das Malen des Monochroms. Der transitorische Zustand der Farbe und der Form. Die Abrasion, beziehungsweise die Laser-abrasion. Die Subtraktion der Originalfarbe, die zu einer Meta-farbe führt. Die Splitterung des Monochroms. Links die Meta-farbe, rechts die Originalfarbe. Das Benennen der Farben laut der Adler-Tabelle: Vernunft, Zeitgeist, King, Bluff, Reality, Silenzio!, Diplomat, Moon, Live, Barock, unter vielen. Aneinandergereihte Buchstabenfragmente der Farbnennungen als enigmatische Botschaften, als potenzielle Titel. Das Aneinanderreihen und Aufstapeln von Bildern, wie Sätze, wie Onomatopöien und deren Abstraktionen. Das Trapez, das Doppeltrapez als inkludierende Form oder gekippt als empfängliche Form. Die Komplexität der Einfachheit. Der Durchgang, der Weg, von einem Zustand zum nächsten.“
Titel der Arbeiten in der Reihenfolge ihrer Abbildung: 1. O. T. (El, Er, Z, Ws W) MONA LISA, 30 × 30 cm, 2020 2. O. T. (El, Er, Z, Ws W) BAROCK, 30 × 30 cm, 2020 3. O. T. (El, Er, Z, Ws W) POMMES, 30 × 30 cm, 2020 4. O. T. (El, Er, Z, Ws W) APOLLO, 30 × 30 cm, 2020 5. O. T. (El, Er, Z, Ws W) DIPLOMAT, 30 × 30 cm, 2020 6. O. T. (El, Er, Z, Ws W) DOTTER, 30 × 30 cm, 2020 7. O. T. (El, Er, Z, Ws W) BUTLER, 30 × 30 cm, 2020 8. O. T. (El, Er, Z, Ws W) VERNUNFT, 30 × 30 cm, 2020 9. O. T. (El, Er, Z, Ws W) ORO, 30 × 30 cm, 2020 10. O. T. (El, Er, Z, Ws W) JASMIN, 30 × 30 cm, 2020 11. O. T. (El, Er, Z, Ws W) ZEITGEIST, 30 × 30 cm, 2020 12. O. T. (El, Er, Z, Ws W) BLUFF, 30 × 30 cm, 2020 13. O. T. (El, Er, Z, Ws W) REALITY G., 40 × 40 cm, 2018 14. O. T. (El, Er, Z, Ws W) MOON, 30 × 30 cm, 2020 15. O. T. (El, Er, Z, Ws W) REALITY, 30 × 30 cm, 2020 16. O. T. (El, Er, Z, Ws W) ORO, 30 × 30 cm, 2020 17. O. T. (El, Er, Z, Ws W) ZEITGEIST, 30 × 30 cm, 2020 18. O. T. (El, Er, Z, Ws W) AURORA, 30 × 30 cm, 2020 19. O. T. (El, Er, Z, Ws W) KING, 30 × 30 cm, 2020 20. O. T. (El, Er, Z, Ws W) SILENZIO!, 24 × 30 cm, 2020 21. O. T. (El, Er, Z, Ws W) VERNUNFT, 24 × 30 cm, 2020 Courtesy der Künstler und Croy Nielsen, Wien
mobapoapdi
dobuveorja
zeitgeist
bluff
reality
silenzio!
vernunft
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Marginaltext (8): „Neubeginn nach der großen Stille“
Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 8: Auszüge aus Texten und Reden von Josef Lackner, 2003 in einer längst vergriffenen Werkmonographie publiziert. Die Äußerungen des vor genau 20 Jahren verstorbenen, bedeutenden Tiroler Architekten sind bis heute lesenswert.
Die Erziehung zum Architekten erfolgt, wie Sie alle wissen, durch des Werden des Menschen überhaupt. Es beginnt schon im Pränatalen, sollte man sogar sagen, es hängt davon ab, ob man auf Erden willkommen ist und damit das Leben bejahend auch den schönen Beruf des Gestalters eben für das Leben ergreift. Das Kind mit seinem sinnlichen Weltbezug trifft schon Entscheidungen, welche sich später erklären. Wird die Welt akzeptiert oder kritisiert? Wird der spontane Weltverbesserer doch im Laufe der Zeit wenigstens zum Umweltverbesserer. Allerdings begegnen dem Suchenden die verschiedensten Erziehungsprinzipien und damit erst die Irritation. Das familiäre Milieu, die sozialen Räume, die Schule, Stadt, etc. mit ihren Unzulänglichkeiten lösen frühen Zorn oder gar Resignation aus. Der schöpferische Mensch kultiviert sein Unbehagen, seinen Zorn, um Platz für sein Schaffen zu haben. Das Bisherige scheint ihm schal und grau und mit Pseudoänderungen durchsetzt, also unmöglich. Die Begegnung mit dem Freiraum Kunst und der dahinter oder davor befindlichen Humanität kann hier Halt und Trost spenden. Die Pragmatik wird mit Zweifeln besetzt, der Wille zu eigenen Innovationen aber gestärkt. Die Schulen, gedacht zum Aufbau einer Bildungs- und Leistungsgesellschaft, fördern dagegen eher den Chorgeist, weniger das Individuelle. Das Ergebnis ist ein Bildungsstand, in dem die alten Lieder wieder gesungen werden. Diese Zeiten sind vorüber. Längst müssen wir überregionale Ansprüche erfüllen und auch mit diesen leben.
Die Welt ist winzig geworden. Japan ist um die Ecke, die Westküste der USA ein geistiger Vorgarten Europas und die Ringstraße in Wien ist auch nicht das Maß aller Dinge. Man muss überall hinschauen und trotz der angeborenen Kurzsichtigkeit Perspektiven erkennen. Der Studierende weiß sich zwar in dieser Welt der optischen Überreizung zu Hause und schnappt trotzdem nach geistigem Sauerstoff, woher er ihn gerade bekommt, um dann durchzuatmen. Da werden die Gesetze der Schwerkraft neu interpretiert, eine neue Monumentalität propagiert, technische und formale Naivität entdeckt, Theatralisches und Dekoratives hochgelobt. Eines ist klar, eine Bemühung in Richtung Konsens wäre fatal. Dies würde wieder zu suspekten Ordnungen führen und das wünscht sich niemand. Es gilt die Gesetze der Vielfältigkeit und Toleranz zur Weltanschauung zu machen. Das Eigenverantwortbare sollte vor den Ordnungen aller Art stehen. Wie heißt es so richtig: Man sieht nur, was man weiß. (Rede an der Akademie der Bildenden Künste Wien 1996) *** In diesem Land wurde, das bezeugen die immer weniger sichtbaren Beispiele bäuerlicher Baukultur, immer anständig gebaut. Anständig, d. h., eine Gesellschaft war durch die ideellen und materiellen Bedingungen dem Selbstverständlichen nahe, und dies hat sich in baulicher Richtigkeit manifestiert. In diesem Land
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weht längst ein anderer Wind. Auf neue Bedingungen und Zwänge wird fragwürdig reagiert. Tirol ist gesellschaftlich schon lange ein integrierter Bestandteil Europas und intellektuell einer der Welt – von Windstille also keine Rede! Die Politik erkennt, wie ich meine, erstmalig, doch reichlich spät, die doch selbstverständlichen Zusammenhänge von Zivilisation und Kultur. Nie war es das Programm einer Partei, neues Lebensgefühl in kreativen Bereichen zu fördern. Eher waren der reaktionäre Zugang und ein oberflächliches Denkmodell gefragt. Die Bequemlichkeit verdrängte in den meisten Fällen die Auseinandersetzung im Sinne des Beispielhaften. Keine Partei hat je Beispielhaftes gewollt oder gar gezeigt, und so das Grundklima für ein allzu opportunes Verhalten gelegt. An die ethische Kraft intelligenter baulicher Äußerungen wurde und wird nicht geglaubt. Jedes gelungene Gebäude wäre aber ein Beleg für das wirkliche Potential dieses Landes. In der Realität strotzt dieses Land aber vor Zeugnissen baulicher Hilflosigkeit – Belege einer erbärmlichen Haltung gegenüber den eigenen Bedürfnissen und oft genug auch der der Gäste. Auf dem Land ist die bauliche Jodlerei wohl nicht zu ersticken, die legitime Liebe zum Land sollte trotzdem anders interpretiert werden. Gelingt dies nicht, so werden die monströsen Hotelbauten sich weiter formal am Bauernhaus orientieren und dieses beleidigen. In der Stadt belegen allzu wenige Beispiele einen Aufbruch, doch müssen die Ansprüche noch steigen. Die permanente Unterschätzung des Konsumenten ist ein moralischer Defekt ersten Ranges – allerdings wird dieser, so glaube ich, jetzt auch als solcher erkannt. In jüngster Zeit glaubt man, aus diesem Dilemma zu finden, indem man an die damals schon fragwürdige Architektur der dreißiger Jahre anknüpft. Tirol hat schon damals eher im Anachronismus gebadet, und die wenigen Ausnahmen – zu nennen ist hier Welzenbacher – waren ohne Akzeptanz und wurden deshalb wieder eliminiert.
Eine neue Fragwürdigkeit stellt der inzwischen populäre „Neue-Heimat-Stil“ mit ökologischer Verbrämung dar. Hier wird eine Trivialarchitektur propagiert, darüber hinaus orientiert man sich anhand von ArchitekturZeitschriften daran, was einige postmoderne Gurus in die Welt setzen. Die Bauszene wird von Moden und nicht von spezifisch unverwechselbaren Zugängen bestimmt. Bilanziert man, was die öffentliche Hand, d. h. mit Steuergeldern, in den letzten Jahrzehnten baulich artikuliert hat, so ist dies negativ. Daran orientiert sich naturgemäß das Private, wenngleich es hier an Ansätzen echter Lichtblicke nicht fehlt. Es ist an der Zeit, den Begriff „Architektur“ nicht mit allem gleichzusetzen, was gebaut wird. ARCHITEKTUR ist positiv belegt und deshalb nur im Zusammenhang mit den besten baulichen Zeugnissen in Verbindung zu bringen. ARCHITEKTUR ist eben nicht nett, gemütlich, modisch, gefällig, gewohnt oder mit sonstigen Billigkeiten verknüpft. ARCHITEKTUR ist auch nicht unverbindlich, auch nicht vordergründig anpassend oder fragwürdig landschaftsgebunden. ARCHITEKTUR ist eine Form künstlerischen Schaffens, welche von Inhalten und lebensnahen Bedingungen sowie von konstruktiver Intelligenz lebt. ARCHITEKTUR ist risikofreudig und erfinderisch. ARCHITEKTUR ist neuerdings verstärkt ökologisch und ökonomisch verantwortlich zu artikulieren. ARCHITEKTUR ist Sache der Lebenden – die Toten haben ebenso gedacht. ARCHITEKTUR ist Sache der Lebensfreude und nicht der Lebenslüge – des Kitsches. Die Gesellschaft muss die selbst auferlegten Schwerfälligkeiten erkennen und beseitigen, d. h. schon bei den Ansätzen große Freiräume zulassen, also der Kunstgattung „Architektur“ keine Auflagen in geschmacklicher Richtung geben. Alte vermeintliche Ordnungen sind zu hinterfragen und durch neue Erkenntnisse zu ersetzen.
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Die Schaffenskraft und der Anspruch aller Befassten sind deshalb zu reaktivieren, das Potential der Jungen zu nützen. („Wer sucht, wer findet die Architektur in Tirol?“, 1993) *** Die Architektur wird in unserer Zeit mehr und mehr zur „Schönen Abwesenden“, zur kaum erfüllten Sehnsucht nach Freudvollem, Großem und Gültigem im Bauen. Wir sind auf der Suche nach ihr, nur suchen wir sie allzu intensiv in der näheren und weiteren Vergangenheit, in der Erinnerung, in den Archiven. Stehen wir dem Gegenwärtigen zu nahe? Stehen wir zu sehr in der bedrückenden Mitte? Spüren und sehen wir deshalb nichts? Schielen wir deshalb nach dem Vertrauten, eher Verjährten oder gar Toten? Jedenfalls die Gegenwart ist mit ihren Aussagen zu undurchsichtig, unüberschaubar mit Fehleinschätzungen und Tagessorgen besetzt. Längst haben wir das Einfache und Lapidare, das Direkte und Selbstverständliche dem Komplizierten und vor allem der permanenten Unsicherheit geopfert. Das uns umgebende Tradierte ist Jahrtausende dick und wohl auch im wahrsten Sinne des Wortes deshalb folgenschwer. Das gegenwärtige Baugeschehen leidet unter einer gigantischen Frustration, um nicht zu sagen Lähmung. Die vergangenen Jahrzehnte mit ihrer oberflächlichen Bedarfsdeckung sind unerlaubter Anlass für Schuldgefühl und Resignation. Dabei muss man gerade dieser Epoche elementare Kraft und Vitalität, wenn auch eher materiell besetzt, bescheinigen. Die Reaktion darauf führte zu einer Rührseligkeit und einer überdimensionalen Vorsicht in Bezug auf jede neue Artikulierung – die Sackgasse in die Vergangenheit wurde beschritten. Die Unendlichkeit des Zukünftigen wird also gegen die Endlichkeit des Vergangenen getauscht – die Mottenkiste geöffnet. Kein Haus ohne sentimentale Details, sprich Zitate, kein Haus ohne nostalgischen Alibibogen, kein Haus
ohne vordergründige Spekulation mit Vertrautem. Keine Stadt ohne Altstadtbewusstsein, ja Altstadtstolz. Keine Stadt, kein Ort weit und breit ohne eben entdeckte Patina und immer öfter keine Stadt und kein Ort mehr ohne neu erstellte Patina. Die Häuser werden, egal wie alt, egal wie neu, am liebsten zurückgestaltet und zurückdatiert. Nicht umgehbare Funktionalität wird getarnt bis verleugnet. Die Realitätsfeindlichkeit ist unübersehbar. Der Umgang mit allem Neuen ist suspekt, macht neuerdings sogar krank. Die Architektur von heute tritt als Greisin mit geliftetem Antlitz ins Bild, als geschminkte Mumie. Die sogenannten alten Werte dominieren uns, verhindern den Blick auf das wohl noch gänzlich unvorstellbare Neue. Die Phantasie ist gefesselt, die Zuversicht gelähmt. Die Architektur ist und war wohl immer eine fesche Dame. Ein geistvolles, lebensbejahendes Phänomen. Sie ist stolz und frei, überzeugend und unübersehbar! Sie lebt nicht in Büchern und Journalen, flieht nicht in windstille Museen und Sammlungen, scheut Sarkophage und Dunkelheit! Sei liebt den Mut, das Risiko, die Phantasie, die Auseinandersetzung und den Esprit des Neuen! Sie greift nach den gegebenen Möglichkeiten in Material und Produktion, nach neuen sozialen und humanitären Anliegen und produziert so neue Identität und Begeisterung. Die Architektur manifestiert Zuversicht für den Einzelnen, für die Gesellschaft, sie ist Träger der Wahrhaftigkeit. Mit der Architektur suchen wir also auch die Überwindung des allzu Materiellen – deshalb der berechtigte Wunsch, ihr wieder zu begegnen, sie hereinzubitten in unsere Zeit, in unser Jahrhundert. Die Begegnung mit ihr ließe uns unsere Möglichkeiten, unsere ästhetischen Kategorien erleben. Die kleine österreichisch-europäische Welt soll nicht zum Puppenhaus werden, nicht vergreisen und nicht verbröseln. („Sollten Sie der Architektur begegnen, lassen Sie sie grüßen …“, 1984) ***
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Wir sind die Gegenwart. Alle Bereiche unseres Lebens werden von den Faktoren Vergangenheit, Gegenwart und erträumter Zukunft bestimmt. Die bauliche Umwelt ist einer dieser Bereiche. In allen kulturhistorischen Abschnitten gab es den kausalen Zusammenhang zwischen geistig-religiöser und sozialmaterieller Situation und der daraus resultierenden Realität, d. h. der zeitbezogenen Lebensart und Lebensform. Unsere tägliche Gegenwart, aber auch die Jahrzehnte unseres Lebens sind bestimmt von unserem Wollen und Können. Die Summe aller Einstellungen führt zur Summe der Lebensäußerungen und damit zu dem, was wir imstande sind, für uns zu erreichen, bzw. zu dem, was wir in der Lage sind, an die Zukunft weiterzugeben. Wohl noch in keinem Zeitabschnitt der Weltgeschichte wurde der Mensch so unmittelbar mit seinen negativen Tätigkeiten konfrontiert. Die weltweite Kommunikation ermöglicht erstmalig den Überblick und damit die Zusammenschau über Sinn und Unsinn seines Tuns. Unserer Generation war und ist es vorbehalten, die ernsthaftesten Schockerlebnisse der Menschheitsgeschichte zu ertragen. Die jahrhundertealten Ängste der Menschheit könnten für uns oder für unsere Kinder zur bitteren Realität werden. Arbeiten wir und unsere Nachkommen daran, die Welt in ein Chaos zu stürzen? Ein Chaos, dessen Konsequenz der Neubeginn nach der großen Stille ist? Die Schöpfung ist zu gewaltig, an ihr versagt selbst der massive Ungeist, doch sind wir imstande, ihre schillernde Vielfalt zu zerstören. Eine Menschheit mit gegensätzlichen Interessen und geteilt in viele Machtblöcke, bedroht sich nach wie vor mit dem vielfachen Atomtod. Der Vergiftungsgrad unserer Umwelt erreicht in absehbarer Zeit den kritischen Punkt und die Erbanlagen des Menschen sind gefährdet. Von vielen Tier- und Pflanzengattungen haben wir unbekümmerten Herzens Abschied genommen. Die Luft und das Wasser, d. h., die Atmosphäre und die Meere, werden wir bald für gewaltige Zeiträume vernichtet haben. Die Verbrennung der in Millionen von Jahren ange-
häuften Energie wird von uns blitzschnell durchgeführt. Die wertvollsten Rohstoffe landen durch unsere Unvernunft auf der Abfallhalde. Über alle diese Tatsachen muss der Bauschaffende als einer der agilsten Verschwender früher oder später stolpern. Die Chaotik des Bauens ist bald perfekt. Noch haben wir das ungewollte Ziel nicht erreicht. Vielleicht sollten wir es anstreben, um uns dann endlich selbst zu erkennen. Erst die bauliche Selbstzerstörung, der totale Verkehr und die perfekte Ausbeutung jeder naturgegebenen Möglichkeit werden uns daran glauben lassen, dass es neben dem materiellen Dasein auch den Weg der Genügsamkeit und der innerlichen Freuden gibt. Vorerst wird aus naturgegebener Bequemlichkeit das Rezept „PLANUNG“ angewandt. Die Planungstotalität ist imstande, schlechtes Gewissen zu verdrängen. Der Glaube, „alles in den Griff zu bekommen“, ist der verbreitetste Irrtum der Gegenwart. Diese große Ausrede macht von sich reden. Ist Planung wirklich irgendwo geglückt? Planer sind doch INTERPRETEN und nicht wie so oft angenommen PROPHETEN. – Sie sind Ordnungsinstanz, aber nicht die Ordnung selbst. Ordnung und Harmonie sind Resultate einer inneren Einsicht, eines Bekenntnisses. Wer soll sie uns heute oder morgen geben? Die Erzieher – selbst ein Produkt 2000-jähriger sogenannter Humanerziehung – haben uns in unsere Position gebracht – sie können es nicht. Die Propheten sind entweder noch nicht geboren oder sie werden permanent überhört. Die Kriterien der Nächstenliebe, des Zusammenlebens sind weitestgehend vergessen oder werden nicht geübt. Bleibt uns, eigene Erfahrungen zu machen – wird man aus Erfahrung klug? Ich meine ja, wenn sie groß genug ist. Wir arbeiten derzeit daran, uns eine große, unvermeidbare Erfahrung zu bereiten. Wir bereiten das Chaos vor, nach dessen fürchterlicher Konsequenz uns die Chance geboten wird, mit einem gewaltigen Erkenntnissprung neu zu beginnen. („Ist das Chaos noch unsere Chance? Ein Alibi für manches Unvermögen“; 1974, 1995 überarbeitet)
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Spuren von Einsamkeit Vor fast 40 Jahren erschien das legendäre Buch „Die Erben der Einsamkeit“, in dem Aldo Gorfer (Text) und Flavio Faganello (Bild) die abgelegensten Bergbauernhöfe Südtirols porträtierten. Quart unternimmt in einer Artikelserie den Versuch, an diesen Orten wieder einmal Nachschau zu halten. – Folge 1: Alle befinden sich in Quarantäne, selbst die Erben der Einsamkeit. Von Simone Mair / Lisa Mazza (Text) und Nicolò Degiorgis (Bild)
Wir schreiben diese Zeilen aus der Einsamkeit. Einer sozialen Einsamkeit, die wir seit Wochen erleben, denn genauso lange ist es her, dass wir uns nicht mehr mit unseren Freunden und unserer Familie ungezwungen treffen können, dass wir in ein Geschäft reingehen können wie und wann wir wollen, dass wir das Haus nie ohne Mundschutz verlassen und die Hände unzählige Male am Tag waschen, dass unser bisher bekannter Alltag auf den Kopf gestellt wurde. Klar sind wir ständig in Kontakt mit den uns Lieben und der Welt, aber immer ist der Überbringer unserer Stimmen und Gesichter ein Bildschirm, ein technisches Gerät. Der vorliegende Text stellt einen Versuch dar, eine Feldrecherche zum Leben auf den Bergbauernhöfen zu machen, mit Menschen eine Beziehung aufzubauen, ihr Vertrauen zu gewinnen, ohne ins Feld zu gehen, ohne physisch mit irgendjemandem in Kontakt zu treten. Und ohne in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, nostalgisch zu werden und ins Romantisieren zu verfallen, ist dieser Beitrag ein Versuch, den Bewohnern dieser Bergbauernhöfe eine Stimme zu geben und ihre Beweggründe für das Leben am Berg zu schildern, von der Einsamkeit zu erzählen. Was bedeutet die Einsamkeit am Hof? Welchen Wert hat die Stille dort oben? Der Plan war es, uns auf die Spuren der „Gli eredi della solitudine“ (Die Erben der Einsamkeit) zu begeben und einige der Bergbauernhöfe, die der Trentiner Aldo Gorfer als Journalist und Autor und der Fotograf Flavio Faganello Anfang der 1970er Jahre erwandert haben, nach knapp 40 Jahren erneut zu erkunden. „Die Erben der Einsamkeit“ kann wohl zum Kanon der Publikationen im Alpenraum gezählt werden. Unkonventionell und spannend wird über die Herausforderungen des Lebens am Berg erzählt. Wort und Bild gehen einen eingespielten, sich ergänzenden Dialog ein. Auf eine sehr persönliche Weise, jedoch auch mit einem gewissen anthropologischen und soziographischen Anspruch haben Gorfer und Faganello eine
„Enquete“ unternommen, so definieren die Autoren selbst ihr Unterfangen, das zwischen „journalistischer Untersuchung, Erzählung und Reise-Tagebuch“ liegt. Ihr Anliegen war es, ein komplexes Bild aufzuzeichnen, das den Wohlstand und das bequeme Leben der Städte mit dem harten Leben am Berg kontrastiert. Bilder veranschaulichen die kargen Infrastrukturen und die logistische Unerreichbarkeit der abgelegenen Bergbauernhöfe. Extreme Lebensbedingungen in extremen Jahreszeiten werden sichtbar, von denen die portraitierten Bergbauernhöfe heutzutage größtenteils nicht mehr betroffen sind. Dreißig Jahre später, 2003, hat der Fotograf Flavio Faganello (Aldo Gorfer ist leider bereits 1996 verstorben), nochmals alle 21 Höfe besucht und aus demselbem Blickwinkel fotografisch festgehalten. Es entstand erneut eine Publikation und zusätzlich wurden die Bilder auch in einer Ausstellung in der Bozner Stadtgalerie ausgestellt. Im selben Jahr erschien auch der 60-minütige Dokumentarfilm „Bauern der Berge – Auf den Spuren der Erben der Einsamkeit“ der Filmemacherin und Autorin Astrid Kofler. Die letzte uns bekannte Wiederaufnahme der Recherche aus den 1970er Jahren liegt über zehn Jahre zurück und wurde 2009 von Francesco Bocchetti Gianni Zotta unternommen. Die Erzählungen der 21 Erben der Einsamkeit haben also in Büchern und Filmen Spuren hinterlassen. Es ist spannend, diesen Spuren erneut zu folgen. Wohin führen sie uns? Welchen Menschen, Landschaften, Tieren werden wir auf diesem Weg begegnen? Kurz zurück zum aktuellen Kontext und zum Wir: Derzeit scheint vieles in die Zeit davor – vor Covid-19, der Pandemie, der absoluten Einschränkung der Bewegungsfreiheit – und in die Zeit der ungewissen Gegenwart unterteilt zu sein. So auch die Arbeit an diesem Beitrag, an dem wir sechshändig aus Meran, Wien und Bozen gearbeitet haben. Wir sind Simone Mair und Lisa Mazza, Kuratorinnen und Kulturvermittlerinnen der Kunstinitiative BAU und der Künstler und Fotograf Nicolò Degiorgis. Eingeschlossen in unseren
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Home-Offices haben wir uns über E-Mail und Skype ausgetauscht, um eine Form für unsere Recherche zu finden, welche die Einschränkungen der Quarantäne einzubeziehen versucht und nicht dagegen ankämpft. In seiner fotografischen Arbeit tritt Nicolò Degiorgis meist über einen längeren Zeitraum als wiederkehrender Beobachter auf und schafft Bilder, die die Orte und die Menschen, die sie (be-)leben, beobachten und erzählen. Nun, da ein Fotograf diese Orte nicht aufsuchen und seinen Blick nur imaginär auf das noch nicht Erkundete richten kann, haben wir ihn für diesen Artikel, der der erste Teil einer Serie von Beiträgen werden soll, eingeladen, mit uns auf eine virtuelle Reise zu gehen und visuelle Antworten auf die gegebenen Einschränkungen zu finden. Es schien uns naheliegend, beim Portraitieren der Landschaft, beim topographischen Raum, in den die Höfe eingebettet sind, anzufangen. Das Wirtschaften am Hof, die daraus folgenden Lebensbedingungen, sind von der Landschaft abhängig. Der steile Berghang definiert die Anzahl des Viehes, das man am Hof halten kann. Die Meereshöhe und die klimatischen Verhältnisse bestimmen den Ernteertrag. Nicolò Degiorgis hat sich aus der Ferne mit Satellitenbildern den Berghöfen angenähert und hat eine abstrahierte Idee von Landschaft entstehen lassen. Eine konkrete Verortung des Hofes bleibt der Ausgangspunkt. Durch die serielle Wiederholung schreibt sich über die existierende Landschaft eine neue ein, aus der Einsamkeit und Stille, aber auch Bewegung zu entstehen scheint. Im Folgenden Auszüge aus der E-Mail-Korrespondenz mit zwei Bergbauernhöfen aus Gorfers / Faganellos Buch. Einer befindet sich im Schnalstal, einer im Ultental. Der Finailhof, einstmals der höchstgelegene Kornhof in Europa, liegt auf knapp 2.000 Metern in „Unser Frau“ der Gemeinde Schnals, ein Seitental des Vinschgaus. Veronika, Mutter von (demnächst) fünf Kindern, beschreibt mittels Computerbildschirm das Leben am Finailhof. Subject: Re: Finailhof Date: Fri, 1 May 2020 at 14:51 Hallo Simone! Warum lebt man heute auf einem Bergbauernhof? Der Bauernhof ist für uns das Zuhause. Durch die Übernahme des Hofes möchten wir unseren Beitrag
leisten und den Hof ein Stückchen weiterbringen. Es ist schön, wenn ein 5-jähriges Kind sagt, dass es gerne den Hof übernehmen möchte und dies auch heute noch mit 12 so sieht. Wir leben gerne mit und von der Natur und wenn man auf einem Bergbauernhof lebt, dann kann man sagen, dass man sein eigener Chef ist und wer kann das heute von sich sagen? Um auf einem Bauernhof leben zu können, sollte man am besten naturverbunden sein und vor allem nicht die Arbeit scheuen. Der Tag beginnt sehr früh mit dem Melken der Kühe – somit gibt es das lange Ausschlafen leider nicht. Nach dem Melken werden die Kühe auf die Weide getrieben. Anschließend beginnt die Arbeit auf dem Feld: Im Frühling werden die Wiesen gesäubert von Steinen, Holz und einige kaputte Teile des Weidezaunes werden erneuert. Der Finailhof liegt auf der Sonnenseite des Schnalstales und deswegen muss auch ordentlich bewässert werden, damit genug Heu wachsen kann. Im Sommer werden die Wiesen gemäht und das Heu wird eingebracht. Gleichzeitig muss immer wieder nach den Tieren geschaut werden, die den Sommer auf höheren Weiden verbringen. Auf dem Finailhof gibt es einen Hofschank. Auch in diesem beginnt die Arbeit recht früh, da alles in der Küche und in den Gasträumen hergerichtet werden muss, bevor die Gäste kommen. Der Tag auf einem Bergbauernhof beginnt früh und endet meistens spät am Abend. Welche Rolle erfüllt die Mutter, Frau, Schwester, Tochter am Hof? Frauen halten alles zusammen, sie füllen Lücken und behalten die Übersicht. Sie sorgen für die Kinder und sehr oft kümmern sie sich um pflegebedürftige Familienmitglieder. Auf den Höfen herrschen oft noch die traditionellen Rollenverteilungen: Der Mann ist für die Landwirtschaft zuständig und die Frau hilft ihm und kümmert sich um Haus, Garten und Kinder. In der heutigen Zeit findet man oft Abweichungen von den traditionelleren Rollen: Bäuerinnen treten selbstbewusster und stärker auf, sie fordern ihre Rechte ein und es kommt zu einem Austausch auf Augenhöhe. Auch mein Ehemann geht mir sehr oft zur Hand, man findet ihn beim Mithelfen im Hofschank oder beim Schulaufgabenmachen mit unseren Kindern. Frauen in der heutigen Zeit sind besser ausgebildet als früher. Öfters findet man auf den Höfen nun ein ganz anderes Bild: Der Mann geht zum Arbeiten außer Haus und die Frau ist nun für Haus und Hof zuständig. Ob nun eine Kuh kalbt oder ein Lämmchen oder ein Zie-
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genkitz geboren wird, bringt eine Bäuerin nicht aus der Ruhe, es ist Alltag. Eine Bäuerin heute kommt überall zum Einsatz und macht ihre Arbeit mit Leib und Seele. Bäuerinnen werden heutzutage mehr wertgeschätzt. Wie wertvoll ist Stille heutzutage? Stille in der heutigen Zeit ist ein wichtiges Gut. Stille heißt für uns Zeit haben, um zu sich selbst finden zu können und, was uns auch sehr wichtig ist, dass wir Familienzeit haben. Stille ist notwendig und jeder von uns braucht seine Zeit, um Stille erleben zu können. Wobei sicherlich auch gesagt werden muss, dass bei unseren 4 (fast 5 Kindern) und auch mit der ganzen Arbeit recht selten Stille herrscht. Stille sind meistens die Momente, in denen man Kraft und Energie für sich selbst tanken kann. Ein kleiner Luxus, den man sich hie und da leistet: an einem verschneiten Wintertag am warmen Ofen in der Stube sitzen und ein Buch lesen. Der Wiesfleck-Hof liegt oberhalb vom Dorf St. Nikolaus im Ultental auf 1620 Metern. Der E-Mail-Austausch fand mit der Lebensgefährtin des Hoferben statt. Subject: Re: Wiesfleck Anfrage Date: 2 May 2020 at 20:49:40 CEST Schönen guten Abend Lisa, mein Name ist Paller Tamara und ich bin seit 5 Jahren die Lebensgefährtin von Ulrich Gamper, gerne antworte ich in seinem Auftrag auf Ihre Fragen! Warum lebt man heute auf einem Bauernhof? Nicht nur heute, sondern bereits ein ganzes Leben wohnen und arbeiten wir auf unserem kleinen Hof (auch ich komme von einem Hof, dem Baumannhof unter der idyllischen Burg Eschenlohe in St. Pankraz), es ist kein Muss oder nur Tradition, sondern ein Lebensgefühl. Ein Gefühl der Freiheit und der gewissen Unabhängigkeit. Nicht die Einsamkeit und Abgeschiedenheit bestimmten unser Leben, wir sind beide Vollzeit berufstätig, langjährige freiwillige Sanitäter beim Weißen Kreuz und bilden uns stetig weiter, kommen somit mit vielen Menschen in Kontakt, doch unser kleiner Hof gibt uns ein Gefühl der Sicherheit und ist unser Rückzugsort. Besonders in diesen schweren Zeiten, in denen Covid-19 die Welt in Atem hält, sind wir mehr denn je froh um unser DRHOAM mitten in der Natur. Wald und Wiesen, Berge und frische Luft geben uns
wenigstens ein bisschen Hoffnung, dass die Welt wieder in Ordnung kommt. Welche Rolle spielen die Bewohner des Hofes? Ulrich ist mit seinen 54 Jahren der aktuelle Hofbesitzer und bearbeitet diesen tagtäglich nach seiner Hauptarbeit als Motorsägeninstruktor und Forstarbeiter. Ich als seine Partnerin unterstütze ihn dabei vor allem im Haus und Garten. Seine 3 mittlerweile volljährigen, in der Gastronomie berufstätigen Kinder leben außerhalb und kommen ab und zu auf Besuch. Die 85-jährige Mutter von Ulrich genießt ihren Lebensabend ebenfalls auf dem Hof. Wie wertvoll ist Stille heutzutage? Stille von anhaltendem Verkehr, Stille von Baulärm und Industrie, ja, aber die Geräusche des Windes, der durch die Bäume fährt, des Vogelgezwitschers, des Summens der Bienen, der Kuhschellen und Tiere sind unbezahlbar … Beim Nachdenken über Einsamkeit in der gegenwärtigen Situation drängen sich Fragen auf, losgelöst von der jeweiligen geografischen Verortung. Eine strikte Trennung von Berg und Tal, Natur und Kultur, Mensch und Tier – wie sie noch in den 1970ern beschrieben wurde – scheint ohnedies im Heute nicht mehr zu greifen. Es ist produktiver, ein großes Gemeinsames zu denken, das miteinander in Beziehung steht und sich gegenseitig beeinflusst. Das Nachdenken über Stille, die Entscheidung für bestimmte Lebensmodelle und -entwürfe scheinen universeller zu werden. Im Austausch mit der engsten Familie beim Essen oder mit Freunden über einen der vielen virtuellen Chats bemerken wir, dass Lebensmodelle vermehrt hinterfragt werden und gelernte Muster und Begriffe plötzlich morgen – oder besser in der ungewissen Gegenwart – nicht mehr funktionieren werden. Die Folgen von Covid-19 bringen uns wieder zu den 21 Erben. Wer sind diese Erben? Warum haben sie den Hof übernommen – aus Verantwortung, aus Überzeugung? Bald wird uns die Lockerung der Quarantäne hoffentlich erlauben, Wiesen- und Almwege zu bewandern und die obigen Bergbauernhöfe und noch andere persönlich zu besuchen. Inspiriert von den Erben der Einsamkeit, möchten wir uns dann entlang der Lebenslinien bewegen und jene jungen Menschen besuchen, die sich bewusst für die Stille am Berg entschieden haben und es wagen, Lebensweisen zu erproben, die der bäuerlichen Tradition mit Respekt begegnen und Gegenmodelle aufzeigen.
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Nr. 1/03
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Cover: Martin Gostner Originalbeilage: Julia Bornefeld Linke Seiten: Walter Pamminger Beiträge u. a. von: Paul Albert Leitner, Andrea van der Straeten, Händl Klaus, Albert Hosp
Cover: Candida Höfer Originalbeilage: Julia Bornefeld Linke Seiten: Ferdinand Schmatz Beiträge u. a. von: Ruedi Baur, Andreas Maier, Sabine Gruber, Alfred Komarek
Cover: Walter Obholzer Originalbeilage: Martin Walde Linke Seiten: Circus Beiträge u. a. von: Ulrich Ladurner, Beat Furrer, Nikolaus Schletterer
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Cover: Dorit Margreiter Originalbeilage: Stephan Huber Linke Seiten: gelitin Beiträge u. a. von: Raoul Schrott, Christian Berger
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Nr. 25/15
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„Sie sollen Zeitschriften wie Quart lesen! Was denn sonst!“ Michael Krüger
Nr. 7/06
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Nr. 9/07
Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 34/19 € 16,–
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Nr. 31/18
Nr. 32/18
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Nr. 34/19
Cover: Herbert Hinteregger Originalbeilage: moki Linke Seiten: Aglaia Haritz Beiträge u. a. von: Radek Knapp, Leopold Federmair, Gerhard Demetz, Marko Dinić
Querschnitt der Ausgaben Nr. 17 bis Nr. 31 mit einem Cover und 12 linken Seiten von Susanne Kircher-Liner
Cover: Werner Feiersinger Originalbeilage: Claudia Hirtl Linke Seiten: Lukas Kummer Beiträge u. a. von: Ann Cotten, Alexander Kluge, Raphaela Edelbauer
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www.quart.at
Besetzung
Raymond Ammann, Basel Innsbruck: Professor für Musikethnologie am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck, Forscher an der Hochschule Luzern. Forschungsregionen: Polarregion, Melanesien, Alpenregion. Forschungsschwerpunkt: Ritualmusik, Jodeln, Musikkognition. Leitet verschiedene Forschungsprojekte und doziert Musikethnologie und Popularmusik. Eva Maria Bachinger, Linz Wien: Journalistin, Autorin und Sozialarbeiterin. Studium der Sozialarbeit in Linz, Masterstudium Journalismus in Krems. Längere Auslandsaufenthalte in Israel und Italien, Buchveröffentlichungen u. a. bei Zsolnay / Deuticke sowie Czerninverlag. www.eva-bachinger.at Peter Clar, Villach Wien: Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Studium der Komparatistik, Spanisch und Germanistik in Wien und Madrid. Anstellungen, Lehraufträge und Forschungsaufenthalte an den Universitäten Wien, Berkeley, Innsbruck, Danzig, Klagenfurt, Dresden und Bratislava. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, in erster Linie zur österreichischen Gegenwartsliteratur. Zu seinen literarischen Veröffentlichungen zählen u. a. „Nehmen Sie mich beim Wort“ (Sonderzahl, 2009), „Alles was der Fall ist“ (Sonderzahl, 2011), der Lyrikband „Die Worte, sagst Du …“ (Sisyphus, 2018) oder die gemeinsam mit Markus Köhle verfasste „Korrespondenzpoesie“, darunter „Posterhase“ (SchriftStella, 2019) und „Herbstsommer“ (SchriftStella, 2019). www.peterclar.at Nicolò Degiorgis, Bozen Bozen: Fotograf. Studium der orientalischen Sprachen in Venedig und Peking. Bekannt ist er vor allem für seine Künstlerbücher, die sich mit sozialpolitischen Thematiken befassen. Sie wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem für den besten Bildband auf dem Festival Rencontres d’Arles (2014 und 2018) und bei Paris Photo (2014) und sind Teil der Sammlungen des Albertina Museums und des MUMOKs in Wien, des Metropolitan Museum und des MOMA in NY, des Tate Modern in London und der Bibliotheque Kandinsky im Centre Pompidou in Paris. Installationen der Bücher wurden in verschiedenen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt, unter anderem im Macro (Rom), Mambo (Bologna), Museion (Bozen), in der Pinakothek der Moderne (München) und in der Sandretto Re Rebaudengo Stiftung (Turin). Er ist Teil des künstlerischen Beirats des foto-forums in Bozen und Gründer des Rorhof-Verlags. Wien: Bildende Künstlerin. Studium an Verena Dengler, Wien der Wiener Kunstschule, Akademie der Bildenden Künste Wien, Slade School of Art, UCL, London (2006). Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt u. a. in der Kunsthalle Bern (2017); im New Museum Triennale New York (2015); Metro Pictures; Greene Naftali, New York; mumok; MAK Wien; Galerie Meyer Kainer; Thomas Duncan Gallery, Los Angeles, Kunsthalle Zürich; Ausstattung (gemeinsam mit Dominique Wiesbauer) für „Mar-a-Lago (Marlene Streeruwitz) / Revolt. She Said. Revolt. Again“ (Alice Birch), Berliner Ensemble 2018 (Regie: Christina Tscharyiski), 2015–2017 Lehrtätigkeit an der Haute école d‘art et de design Genève, Schweiz. Schreibt u. a. für Texte zur Kunst, jungle world, FAZ, monopol etc. Ihre Arbeit wurde mit dem Museion Prize 1 (2017), dem STRABAG Art Award (2018) und dem Outstanding Artist Award (2018) ausgezeichnet. Irene Dische, New York Berlin und Rhinebeck / New York: Schriftstellerin. Wurde als Tochter des Biochemikers Zacharias Dische und der Biochemikern, Ärztin und Gerichtspathologin Renate Rother in New York geboren, studierte an der Harvard University, veröffentlichte erste Reportagen in The New Yorker. 1977 zog sie 126 / 127
nach Berlin. 1989 erschien ihr Erzählband „Fromme Lügen“, der sie bei einem größeren literarischen Publikum bekannt machte. Weitere Werke (Auswahl): „Großmama packt aus“ (2005), „Amerikanische Hochzeit“ (2015), „Schwarz und weiß“ (2017). Tirol und Wien: Kuratorin. Seit Anette Freudenberger, Krefeld Sommer 2018 Leiterin der Galerie der Stadt Schwaz. Unterrichtet an der Universität für angewandte Kunst Wien. War Kuratorin am Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf und an der Wiener Secession. Außerdem hat sie für den Architekten Hermann Czech, die Künstlerin Rosemarie Trockel und die Galerien Daniel Buchholz und Meyer Kainer gearbeitet. Wien: Schriftstellerin. Zuletzt erschieAndrea Grill, Bad Ischl nen: „Cherubino“ (Zsolnay, Wien, 2019) und das Kinderbuch „Fiffy und Maurice“ (Luftschacht, Wien, 2019). www.m-orld.org Nicolas Jasmin, Toulouse Wien: Bildender Künstler. 1988 – 1991 Akademie der bildenden Künste Wien. Ausstellungen u. a.: „And other works“, Belvedere 21, Wien (2019), Düsseldorf, Volume Imaginaire, Van Horn (2018), „Subtle Patterns of Capital“, Galerie Georg Kargl Wien (2015), „With Small Words“, Kunsthalle Exnergasse, Wien (2014). Josef Lackner, Wörgl Innsbruck: Architekt. Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien, Meisterschule Clemens Holzmeister. 1961 Gründung des eigenen Ateliers in Innsbruck. 1979 Ernennung zum Ordentlichen Universitätsprofessor für Entwerfen an der Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur der Universität Innsbruck. Bedeutende Bauten: Jenbacher Werke, Kirche Völs, Kartonagenfabrik Dinkhauser, Wüstenrot VersicherungsCenter, Ursulinenschule Innsbruck u. v. m. Verstarb 69-jährig im Jahr 2000. Simone Mair, Meran Algund bei Meran: Kuratorin und Kunstvermittlerin. MA in Curating der Goldsmiths University of London. Mair ist seit 2015 Mitbegründerin und Ko-Kuratorin der Kulturorganisation BAU. Der Fokus von BAU liegt auf Kunstprojekten, bei denen zeitgenössische Kunst auf Fragen unserer Gegenwart reagiert, Natur und Kultur verbunden gedacht werden und der Mensch mit seiner Umgebung in einem ökologischen Kreislauf verstanden wird. 2019 war Mair Kuratorin des Public Programm am Kunstverein ar/ge kunst, 2014 Kuratorische Assistentin der Liverpool Biennal. Von 2013–2018 kuratierte sie „The Walking Reading Group“ in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kunstinstitutionen (Gasworks, Iniva, Open School East, The Showroom, Whitechapel Gallery) in London. Bozen: Freie Kuratorin und KulturproduLisa Mazza, Meran zentin. MA in Contemporary Art Theory der Goldsmiths University of London. Mazza ist seit 2015 Mitbegünderin und KoKuratorin der Kulturorganisation BAU. Der Fokus von BAU liegt auf Kunstprojekten, bei denen zeitgenössische Kunst auf Fragen unserer Gegenwart reagiert, Natur und Kultur verbunden gedacht werden und der Mensch mit seiner Umgebung in einem ökologischen Kreislauf verstanden wird. Mazza ist Mitglied des künstlerischen Leitungsteams von Lungomare. Von 2007–2012 hat sie als Projektkoordinatorin an der europäischen Biennale Manifesta gearbeitet und war von 2009–2012 Managing Editor des Manifesta Journals. 2018 leitete sie das Publikationsdepartment der Manifesta 12 in Palermo. New York: Bildender Künstler. AusSven Sachsalber, Laatsch stellungen 2020–2014: cronolog. Ramiken Crucible New York,
Fondazione Nicola Trussardi Milano, Verein ar/ge kunst Bozen, White Columns New York, Performa 15 Biennale New York, Fiorucci Art Trust London / Stromboli, Palais de Tokyo Paris und Museion Bozen. Anneliese Schrenk, Weiz Wien: Bildende Künstlerin. Ausstellungen 2019: „Shadow“, kuratiert von Siggi Hofer, Kunstverein Schattendorf / Parallel Vienna, Wien /„circulation“, curated by (Kendell Geers), Mario Mauroner Contemporary Art, Wien / „ONE“, Podium, Wien (einzel) / „… while the rain drank champagne …“. www.annelieseschrenk.com Augsburg: Studierte Chemie, PhiloJens Soentgen, Rheinland sophie und Politik in Frankfurt am Main (Staatsexamen 1994), lehrte anschließend Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und Brasilien; seit 2002 wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg sowie Adjunct Professor of Philosophy, Memorial University of St. John’s, Newfoundland, Canada; Herausgeber der Buchreihe „Stoffgeschichten“ (oekom Verlag, München); zuletzt erschienen: „Konfliktstoffe. Über Kohlendioxid, Heroin und andere strittige Substanzen“ (oekom Verlag, München 2019); „Ökologie der Angst“ (Matthes und Seitz, Berlin 2018); „Die Nebelspur. Wie Charles Wilson den Weg zu den Atomen fand“ (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2019).
Rens Veltman, Schwaz Schwaz: Bildender Künstler. Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mozarteum in Salzburg. Arbeitet schwerpunktmäßig in den Bereichen Malerei, transmediale Kunst und Robotik. Vor allem hinsichtlich der elektronischen Kunst leistet er seit den 1970er Jahren Pionierarbeit, bei der nicht die Technologie im Vordergrund der Auseinandersetzung steht, sondern das Beleuchten der technischen sowie gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und Auswirkungen, die mit Maschinen wie dem Computer verbunden sind. Zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen u. a. „Schönheit vor Weisheit. Das Wissen der Kunst und die Kunst der Wissenschaft“, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck (2019/20); „Geh und spiel mit dem Riesen!“, Museum Villa Stuck, München (2015/16); „hands have no tears to flow“, Österreichischer Beitrag zur 13. Architekturbiennale, Venedig (2012). Preise: Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck (2017), Tiroler Landespreis für zeitgenössische Kunst (2011). Anna Weidenholzer, Linz Wien: Freie Schriftstellerin. Buchveröffentlichungen: „Finde einem Schwan ein Boot“ (Matthes & Seitz, Berlin 2019), „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ (Matthes & Seitz, Berlin 2016), „Der Winter tut den Fischen gut“ (Residenz, St. Pölten 2012), „Der Platz des Hundes“ (Mitter, Wels 2010) www.annaweidenholzer.at
Quart Heft für Kultur Tirol
Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– · Einzelheft: € 16,– · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Raymond Ammann, Eva Maria Bachinger, Peter Clar, Nicolò Degiorgis, Verena Dengler, Irene Dische, Anette Freudenberger, Andrea Grill, Nicolas Jasmin, Josef Lackner, Simone Mair, Lisa Mazza, Sven Sachsalber, Anneliese Schrenk, Jens Soentgen, Rens Veltman, Anna Weidenholzer Linke Seiten: Sven Sachsalber Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g / m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 48 / 49 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, 1231 Wien (A) Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-8109-2 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2020 · Alle Rechte vorbehalten. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Kultur der Tiroler Landesregierung und der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.